Belarus Perspektiven nr 47

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Außenpolitik

Echos der Vergangenheit 20 Jahre Mauerfall aus belarussischer Sicht

Im vergangenen Jahr 2009 wurden die Deutschen auf Schritt und Tritt von dem Gedenken an den November 1989 begleitet. Das ganze Jahr über war der lange Schatten der fallenden Berliner Mauer nicht aus der deutschen Medienlandschaft wegzudenken. Trotz der vielen internationalen Glückwünsche reflektierte in Deutschland wohl kaum jemand darüber, wie es um das Mauer-Gedenken in anderen Ländern steht – zum Beispiel in Belarus. Wir baten Konstantin Sidorovič, Redakteur bei dem Portal telegraf.by, darum, diese Wissenslücke für uns zu schließen. Konstantin Sidorovič, Minsk

Mauerfall reloaded: Lech Wałęsa und Miklos Nemeth machen schon wieder die Berliner Mauer kaputt. Foto: mauerfall09.de

Bei einer Delegationsreise belarussischer Medienvertreter durfte ich die Stimmung in Deutschland anlässlich des 20. Jahrestages des Mauerfalls miterleben. Das Ereignis, das die beiden deutschen Staaten wieder zusammenschweißte, beschäftigte auch viele andere Länder, insbesondere die Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Ich hatte zunächst erwartet, dass sich die Belarussen nicht übermäßig mit dem Mauerfall auseinandersetzen würden. Schließlich hatte sich in den zwei Jahrzehnten seit dem Zusammenbruch des gemeinsamen ideologischen Haus vieles verändert. Eine neue Generation war herangewachsen, die weder die letzten Jahre der Stagnation noch den Zusammenbruch des SowjetSystems bewusst erlebt hatte. Die Belarussen hatten sich nach dem Neuanfang daran gemacht, einen eigenen souveränen Staat aufzubauen und stießen dabei auf viele Schwierigkeiten und Hindernisse. Zudem schien es auch schon damals, als würde sich der durchschnittliche Bürger ausschließlich mit den eigenen Angelegenheiten beschäftigen – im besten Fall spähte man vorsichtig in Nachbars Garten, aber darüber hinaus blieb die äußere Welt eher uninteressant. Mauer überall Ich war deswegen sehr angenehm überrascht, als ich zum Jahrestag feststellte, dass sich auch in Belarus

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viele Menschen mit dem Mauerfall beschäftigen. Er avancierte sogar zum medialen Thema Nummer eins: Staatliche und unabhängige Medien brachten tagein tagaus die unterschiedlichsten Reportagen, Berichte und Features zum Thema. Aber besonders in vielen Internetplattformen konnte man einen regen Meinungsaustausch beobachten. Eine mögliche Erklärung für die Popularität des Mauerthemas könnte die belarussische Geschichte sein, die auch ein Teilungs- und Wiedervereinigungsereignis vorzuweisen hat. Zwischen 1921 und 1939 ging das westliche Belarus infolge des polnisch-sowjetischen Kriegs an Polen. Nach 1939 wurde dieser Teil dann sehr schnell und kompromisslos wieder in die Sowjetunion eingegliedert. Ziel war ein geeintes ökonomisches System, deshalb hielt man Kollektivierung und Nationalisierung des westlichen Belarus‘ für die einzigen und probaten Mittel der Wiedervereinigung. In einem Teil des Landes, dessen Einwohner die sowjetische Wirtschaftsordnung – geschweige denn das autoritäre russische Staatsverständnis – bis dahin praktisch nicht gekannt hatten, kam dies einem kulturellen Schock gleich. Bis heute gilt das Land unter Sozialwissenschaftlern als kulturell geteilt in Ost- und Westbelarus. „Anschluss“ der BRD an die DDR? Heute beurteilen die meisten Belarussen die deutsche Wiedervereinigung positiv. Nichtsdestotrotz kritisieren einige, dass der Prozess zu schnell verlaufen sei. Ab und an hört man auch die Ansicht, die BRD hätte der DDR „angeschlossen“ werden sollen und nicht umgekehrt. Einige sind auch überzeugt, man hätte damals lieber die EU-Variante wählen sollen – also einen jahrzehntelangen kulturellen und ökonomischen Annäherungsprozess, innerhalb dessen die Staaten weiterhin souverän bleiben. Selbstverständlich gibt es auch in Belarus – und in Deutschland, wie ich bei meiner Reise Nr. 47  01 / 10


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