Europaeische perspektiven 2 d

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EAW 2016 DIE EUROPÄISCHEN

AKTIONSWOCHEN FÜR EINE ZUKUNFT NACH TSCHERNOBYL UND FUKUSHIMA

EUROPÄISCHE P E R S P E K T I V E N

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DAS INTERNATIONALE BILDUNGS- UND BEGEGNUNGSWERK DORMUND MÖCHTE SICH AN DIESER STELLE BEI ALLEN PARTNERN, ORGANISATIONEN UND INSBESONDERE BEI DEN ZEITZEUGEN GANZ HERZLICH BEDANKEN, DIE MIT IHREM UNERMÜDLICHEN EINSATZ DAFÜR SORGE TRAGEN, DASS DIE KATASTROPHEN VON TSCHERNOBYL UND FUKUSHIMA NICHT IN VERGESSENHEIT GERATEN.

DIE EUROPÄISCHEN AKTIONSWOCHEN 2016 FÜR EINE ZUKUNFT NACH TSCHERNOBYL UND FUKUSHIMA

GEFÖRDERT DURCH

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UNTER DER SCHIRMHERRSCHAFT DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS

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ERKLÄRUNG ZUR ÜBERNAHME DER SCHIRMHERRSCHAFT ZUSAGE ZUR ÜBERNHAME DER SCHIRMHERRSCHAFT DER EUROPÄISCHEN AKTIONSWOCHEN 2016 DURCH DEN PRÄSIDENTEN DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS Oktober 2015

Sehr geehrte Frau Dr. Sahm, sehr geehrter Herr Junge-Wentrup, hiermit danke ich Ihnen für Ihr Schreiben vom 10. September 2015, in dem Sie um die Schirmherrschaft des Europäischen Parlaments für die Europäischen Aktionswochen „Für eine Zukunft nach Tschernobyl und Fukushima“ ersuchen, die im Frühjahr 2016 in ganz Europa stattfinden sollen. Das Ziel Ihrer Initiative, das nicht nur darin besteht, die Erinnerung an die Katastrophen von Tschernobyl und Fukushima wachzuhalten und der Opfer und mutigen Rettungshelfer zu gedenken, die ihre Gesundheit und sogar ihr Leben riskierten, sondern auch darin, eine Debatte über Energiequellen anzuregen, wird vom Europäischen Parlament sehr geschätzt. Unser Organ ist im Hinblick auf die Frage der Sicherheit im Bereich der Kernenergie zutiefst besorgt; das Parlament hat konsequent darauf hingewiesen, dass die Sicherheits­ und Umweltschutzanforderungen verbessert werden müssen, und fordert, dass einheitliche und regelmäßige Risiko- und Sicherheitsbewertungen von Kemkraftwerken sowohl in als auch außerhalb der Europäischen Union durchgeführt werden. Neben der geforderten Verbesserung der Sicherheitsmaßnahmen in bestehenden Kraftwerken setzt sich das Parlament auch nachdrücklich für erneuerbare Energiequellen ein und hat mehrmals darauf hingewiesen, dass kontinuierliche Arbeit und Forschung im Bereich der nachhaltigen Energie und Entwicklung wichtig und dringend erforderlich sind. Aufgrund des klaren europäischen Bezugs Ihrer Initiative freue ich mich sehr, die Schirmherrschaft des Europäischen Parlaments für Ihre Veranstaltung gewähren zu können Nehmen Sie meine besten Wünsche für die Europäischen Aktionswochen 2016 entgegen, die ganz sicher ein großer Erfolg werden. Mit vorzüglicher Hochachtung

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MARTIN SCHULZ PRASIDENT DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS

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EDITORIAL Die Europäischen Aktionswochen „Für eine Zukunft nach Tschernobyl und Fukushima“ sind ein Projekt des Internationalen Bildungs- und Begegnungswerks in Dortmund und dessen zahlreicher Partner aus der Tschernobyl- und Umweltbewegung in Europa und der Türkei. Zum 25. Jahrestag der Tschernobyl-Katastrophe im April 2011 lud das IBB erstmals Tschernobyl-Initiativen aus ganz Europa zu einer Partnerschaftstagung nach Minsk ein. Einen Monat zuvor, im März 2011, hatte sich im japanischen AKW Fukushima ein neuer Super-Gau ereignet und die fast vergessenen Tschernobyl-Erfahrungen europaweit wieder lebendig gemacht. Fukushima zeigte, dass eine gesamteuropäische Erinnerungskultur benötigt wird. Die Partnerschaftstagung in Minsk gilt somit als Geburtsstunde der Aktionswochen. Rund um die Jahrestage der Reaktorkatastrophe von Fukushima (11. März 2011) und von Tschernobyl (26. April 1986) führen die Partner seit 2012 Jahr für Jahr Zeitzeugengespräche, Informationsveranstaltungen und Kerzenaktionen zur Erinnerung an alle Menschen, die von der Verstrahlung, Umsiedlung und weiteren Folgen der GAUs betroffen sind, durch. Im Mittelpunkt des Projektes stehen Begegnungen zwischen jungen Menschen und eingeladenen Zeitzeugen aus der Ukraine, Belarus und Japan. Die Zahl der teilnehmenden Organisationen und durch sie vertretenen Länder steigt stetig. Im Jahr 2016 - 30 Jahre nach Tschernobyl und fünf Jahre nach Fukushima - engagieren sich Initiativen aus mittlerweile 13 Ländern im Rahmen der Aktionswochen „Für eine Zukunft nach Tschernobyl und Fukushima“. Zahlreiche Partner aus Deutschland, Großbritannien, Spanien, Polen, Österreich, Belgien, Tschechien, der Türkei, Belarus, Frankreich, Norwegen, Italien und der Ukraine beteiligen sich an dem großen Projekt und setzen sich gemeinsam für eine lebendige Erinnerungskultur ein, die die Lehren aus zwei Katastrophen bei der Gestaltung unserer Zukunft europaweit berücksichtigt. Allein in Deutschland fanden die Aktionswochen 2016 in ca. 40 Städten und Gemeinden statt. Unser besonderer Dank gilt dem europäischen Parlament, das uns die Übernahme der Schirmherrschaft für dieses wichtige Projekt zusag-

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te. Weiterhin möchte ich auch unseren Förderern, der Stiftung für Umwelt und Entwicklung Nordrhein-Westfalen sowie der Evangelischen Kirche Westfalen meinen herzlichen Dank aussprechen. Diese Institutionen haben mit ihrem unermüdlichen Einsatz dazu beigetragen, die Aktionswochen 2016 mit großem Erfolg zu realisieren. Die gesamteuropäische Solidaritätsbewegung mit den durch Tschernobyl und Fukushima Betroffenen wird durch die Europäischen Aktionswochen für eine breite Öffentlichkeit wahrnehmbar. Die Solidaritätsbewegung nahm durch die Gründung im Oktober 2010 des European Chernobyl Networks (ECN) offiziell ihre Form an und wuchs durch die Anschließung der Organisationen aus Japan und der Türkei, was zur Folge hatte, dass das Netzwerk in 2014 zum International Chernobyl Network (ICN) umbenannt wurde. Im Jahr 2013 äußerten wir unsere Hoffnung, dass sich bis zum 5. Jahrestag von Fukushima und dem 30. Jahrestag von Tschernobyl die gesellschaftliche Debatte so weiterentwickelt, dass praktische Schritte für eine nachhaltige Energieversorgung europaweit unternommen werden. Inwieweit sich unsere Hoffnungen erfüllt haben, wurde auf den zentralen Veranstaltungen der europäischen Aktionswochen in Berlin, Brüssel und Rom ausführlich diskutiert. Neben den Zeitzeugengesprächen standen in diesem Jahr europaweit bei über 300 Veranstaltungen, die den Katastrophen in Tschernobyl und Fukushima gewidmet waren, Alternativen zur Atomenergie und Konzepte zu Energieeffizienz und nachhaltigem Lebensstil Im Vordergrund. Die europaweite Kerzenaktion zum Gedenken der Opfer von Tschernobyl und Fukushima, die traditionell am Vorabend des Tschernobyl-Jahrestages stattfindet, zählte auch in diesem Jahr wieder zu einer der bedeutendsten Veranstaltungen der Europäischen Aktionswochen. Die Ihnen vorliegende Dokumentation strebt an die Aktionen, Redebeiträge und Fotomaterialen festzuhalten und einen Überblick über die europaweit stattgefundenen Veranstaltungen zu geben. Dortmund, Juli 2016 PETER JUNGE-WENTRUP GESCHÄFTSFÜHRER

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INHALT 18

BRÜSSEL

IMPRESSUM

30 JAHRE TSCHERNOBYL

HERAUSGEBER PETER JUNGE-WENTRUP

ZEITZEUGEN DER VERGANGENHEIT UND ATOMENERGIE HEUTE

INTERNATIONALES BILDUNGSUND BEGEGNUNGSWERK GEMEINNÜTZIGE GMBH

KONFERENZ IM EUROPAPARLAMENT BRÜSSEL, 07. APRIL 2016

REDAKTION MARGARITA STOLZENBERG-SEMAK MARTINA FASELER DR. EDITH SPIELHAGEN

TELEFON E-MAIL WEB

E-MAIL

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ERÖFFNUNGSREDE VON MARTIN SCHULZ EU-PARLAMENTSPRÄSIDENT

ANSCHRIFT DER REDAKTION INTERNATIONALES BILDUNGSUND BEGEGNUNGSWERK GGMBH

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REDEBEITRAG VON REBECCA HARMS FRAKTIONSVORSITZENDE DER GRÜNEN IM EU-PARLAMENT

BORNSTR. 66 44145 DORTMUND

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REDEBEITRAG VON PETER JUNGE-WENTRUP LEITER DES IBB DORTMUND

0231 95 20 96 - 0 INFO@IBB-D.DE WWW.IBB-D.DE

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REDEBEITRAG VON KATJA PETROWSKAJA DEUTSCH-UKRAINISCHE SCHRIFTSTELLERIN

GESTALTUNG OLIVER STOLZENBERG MIT.MILCH DESIGNBÜRO INFO@MIT-MILCH.DE COVER YULIAN MARKAROW

WEB

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DRUCK FLYERALARM WWW.FLYERALARM.DE

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ROM

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BERLIN

TSCHERNOBYL IST NOCH LANGE NICHT VORBEI

ATOMPOLITIK IN DEUTSCHLAND UND INTERNATIONAL

PAPST FRANZISKUS RUFT ZU SOLIDARITÄT MIT ALLEN BETROFFENEN AUF

30 JAHRE TSCHERNOBYL 5 JAHRE FUKUSHIMA: BILANZ UND PERSPEKTIVEN

LIQUIDATOREN ZU GAST BEI EINER GENERALAUDIENZ DES PAPSTES

DISKUSSUSSIONSVERANSTALTUNG DER SPD-BUNDESTAGSFRAKTION

ROM, 20. APRIL 2016

BERLIN, 27. APRIL 2016

PRESSEINFORMATION DES INTERNATIONALEN BILDUNGSUND BEGEGNUNGSWERKS DORTMUND

ERKLÄRUNG ZUR ÜBERNAHME DER SCHIRMHERRSCHAFT EDITORIAL IMPRESSUM UND INHALT CHRONIK TSCHERNOBYL CHRONIK FUKUSHIMA TSCHERNOBYL UND FUKUSHIMA - EIN VERGLEICH ATOMENERGIEPOLITIK IN EUROPA 2015 EUROPÄISCHE AKTIONSWOCHEN 2016 HITOMI KAMANAKA - THE LITTLE VOICES OF FUKUSHIMA ERINNERUNGEN UND EINDRÜCKE DER ZEITZEUGEN

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AUSZÜGE AUS DER PODIUMSDISKUSSION GELEITET VON NICK REIMER, REDAKTIONSLEITER DES ONLINE-MAGAZINS „KLIMARETTER“

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AUSZÜGE AUS DER PLENARSITZUNG DES DEUTSCHEN BUNDESTAGES DR. BARBARA HENDRICKS (SPD) HUBERTUS ZDEBEL (DIE LINKE) OLIVER KACZMAREK (SPD) MARCO BÜLOW (SPD)

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EAW 2016 - EIN ÜBERBLICK GROSBRITANNIEN DEUTSCHLAND ÖSTERREICH UKRAINE FRANKREICH ITALIEN NORWEGEN TÜRKEI POLEN SPANIEN

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CHRONIK TSCHERNOBYL 25. APRIL 1986, 01:00 UHR Die Sicherungssysteme von Block 4 des Atomkraftwerks in Tschernobyl werden für einen Testzyklus und geplante Reparaturen teilweise abgeschaltet, die Abschaltung des Reaktors wird eingeleitet. 26. APRIL 1986, 01:23 UHR Während des Versuchs steigt die Leistung des Reaktors stark an, eine Notabschaltung von Hand misslingt. Eine nukleare Kettenreaktion droht. 01:23:47 - 01:23:50 UHR Block 4 wird durch zwei Explosionen zerstört. Ein Mensch kommt dabei ums Leben, ein weiterer erliegt am nächsten Morgen seinen schweren Verletzungen. 01:23 UHR Der Feueralarm wird ausgelöst. Die diensthabende Feuerwehrwache beginnt mit den Löscharbeiten. Löschzüge aus der nahe gelegenen Stadt Pripjat werden zur Unterstützung angefordert. 02:00 UHR Bereits jetzt zeigen die Feuerwehrmänner erste Symptome der Strahlenkrankheit. 03:30 UHR Wegen defekter oder verschütteter Messgeräte wird erst jetzt das Ausmaß der radioaktiven Belastung festgestellt 06:00 UHR Das Feuer auf dem Dach des Maschinenraumes ist gelöscht. 26. APRIL 1986, 12:00 Die ersten Strahlungsopfer – 28 Feuerwehrmänner – werden in eine Moskauer Spezialklinik transportiert. Zwei Wochen später sind sie tot. 27. APRIL 1986 36 Stunden nach der Havarie wird von offizieller Seite die vorübergehenden Evakuierung der Stadt Pripjat angeordnet. 27. APRIL 1986, 14:00 - 16:00 UHR Busse und LKWs bringen über 45.000 Einwohner aus der Stadt. Dies gilt als Vorsichtsmaßnahme und sollte lediglich drei Tage dauern. 28. APRIL 1986, 21:00 UHR Kurzmeldung der Informationsagentur TASS: „Im AKW Tschernobyl ereignete sich eine Havarie. Einer der Kernreaktoren ist defekt. Es sind Maßnahmen zur Beseiti-

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gung der Folgen eingeleitet worden. Die Betroffenen erhalten Hilfe. Eine Regierungskommission zur Untersuchung der Havarie ist gebildet“. 01. MAI 1986 Während ausländische Medien über lebensbedrohliche Gefahren berichten, werden in der Sowjetunion wie gewohnt feierliche Demonstrationen anlässlich des 1. Mai durchgeführt. Die Verantwortlichen erklärten später, dass das Verschweigen der Informationen zu einer Vermeidung von Panikreaktionen innerhalb der Bevölkerung gedient habe. 02. MAI 1986 Die Regierung trifft die Entscheidung die Bevölkerung aus einer 30-Km-Zone um das AKW sowie aus anderen radioaktiv verseuchten Gebieten zu evakuieren. 08. MAI 1986 Das Gesundheitsministerium der UdSSR legt neue Grenzwerte für die zulässige Strahlenbelasung fest. Die Werte werden um den Faktor 10 erhöht. In bestimmten Situationen ist eine Erhöhung um das 50-fache zulässig. 20. MAI 1986 Teile des Reaktors strahlen weiterhin so stark, dass weitere Aufräumarbeiten unmöglich sind. Die Anlage wird untertunnelt und mit Stickstoff gekühlt. JUNI - NOVEMBER 1986 Bau des „Ukrytije“ („Sarkophag“) – durch die Schutzhülle um den Reaktorblock 4 ist die Situation nach der Explosion weitgehend konserviert. 11. OKTOBER 1991 infolge eines schweren Brandes in der Turbinenhalle wurde der 2. Block abgeschaltet. NOVEMBER 1996 Block 1 wird vom Netz genommen. 15. DEZEMBER 2000 Der letzte Reaktorblock (Block 3) wird endgültig stillgelegt. 13. FEBRUAR 2013 Aufgrund großer Schneemassen stürzte das Dach der Maschinenhalle, die etwa 70 Meter vom Sarkophag entfernt ist, ein. Nach Angaben des ukrainischen Zivilschutzministeriums traten dabei keine radioaktiven Partikel aus.

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ZAHLEN UND FAKTEN 11 KM Entfernung des AKWs zur belarussischen Grenze. Zwischen dem AKW und Kiew liegen ca. 100 Kilometer. 400 Die freigesetzte Radioaktivität in Tschernobyl überstieg die Strahlungswerte von Hiroshima um das 400-fache. 134 Zahl der AKW-Mitarbeiter und der Rettungsmannschaften, die sich zur Zeit der Explosion vor Ort befanden und danach an Strahlungskrankheiten litten. 200.000 Zahl der Menschen, die 1986-1987 an den Aufräumarbeiten in Tschernobyl beteiligt waren. 600.000 Gesamtzahl der Liquidatoren aus der Sowjetunion (hauptsächlich junge Soldaten). 70 % Anteil der radioaktiven Verseuchung, die Belarus traf. 150.000 KM2 Fläche um das AKW, die bis heute als unbewohnbar gilt. 30 KM Radius der Sperrzone um das Atomkraftwerk Tschernobyl. 188 Anzahl der verlassenen Orte innerhalb der Sperrzone. 350.000 Anzahl der evakuierten und umgesiedelten Menschen. 206 TAGE Bauzeit des Sarkophags. Am Bau der Schutzhülle für den zerstörten Reaktorblock waren über 90.000 Bauarbeiter beteiligt. CA. 97 % Anteil des radioaktiven Materials, dass sich weiterhin in Reaktorblock 4 befindet. Die Gesantmenge wird auf ca. 190 Tonnen geschätzt. 9.000 - ? mögliche Anzahl der Opfer infolge der Tschernobyl-Katastrophe. Eine genaue Zahl der möglichen Todesopfer ist bis heute nicht abzuschätzen.

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CHRONIK FUKUSHIMA 11. MÄRZ 2011, 14:46 UHR Wegen eines starken Erdbebens schalten drei Reaktorblöcke des AKW Fukushima ab. Die Notfallkühlsysteme laufen an. 15:36 UHR Die erste, etwa vier Meter hohe Tsunamiwelle trifft auf Fukushima. Alle Notstromgeneratoren des Kraftwerks fallen aus. 20:50 UHR Die Notfalleinsatzzentrale der Präfektur Fukushima verfügt die Evakuierung der Bevölkerung in einem Radius von zwei Kilometern um den Reaktorblock 1. 21:23 UHR Der japanische Premierminister erweitert den Evakuierungsradius um das Kraftwerk auf drei Kilometer. 12. MÄRZ 2011, 05:44 UHR Die Evakuierungszone um Fukushima I wird auf 10 Kilometer erweitert. 15:25 UHR Während der Reparaturarbeiten am Kühlsystem kommt es im Reaktorblock 1 zu einer Wasserstoffexplosion. Das Dach des Gebäudes wird zerstört; eine Rauch- und Staubwolke breitet sich aus.

29. MÄRZ 2011 Spuren radioaktiver Partikel aus Fukushima sind auf der ganzen Welt nachweisbar. 30. MÄRZ 2011, 13:55 UHR Die Kontamination des Meerwassers am südlichen Wasserauslass von Fukushima I erreicht einen Höchstwert von 180.000 Becquerel pro Liter (Bq/l) I-131 und 47.000 Bq/l Cs137. Dies entspricht ungefähr dem 4000- beziehungsweise 500-fachen der gesetzlichen Grenzwerte für Meerwasser. 04. APRIL 2011 Durch die andauernde Behelfskühlung haben sich in den Turbinenhallen von Block 1 bis 4 ca. 60.000 Tonnen radioaktives Abwasser angesammelt. Tepco beginnt, 11.500 Tonnen kontaminiertes Wasser mit einer Radioaktivität von etwa 14.000 Becquerel pro Liter ins Meer abzupumpen, um Platz für das wesentlich höher belastete Wasser aus den Turbinenhallen zu schaffen.

18:25 UHR Premierminister Naoto Kan ordnet eine Erweiterung des Evakuierungsradius auf 20 Kilometer um das Kraftwerk an.

10. APRIL 2011 17.500 Menschen demonstrieren in Tokio gegen Atomenergie.

13. MÄRZ 2011, 05:10 UHR Alle Notkühlsysteme von Reaktor 3 versagen. Es bilden sich große Mengen Wasserstoff.

22. APRIL 2011 Die 20-Kilometer-Sperrzone um das Kraftwerk tritt in Kraft. 27.000 Haushalte in neun Gemeinden sind davon betroffen.

14. MÄRZ 2011, 11:01 UHR In Reaktorblock 3 ereignet sich eine Wasserstoffexplosion. Der Kraftwerksbetreiber erwägt, das AKW wegen zu großer Gefahren für die Mitarbeiter aufzugeben, erhält jedoch keine Erlaubnis der Regierung.

12. AUGUST 2011 Durch den radioaktiven Abfall liegt die Strahlung in den Müllverbrennungsanlagen teils weit über den zulässigen Grenzwert. Die Entsorgung ist ungeklärt.

15. MÄRZ 2011, 06:12 UHR Explosion im Reaktorblock 4, das Dach wird dabei schwer beschädigt. 08:00 UHR Das japanische Arbeitsministerium setzt die zulässige Strahlungsdosis für Arbeiter in Kernkraftwerken in Notsituationen von 100 auf 250 Millisievert pro Jahr herauf.

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20. MÄRZ 2011 Die japanische Regierung gibt bekannt, dass sie eine vollständige Stilllegung der gesamten Fukushima-I-Anlage anstrebt, auch wenn die Reaktorblöcke 5 und 6 funktionsfähig sind.

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16. DEZEMBER 2011 Japans neuer Ministerpräsident Yoshihiko Noda erklärt, das Kraftwerk Fukushima I ist stabil heruntergefahren (cold shutdown, Kaltabschaltung). Dies ist eine der Voraussetzungen für eine Rückkehr der evakuierten Anwohner. Kritiker und Fachleute bezweifeln, dass man bei einem unklarem Zustand des Reaktorkerns von einer Kaltabschaltung sprechen kann.

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ZAHLEN UND FAKTEN 42 % Anteil der Emission von Cs-137 (36 PBq) im Vergleich zu Tschernobyl. Die Menge des ausgetretenen Xe-133 (15 EBq) war doppelt so hoch wie bei der Katastrophe von 1986. Die freigesetzten radioaktiven Partikel kontaminierten Luft, Böden, Wasser und Nahrungsmittel in der land- und meerseitigen Umgebung. 600 Todesfälle, die infolge der Evakuierung zu beklagen sind. 50 von 800 Tepco-Mitarbeitern arbeiten in den ersten Tagen nach dem Super-GAU weiter im Atomkraftwerk, zusammen mit den Helfern der Feuerwehr und den Selbstverteidigungsstreitkräften. 25.000 ungefähre Anzahl der Arbeiter, die insgesamt zur Bewältigung der Katastrophe bis zum Oktober 2013 eingesetzt wurden. 50.000 - 200.000 die gesetzlichen Grenzwerte für radioaktives Iod und Cäsium im Meerwasser nahe dem Kraftwerk wurden zeitweise um das 50.000bis 200.000-fache überschritten. 10.000 TONNEN ungefähre Menge des mit einer Radioaktivität von 150 Milliarden Becquerel (0,15 TBq) belasteten Wassers, dass aus dem Kraftwerk in der Zeit vom 04. bis zum 10. April ins Meer gepumpt wurde, um Platz für die Lagerung des noch stärker kontaminierten Abwassers zu schaffen. 30 BIS 40 JAHRE Zeitraum, der für die Aufräumarbeiten im AKW Fukushima voraussichtlich benötigt werden wird. 157.000 TONNEN Menge des radioaktiven Mülls, der sich bis Ende 2014 in der Sperrzone angesammelt hat.

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TSCHERNOBYL 1986 mit Cs-137 kontaminierte Fläche > 10kBq/m2

1.437.000 km2 **

% der Landesfläche

37 % Europas **

Menge des freigesetzten Cs-137 Menge des freigesetzten I-131

Bq Menge einer radioaktiven Substanz. Die Aktivität gibt die mittlere Anzahl der Atomkerne an, die pro Sekunde radioaktiv zerfallen. Cs-137 Das radioaktive Isotop Cäsium (137Cs), ist ein Produkt der Kernspaltung. I-131 Das instabile Iodisotop (131I) entstet bei der Kernspaltung und stellt bei seiner Freisetzung in die Luft eine Gesundheitsgefahr dar, weil es sich in der Schilddrüse anreichern kann.

85 PBq *** 1.760 PBq *

Kollektivdosis

400.000 Person-Sv *

Kollektivdosis Schilddrüse

2.240.000 Person-Gy **

Bewohner in stark verstrahlten Gebieten eingesetzte Liquidatoren Kosten für die Wirtschaft

6.400.000 *** 530.000 *** nicht abschätzbar

Personen-Sv Produkt aus der Anzahl der Personen der exponierten Bevölkerungsgruppe und der mittleren Dosis pro Person. Als Einheit für die Kollektivdosis ist das „Personen-Sievert“ üblich. Personen-Gy Die Einheit ist der Quotient aus der aufgenommenen Energie und der Masse des Körpers. Ersetzt die alte Einheit rad.

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2011 FUKUSHIMA 30.000 km2 **** 8 % Japans **** 12 PBq * 150 PBq *

mit Cs-137 kontaminierte Fläche > 10kBq/m2 % der Landesfläche Menge des freigesetzten Cs-137 Menge des freigesetzten I-131

48.000 Person-Sv *

Kollektivdosis

112.000 Person-Gy **

Kollektivdosis Schilddrüse

~ 1.000.000 ~ 16.000 ~ 500 Mrd. US-Dollar

Bewohner in stark verstrahlten Gebieten eingesetzte Liquidatoren Kosten für die Wirtschaft

Aus dem TORCH-Report 2016 präsentiert im Europäischen Parlament am 07. April 2016 von Dr. Ian Fairlie

* UNSCEAR 2013

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** TORCH 2016

*** UNSCEAR 2008

Quellenangaben **** JAPANESE SCIENCE MINISTRY

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QUELLEN: REN 21 THE WORLD FACTBOOK - CIA RENEWABLES 2015 GLOBAL STATUS REPORT

ATOMENERGIE-POLITIK IN EUROPÄISCHEN LÄNDERN 2015 LÄNDER MIT LAUFENDEN ATOMKRAFTWERKEN UND TEILWEISE MIT AUSBAUPLÄNEN LÄNDER OHNE LAUFENDES AKW MIT AKTUELLEN BAUPLÄNEN LÄNDER MIT LAUFENDEN AKWs ABER AUSSTIEGSABSICHTEN LÄNDER OHNE LAUFENDE AKWs UND OHNE AKW-BAUPLÄNE

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GRAFIK: M.M

EUROPÄISCHE AKTIONSWOCHEN 2016 ÜBER 200 ORTE NORWEGEN GROSBRITANNIEN ÜBER 300 VERANSTALTUNGEN DEUTSCHLAND BELGIEN MIT BETEILIGUNG VON TSCHECHIEN MEHR ALS 50 ZEITZEUGEN ÖSTERREICH AUS BELARUS, JAPAN POLEN UND DER UKRAINE BELARUS UKRAINE FRANKREICH ITALIEN SPANIEN TÜRKEI ep2 Juli 2016

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HITOMI KAMANAKA „THE LITTLE VOICES OF FUKUSHIMA“ INTERVIEW MIT DER JAPANISCHEN DOKUMENTARFILMAUTORIN HITOMI KAMANAKA Geführt von den „Europäischen Perspektiven“ Juli 2016

HITOMI KAMANAKA, DIE BEKANNTE JAPANISCHE DOKUMENTARFILMAUTORIN UND REGISSEURIN, DIE SICH AUSFÜHRLICH MIT DEM THEMA ATOMKRAFT IN JAPAN AUSEINANDERSETZT, BEREISTE AUF EINLADUNG DES IBB DORTMUND ZWEI WOCHEN LANG DEUTSCHLAND UND FRANKREICH, UM IM RAHMEN DER EUROPÄISCHEN AKTIONSWOCHEN 2016 IHREN DOKUMENTARFILM „THE LITTLE VOICES OF FUKISHIMA“ VORZUSTELLEN.

Die amerikanische Regierung ließ offiziell verlauten, von Uranmunition gehe keine Gefahr für die zivile Bevölkerung aus. Doch ich stellte etwas anderes fest: Die Munition, die ich fand, war hochgradig radioaktiv. So wurde ich mir der Gefahr der Radioaktivität bewusst. Vor allem auch der Gefahr, die selbst eine niedrige Strahlenbelastung in sich birgt. Kinder reagieren sehr empfindlich auf diese Strahlung. Ich war deswegen sehr besorgt und ich fühlte, dass ich etwas tun muss, um die Kinder vor der radioaktiven Kontamination zu schützen. Aus diesem Grund habe ich drei Filme zu diesem Thema gedreht – eine Atomtrilogie – und konzentriere mich seitdem auf die Atomproblematik. Können Sie sich an den Moment erinnern, als sie von dem Unfall in Fukushima erfuhren? Was haben Sie damals gedacht?

Frau Kamanaka, wie kamen Sie auf die Idee diesen Film zu drehen? Haben Sie sich schon früher für das Thema Tschernobyl oder Atomenergie interessiert?

Als das Erdbeben begann, war ich in Tokio, dort wurde gerade „Ashes to Honey“ gezeigt – der dritte Film aus meiner Atomtrilogie, der das Thema Atomkraft und erneuerbare Energien behandelt. Zwei Stunden später erfuhr ich von dem Tsunami und dachte sofort an einen möglichen Unfall in Fukushima. Ich startete Aufrufe in sozialen Netzwerken, in denen ich den Menschen riet, sich vor einer möglichen Katastrophe in Sicherheit zu bringen. Die Nachricht über den Ausfall der Reaktorkühlsysteme ließ mich schließlich vermuten, dass es tatsächlich zu einer Kernschmelze kommen könnte. Den Menschen, die sich mit Kernkraftwerken auskennen, wurde spätestens in diesem Moment klar, dass die Situation nicht mehr beherrschbar war.

Im Jahr 1998 bin ich in den Irak gereist um dort einen Beitrag für die NHK (Japanische Rundfunkgesellschaft) zu drehen. Vor Ort traf ich auf viele Kinder, die an Leukämie oder anderen Krebsarten erkrankt waren. Die Ärzte im Irak erklärten mir, dass sowohl die amerikanische als auch die britische Armee während des Golfkrieges Uranmunition einsetzten. Nach dem Golfkrieg stieg die Zahl der Leukämieerkrankungen bei Kindern stark an.

Ich war – wie gesagt – zu diesem Zeitpunkt in Tokio und traf umgehend die Entscheidung die Vorführung meines Films beenden zu lassen. Ich habe alle Fenster und Türen geschlossen und mich angesichts der möglichen Katastrophe auf eine Evakuierung vorbereitet. Ich verschickte weitere Nachrichten, in denen ich die Menschen dazu aufrief, sich Schutzmasken zu besorgen und danach nicht mehr ihre Häuser zu verlassen. Doch all das kam bereits zu spät.

HITOMI KAMANAKA JAPANISCHE DOKUMENTARFILMAUTORIN „LITTLE VOICES OF FUKUSHIMA“

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QUELLE: TOKYO2013.EARTHSYSTEMGOVERNANCE.ORG

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Zur Kernschmelze kam es, noch bevor ich Tokio verließ. Ich für meinen Teil konnte einigermaßen die Ruhe bewahren, da die Katastrophe für mich absehbar war.

Welche Lehren können aus der FukushimaKatastrophe gezogen werden?

Warum haben Sie “die Stimmen der Müttern” als Hauptcharaktere Ihres Filmes ausgesucht?

Die derzeitige japanische Regierung möchte die Atomkraftwerke wieder hochfahren. Das ist auch ein Grund, warum sie die Risiken der radioaktiven Kontamination nicht eingestehen wollen. Wir müssen uns über die Auswirkungen von Atomkatastrophen klar werden – durch sie gehen viele Menschenleben verloren und die Zukunft der Überlebenden wird ruiniert! Japan sollte der Atomenergie abschwören und so schnell wie möglich auf erneuerbare Energien umsteigen.

Nach meiner Reise in den Irak machte ich mir Sorgen um die Kinder. Mütter sind diejenigen, die sich die meisten Sorgen um ihre Kinder machen.

Wie beeinflusst die japanische Mentalität die Handlungsweise der Menschen in Bezug auf die Katastrophe?

Die Frauen in ihrem Film – haben sie eher bereitwillig Auskünfte gegeben oder mussten sie dazu überzeugt werden?

Die Regierung wird mehr respektiert als die eigene Persönlichkeit. Die japanische Mentalität, verhindert somit den Blick auf die Realität.

Es war extrem schwierig Menschen zu finden, die dazu bereit waren darüber zu sprechen, wie sie in Fukushima leben. Alle hatten Angst etwas über die Strahlung zu sagen. Sie fühlten sich schuldig und befürchteten, dafür kritisiert zu werden. Ich musste bei den Frauen und auch ihren Ehemännern drei Jahre lang Überzeugungsarbeit leisten, ehe sie bereit waren sich vor der Kamera zu äußern. Diese Arbeit war die schwerste während des gesamten Drehs.

Welche sozialen Probleme wurden durch die Katastrophe aufgedeckt?

Hatten Sie keine Angst in die kontaminierten Gebiete zu reisen?

Sie nahmen an den Europäischen Aktionswochen 2016 teil. Was hat Sie am meisten beeindruckt?

ich habe auch davor gewarnt, dass die radioaktive Wolke die Region Tokio erreichen werde. Die Tatsache, dass die Medien diese Möglichkeit nicht einmal in Betracht gezogen haben, macht mich sehr wütend.

Die Angst verspüre ich noch heute. Ich habe versucht mich so gut wie möglich zu schützen. Möglicherweise war das aber nicht genug oder ich war dem bereits zu lange ausgesetzt. Ich leide heute an akutem grauen Star und an Herzproblemen.

Der Wissensstand der Bevölkerung ist in den Bereichen Medien und Radioaktivität erschreckend niedrig. Die Regierung möchte, dass unser Volk auch weiterhin keinen Zugang zu diesen Informationen erhält. Man kann daher sagen, dass sowohl die Medien als auch die Bildung einer staatlichen Kontrolle unterliegen.

Die Deutschen achten die Menschenrechte auf einem so hohen Niveau, das hat mich tief beeindruckt. Ich bin sehr dankbar dafür, dass diese Menschen den Kindern aus Fukushima helfen möchten.

Sind die Menschen, die in den verstrahlten Gebieten geblieben sind, Ihres Erachtens, Helden oder nicht ganz bei Trost? Sie sind Opfer. Anfangs wurden sie falsch informiert. Danach hatten sie einfach keine andere Wahl. Die japanische Regierung hat die Menschen dazu gebracht aufzugeben. Wurde Ihr Film „The little voices of Fukushima“ in Japan gezeigt? Gab es Kommentare seitens der japanischen Regierung? Mein Film lief in 50 japanischen Independent-Kinos und wurde 150 mal vor verschiedenen interessierten Bürgergruppen gezeigt. Die japanische Regierung ignoriert mein Film.

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30 JAHRE TSCHERNOBYL ZEITZEUGEN DER VERGANGENHEIT UND ATOMENERGIE HEUTE KONFERENZ IM EUROPAPARLAMENT BRÜSSEL, 07. APRIL 2016

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30 JAHRE TSCHERNOBYL „ZEITZEUGEN DER VERGANGENHEIT UND ATOMENERGIE HEUTE“ Eröffnungsrede von EU-Parlamentspräsident Martin Schulz Brüssel, 7. April 2016

Heute sind wir im Europäischen Parlament zusammen gekommen, um des Super-GAUs von Tschernobyl vor 30 Jahren zu gedenken. Am 26. April 1986 kam es in diesem Kernkraftwerk zur totalen Kernschmelze. Das ist nicht nur eine der größten technologischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts, sondern eine Tragödie mit furchtbaren Folgen. Ich glaube, die Tragödie vom 26. April gehört zu den Tagen, die in der Erinnerung bleiben, bei denen jeder weiß, wo er war, als darüber erfahren hat und was ihm oder ihr bei dieser Nachricht durch den Kopf ging. Ich fühle mich bis heute sehr davon berührt, weil ich damals ein junger verheirateter Ehemann war, der mit seiner hochschwangeren Frau in Nidersachsen auf dem Weg nach Wümme in Schleswig-Holstein zu unseren Freunden war.

es gibt aber auch welche, die von unzähligen Zehntausenden, manche von Hunderttausenden berichten. Ganz sicher ist, dass ca. 300 000 Menschen ihre Heimat haben verlassen müssen, sie haben ihr Zuhause endgültig verloren. Es wurden Gemeinden zerrissen, ganze Regionen sind unbewohnbar. Bis heute ist die Region Tschernobyl extrem stark betroffen. Die nur wenige Kilometer entfernt liegende Stadt Pripyat ist auch 30 Jahre danach eine Geisterstadt. Aufgrund von Verstrahlungen wurden Nahrungsmittel in der Gänze in der Region verboten, Pilze und Wildbret aus der Region sind belastet. Und: Was macht man mit der Ruine von Tschernobyl-AKW? Was tun mit den Resten? Der Rückbau ist technisch und finanziell ungeheuer aufwändig. Die neue Schutzhülle, die den provisorischen Schutzmantel von 1986 ersetzen soll, wird frühestens 2017 fertig sein und kostet 1,5 Billionen Euro. Eine unvorstellbare Summe!

MARTIN SCHULZ (RECHTS) EU-PARLAMENTSPRÄSIDENT

BEI SEINER ERÖFFNUNGSREDE IM RAHMEN DER EUROPÄISCHEN

Diese Nachricht beschäftigt meine Frau und mich bis heute in dem Sinne, dass wir großes Glück hatten. Wären wir näher dran gewesen, wer weiß was uns widerfahren wäre.

Die Konsequenzen aus diesem Unglück sind bis heute nicht in ausreichendem Maße gezogen

AKTIONSWOCHEN IM EU-PARLAMENT IN BRÜSSEL

Nicht alle Details dieser Katastrophe sind geklärt. Was wir wissen: zwei Explosionen haben Reaktorblock 4 in Tschernobyl zerstört. Sie haben radioaktives Material in die Atmosphäre geschleudert, weite Teile Russlands, Belarus und der Ukraine verseucht und eine radioaktive Wolke bis nach Mitteleuropa getragen. Ich war Bürgermeister und habe, wie viele Bürgermeister in Nordrhein-Westfalen, alle Sandkästen ausgetauscht und den Sand aus allen Spielplätzen geholt. Ich weiß bis heute nicht, ob das eine sinnvolle Maßnahme war, aber Sie sehen, wie dieses Ereignis bis weit in Europa in den Alltag hineingewirkt hat. Genaue Zahlen zu den Folgen zu den Verstrahlten, Erkrankten und Verstorbenen sind bis heute nicht bekannt und werden möglicherweise auch nie ermittelt werden können. Schätzungen bezüglich der Gesundheitsfolgen und Todesfälle variieren enorm. Bei uns gibt es Studien, die von wenigen Tausenden sprechen,

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worden. Das kann man daran sehen, dass Tschernobyl nicht das letzte Unglück war. Vor fünf Jahren, am 11. März 2011, erreichten uns die Nachrichten des Erdbebens und Tsunamis im Osten Japans, eine Naturkatastrophe, die den Reaktorunfall von Fukushima ausgelöst hat. Gleiches Szenario, eine unvorstellbare Katastrophe, enorme Mengen an radioaktivem Material, das die Umgebung verseucht. Bis heute gibt es ebenfalls ungeklärte und nicht beantwortete Fragen: Wie viel Wasser ist da tatsächlich ausgetreten? Mehr als 150.000 Menschen haben aus der Sperrzone evakuiert werden müssen. 97.000 sind bisher nicht zurückgekehrt. Die Strahlenbelastung bleibt kontinuierlich hoch. Bis heute konnte gerade ein Drittel der Region dekontaminiert werden - und eine vollständige Reinigung der verstrahlten Böden, der Gewässer, der Häuser wird Schätzungen von Experten zufolge Jahrzehnte dauern und die entstehenden Kosten werden in die hunderte Milliarden gehen. Wir sind hier im Europäischen Parlament in der Situation, als europäischer Gesetzgeber damit leben zu müssen, dass die Entscheidung über die Nutzung von Kernenergie nicht in den Händen der EU, sondern in den Händen ihrer Mitgliedsstaaten liegt. Deutschland, mein Heimatland, hat sich bekanntlich für den Ausstieg aus der Kernenergie entschieden. Andere Länder haben sich entschieden, neue Kernkraftwerke zusätzlich zu bauen. Es ist nicht so, dass es einen Konsens in Europa gäbe. Es gibt nicht einmal einen Minimalkonsens über Gegenwart und Zukunft der Kernenergie. Ich sage das an einem Tag, an dem ich in den Zeitungen ohne Unterbrechungen lese, dass in den Niederlanden die Demokratie gesiegt hätte, weil sie mit der Ukraine kein Assoziierungsabkommen abschließen wolle. Bei einer Wahlbeteiligung von 32 Prozent. Wenn es bei einer Wahl eine Wahlbeteiligung von 32 Prozent gäbe, würden wir alle sagen, was für ein katastrophales Ergebnis bei der Wahlbeteiligung. Bei einer solchen Wahl sagen die Leute, das sei ein Sieg der Demokratie.

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Wir müssen uns schon mal genau überlegen, worüber wir hier diskutieren. 60 Prozent von 32 Prozent sind nach meinem mathematischen Verständnis knapp zehn Prozent der Bevölkerung. Wie hat man zu interpretieren, was die übrigen 90 Prozent von diesem Referendum gehalten haben? Ich sage das, weil die Propagandisten der Renationalisierung unrecht haben: Es gibt Bereiche, in denen wir nicht weniger, sondern deutlich mehr europäische Kompetenz brauchen, zum Beispiel bei der Frage der Energiepolitik. Warum? Nukleare Wolken kennen keine Staatsgrenzen und betreffen die Menschen überall und die Risiken sind eben nicht gleich verteilt. Ich lebe im Aachener Grenzgebiet - das ist meine Wahlregion - vom belgischen AKW Tihange Luftlinie 39 km entfernt. Ich kenne die Ängste von Menschen gegenüber der Atomkraft. Ich war auch viele Jahre Bürgermeister einer Stadt, die in unmittelbarer Nähe der Kernforschungsanlage Jülich liegt. Ich weiß also, wovon ich rede, wenn wir von Risiken der Kernenergie reden. Auf der europäischen Ebene wurde Fukushima zum Anlass genommen, 145 Atomkraftwerke einer umfassenden Risiko- und Sicherheitsbewertung zu unterziehen. Die Mitgliedsstaaten sind verpflichtet, ihrer Verantwortung nachzukommen, um bessere Sicherheits- und Umweltstandards in der Kernenergie, solange sie genutzt wird, zu garantieren. Die Auseinandersetzung mit den Folgen und Lehren der Katastrophe von Fukushima und Tschernobyl ist nach wie vor so aktuell wie vor 5 oder vor 30 Jahren. Ihre Veranstaltung leistet hoffentlich einen Beitrag dazu, dass das Bewusstsein für die Gefahren, aber auch für die Aufgaben, die wir haben, erhalten bleibt und ich glaube, bei einer Pionierin der Anti-Atombewegung, die eine bedeutende Fraktionschefin in diesem Hause ist, liegt dieses Thema nicht nur in guten Händen, sondern nach 40-jähriger ungebrochener Kampfkraft in den Händen einer Frau, die sich nicht davon abbringen lässt, dass dieser Kampf ein ehrenwerter und guter ist.

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30 JAHRE TSCHERNOBYL „ZEITZEUGEN DER VERGANGENHEIT UND ATOMENERGIE HEUTE“ Redebeitrag von Rebecca Harms, Fraktionsvorsitzenden der Grünen im EU-Parlament Brüssel, 7. April 2016

Für die kommende Plenarwoche in Brüssel möchte ich eine Resolution zu Tschernobyl auf die Tagessordnung nehmen. Diese Resolution sollte sich mit den zu ziehenden Lehren aus Tschernobyl und was wir aus dieser Katastrophe lernen können beschäftigen. Die intensive Auseinandersetzung mit der Unvollkommenheit des Lernens und der Wissenschaft ist ein unterschätztes und wenig beachtetes Thema. Es gibt inzwischen ein ganzen Berg von wissenschaftlichen Arbeiten zum Thema Tschernobyl, den niemand überschauen kann, doch dieser Berg verdient es kritisch gewürdigt zu werden, auch um entscheiden zu können, wie die Forschung insbesondere zu den Gesundheitsfolgen von Radioaktivität stehen muss. Wir haben das Programm unserer Konferenz in drei Teile aufgeteilt. Im ersten Teil möchten wir uns mit Zeitzeugen auseinandersetzen, welche uns helfen sollen auch nach dreißig Jahren richtig zu verstehen, das diese Katastrophe bis heute nachwirkt.

danach in Kiew und in Moskau mit dem Schriftstellerverband öffentliche Veranstaltungen über ihre Beobachtungen zu organisieren. Dies hatte für mich weitreichende Folgen, weil ich mich lange nicht mehr nur mit Tschernobyl, sondern mit der gesamten Atomenergie im Osten beschäftige. Aber ich beschäftige mich auch mit der weiteren politischen Entwicklung der Sowjetunion, so wie ich sie 1988 erlebt habe. Der Zerfall der Sowjetunion, der auch durch die Tschernobyl-Katastrophe vorangetrieben worden ist, ist bis heute nicht verwunden und mündet zurzeit leider in einer neuen Eskalation zwischen den Nationen im Osten des Kontinentes. Es gibt in jedem Leben, auch in einem Politikerleben, Ereignisse und Erlebnisse, die sich besonders stark einprägen. Ein solches Erlebnis war für mich 1988 der Besuch in Tschernobyl. Ich verbrachte einen Tag in der Zone, sprach mit einigen Liquidatoren und Wissenschaftlern, lernte zufällig Menschen kennen, die in dem schon wieder in Betrieb genommenen Kraftwerk arbeiteten. Ich habe mit Soldaten der Roten Armee gesprochen, als wir zurück aus der Zone nach Kiew fuhren – sie stan-

REBECCA HARMS (LINKS) FRAKTIONSVORSITZENDE DER GRÜNEN IM EUROPAPARLAMENT

BEI IHRER REDE IM RAHMEN DER EUROPÄISCHEN AKTIONSWOCHEN IM EU-PARLAMENT IN BRÜSSEL

Im zweiten Teil der Veranstaltung haben wir geplant über die gesundheitlichen Folgen des Tschernobyl Fallouts zu sprechen. Der dritte Teil beschäftigt sich mit der Atomkraft heute, insbesondere im Osten - denn wenn man aus dem andauernden Kampf gegen die Folgen wirklich etwas gelernt hat, dann kann man nicht für die Fortsetzung dieses atomaren Abenteuers sein, auf das sich die Menschheit vor einem Jahrhundert eingelassen hat. Ich möchte mich heute bei dem PEN-Club der Sowjetunion dafür bedanken, dass er mich 1988 nach Moskau und Kiew einlud. Den Schriftstellern des Sowjetischen PEN-Clubs ist es zu verdanken, dass ich seit 1988 eine besondere Beziehung zur Ukraine, zu Russland und zu Belarus habe. Zu Perestroika-Zeiten waren diese Schriftsteller der Auffassung, dass es gut wäre, wenn Menschen aus der Antiatombewegung in die Zone des Ausschlusses, nach Tschernobyl, gehen würden, um

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den als Tramper am Straßenrand und konnten es gar nicht fassen deutsche Bürger getroffen zu haben, die in Tschernobyl gewesen sind […] Diese Gespräche haben mir gezeigt, dass die Menschen nach dem Eintreten der Katastrophe die Herausforderung annahmen die Folgen zu bekämpfen, und sie dabei lediglich eine ungefähre Vorstellung hatten, wie gefährlich das eigentlich war, was sie dort gemacht haben. Sie haben schnell realisiert, dass das atomare Feuer ohne ihren Einsatz nicht unter Kontrolle zu bringen gewesen wäre, aber sie haben auch nach und nach verstanden, dass dieser „Krieg“ nur vordergründig zu gewinnen wäre. Sie wussten, es würde ihnen gelingen das Feuer zu löschen, die Kontamination zu begrenzen, aber sie wussten auch, dass sie Opfer dieses Krieges sein würden. Wer sich diesem Kampf stellte, um das Überleben der Nation und der Menschen zu sichern, hatte eigentlich keine Chance selber diesen Kampf gesund und wohlbehalten zu überstehen – darüber wurde nur leider zu wenig aufgeklärt. Und das schlimmste war, dass sie kaum Chancen hatten ihren Kindern das zu garantieren, was man seinen Kindern so gerne garantieren will - ein gesundes und wohlbehaltenes Leben.

Es gab eine Zeit vor Tschernobyl. Aber es gibt keine Zeit mehr danach. Es gibt nur noch ein „SEIT“. 22

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Ich habe vor einiger Zeit mit der Nobelpreisträgerin für Literatur Swetlana Alexijewitsch gesprochen. Mit ihrer Arbeit hat Sie über die Geschehnisse in der Sowjetunion, in Russland, Belarus und der Ukraine berichtet und dazu beigetragen, dass wir heute besser verstehen können, was im Osten unseres Kontinentes passiert ist. Aber mit ihrem Buch über Tschernobyl hat sie uns mit auf den Weg gegeben, dass wir mit einer Katastrophe zu tun haben, die niemals vorbei sein wird. Eine alte Frau, eine Rückkehrerin in das Sperrgebiet, die ich kennengelernt habe, hat mir schon 1988 gesagt, dass die Welt, in der sie lebte, noch vor der Katastrophe in zwei Teile zerfiel: vor dem Großen Vaterländischen Krieg und danach. Die Anwendung eines solchen Musters auf die Zeit ist für die Katastrophe in Tschernobyl nicht möglich. Es gab eine Zeit vor Tschernobyl, aber es gibt keine Zeit mehr danach. Es gibt nur noch ein „seit“. Diese Katastrophe ist heute immer noch aktuell. Wir leben inzwischen mit zwei Katastrophen, die wir nicht in den Griff bekommen können – der Katastrophe von Tschernobyl und der Katastrophe von Fukushima. Angesichts dessen, dass die Menschheit der Herausforderung der nuklearen Katastrophe nicht gewachsen ist, ist unsere Aufgabe - den Weg aus der Atomenergie und dem Atomzeitalter herauszubahnen. Ich hoffe, dass wir mit der heutigen Konferenz einen Beitrag dazu leisten können.

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30 JAHRE TSCHERNOBYL „ZEITZEUGEN DER VERGANGENHEIT UND ATOMENERGIE HEUTE“ Redebeitrag von Peter Junge-Wentrup, Leiter des IBB - Dortmund Brüssel, 7. April 2016

Gestatten sie, dass ich einige Worte zu den Europäischen Aktionswochen „Für eine Zukunft nach Tschernobyl und Fukushima“ sage. Zu unseren Partnern, Freunden, gehören die Liquidatoren. Sie haben in den Jahren 1986 bis 1989 am Reaktor von Tschernobyl gearbeitet und damit ihre Gesundheit ruiniert. In gleicher Weise sind auch die Menschen betroffen, die um Fukushima herum gelebt haben. Über 850.000 Menschen – Soldaten, Polizisten, Piloten, Ingenieure, Feuerwehrleute - waren 1986 bis 1989 in Tschernobyl im Einsatz; sie wussten nicht, welche Konsequenzen dieser Einsatz für ihre Gesundheit haben wird. Es waren nicht nur 45.000 Menschen betroffen, die in Pripjat lebten und die Bewohner der 30 km Zone um Tschernobyl herum. Alleine in Belarus mussten die Bewohner von 485 Dörfern ihre Häuser verlassen – diese Dörfer wurden aufgegeben. Von den über 850.000 Liquidatoren lebten in der Ukraine ca. 550.000 und 120.000 in Belarus; sie haben sich in Verbänden organisiert und kämpfen für soziale Unterstützung und medizinische Versorgung. Etwa 300.000 sind heute bereits verstorben und alle sind frühverrentet. Ja, sie kämpfen für ihre Renten und besonders für ihre medizinische Versorgung und es ist ein aussichtsloser Kampf, weil in der Ukraine aktuell andere Probleme vorrangig sind. Man begegnet den Liquidatoren oft nur mit einem Lächeln oder gar Argwohn: „Was wollt ihr schon wieder? Wir haben eigene Probleme und unser Land steht vor anderen Krisen“. Wie kann also heute eine vernünftige Unterstützung aussehen? Wir sehen nur die Möglichkeit einer Hilfe zur Selbsthilfe und möchten Sie bitten zu prüfen, ob ein Programm zur Gründung von sozialen Unternehmen durch einen Fonds der Europäischen Union finanziell gefördert werden kann. Die Gesetzgebung in der Ukraine sieht vor, dass Unternehmen, die vorrangig Menschen mit Behinderungen beschäftigen, steuerlich begünstigt

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werden. Es ist jedoch unmöglich, solche Unternehmen ohne Startkapital zu gründen. Kann die Europäische Union hier einen Fonds auflegen, der möglichst unbürokratisch und schnell eine Hilfe ermöglichen?

PETER JUNGE-WENTRUP LEITER DES INTERNATIONALEN BILDUNGS- UND BEGEGNUNGSWERKS, DORTMUND

Menschen, die aus eigenem Erleben von Tschernobyl und Fukushima berichten können, sind das Herzstück der Europäischen Aktionswochen „Für eine Zukunft nach Tschernobyl und Fukushima“. In über 200 Städten in Europa, in über 300 Veranstaltungen berichten sie von ihrem Schicksal. Es sind Veranstaltungen in Kirchengemeinden, bei Berufsgruppen wie der Feuerwehr oder in Schulen. Wir erinnern am 25. April mit Kerzenaktionen an die Katastrophen von Tschernobyl und Fukushima und verbinden damit ein zentrales Ziel: den Umbau unserer Industriegesellschaften im Hinblick auf eine nachhaltige Energieversorgung, eine nachhaltige Produktion und einen nachhaltigen Lebensstil. Wir wollen ohne atomare Bedrohung in diesem Europa leben.

BEI SEINER REDE IM RAHMEN DER EUROPÄISCHEN AKTIONSWOCHEN IM EU-PARLAMENT IN BRÜSSEL

Die Europäischen Aktionswochen werden durch ein ehrenamtliches Engagement von vielen Initiativen europaweit getragen. Sie werden unter-

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stützt durch die Förderung der Evangelischen Kirche von Westfalen und der Stiftung Umwelt und Entwicklung in NRW. Die Europäischen Aktionswochen wären nicht möglich, wenn es nicht das „Internationale Tschernobyl Netzwerk“ geben würde. Es ist ein Netzwerk, das sehr stark von den Initiativen vor Ort lebt. In allen europäischen Ländern haben sich Anfang der 1990er Jahre Initiativen gebildet, die Kinder aus den Tschernobylregionen aufnehmen oder Projekte in Belarus und der Ukraine mit Partnern vor Ort realisieren:

• Über 1 Mio. Kinder aus diesen Ländern waren zu Gast in westeuropäischen Familien. • Es gibt partnerschaftliche Kooperationen im Hinblick auf gesundheitliche Versorgung, Erziehung, gesunde Ernährung usw.

Über 100.000 Menschen sind in dieser Bewegung heute noch aktiv und es gibt Initiativen in allen europäischen Ländern. Völlig außergewöhnlich ist dabei das große Engagement in Italien. Gestatten Sie, dass wir auf eine Tatsache aufmerksam machen, die wir nicht verstehen und die aus unserer Sicht nicht sein darf: In England gibt es mehrere 100 Initiativen, die Kinder aus den Tschernobylregionen der Ukraine und Belarus einladen. Die Eltern übernehmen die Kosten für die Reisen, die Unterkunft und das Programm und sie suchen Sponsoren vor Ort. Pro Kind zahlen sie aktuell jedoch auch ca. 100 Euro an Visakosten. England gehört nicht zum Schengen-Raum. Dies ist jedoch unvereinbar mit dem

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Grundsatz der Freizügigkeit in Europa und einem sozialen Europa. Wir bitten Sie, das Gespräch mit den britischen Kollegen zu suchen. Herr Schulz, in ihrem Brief schreiben Sie, dass das Parlament tief besorgt ist über die Sicherheit der bestehenden Atomkraftwerke. Wir teilen diese Sorge. Dabei gibt es in Europa eine neue Bedrohungslage. Wir treffen uns heute in Brüssel, wo vor etwa 14 Tagen mehrere terroristische Aktionen stattfanden. Kann ausgeschlossen werden, dass diese terroristischen Aktionen vor oder gar in Atomkraftwerken stattfinden mit den verheerenden Auswirkungen, wie wir sie von Tschernobyl oder Fukushima kennen? Wie kann es sein, dass alte Kraftwerke am Netz bleiben, obwohl sie Haarrisse aufweisen? Wie kann es sein, dass Kraftwerksbetreiber wieder und wieder ihrer Informationspflicht nicht nachkommen wie bei Störfällen in Fessenheim? Was unternimmt das Europäische Parlament und die Europäische Kommission, um in den einzelnen Ländern zum Abschalten der Atomkraftwerke und zum zügigen Ausstieg zu kommen? Was unternimmt das Europäische Parlament, um Regierungen davon abzuhalten, Atomkraftwerke zu bauen obwohl sie heute noch keine haben? Wie viele Unfälle und Katastrophen brauchen wir noch, um zu einer Umkehr in der Energiepolitik europaweit zu kommen?

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RÜCKBLICK - GEDENKEN AN TSCHERNOBYL, ZEITZEUGEN BERICHTEN „ZEITZEUGEN DER VERGANGENHEIT UND ATOMENERGIE HEUTE“ Redebeitrag von Katja Petrowskaja, deutsch-ukrainische schriftstellerin Brüssel, 7. April 2016

„Zeitzeugen von Tschernobyl“ – das sind viele Menschen in der Ukraine, in Weißrussland, in Russland, klar, aber auch in Polen, in Deutschland, Schweden, in Norwegen, in der Türkei, in Großbritannien, in Irland – eigentlich in ganz Europa und sogar darüber hinaus. Tschernobyl war und ist eine internationale Tragödie, unser gemeinsames Leid. Und dennoch gibt es unmittelbare Zeitzeugen. Viele von ihnen waren „Liquidatoren“, also solche Menschen, die die Folgen der Katastrophe tilgen sollten. Es fällt mir schwer, heute mit meiner kleinen Geschichte vor diesen Menschen zu stehen. Es waren Hunderttausende und die Bilder, die kurzen Film-Sequenzen vom Einsatz der „Liquidatoren“ werde ich nie vergessen: In Lederschürzen rennen sie und schaufeln mit Handspaten Trümmerteile vom Dach des Nachbarblocks. Wenige Sekunden nur und schon haben sie ihren Dosisgrenzwert überschritten und werden ausgetauscht. Waren diese Liquidatoren „Helden“? Mussten sie für die Lässigkeit und die Fehler Anderer oder sogar für eine verbrecherische Politik büßen? Wie viele Schicksale hat Tschernobyl beeinflusst und zerstört, wie viele haben mit ihrem Leben bezahlt? Was ich sicher sagen kann, ist: Wir müssen den Liquidatoren sehr dankbar sein. Sie haben die Welt vor noch weitreichenderen Folgen der Reaktorkatastrophe bewahrt. Meine eigene Geschichte liegt am Rande der Tschernobyl-Katastrophe. Ich bin kein Opfer, doch alles, was Tschernobyl angeht, ist auch meine Geschichte – mit den kontaminierten Dörfern und Schicksalen, mit den Kranken und den Toten, mit den vielen, die ihre Heimat verloren haben, mit Kindern, die krank geboren wurden und denen, die es noch werden, es ist Teil meiner Heimat, mit Flüssen, Wäldern und Feldern, die für immer kontaminiert bleiben. Mir ist nichts passiert, im Gegensatz zu Hunderttausenden anderer Menschen.

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In drei Wochen wird sich Tschernobyl zum 30. Mal jähren. Es ist eigentlich falsch mit dem Jahrestag, denn diese Katastrophe kennt keine Vergangenheit. Denn ihre Folgen werden unser Leben überdauern. Tschernobyl übertrifft unsere Vorstellungen von der Zeit und von den Zahlen, es wird sich weiter entfalten in Formen, die selbst für die Wissenschaft unbekannt sind. Nun wird über dem Reaktor ein zweiter Sarkophag gebaut, eines der größten Gebäude Europas – fast so groß wie die Cheops-Pyramide. Geplant ist er für hundert Jahre. Doch müsste er sechzig Mal so alt werden wie die ägyptischen Pyramiden, um die Strahlung für die nächsten 240.000 Jahre zurückzuhalten. Oder müssen es 300.000 Jahre sein? Selbst Wissenschaftler verzichten hier oft auf Zahlen und sagen: „auf ewig“. Es ist schwierig, über Tschernobyl zu erzählen, Tschernobyl zu vermitteln. Man benutzt dafür unbegreifliche Zahlen und unverständliche Bilder. Davon gibt es zwei Arten:

• „Verlassenes“ – Tschernobyl als der Jurassic Park der Sowjetunion mit alten Puppen, morbiden Kreissälen, von Gestrüpp überwachsenen Häusern, und es gibt • „Kranke“ – blasse Kinder, Behinderte mit Missbildungen.

Doch all diese Bilder können die Gefahr von Tschernobyl selbst nicht wirklich erfassen. In jenen Tschernobyl-Tagen ging meine Kindheit zu Ende. Ich war 16, stieg allein in den Zug und fuhr Richtung Moskau. Ich dachte, es sei für alle Fälle, aber es sollte für immer sein. Meine Heimatstadt Kiew liegt nur 90 km südlich von Tschernobyl. Ich ging damals in die 9. Klasse einer zentral gelegenen Schule. Der Unfall ge-

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schah in der Freitagsnacht. Schon am Samstag gab es Gerüchte in der Schule, da viele Kinder Eltern in hoher Stellung hatten: Einige Väter waren in der Nacht geweckt worden und nicht mehr nach Hause gekommen, unter ihnen der Chef der Kiewer Feuerwehr, ein Armee-Oberarzt und einige Funktionäre. Es gab einen Gedicht- und Liederabend in der Aula, und wir blieben bis spät. Draußen tobte ein Gewitter. Es herrschte eine unbestimmte Vorahnung – als wäre es ein Abschied. Im Regen gingen wir nach Hause. Da war der Regen noch nicht radioaktiv. Heute erinnert man sich weder an den obligatorischen Militärunterricht, noch an die ständige Angst vor dem Krieg. Wir konnten eine Kalaschnikow blitzschnell auseinander nehmen und wussten über zahlreiche Überlebenstricks Bescheid: Während einer Atomexplosion muss man sich mit den Beinen in Gegenrichtung auf den Boden legen, und wir wussten von einem Mädchen aus Hiroshima, das seine Leukämie mit tausend Papier-Kranichen bekämpfen wollte. Wir wussten auch, dass es nicht helfen würde. Wir waren Pioniere und wurden nach dem Motto „Allzeit bereit!“ für die Tapferkeit geschult. Aber niemand war bereit, und niemand wusste Genaues. Meine Eltern hörten damals die „Feindesstimmen“: Radio „Voice of America“ und BBC und haben schnell von der Katastrophe erfahren, aber nicht vom Ausmaß und den Folgen. „Radioaktive Wolke“ klang surrealer als „Landung der Außerirdischen“. Drei Tage nach dem Unfall, als es schon mehrere Tote gab und ganz Pripjat evakuiert wurde, kam die erste offizielle Meldung über „technische Schwierigkeiten“ am Atomkraftwerk Tschernobyl. Meine Eltern verstanden: „Wir“, die Menschen, werden wieder allein gelassen, es gab keine Informationen. Jod trinken, Fenster zu, keine Spaziergänge – nicht einmal diese Ratschläge gab es. Als der Wind aus dem Norden kam, rief ein Physiker an, ein Bekannter meiner Eltern: „Die Kinder müssen weg. Ich erkläre alles später.“ Und dann ein Hämatologe - er hatte Krankenakten

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hervorgeholt und alle seinen Patienten angerufen. Meine Eltern dachten keine Sekunde nach. Ich sollte weg. Doch die Schuldirektoren erlaubten nicht, dass Kinder weggeschickt wurden, es hieß, man könne seinen Parteiausweis verlieren, seinen Posten oder auch die Arbeit. Am 1. Mai, als die Menschenmassen zur Maikundgebung auf den Prachtboulevard Chreschtschatyk strömten, brachten meine Eltern mich zum Bahnhof. Ich fühlte mich als Verräterin, als Feigling, aber ich wusste, was wir tun, ist besser, als zu bleiben. Als der halbleere Zug sich in Bewegung setzte, hörte ich den Marsch „Abschied der Slawin“, der jedes Mal aus den Lautsprechern ertönte, wenn ein Zug Richtung Moskau abfuhr. Dieser Marsch hatte alle Kriege begleitet. Durch das Zugfenster hindurch schaute ich meine Eltern an. Sie kamen mir so alt vor. Ich weiß nicht mehr, woran ich gedacht hatte, denn ich weinte, aber woran sie gedacht hatten, weiß ich heute ganz genau. Sie beide sind Kriegskinder, und dieser Marsch war ihre Schicksalsmelodie. Wir sind in einer Zeit groß geworden, in der es kein Zeitgefühl gab. Breschnew war unsterblich, und die Wolga floss ins Kaspische Meer. Das Atom spaltete sich im Stechschritt. Nichts stimmte, und alles war stabil. Ausgerechnet 1984, jenes Jahr, in das George Orwell im Jahr 1948 die perfekte totalitäre Gesellschaft projiziert hatte, sollte das letzte wirklich sowjetische Jahr werden. Im Oktober 1985 stellte Michail Gorbatschow sein Programm „zur Beschleunigung des Wirtschaftswachstums“ vor. So beschleunigte sich der Zerfall des kaputten Landes, und man glaubte, dass sogar dieses Unheil schon in der Offenbarung von Apostel Johannes prophezeit worden sei, denn das ukrainische Wort „Tschernobyl“ bedeutet „Wermut“. „Und der dritte Engel blies seine Posaune; und es fiel ein großer Stern vom Himmel, der brannte wie eine Fackel und fiel auf den dritten Teil der Wasserströme und auf die Wasserquellen. Und der Name des Sterns heißt Wermut. Und der dritte Teil der Wasser wurde zu Wermut, und viele Menschen starben von den Wassern, weil sie bitter geworden waren.“

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Die ersten Maitage waren frühsommerlich, und alle waren draußen. Offiziell wurde über die Gefahr immer noch kein Wort gesagt, auch weil Kiew für die Friedensfahrt am 6. Mai internationale Gäste erwartete. Danach brach sofort Panik aus. Gerüchte über Tausende von Verletzten in einer „Zone“ um das Atomkraftwerk, über Kinder von Parteifunktionären, die angeblich sofort heimlich mit Gasmasken zum Flughafen gebracht worden waren. Plötzlich sprach man von Lebensgefahr in Kiew. Das Wort „Evakuierung“ fiel. „Evakuierung der Kinder“ – wie im Krieg. Innerhalb von 24 Stunden waren Zug- und Flugtickets für sämtliche Ziele ausverkauft. Am Kiewer Flughafen standen Mütter zu Tausenden und versuchten, ihre Kinder irgendwie und irgendwohin wegzuschicken. Eine meiner Freundinnen erinnert sich, dass jemand neben ihr sagte: „Dieser Koffer wird nicht fliegen, die Oma auch nicht, stattdessen fliegen noch drei Kinder.“ Alle wussten, es war verboten. Aber so flog auch sie, damals 10 Jahre alt, mit ihrem 4-jährigen Bruder nach Taschkent. Sie nahmen nur eine kleine Tasche mit einem Apfel und einem Fläschchen Salmiakgeist mit. Der Hauptbahnhof war belagert von Zehntausenden. Alle Züge und Sonderzüge waren überfüllt. Mütter legten sich auf die Gleise, um die Mitnahme ihrer Kinder zu erzwingen. Dann wurde erlaubt, dass jeder Erwachsene, der eine Fahrkarte hatte, eine unbegrenzte Zahl von Kindern mitnehmen durfte. Sie wurden wahllos in die Züge hinein gequetscht. Diese Szene sehe ich in dokumentarischem Schwarzweiß: Auf der einen Seite die Waggons voll mit schwangeren Frauen, Rentnern, jungen Frauen im Mutterschaftsurlaub und Hunderten von Kindern. Auf der anderen Seite die „erwachsene Bevölkerung“ auf dem Bahnsteig. Und dann noch „Abschied der Slawin“. Niemand hatte das Tonband abgestellt. Die Erwachsenen blieben, sie mussten arbeiten. Erst am 14. Mai, zweieinhalb Wochen nach dem Ereignis, als sich die Menge des radioaktiven Jods schon zum zweiten Mal halbiert hatte, gab Gorbatschow im sowjetischen Fernsehen eine Stellungnahme zu Tschernobyl ab. Nun wurde auch

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Ich fühlte mich als Verräterin, als Feigling, aber ich wusste, was wir tun, ist besser, als zu bleiben. meine Schule evakuiert. Die verbliebenen Schüler drängten zu den Bussen: links und rechts die Kleinen, in der Mitte die Größeren. Die alte Maria, die Putzfrau der Schule, heulte hemmungslos. Hunderte von Bussen verließen Kiew in Richtung Süden. Nur die Abiturienten mussten bleiben. Was war schon Radioaktivität, wenn es um einen Schulabschluss ging? Im Sommer war die Drei-Millionen-Stadt kinderfrei. Kein Lachen, kein Kindergeschrei, keine Kinderwagen, keine schwangeren Frauen. Dafür rund um die Uhr Spritzwagen, die die Straßen rauf und runter fuhren und radioaktiven Staub wegspülen sollten. Auch wenn es regnete. Viel später habe ich festgestellt, dass der Grundstein für die Stadt Pripjat ein paar Stunden nach meiner Geburt gelegt wurde. Vielleicht war diese Stadt mein Zwilling, der nun seit 30 Jahren tot ist. Es wäre eine Erklärung, warum sie mich nicht los lässt, falls man hier überhaupt eine Erklärung braucht.

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TSCHERNOBYL IST NOCH LANGE NICHT VORBEI PAPST FRANZISKUS RUFT ZU SOLIDARITÄT MIT ALLEN BETROFFENEN AUF LIQUIDATOREN ZU GAST BEI EINER GENERALAUDIENZ DES PAPSTES ROM, 20. APRIL 2016

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TSCHERNOBYL IST NOCH LANGE NICHT VORBEI PAPST FRANZISKUS RUFT ZU SOLIDARITÄT MIT ALLEN BETROFFENEN AUF Presseinformation des Internationalen Bildungs- und Begegnungswerks Dortmund Dortmund / Rom, 20. April 2016

QUELLE: L ´OSSERVATORE ROMANO

Papst Franziskus hat in seiner Generalaudienz in Rom am Mittwoch, 20. April 2016, sein Wort an rund 60 Liquidatoren aus der Ukraine und Belarus und Vertreter der europäischen Solidaritätsbewegung gerichtet: „Ein Super-GAU wie in Tschernobyl ist eine Sünde gegen Gottes Schöpfung. Gott gebe Ihnen die Liebkosung der Ausdauer für ihre weitere Arbeit“. Papst Franziskus begrüßte die Delegation – angeführt vom römisch-katholischen Erzbischof von Lwiw (Ukraine), Mieczyslaw Mokrzycki, und vom römisch-katholischen Erzbischof von Minsk und

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Mogiljow (Belarus), Tadeusz Kondrusiewicz, in seiner Ansprache auf dem Petersplatz: „Nicht nur die direkt Betroffenen, sondern die ganze Welt sollte angemessene Konsequenzen aus der Lehre von Tschernobyl ziehen, besonders diejenigen, die für die Energiepolitik verantwortlich sind und von denen das Wohlergehen einzelner Staaten und der internationalen Gemeinschaft insgesamt abhängt.“

PAPST FRANZISKUS BEI DER BEGRÜSUNG ZU SEINER GENERALAUDIENZ AUF DEM PETERSPLATZ IN ROM

Zur Papstaudienz sind 21 Liquidatoren gereist, die sich in ihrer Heimat als Leiter von Tschernobyl-Verbänden sowie als einfache Aktivisten für

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die sozialen und medizinischen Belange der an den Strahlenfolgen leidenden Tschernobyl-Betroffenen einsetzen. Begleitet werden sie von Vertretern der ukrainischen und belarussischen Kirche, der europäischen Tschernobyl-Solidaritätsbewegung aus Deutschland, Großbritannien, Spanien und Italien und vom IBB Dortmund, das die Aktivitäten koordiniert. Die Delegation vertritt damit mehrere Hunderttausend Tschernobyl-Betroffene und die Tschernobyl-Solidaritätsbewegung, die Anfang der 1990er Jahre entstanden ist.

Viele Generationen nach uns werden sich noch mit den Folgen dieser Tragödie beschäftigen müssen

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„Wir sind froh und dankbar, dass Papst Franziskus den Blick der Welt auf die Katastrophe von Tschernobyl und auf die vielen, bis heute Betroffenen gelenkt hat, denn diese Katastrophe ist auch 30 Jahre später noch lange nicht vorbei“, sagte Anatolij Gubarew, Vorsitzender des Liquidatorenverbandes Charkiw (Ukraine) in Rom. „Viele Generationen nach uns werden sich noch mit den Folgen dieser Tragödie beschäftigen müssen.“ Die Pilgerreise haben die Kirchen in der Ukraine und Belarus in Kooperation mit dem IBB Dortmund und der Geschichtswerkstatt Tschernobyl in Charkiw initiiert. An der Reise beteiligen sich rund 60 Personen, unter ihnen die Umweltbeauftragten der griechisch-katholischen Kirche in der Ukraine Volodymyr Sheremeta und Volodymyr Misterman, Pawlo Schwarz als Vertreter der Evangelisch-Lutherischen Kirche in der Ukraine, Joachim Sauer, Projektmanager der katholischen Stiftung Renovabis, Ljubov Negatina, Leiterin der weltweit ersten Geschichtswerkstatt Tschernobyl in Charkiw (Ukraine), und weitere Vertreter des IBB Dortmund. „Die Würdigung durch den Papst ist ein wohltuendes Zeichen der Anerkennung für die Liquidatoren und für uns eine Ermutigung, weiterzumachen mit unserer Arbeit für ein Lernen aus der Geschichte“, sagte Peter Junge-Wentrup, Geschäftsführer des IBB Dortmund. „Wir brauchen die Energiewende in ganz Europa.“

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ANATOLIJ GUBAREW MIT PAPST FRANZISKUS AUF DEM PETERSPLATZ QUELLE: L ´OSSERVATORE ROMANO

IN ROM

MIKHAIL OBRAZOU MIT PAPST FRANZISKUS AUF DEM PETERSPLATZ QUELLE: L ´OSSERVATORE ROMANO

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IN ROM

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ATOMPOLITIK IN DEUTSCHLAND UND INTERNATIONAL 30 JAHRE TSCHERNOBYL, 5 JAHRE FUKUSHIMA: BILANZ UND PERSPEKTIVEN DISKUSSUSSIONSVERANSTALTUNG DER SPD-BUNDESTAGSFRAKTION BERLIN, 27. APRIL 2016

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ATOMPOLITIK NACH TSCHERNOBYL UND FUKUSHIMA AUSZÜGE DER PODIUMSDISKUSSION geleitet von Nick Reimer, Redaktionsleiter des Online-Magazins „Klimaretter“ Berlin, 27. April 2016

Nick Reimer (N.R.): Vor 10 Jahren war ich als Journalist in Belarus – in Gomel und Umgebung – unterwegs. Die Arbeit gestaltete sich schwierig, wir hatten ständig Sicherheitsleute auf den Fersen. Wie ist es heute in Belarus? Peter Junge-Wentrup (P.JW.): Seit 1986 bin ich regelmäßig in Belarus gewesen und habe die Menschen befragt: „Was wisst ihr über Tschernobyl?“ Und ich stieß dabei auf eine Mauer des Schweigens. Erst 1989-1990, als Wissenschaftler Messungen in den verstrahlten Regionen durchführten, sich kritisch zu äußern begannen und schließlich in Minsk demonstrierten, fanden sich Ansprechpartner. Trotz dieser damaligen Kritik, baut das Land heute ein eigenes Atomkraftwerk. Dass Belarus, das wie kein anderes Land von Tschernobyl betroffen ist, nun diesen Weg geht, ist für uns ein ganz großes Drama. Ein Drama auch deswegen, weil viele von uns mit dem Bewusstsein dort tätig gewesen sind, denjenigen, die leiden, helfen zu wollen, und auch um eine Wende in der Europäischen Energiepolitik einzuleiten. Und dass nun, in dem Land, welches wie kein anderes europäische Solidarität erfahren hat, ein Atomkraftwerk gebaut wird – wiegt schwer. Dazu kommt, dass ein belarussisches Atomkraftwerk uns ebenso bedrohen wird, wie die Atomkraftwerke in Frankreich oder anderen europäischen Ländern.

N.R.: Erst der Ausstieg. Dann der Ausstieg vom Ausstieg. Professor Renneberg, nun heißt es wieder Atomausstieg. Wird er dieses Mal kommen?

NICK REIMER (MITTE) REDAKTIONSLEITER DES ONLINE-MAGAZINS „KLIMARETTER“

Wolfgang Renneberg (W.R.): Ich glaube, ja. In Deutschland ist man sich bewusster denn je, dass Kernenergie gefährlich ist. Aber das entscheidende Argument sind letzten Endes die Kosten. Durch die Förderung der erneuerbaren Energien bietet man nun eine Alternative, die der Atomenergie jede Chance nimmt. N.R.: Heinz Smital, Sie sind studierter Kernphysiker, bereits seit 1989 ehrenamtlich bei Greenpeace engagiert und dort seit 2006 hauptamtlich als Atom-Kampaigner tätig. Studiert man nicht die Kernphysik, um an einem Institut für Kernphysik oder an einer Atomanlage zu arbeiten?

PETER JUNGE-WENTRUP LEITER DES INTERNATIONALEN BILDUNGS- UND BEGEGNUNGSWERKS, DORTMUND

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Hainz Smital (H.S.): Man studiert die Kernphysik um zu verstehen was die Welt im Innersten zusammenhält. Dabei wird einem ziemlich schnell klar, wie absurd es ist Energie aus Atomkraft zu gewinnen. Diejenigen, die sich für die Zusammenhänge in der Physik interessieren, werden dadurch automatisch zu Atomkraftgegnern. [...]

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N.R.: Der Atomausstieg ist beschlossene Sache, aber acht Reaktoren laufen einfach weiter. Herr Peter Junge-Wentrup, ist dies ein Ausstieg den wir gutheißen sollten?

PROF. WOLFGANG RENNEBERG VON 1989 BIS 2009 LEITER DER ABTEILUNG REAKTORSICHERHEIT IM BUNDESUMWELTMINISTERIUM, IST HEUTE PROFESSOR FÜR RISIKOWISSENSCHAFTEN AN DER UNIVERSITÄT FÜR BODENKULTUREN WIEN

P.JW.: Dass wir die Europäischen Aktionswochen in etwa 50 deutschen Städten und europaweit in 200 weiteren Städten durchführen, bei über 300 Veranstaltungen über Tschernobyl und Fukushima reden, zeigt doch: Wir sind nicht überzeugt, dass der Ausstieg bis 2022 realisiert wird. Das wird nur passieren, wenn wir als Bürgerbewegung weiter aktiv bleiben, uns weiter einmischen und die Abgeordneten hier in der Bundesrepublik darauf festnageln. Sie sagen, es geht um acht Reaktoren? Für mich geht es um völlig andere Dimensionen. Es gibt 55 Atomreaktoren in Frankreich, es sollen drei in Polen und weitere drei in der Türkei gebaut werden. Ein belarussischer wird zur Zeit gebaut, dann gibt es die in der Ukraine. Man darf doch nicht davon ausgehen, dass diese Reaktoren sicher sind, oder, wenn bei uns der Ausstieg gelingt, dass wir dann in Sicherheit leben würden. Weiter gebe ich zu bedenken: Wir leben in einem Europa, das – anders als vor 20 Jahren – inzwi-

schen 2 bis 3 mal pro Jahr terroristischen Angriffen ausgesetzt ist. Man darf doch nicht davon ausgehen, dass ein Kraftwerk nicht zu einem Angriffsziel werden kann. Wenn in dieser Situation gesagt wird, man hält weiter an der Atomenergie fest, so zeigt es mir, dass wir als Bürgerbewegung noch einen unendlich langen Atem benötigen und unser Netzwerk weit über die europäischen Grenzen hinaus erweitern müssen. N.R.: Herr Renneberg, können wir die Kraftwerke früher als geplant abschalten? W.R.: Natürlich geht das – das hat ja das Parlament gezeigt. Man kann ein Gesetz erlassen und die Kernkraftwerke vom Netz nehmen. Die Frage ist immer: Um welchen Preis? Gibt es einen Vertrauensschutz der Betreiber, aufgrund dessen sie sich diese Abschaltung bezahlen lassen können? Und will dann die Gesellschaft und der Staat dafür im Zweifel mehrere Milliarden in die Hand nehmen? So etwas geht immer, aber zu welchen Kosten, und wo fehlt das Geld dann am Ende – das sind die Fragen, die sich stellen. N.R.: Wer heute eine Pommesbude auf dem Markt aufstellen will, muss erst ein Entsorgungsnachweis für das verbrauchte Fett erbringen. Atomkraftwerke haben so etwas nie nötig gehabt. Wie konnte so eine Technologie an den Start gehen, wenn nicht klar ist, was man hinterher mit den Abfällen macht? W.R.: Das ist schwer verständlich. Aber wir leben in einer Welt, in der es keine volle Abschätzung für eingeführte Technologien gibt – das gilt genauso für die Gentechnologie oder die Biotechnologie – es werden Risiken geschaffen, die wir noch nicht abschätzen können. Ein Ausschluss von Risiken für eine Technologie zu fordern bedeutet eine Abkehr von dieser Technologie. Das Bundesverfassungsgericht hat sich dazu geäußert: man könne keinen Nachweis von Betreibern einfordern, Schäden durch denkbare Szenarien komplett auszuschließen, dies käme einem Technologieverbot gleich. Meiner Ansicht nach hätte in ein Atomgesetz von Anfang an hineingehört,

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dass die gesicherte Entsorgung Voraussetzung für den Bau von Kernkraftwerken ist. N.R.: Der Standort Lubmin mit fünf Reaktoren wird seit 1990 zurückgebaut. Das hat bislang 4,2 Milliarden Euro gekostet. Nun hat sich die Entsorgungskommission darauf geeinigt, dass E.ON, RWE, Vattenfall und EnBW 23,342 Mrd. Euro in einen öffentlichen Fonds überführen müssen. Herr Bülow, was ist davon zu halten? Marco Bülow (M.B.): Die ganze Atomwirtschaft fußt darauf, dass die Gewinne privatisiert sind, während die Risiken vergesellschaftet werden. Es ist ein großes Problem speziell bei der Atomenergie, wo die Risiken nicht überschaubar sind. Es gibt diesen Anhaltspunkt, wie hoch die Rückbaukosten sind. Man hat allerdings eventuell noch mit Sachen zu rechnen, die man heute überhaupt nicht überblicken kann. Und niemand, der in dieser Kommission sitzt, weiß was es dann letztendlich kostet. Deswegen war ich immer ein Gegner einer solchen pauschalen Lösung, dass ein Fonds die Atomkraftbetreiber komplett entlastet. W.R.: Ein öffentlicher Fonds ist ein Fortschritt, weil dadurch das Geld gesichert zur Verfügung steht. Eine weitere Frage ist die Begrenzung dieses Fonds. Ein Beispiel dafür ist die Aufarbeitungsanlage Karlsruhe, welche stillgelegt werden sollte. Es war sehr teuer sie zurückzubauen. Die Betreiber zahlten insgesamt 832 Mio. Euro und waren damit von jeder weiteren Haftung für die Entsorgung freigesprochen. Gekostet hat die Entsorgung mittlerweile über drei Milliarden Euro. Den Faktor drei findet man in vielen ähnlichen Projekten. Der größte Teil der Kosten geht also immer noch zu Lasten des Steuerzahlers und liegt nicht bei den Betreibern. Ute Vogt, SPD-Fraktionsmitglied: Ich hatte die Freude Mitglied dieser Kommission zu sein, und Hintergrund unserer Entscheidung war das Geld zu sichern, bevor das ein oder andere Unternehmen nicht mehr existiert. Man hat die heute vorhandenen Rückstellungen aufgeteilt und gesagt, dass die Unternehmen weiter in der

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Verantwortung für den Rückbau und für die vollkommene Konditionierung der Abfälle bleiben. Also gibt es einen Fonds, der aus einem Teil der heute bestehenden Rückstellungen plus einem Aufschlag von 6,1 Mrd. Euro gebildet wird. Und dann geht die Verantwortung für die Zwischenlager auf den Bund über, finanziert wird das ganze aus dem Fonds. Die Berechnungen, die dem zugrunde liegen, sind die Kostenberechnungen der vorhandenen Rückstellungen, welche mehrere Wirtschaftsprüfer für real halten. […] Dazu kommt noch das Haftungsgesetz, das sich derzeit in erster Lesung befindet. Wir werden beschließen, dass sich Konzerne nicht durch die Bildung von Mutter- und Tochtergesellschaften der Haftung entziehen können, sondern dass sie haftbar bleiben, solange sie noch Verbindlichkeiten haben. Es ist somit ein ganzes Bündel von Maßnahmen. Die Empfehlungen dieser Kommission müssen nun durch die Bundesregierung umgesetzt werden.

MARCO BÜLOW, SPD BUNDESTAGSABGEORDNETER SEIT 2002

H.S.: Ich muss zu der Bemerkung von Herrn Renneberg „um welchen Preis steigen wir aus“ ein paar Worte sagen. Der 2011 amtierende japanische Premierminister Nauto Kan, der auch dem

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Frage aus dem Publikum: Die Urananreicherungsanlage in Gronau und Produktion von Brennstäben in Lingen sind nicht Teil des Ausstiegsgesetzes. Mit welcher Begründung schalten wir einerseits die Atomkraftwerke ab und produzieren andererseits Brennstäbe und reichern Uran an? Wie soll ich das als Bürger glaubhaft vertreten, verstehen und vor allem unseren Nachbarn erklären?

HEINZ SMITAL KERNPHYSIKER UND SEIT 2006 HAUPTAMTTLICHER ATOM-KAMPAIGNER BEI GREENPEACE

Krisenstab von Fukushima angehörte, sagte: „Um Haaresbreite hätte auch die Region bis nach Tokio, also ein Gebiet mit einem Radius von 250 km und 50 Mio. Menschen, evakuiert werden müssen“. Wenn wir uns den schlimmsten Fall vorstellen, dass zum Beispiel um Tihange eine Evakuierungszone mit einem Radius von 250 km nötig wird, dann ist das gesamte Ruhrgebiet und Köln davon betroffen. Frankfurt am Main und Amsterdam liegen ebenfalls in diesem Gebiet. Also um welchen Preis machen wir das? Und heute wissen wir: es gibt die Möglichkeit ganz gezielte terroristische Angriffe durchzuführen. Bei einem Maximum an Freisetzung, vielleicht kombiniert mit einer Wettersituation, die maximalen Schaden anrichtet. Wenn man sich so ein Szenario ausmalt, muss man sich doch fragen: hat die Atomkraft überhaupt noch die verfassungsrechtliche Legitimation?

W.R.: Diese Diskussion kam schon vor dem ersten Atomkonsens auf. Damals ging es darum, dass Risiko zu minimieren, welches aus dem Betrieb von Kernkraftwerken hervorgeht. Der Konsens ging aber nicht so weit alle Teile der nuklearen Wirtschaft stillzulegen. Beispielsweise hat man die Forschungsreaktoren, die natürlich auch ein gewisses Schadenspotenzial in sich tragen, nicht stillgelegt. Das ist einfach eine politische Frage. Einen rationalen Grund, dass Brennelementefabriken nicht so unfallanfällig wie Kernenergieanlagen sind, gibt es nicht. Frage aus dem Publikum: Was halten Sie von der weltweiten Deinvestbewegung aus fossilen Energien, um schneller aus der Braunkohle rauszukommen? H.S.: Der Norwegische Staatsfonds hat beschlossen sein Geld aus der RWE abzuziehen, was dort eine Zeit lang angelegt war. Es ist im Prinzip eine Risikoeinschätzung, die auf der Hand liegt. Wenn die Politik ernsthaft meint, was sie sagt, dann kann man das Öl und die Kohle, die noch in der Erde zu finden sind, nicht mehr verbrennen. Insofern müssten auch die Unternehmen neu bewertet werden. Es ist nachvollziehbar, dass die Finanzwelt darauf reagiert und ihre Schäfchen ins Trockene bringen möchte. Somit ist es eine sehr gute und sehr mächtige Handlungsweise.

TEILNEHMER DER DISKUSSIONSVERANSTALTUNG DER SPD-BUNDESTAGSFRAKTION

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PLENARSITZUNG DES DEUTSCHEN BUNDESTAGES AUSZÜGE AUS DEN REDEBEITRÄGEN VON DR. BARBARA HENDRICKS (SPD), HUBERTUS ZDEBEL (DIE LINKE), OLIVER KACZMAREK (SPD) UND MARCO BÜLOW (SPD) Im Rahmen der Bundestagsdebatte vom 29. April 2016 in Berlin

FÜNF JAHRE NACH DER REAKTORKATASTROPHE IM JAPANISCHEN FUKUSHIMA UND 30 JAHRE NACH DEM GAU IM UKRAINISCHEN TSCHERNOBYL HABEN DIE ABGEORDNETEN DES DEUTSCHEN BUNDESTAGES DER OPFER GEDACHT UND SICH ZU EINEM ATOMKRAFTFREIEN EUROPA BEKANNT.

DR. BARBARA HENDRICKS, SPD […] Die Geschichte der Atomkraft war an ihrem Beginn eine Geschichte großer Euphorie. Ihre enormen Risiken wurden erst unterschätzt, dann heruntergespielt und sind erst Stück für Stück in das öffentliche Bewusstsein eingedrungen. Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl, an die wir in dieser Woche erinnern, ist einer der Wendepunkte dieser Geschichte. Sie zeigt: Das Risiko der Atomkraft ist nicht nur eine theoretische Größe. Die Katastrophe ist eingetreten mit verheerenden Konsequenzen. Meine Damen und Herren, ich war vor wenigen Wochen in Tschernobyl. Ich habe dort den Fortschritt der Arbeiten gesehen, die dazu dienen, den verunglückten Reaktor mit einer neuen Schutzhülle zu überziehen. Das ist eine ingenieurtechnische Meisterleistung, die dort vollbracht wird. Die Schutzhülle kostet ungefähr 2 Milliarden Euro. Insgesamt 45 Länder, darunter Deutschland, beteiligen sich an diesen Kosten. Russland ist auch dabei; das muss man, finde ich, in diesem Zusammenhang erwähnen. Gleichwohl erwartet niemand, dass diese Hülle länger als 100 Jahre hält. Die vor 30 Jahren notdürftig angebrachte Hülle kommt an ihre Grenze; ihre Lebensdauer wurde auf 20 bis 30 Jahre geschätzt. Die jetzt neu anzubringende große Hülle soll etwa 100 Jahre halten, in der Hoffnung und Erwartung, dass in dieser Zeit die Menschen, die nach uns kommen, technologische Kenntnisse haben, die wir jetzt noch nicht haben und die dann helfen würden, mit dem umzugehen, was dort für immer eine Gefahr darstellt. An dieser Stelle sehen Sie, was es bedeutet, wenn ein großer Un-

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DR. BARBARA HENDRICKS BUNDESMINISTERIN FÜR UMWELT, NATURSCHUTZ, QUELLE: SPDFRAKTION.DE

BAU UND REAKTORSICHERHEIT

fall geschieht. Die Natur hat sich die gesperrte Region zurückerobert. Die Menschen dürfen in einem Umkreis von 30 Kilometern nie mehr siedeln. Gleichwohl arbeiten Menschen natürlich an diesem Reaktor. Sie arbeiten dort zwei Wochen und sind dann zwei Wochen zu Hause. In dem Ort Tschernobyl leben diese Arbeiterinnen und Arbeiter in den zwei Wochen ihrer Arbeit. Etwa 150 Menschen sind in ihre Heimatstadt Tschernobyl, die etwa 10 Kilometer von dem Reaktor entfernt liegt, zurückgekehrt. Diese 150 Menschen, die eigentlich widerrechtlich dort leben, haben gesagt: Wir sind älter, wir werden sowieso sterben, wir wollen in unserer Heimat sterben. Das ist die Lage, mit der man es jetzt, 30 Jahre nach dem Unfall, dort zu tun hat. Die Stadt war einmal von etwa 200.000 Menschen bewohnt, und sie war damals eine sozialistische Musterstadt: Alles neu, alles modern, Kulturhäuser, Schwimmbäder. Am 1. Mai, also fünf Tage nach dem Unfall, sollte ein großer Vergnügungs-

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park eröffnet werden, der nun aber nie genutzt wurde. Da stehen jetzt überwucherte Autoskooter und Riesenräder. Es ist in der Tat eine total gespenstische Atmosphäre. Die Menschen, die gerne dort gelebt haben, weil es für junge Familien sehr angenehm war, wurden evakuiert – eigentlich ein paar Tage zu spät, sind mit Bussen in viele verschiedene Richtungen weggebracht worden und haben sich nie wieder getroffen; denn sie sind in der großen Sowjetunion an verschiedenen Orten untergebracht worden. Menschenleer und still ist heute also, was einmal eine Stadt war. […]

Länder dafür gesorgt, dass die deutschen Atomkraftwerke ein hohes Sicherheitsniveau haben. Wir müssen für die gleiche Sicherheit sorgen, wenn wir die Meiler stilllegen und zurückbauen; das sage ich auch im Hinblick auf die Vorkommnisse im AKW Philippsburg. Wir werden die Bewertung des Sachverhaltes und die Maßnahmen des Betreibers EnBW und der baden-württembergischen Landesregierung abwarten. Klar ist aber, dass sowohl der Betreiber als auch die zuständigen Landesbehörden solche Täuschungen nicht dulden dürfen.

Von der Reaktorruine geht bis heute eine Gefahr für die Menschen durchaus in ganz Europa aus. […] Weite Landschaften der Ukraine, Russlands und Weißrusslands sind bis heute belastet. Hunderttausende leiden unter den Folgen. Sie sind heimatlos, sie sind erkrankt oder sie pflegen kranke Angehörige. Wir lassen diese Menschen nicht allein. Das zeigt auch das Engagement der vielen ehrenamtlichen Gruppen aus ganz Europa, die sich den Opfern widmen.

Gerade die letzten Wochen zeigen, dass trotz des deutschen Atomausstiegs Risiken bestehen bleiben. Radioaktivität macht an Grenzen ja nicht halt. Fessenheim, das nächst gelegene französische Atomkraftwerk, liegt, wie wir wissen, direkt am Rhein. Besondere Sorgen machen uns die belgischen Kraftwerke Tihange und Doel. Natürlich liegt die Entscheidung für oder gegen die Nutzung der Atomenergie in der nationalen Souveränität des jeweiligen Staates. Aber ich erwarte, dass unsere Nachbarn die Sorgen der Menschen in den Grenzgebieten ernst nehmen und für ein höchstmögliches Sicherheitsniveau sorgen. Das ist auch der Grund, warum ich die belgische Regierung gebeten habe, die Blöcke Tihange 2 und Doel 3 bis zur Klärung aller Sicherheitsfragen vom Netz zu nehmen. Ich bedauere sehr, dass dieser dringenden Bitte von belgischer Seite bislang nicht entsprochen wurde.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Tschernobyl gab denjenigen recht, die schon lange vor den Gefahren der Atomkraft gewarnt hatten, in Wyhl, in Brokdorf, in Wackersdorf, in Kalkar und an vielen anderen Orten. Gerade weil die Atomkraftgegner über lange Zeit so manches an Schmähungen über sich haben ergehen lassen müssen und sogar in die Ecke von Staatsfeinden gerückt wurden, sage ich heute in diesem Hohen Haus: Die Antiatomkraftbewegung war keine gegen den Staat gerichtete Bewegung. Ganz im Gegenteil: Es waren Freunde des Staates und der Gesellschaft, weil sie nicht hinnehmen wollten, dass wir alle den Risiken einer zu gefährlichen Art der Energieerzeugung ausgesetzt sind. Ich danke diesen Menschen heute ganz ausdrücklich; denn sie haben sich um unser Land verdient gemacht. Meine Damen und Herren, dass es bis Fukushima brauchte, bis alle Fraktionen dieses Hauses sich hinter dem Ziel eines zügigen Ausstiegs aus der Atomenergie versammelt haben, gehört natürlich zur Geschichte dazu. Fukushima liefert den endgültigen Beweis, dass es auch in hochindustrialisierten Ländern mit hohen Sicherheitsstandards zu Ereignissen kommen kann, die zu nicht mehr beherrschbaren Störfällen führen. Auch dort mussten Hunderttausende ihre Heimat verlassen. Auch dort wurden unter anderem Mitarbeiter der Firma Tepco gesundheitlichen Risiken ausgesetzt, um die Katastrophe einzudämmen.

Deutschland hat sich auf EU-Ebene mit Erfolg für die Festlegung von verbindlichen Sicherheitszielen in der Europäischen Union und für ein System wechselseitiger Kontrolle starkgemacht. Wir setzen uns außerdem für eine verpflichtende grenzüberschreitende Umweltverträglichkeitsprüfung ein, wenn unsere Nachbarn Laufzeiten verlängern. Wir werden uns weiterhin mit ganzer Kraft für ein hohes Sicherheitsniveau in Europa und weltweit einsetzen. Wir werben dafür, dass der Ausstieg aus der Atomenergie in Europa und möglicherweise auch weltweit Schule macht. Die Atomenergie ist eine Sackgasse der technischen Entwicklung. Die Orte Tschernobyl und auch Fukushima sind dafür ewige Mahnungen. In Deutschland haben wir uns auf einen anderen Weg gemacht. Wir steigen um auf Energien, die Wohlstand ermöglichen, ohne Menschen und Umwelt zu gefährden. Wir stehen heute – ohne Zweifel – am Beginn des Zeitalters der erneuerbaren Energien. Lassen Sie uns diesen Weg entschlossen weitergehen.

2022 wird das letzte deutsche Atomkraftwerk abgeschaltet. Unsere Arbeit ist aber noch nicht getan. Die Sicherheit der Atomkraftwerke muss bis zum letzten Betriebstag gewährleistet bleiben. In den vergangenen 30 Jahren haben Bund und

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HUBERTUS ZDEBEL, DIE LINKE […] Meines Erachtens ist es nicht die Frage ob, sondern leider nur wann und wo eine Katastrophe wie in Tschernobyl und Fukushima passieren wird. Nicht auszuschließen ist, dass diese nächste Katastrophe Tihange sein könnte. Über Filz und Schlamperei in der belgischen Atomaufsicht berichtet aktuell die Süddeutsche Zeitung. […] Dazu kommen jede Menge ungeklärte Fragen zu den Tausenden Rissen im Reaktordruckbehälter. Dass er einen schweren Störfall aushält, bezweifelt sogar das Bundesumweltministerium. Von großer Bedeutung in diesem Zusammenhang ist – auch für die Glaubwürdigkeit der deutschen Politik – dass endlich die Uranfabriken in Gronau und Lingen in den Atomausstieg einbezogen werden. […] Hier AKWs abzuschalten und sie hinter der Grenze, wie in Doel und Tihange, mit Brennstoff zu versorgen, ist keine glaubwürdige Politik. Das ist Beihilfe zum Atomrisiko in den Nachbarstaaten, in Europa und in der Welt, und es ist ein Hinweis darauf, dass die Bundesregierung sich international eine Tür zu einer Zukunft der Atomenergie offenhält. Diese Tür muss so weit wie möglich geschlossen werden. […]

OLIVER KACZMAREK, SPD [...] In diesen Wochen wird im Gedenken an Tschernobyl und Fukushima Solidarität in Europa gelebt. Allein im Rahmen der Europäischen Aktionswochen „Für eine Zukunft nach Tschernobyl und Fukushima“ finden in mehr als 200 Städten in 13 Ländern Europas Veranstaltungen statt. […] Ich glaube, die Botschaft der Tschernobyl-Hilfe, der Solidaritätsbewegung, die sich hoffentlich auch auf die Betreuung der Opfer und Betroffenen von Fukushima weiter ausdehnen wird, ist eine Botschaft, die weit über die Solidaritätsbekundung allein hinausgeht; denn diese Aktivitäten symbolisieren in diesen Tagen: Europa vergisst Tschernobyl und damit die Betroffenen in Belarus, in der Ukraine und in Teilen Russlands nicht. Europa scheint im Moment auf der Suche nach einer gemeinsamen politischen Idee zu sein. Die betroffene Region ist eine, die von vielen politischen Widersprüchen betroffen ist. Es gibt Krieg in der Ukraine, wirtschaftliche Schwierigkeiten in Belarus und Einschränkungen der Meinungsfreiheit in Russland. All diese Dinge zeigen: Die Zivilgesellschaft tritt für ein Europa ein, in dem man

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füreinander einsteht, das die Opfer nicht vergisst und das eine Zukunft ohne Atomkraft hat. Deswegen ist diese Botschaft weit darüber hinausgehend eine Ermutigung der Zivilgesellschaft an uns, an die Politik, für ein besseres Europa und für ein Europa ohne Atomkraft einzutreten. Das sollten wir beherzigen.

MARCO BÜLOW, SPD […] Es gibt viele Organisationen, die sich dafür engagieren, nach Tschernobyl der Opfer nicht nur zu gedenken, sondern den Opfern zu helfen. Aber es ist ein bisschen wie mit der Tafel: Eigentlich müsste man Armut und Hunger abschaffen und nicht Armenspeisungen durchführen. Deswegen möchte ich, dass sich irgendwann erübrigt, dass den Opfern einer Katastrophe geholfen werden muss; ich möchte, dass neue Katastrophen gar nicht erst entstehen. […] Wir brauchen die Energiewende, und dazu brauchen wir den Umstieg auf 100 Prozent erneuerbare Energien in Deutschland, dann aber auch europaweit. 30 Jahre nach Tschernobyl und 5 Jahre nach Fukushima haben wir folgende Situation: Viele denken, in Fukushima sei jetzt alles in Ordnung. Aber an den Jahrestagen erfährt man, dass nicht alles in Ordnung ist. So wurde bei der Veranstaltung am 27.April deutlich gemacht, dass täglich immer noch 400 Tonnen radioaktives Wasser austreten, die nicht aufgehalten werden können. Jeden Tag 400 Tonnen! […] Man sieht daran, dass auch ein Hochtechnologieland wie Japan nach fünf Jahren die Situation immer noch nicht in den Griff bekommt. Daran sieht man: Erstens. Menschliches Versagen ist immer möglich. Zweitens. Auch technisches Versagen ist immer möglich. Wir sind nicht in der Lage, die großen Katastrophen in den Griff zu bekommen. Das zeigt doch, dass diese Risikotechnologie keine Zukunft hat und wir darauf verzichten müssen, weil wir sie nicht beherrschen können, und zwar nirgendwo auf der Welt, auch nicht in Deutschland […]

DER KOMPLETTE WORTLAUT DER REDEN SOWIE DAS PROTOKOLL 18/168 DER PÄNARSITZUNG VOM 29. APRIL 2016 IST AUF DER SEITE DES BUNDESTAGES ZU FINDEN:

HTTPS://WWW.BUNDESTAG.DE

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ERINNERUNGEN Alle Flüge wurden nacheinander wie am Fliessband durchgeführt.

IICH, IGOR PISMENSKIJ, WAR BEI DER BESEITIGUNG DER AUSWIRKUNGEN VON TSCHERNOBYL ALS NAVIGATOR EINES HUBSCHRAUBERS VOM TYP MI-6 BETEILIGT. AM 26. APRIL 1986 UM 23:00 UHR WURDE DAS GANZE REGIMENT IN ALEKSANDRIA (GEBIET KIROWOGRAD) ALARMIERT. UNSERE AUFGABE WAR ES, UNS NACH TSCHERNIGOW ZU BEGEBEN, UM DIE FOLGEN DES UNFALLS AM ATOMKRAFTWERK TSCHERNOBYL ZU BESEITIGEN. In der Nacht sind wir zum Militärflughafen in Tschernigow geflogen, aber am Morgen wurde erst bekannt gegeben, dass der Reaktor des Kernkraftwerks explodiert sei. Im vierten Block war ein Brand ausgebrochen und für die Beseitigung des Feuers und verschiedener schädlicher Emissionen sollten wir in die Gegend des Unfalls ausfliegen. Im Bereich von Tschernobyl, 20 km von Pripjat, wurden Landeplätze für die Beladung der Hubschrauber mit verschiedenen Materialien eingerichtet. Beim Anflug auf den explodierten Reaktor bot sich mir ein furchtbares Bild: Das Dach des vierten Reaktorblockes war durch die Explosion zerstört und innen waren die Brennstoffe der Atomexplosion zu sehen. Die Feuerwehrleute haben ihre Aufgabe erfüllt – sie haben dafür gesorgt, dass das Feuer sich nicht weiter ausbreitete. Für die Hubschrauber lag eine Schwierigkeit darin, dass es zunächst nicht ausreichend Transportfallschirme und Vorrichtungen zur Befestigung und zum Abwurf der Ladungen am Hubschrauber gab. Aber dieses Problem hatte man nach einem Tag gelöst. Es wurde beschlossen, den Reaktor mit Sand, Blei und Dolomit zuzustopfen. Alle Flüge wurden in kurzem Abstand nacheinander wie am „Fließband“ durchgeführt. Oberst Nesterow, der sich auf dem Dach des Hotels befand, das zugleich der höchste Punkt in der Stadt Pripjat war, koordinierte alle Flüge.

IGOR PISMENSKIJ

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Wir flogen den 4. Block des Reaktors in einer Höhe von 200 m an. Als Orientierungspunkt diente uns der Schlot, der sich neben dem Block des

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Reaktors befand. Als wir an den Krater des Reaktors herangeflogen waren, schwebten wir über ihm, und ich gab dem Flugkapitän den Befehl, die Last abzuwerfen. In den Fallschirmen waren bis zu drei Tonnen schwere Säcke, die zuerst nur mit Sand gefüllt waren, später noch mit Blei und Dolomit. Die Flüge wurden vom frühen Morgen bis zum Sonnenuntergang durchgeführt. Die Beladung der Hubschrauber auf den Plattformen wurde von Reservisten durchgeführt, die man eilig einberufen hatte. Wir nannten sie die „Partisanen“. Sie haben unter harten Bedingungen gearbeitet. Sie aßen auch auf den Plattformen. Zu ihrem Schutz trugen sie nur Mullbinden über dem Gesicht, die nach jedem Hubschrauberanflug von dem radioaktiven Staub grau und schmutzig wurden. Ein Bild auf dem Weg zum Reaktor, es war der 1. Mai, hat sich mir besonders eingeprägt. Wie immer sind wir morgens über die Stadt Tschernigow geflogen. Und da fand damals die Maidemonstration statt, und die Leute sind in Reih und Glied gegangen, und hatten keine Ahnung davon, dass 40 km weiter Radioaktivität in die Luft geschleudert wurde. Die erste Information verbreiteten die Medien erst am 2. Mai. Um diese Zeit begann die Evakuierung aus der verstrahlten Zone. Insgesamt, hat unsere Besatzung 29 Flüge zum Reaktor ausgeführt, dabei haben wir eine Strahlendosis abbekommen, die sich auf die Gesundheit auswirkte.

IGOR PISMENSKIJ Geb. am 19. Juni 1961 in Lugansk 1982 Abschluss der Höheren Militärschule der Luftstreitkräfte 1978 bis 1997 Militärdienst als Offizier im Rang eines Obersts in der Sowjetarmee und der Armee der Ukraine Auszeichnungen „Für Tapferkeit“ „Roter Stern“ „Fürst-Wladimir-Orden“ „Für die Verdienste um das Vaterland“ seit 1999 Vorsitzender der Interessensvertretung der Liquidatoren„Nabat“ („Sturmglocke“)

Die deutsche Übersetzung folgt den Erinnerungen Pismenskijs, die im Sammelband von W.A. Gudow, Specbatal’on 731 [Spezialbataillon 731], Kiew 2009, S. 155, abgedruckt wurden.

Nun bin ich, wie viele, die bei der Katastrophenbekämpfung teilgenommen haben, behindert, ich habe mehrere gesundheitliche Probleme. Aber der einzige Trost ist, dass wir ehrenvoll unsere militärische Pflicht zum Schutz unsere Zivilbevölkerung und der gesamten Weltgemeinschaft getan haben. IGORPISMENSKIJ NAVIGATOR EINES HUBSCHRAUBERS ÜBER TSCHERNOBYL

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EINDRÜCKE Die Begegnungen mit jungen Menschen ließen mich fühlen, dass ich nicht umsonst gekommen bin. GALINA KALSCHNIKOWA BELARUS

PERSÖNLICHE EINDRÜCKE DER ZEITZEUGEN DIE AN DEN EUROPÄISCHEN AKTIONSWOCHEN TEILNAHMEN. ZUSAMMENGESTELLT VOM IBB DORTMUND. „Eine Kerzenaktion, die trotz des starken Regens stattfand. Ein sehr beeindruckendes und einprägsames Bild.“ WALENTINA DASCHKEWITSCH BELARUS

„Es ist sehr wichtig, dass die Tschernobyl-Problematik in Europa nicht verschwiegen wird. Denn auch 30 Jahren nach der Havarie bleibt sie nach wie vor aktuell. Dank der Arbeit des IBB wurde diese Problematik auf der europäischen Ebene diskutiert. Ich hoffe, dass die Veranstaltungen der Europäischen Aktionswochen dazu beitragen können die Katastrophen von Tschernobyl und Fukushima nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.“ GALINA KALSCHNIKOWA BELARUS

„Unsere Audienz beim Papst war ein unvergessliches Erlebnis. Dass die Betroffenen der Tschernobylkatastrophe in Europa nicht vergessen werden, weiß ich sehr zu schätzen. Wir alle brauchen Gottes Hilfe, wir brauchen Schutz und ein friedliches Leben ohne Katastrophen.“ SOFIA SINILO BELARUS

„Ich konnte viel aus dem Treffen mit den Freiwilligen Helfern des Roten Kreuzes lernen - es hat mir wertvolle Hinweise gegeben, wie wir die Zusammenarbeit mit freiwilligen Helfern weiter ausbauen können“. OLEG GERASCHTSCHENKO UKRAINE

„Angesichts der Jahrestage der Katastrophenwaren alle organisierten Veranstaltungen von großer Bedeutung. Durch sie konnten sich die Menschen in Europa nocheinmal den Gefahren der Atomenergie gewahr werden und sich ein Bild vom Schicksal derjenigen machen, die Opfer des „friedlichen Atoms“ geworden sind.“ ANATOLIJ GUBAREW UKRAINE

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„Die Bedeutung der Veranstaltungen in Europa ist nicht zu unterschätzen. Erstens, konnten dadurch viele Menschen über die Probleme der Nutzung von Atomenergie informiert werden sowie über die Auswirkungen der Tschernobylkatastrophe auf die menschliche Gesundheit und ihre Umwelt erfahren. Zweitens, brachte die Konferenz in Brüssel die Probleme der Liquidatoren besser zu Tage und zeigte den europäischen Organisationen Möglichkeiten zur Lösung dieser Probleme auf.“ ANATOLIJ RUTSCHITSA UKRAINE „Mein letzter Tag in Spanien, San-Sebastian. Am Tag der Abreise stieg ich morgens früh auf einen der umliegenden Berge. Auf diesem Berg befindet sich das Schloß La Mota, und unweit davon, am Gipfel, steht eine Statue von Jesus Christus, die von jedem Punkt in der Stadt zu sehen ist. Vom Berg aus konnte ich diese wunderschöne Stadt mit seiner Bucht, mit der Altstadt, gebaut in verschiedenen historischen Epochen, mit ihrer besonderer Architektur und ihren modernen Gebäuden bewundern. Aber am meisten beeindruckte mich diese Statue. Wie sie von hier oben auf die Stadt blickt und dabei ihre Hand hebt, um diesen Ort zu segnen... Zurück in San-Sebastian, bot sich mir ein ungewöhnliches Bild: Ein Bauer hat der ortsansässigen Tschernobyl-Organisation einen Rind gespendet, und ein anderer - 10 Fässer Cidre. Dadurch wurde die Wohltätigkeitssktion unserer Freunde erst ermöglicht. Auf dem kleinen Platz in der Stadt wurde das ganze Rind am Stück gegrillt. Die Passanten konnten einen Gutschein für zwei Euro kaufen und dafür Stück Fleisch mit einem Glas Cidre bekommen. Innerhalb von zwei Stunden wurden alle Gutscheine verkauft, das Rind war aufgegessen und der Cidre ausgetrunken. Unsere Freunde konnten so das Geld für die Kinder sammeln, die in diesem Jahr zur Erholung nach Spanien kommen.“

Unsere Auftritte im Europäischen Parlament und im Deutschen Bundestag waren sehr wichtig, denn – wir wurden gehört! ANATOLIJ LIGUN UKRAINE

ALEKSANDER SCHIMANSKIJ UKRAINE

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DIE EUROPÄISCHEN AKTIONSWOCHEN EIN ÜBERBLICK ÜBER 200 ORTE GROSBRITANNIEN DEUTSCHLAND ÜBER 300 VERANSTALTUNGEN ÖSTERREICH UKRAINE MIT BETEILIGUNG FRANKREICH VON 50 ZEITZEUGEN ITALIEN AUS BELARUS, JAPAN NORWEGEN UND DER UKRAINE TÜRKEI POLEN SPANIEN

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GROSBRITANNIEN REDE VON DENNIS VYSTAVKIN, LEITER DER HILFSORGANISATION „CHERNOBYL CHILDREN’S LIFELINE“, DIE VON DER TSCHERNOBYL-KATASTROPHE BETROFFENE KINDER UNTERSTÜTZT. KATHEDRALE VON CANTERBURY An diesem Abend stelle ich mir die Aufgabe eine Antwort auf folgende Fragen zu geben: „… besteht immer noch Bedarf nach Hilfe und gibt es eine Zukunft nach Tschernobyl?“ Heute wurde vorgestellt, woran unsere Organisation arbeitet und warum wir tun, was wir tun. Zusätzlich möchte ich folgende Fakten aus einem Bericht erwähnen, der vor kurzem von einem unabhängigen britischen Experten erstellt wurde:

• Ca. 5 Millionen Menschen in Belarus, der Ukraine und Russland leben heute noch immer in stark belasteten Gebieten; • Eine Erhöhung der von durch Radioaktivität bedingten Krankheitsfälle wie Leukämie, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Brustkrebs ist nachgewiesen; • Es gibt neue Beweise für strahlungsbedingte Geburtsfehler, Auswirkungen der Radioaktivität auf die psychische Gesundheit und Entwicklung von Diabetes; • Es gibt neue Hinweise darauf, dass Kinder in kontaminierten Bereichen an strahlungsbedingten Krankheiten leiden.

Wir arbeiten mit einer Reihe von Partnerorganisationen in Belarus und der Ukraine zusammen und decken mit unserer Arbeit viele Regionen ab. Doch die Zahl der Kinder, die in den betroffenen Gebieten leben, liegt bei über 2 Millionen. Wir wissen, dass dies die Kapazitäten unserer Organisation weit übersteigt; nichtsdestotrotz glauben wir daran, dass mit jedem weiteren Kind, dem geholfen wird, wir die Situation ein bisschen verbessern können. 30 Jahre nach der Katastrophe, beschäftigen wir uns mit der zweiten oder sogar schon dritten Generation von Kindern. Vielen Menschen fällt es schwer zu glauben, dass noch ein sehr großer Bedarf für unsere Arbeit und Hilfe besteht. Wenn diese Menschen die Kinder zum ersten Mal sehen, versuchen sie zu verstehen, warum die Kinder überhaupt in das Vereinigte Königreich kommen müssen. Doch Tatsache ist, dass es oft schwierig ist, festzustellen, was sich hinter verschlossenen Türen verbirgt. Von außen betrachtet, sieht alles gut aus, aber wenn Sie hinter die Fassade schauen, zeigt sich dort ein ganz anderes Bild.

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Eine der Gastmütter sagte mir am Ende eines Besuchs, dass sie nicht glaube, dass mit den zwei Jungen, die sie bei sich zu Gast hatte, etwas nicht stimmen würde. Das war im August. Drei Monate nachdem die Kinder nach Hause zurückkehrten, rief diese Frau mich weinend an und erzählte, sie hätte eine Nachricht von der Familie eines der Jungen erhalten. In der Nachricht bedankte sich die Familie dafür, dass die Gastmutter ihren Sohn bei sich aufnahm. Die Familie erzählte aber auch, dass dem Jungen die Diagnose „multiple Hirntumore“ gestellt wurde und er nun eine dringende Behandlung in einer Krebsklinik erhielte. Die Gastmutter wiederholte immer wieder: „Aber er war ein so gesund aussehender Junge, er konnte schneller laufen als meine Jungs ...“ Es ist die Liebe, die Fürsorge und das Mitgefühl der Gastfamilien, die all dies möglich macht. Die Gastfamilien öffnen nicht nur die Türen ihrer Häuser und heißen Kinder willkommen, sondern – und das ist das Wichtigste - sie öffnen ihre Herzen für diese Kinder. Die Fähigkeit mit den Bedürftigen zu teilen ist ein großes Geschenk, welches wir schützen und schätzen müssen! Im Namen der Eltern der Kinder und in unser aller Namen, möchte ich Ihnen allen einen großen Dank für all die harte Arbeit und ihre Großzügigkeit aussprechen! Wir können nicht garantieren, diese Kinder in Zukunft vor allen möglichen - mit Tschernobyl verbundenen - Gesundheitsrisiken zu schützen, aber wir können ihnen Hoffnung bieten - die Hoffnung zu leben. Wir werden mit Bitten von Familien überschwemmt, die verzweifelt versuchen ihren Kindern zu helfen. Bitte vergessen Sie nicht, diese Kinder sind und werden für die kommenden Generationen die unschuldigen Opfer von Tschernobyl bleiben. Ich kann daher mit Sicherheit sagen, dass immer noch eine große Notwendigkeit besteht, den Kindern von Belarus und der Ukraine einen erholsamen Urlaub weit weg von der Umgebung zu ermöglichen, in der sie sonst leben müssen. Und deshalb brauchen wir auch weiterhin Ihre Hilfe.

EUROPÄISCHE PERSPEKTIVEN

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DEUTSCHLAND MIT ÜBER 60 VERANSTALTUNGSORTEN WAR DEUTSCHLAND IM RAHMEN DER EUROPÄISCHEN AKTIONSWOCHEN 2016 AM STÄRKSTEN VERTRETEN. IM FOLGENDEN EINE EXEMPLARISCHE DARSTELLUNG DER ARBEIT DER DEUTSCHEN TRÄGERKREISE. TRAGERKREISE IN DEUTSCHLAND BERLIN BOCHUM DORTMUND DÜSSELDORF FREIBURG FÜRTH GELSENKIRCHEN HAGEN

DURCH EINE ENGE ZUSAMMENARBEIT DER 18 TRÄGERKREISE KONNTE EIN VIELFÄLTIGES PROGRAMM PRÄSENTIERT WERDEN. NEBEN ZEITZEUGENGESPRÄCHEN, FILMVORFÜHRUNGEN UND THEATERAUFFÜHRUNGEN WURDE DAS INTERESSE DER ÖFFENTLICHKEIT AM THEMA „ATOMENERGIE UND IHRE AUSWIRKUNGEN AUF MENSCH UND UMWELT“ DURCH MUSIKALISCHE VERANSTALTUNGEN, DEMONSTRATIONEN, KUNDGEBUNGEN UND EINEM GROSEN UMWELTFESTIVA GEWECKT.

KIEL KÖLN/ BONN LEIPZIG MÜNSTER NORDERSTEDT NÜRNBERG POTSDAM REGION BRAUNSCHWEIG REGION IBBENBÜREN REGION ODER REGION SOEST

Im Wolfenbütteler Filmpalast fand die Premiere des Films „Power to change - Die EnergieRebellion“ statt. Die Premierenfeier richtete der gemeinnützige Verein „Regionale Energie und Klimaschutzagentur“ aus, der sich für Klimaschutzmaßnahmen und eine 100-prozentige erneuerbare Energieversorgung einsetzt. Aus Klimaschuztzgründen möchte der Verein eine CO2-freie und demokratischere Energieversorgung. Die Zuschauer sahen einen kurzweiligen und visuell beeindruckend bebilderten Dokumentarfilm, der Geschichten von Menschen erzählt, die an der Energierevolution arbeiten und die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen selber in die Hand nehmen. AUZUG EINES ARTIKELS DER BRAUNSCHWEIGER ZEITUNG VOM 09. APRIL 2016

Rund 1500 Menschen, so die Polizei, aus Salzgitter und der Region saßen zusammen auf der bunten Frühstücksmeile auf der ganztägig gesperrten vierspurigen Straße vor dem Endlager für schwach- und mittelradioaktive Abfälle „Schacht Konrad“. Die Besucher hatten überwiegend gute Laune, auch wenn der Anlass ein ernster war: Der Aktionstag galt dem Gedenken an Tschernobyl

und Fukushima. Der Sozialdiakon i.R. Paul Koch sprach mit der Belarussin Anna Fitsewa, die von den verheerenden Folgen der Tschernobyl-Katastrophe vor Ort berichtete. Sie unterteilte das Leben in zwei Abschnitte: das Leben vor dem Unglück und das danach. Und letzteres sei geprägt von Missbildungen und Krebserkrankungen und zahlreichen Totgeburten in ihrer Heimat. Auch in Fukushima sei die Situation nach fünf Jahren noch immer verheerend, berichtet der japanische Filmemacher Takashi Kunimoto. Die Atom-Lobby seines Landes beeinflusse dort die Medien. „Die Japaner neigen dazu, das Thema zu verdrängen“, sagt Kunimoto. Aber auch die aktuelle Situation um Schacht Konrad und den Asse-Schacht oder auch das AKW Grohnde, das Nukleartechnik-Unternehmen „Eckert und Ziegler“ in Braunschweig standen im Fokus der Kritik an den Tischen und auf der Bühne. „Widersetzt Euch - an die Frühstückstische“ so die launige Aufforderung, der viele gerne folgten. AUZUG EINES ARTIKELS DER BRAUNSCHWEIG-SALZGITTER ZEITUNG VOM 24. APRIL 2016

In 13 Ländern, die vom Fallout des Unglücksreaktors betroffen waren und sind - von der Ukraine bis Spanien - wurden am Abend des 25. April Kerzen entzündet, auch auf dem Grünen Markt in Fürth. Trotz wenig frühlingshaftem Wetter kamen 40 Frauen und Männer zur Fürther Kungebung, von denen sich die meinsten wohl noch gut an die dramatischen Wochen im April 1986 erinnern können. Stephan Stadlbauer vom Fürther Bündniss „Atomausstieg JETZT“ erklärte, warum sie hier sind: „Wir wollen daran erinnern, dass diese Technologie tausende Opfer gefordert hat.“ Nach Reden von OB Thomas Jung, Dekan Jörg Sichelstiel und Reinhard Scheuerlein vom Bund Naturschutz sprach Zeitzeige Walentin Jarmola, der nach dem Reaktorunglück zu Aufräumarbeiten im Sperrgebiet abkommandiert worden war. [...] Um 21 Uhr wurde ein „Radioaktiv!“-Zeichen aus Kerzen entzündet.

DIAKON I.R. PAUL KOCH IM GESPRÄCH MIT ANNA FITSEWA UND TAKASHI KUNIMOTO

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EUROPÄISCHE PERSPEKTIVEN

AUSZUG EINES ARTIKELS DER „FÜRTHER NACHRICHTEN“ VOM 26. APRIL 2016

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In Hagen fanden 21 Zeitzeugengespräche in 11 Schulen statt. Dabei wurden insgesamt über 1.000 junge Menschen erreicht.

Clemens Rostock sprach über die Energiewende in Brandenburg und über die Notwendigkeit an der Energiewende fest zu halten.

Zu den öffentlichen Veranstaltungen der Aktionswochen zählten unter anderem ein Vortrag mit Prof. Faulstich zum Thema „Stromgesellschaft“, weitere Zeitzeugengespräche im Gemeindehaus sowie ein Familiengottesdienst.

Die Ausstellung Hörbilder ist eine audiovisuelle Ausstellung, in der Betroffene der Reaktorkatastrophen in Tschernobyl und Fukushima zu Wort kommen. Es sind Personen, die noch in den verseuchten Gebieten wohnen oder umgesiedelt wurden. Die Ausstellung wurde in der Kulturlobby in Potsdam gezeigt.

MISSA GAIA EARTH MASS AUFFÜHRUNG DER MISSA GAIA EARTH MASS IN EINER EIGENEN „TSCHERNOBYL-EDITION“. JA-

Zusätzlich zu den erwachsenen Zeitzeugen konnten auch einige „junge Zeitzeugen“ aus früheren Jugendbegegnungen eingeladen werden. Unter dem Gedanken „Aufgewachsen mit der Katastrophe“ konnten sie sehr anschaulich berichten, wie gravierend die Konsequenzen von Tschernobyl für ihre Generation sind. Das ist um so wichtiger, als dass für (fast) alle Jugendlichen hier Tschernobyl ein unbekanntes Thema ist.

PANISCHE KLÄNGE ERINNERTEN AN DEN FUKUSHIMA-UNFALL. BILDER ZU BELARUSSISCHER FOLKLORE THEMATISIERTEN DIE TSCHERNOBYL-TRAGÖDIE. ANTONITER KIRCHE, KÖLN 22. APRIL 2016

Am Sonntag, dem 13. März 2016 wurde im Rahmen des Gottesdienstes in der evangelischen Kirche in der Gemeinde Michendorf der Opfer der beiden Reaktorkatastrophen gedacht. AUS DEM BERICHT EINER PARTNERORGANISATION POTSDAM, 14. JUNI 2016

AUS DEM BERICHT EINER PARTNERORGANISATION HAGEN, 23. MAI 2016

Die Aktionswoche in Potsdam begann mit der Ausstellung „Hörbilder – Fukushima – Tschernobyl“. Auf der Eröffnungsfeier sprach Clemens Rostock, Vorsitzender des Landesverbands Brandenburg Bündnis 90/ Die Grünen. Ebenfalls anwesend waren Vertreter der Heinrich Böll Stiftung aus Potsdam.

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EUROPÄISCHE PERSPEKTIVEN

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ÖSTERREICH BENEFIZKONZERT DER WIENER PHILHARMONKER IM FESTSAAL DES WIENER RATHAUSES ORGANISIERT VON DER NATURSCHUTZORGANISATION „GLOBAL 2000“ WIEN, 21. APRIL 2016

Obwohl in Österreich nie ein Atomkraftwerk in Betrieb ging, gehören Atomenergie und ihre grenzüberschreitenden Risiken nach wie vor zu den wichtigsten Themen für die Naturschutzorganisation GLOBAL 2000. Die NGO leitet seit nunmehr zwei Jahrzehnten ein Hilfsprojekt für Tschernobyl-Kinder in der Ukraine und beteiligte sich 2016 bereits zum fünften Mal an den Europäischen Aktionswochen „Für eine Zukunft nach Tschernobyl und Fukushima“.

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EUROPÄISCHE PERSPEKTIVEN

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GLOBAL 2000 konzentrierte sich vor allem auf die Durchführung von Schul-Workshops zum Thema Atomkraft und wurde dabei von der ukrainischen Zeitzeugin Natalia Tereschtschenko begleitet, die den Schülerinnen und Schülern von ihrem Einsatz am zerstörten Reaktor berichtete. Im Gedenken an den 30. Jahrestag der Katastrophe organisierte GLOBAL 2000 am 21. April diesen Jahres ein Benefizkonzert im Festsaal des Wiener Rathauses. Unterstützt durch die Wiener Philharmoniker und die Werbekampagne „Glatze oder Spende“, konnte so eine beeindruckende Summe an Spendengeldern für das Tschernobyl-Kinder Hilfsprojekt von GLOBAL 2000 gesammelt werden.

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EUROPÄISCHE PERSPEKTIVEN

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UKRAINE ÖKUMENISCHE TSCHERNOBYL-KONFERENZ IN KIEW

Die Tschernobyl-Liquidatoren standen am 14. April 2016 im Mittelpunkt einer ökumenischen Konferenz in Kiew, welche die griechisch-katholische und die römisch-katholische Kirche gemeinsam mit dem IBB Dortmund und der Charkiwer Geschichtswerkstatt Tschernobyl durchführten. „Die Kirchen sind verpflichtet, den Tschernobyl-Betroffenen eine Stimme zu geben“, betonte Weihbischof Bohdan Dsjurach, der zugleich Sekretär der Bischofssynode der griechisch-katholischen Kirche und Leiter der bischöflichen Kurie ist, in seiner Eröffnungsrede. „Denn die Tschernobyl-Liquidatoren, welche die Ukraine und ganz Europa durch ihren heldenhaften Einsatz vor 30 Jahren nach der Reaktorexplosion im AKW Tschernobyl vor schlimmeren Strahlenschäden bewahrt haben, brauchen unsere Solidarität, um nicht vergessen zu werden.“ Bisher, darin waren sich alle Teilnehmer der Konferenz „Ökologische und anthropologische Dimensionen der Tschernobyl-Katastrophe“ einig, stehen in der Ukraine vor allem technische Fragen, wie die Sicherheit der „Sarkophag“ genannten Schutzhülle um den zerstörten Reaktor, im Zentrum der öffentlichen und politischen Aufmerksamkeit. Die Leiterin der Charkiwer Geschichtswerkstatt Tschernobyl Ljubow Negatina sah daher die besondere Bedeutung der ökumenischen Konferenz darin, dass sie eine Zuwendung zu den betroffenen Menschen vollziehe. Wichtig war daher, dass auch Vertreter aus Parlament und Umweltministerium der Einladung zur Konferenz gefolgt waren – auch wenn sie diese nach ihren Grußworten leider wieder verließen.

Die Kirchen sind verpflichtet, den TschernobylBetroffenen eine Stimme zu geben. 50

EUROPÄISCHE PERSPEKTIVEN

Mit Mikola Bondar kam bei der Konferenz ein Liquidator zu Wort, der als Mitglied des Sonderbataillons 731 bereits in den ersten Tagen nach der Katastrophe unmittelbar am zerstörten Reaktor zum Einsatz kam. „Wir brauchen natürlich eine angemessene soziale Unterstützung, aber noch viel wichtiger ist, dass uns historische Gerechtigkeit wiederfährt und unsere Leistung anerkannt wird“, betonte Bondar in seinem Beitrag. Auch unter den teilnehmenden katholischen und orthodoxen Priestern befanden sich ehemalige Tschernobyl-Liquidatoren, wie beispielsweise der heutige Leiter der griechisch-katholischen Caritas in Dnipropetrowsk Vasil Panteljuk. Im Sommer 1986 war Panteljuk als Arzt in der Tschernobyl-Zone eingesetzt, heute kümmert er sich in der Ostukraine vor allem um Binnenflüchtlinge aus den Kriegsgebieten. Doch auch kranke Tschernobyl-Liquidatoren können im diakonischen Zentrum der Caritas Hilfe finden. Astrid Sahm, die das IBB Dortmund bei der ökumenischen Konferenz vertrat, stellte den Ansatz der Europäischen Aktionswochen „Für eine Zukunft nach Tschernobyl und Fukushima“ vor: „Wenn wir möchten, dass junge Menschen begreifen, was diese nuklearen Katastrophen bedeuten, und sich für eine nachhaltige Energieversorgung einsetzen, um neue Katastrophen zu verhindern, dann müssen wir für sie mehr Möglichkeiten zur Begegnung mit Zeitzeugen schaffen. Denn nur aus ihren Berichten wird für Schüler und Studenten anschaulich, wie diese Katastrophen das Leben von ganz normalen Menschen für immer verändert haben.“ Die Bedeutung der Bewahrung der Schöpfung war neben dem Schicksal der Tschernobyl-Liquidatoren das zweite Leitthema der Konferenz. So präsentierte Wolodymyr Scheremeta die Arbeit des Umweltbüros der griechisch-katholischen Kirche, und Larissa Jakowjuk informierte über die bisherigen Erfolge beim Aufbau eines kirchlichen Umweltmanagements in Belarus nach dem Vorbild der Aktion „Grüner Hahn“ in Deutschland. Zum Abschluss der Konferenz gedachten die Teilnehmer in einem ökumenischen Gottesdienst, der vom Ökumene-Beauftragten der griechisch-katholischen Kirche Ihor Schaban und vom evangelisch-lutherischen Pastor Pawlo Schwarz gestaltet wurde, allen bereits verstorbenen Tschernobyl-Liquidatoren.

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DANKBARKEIT Möge diese Konferenz uns vor allem zum Anlass werden, in Dankbarkeit jener hunderten und tausenden von Helden-Liquidatoren zu gedenken, deren Namen uns bekannt oder auch unbekannt bleiben, die ohne Rücksicht auf ihr eigenes Leben buchstäblich in die Hölle dieser Katastrophe gegangen sind. Dadurch haben sie nicht nur einen großen Teil der Ukraine, sondern zweifellos auch ganz Europa vor einem größeren Unheil beschützt. All ihnen gebührt unsere tiefe Dankbarkeit und Hochschätzung, denen aber, die ihr Leben hingeopfert haben, das ewige Gedächtnis. All dieser Menschen zu gedenken, heißt vor allem wirksame Mechanismen zu erarbeiten, mit deren Hilfe die Betroffenen geschützt und ihre Rechte gewährleistet werden können. Der Tschernobyl-Katastrophe zu gedenken, bedeutet ebenfalls, zum Schutz der Schöpfung Gottes beizutragen, damit alle Menschen auf dieser von Gott geschenkten Erde in Sicherheit und im Frieden leben können. SOLIDARITÄT Tschernobyl hat gezeigt, dass die ganze Menschheit miteinander eng verbunden ist. Die Grenzen zwischen den Ländern sind dabei kein Hindernis für diese Verbindung und für die gegenseitige Abhängigkeit. Alle Versuche sich von den anderen abzugrenzen, oder so zu leben, als ob uns geleichgültig wäre, was bei unseren Nachbarn geschieht, sind Täuschung und Illusion. Die Tschernobyl-Katastrophe offenbarte auf eine eindrucksvolle Weise, wie illusorisch solche Vorstellungen sind. Wir, Menschen, können mit den anderen solidarisch sein, in guten und in schlechten Zeiten. Ich bin davon überzeugt, dass wir heute mit jenen Menschen noch mehr solidarisch sein müssen, die damals als Liquidatoren in den ersten Reihen standen und mit allen, die an den Folgen dieser Katastrophe bis heute zu leiden haben. In diesem Jahr, das vom Heiligen Vater Papst Franziskus zum Jahr der Barmherzigkeit erklärt wurde, sollen die Kirche, zivilgesellschaftliche Organisationen und alle Menschen guten Willens, zur Stimme der Opfer, ja zur Stimme all derer werden, die sich vergessen und verlassen fühlen, die sich mit den Problemen und Herausforderungen, die durch die Ereignisse der vergangenen 30 Jahre verursacht worden sind, allein gelassen fühlen.

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Tschernobyl hat gezeigt, dass die ganze Menschheit miteinander eng verbunden ist. Tschernobyl ist eine Wunde am Leib unseres Volkes und des gesamten europäischen Kontinents. Allerdings muss diese Wunde nicht unverheilt bleiben, und die Menschen, die von ihr betroffen sind, sich nicht zum Missglücken verurteilt fühlen. Unser Glaube sagt uns, dass menschliche Wunden, die von Gottes Liebe und Barmherzigkeit berührt werden, zur Quelle des neuen Lebens und der neuen Hoffnung werden. Denn der Herr versichert uns durch den Mund des Propheten: „Denn ich lasse dich genesen und heile dich von deinen Wunden, Spruch des Herrn […]. Lobgesang wird dort erschallen, die Stimme fröhlicher Menschen. Ich will ihre Zahl vermehren, sie sollen nicht weniger werden; ich will ihnen Ehre verschaffen, sie sollen nicht verachtet werden.“ (Jer 30, 17.19) Mögen unser aufrichtiges Gebet, unsere dankbare Erinnerung und unsere tatkräftige Solidarität sowohl in der Ukraine als auch auf der internationalen Ebene für die noch offene Wunde von Tschernobyl zu einem heilenden Balsam werden. WEIHBISCHOF BOHDAN DSJURACH SEKRETÄR DER BISCHOFSSYNODE DER GRICHISCH-KATHOLISCHEN KIRCHE UND LEITER DER BISCHÖFLICHEN KURIE

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FRANKREICH

QUELLE: MARIE-ADELAIDE SCIGACZ | FRANCETVINFO.FR

OLEG VEKLENKO, LIQUIDATOR IN TCHERNOBYL, WILL NICHT, DASS FESSENHEIM ZU EINEM FRANZÖSISCHEN TSCHERNOBYL WIRD. VON MARIE-ADELAIDE SCIGACZ, ERSCHIENEN BEI FRANCETVINFO.FR, AM 26. APRIL 2016

OLEG VEKLENKO VOR DEM ATOMKRAFTWERK FESSENHEIM

SCHÄTZUNGSWEISE WURDEN 500 BIS 800 000 PERSONEN ZUM ATOMKRAFTWERK NACH TCHERNOBYL GESCHICKT, UM NACH DER EXPLOSION DES REAKTORS 4 DIE AUSSTREUUNG DER RADIOAKTIVITÄT ZU VERHINDERN. ZU IHNEN GEHÖRTE OLEG VEKLENKO. Er sagte zu, sich für das Foto hinzustellen. Auf dem Hügel oberhalb des AKWs von Fessenheim (Haut-Rhin) hebt Oleg Veklenko eine geballte Faust. Klick. Klick. Klick. Die Aktivisten, die alle die Schließung des Werkes befürworten und die ihn begleiten, fotografieren ununterbrochen den Mann aus der Ukraine und jubeln ihm zu, während er schnell wieder den Arm senkt, als würde er sich über diese für ihn viel zu überschwängliche Geste lustig machen. Als Fotograf, Grafiker und ehemaliger Liquidator weiß Oleg Veklenko um die Wichtigkeit der Bilder: „Ich habe gesehen, was sich in Tchernobyl abgespielt hat. Ich habe diese schreckliche Erfahrung gemacht, die ich niemandem wünsche. Ich will nicht, dass dieses hinter mir stehende Gebäude das gleiche über die Franzosen auferlegt“, berichtet er ruhig vor den Kameras. Anfang April traf dieser Atomkraftgegner und Überlebende einige Anwohner des ältesten französischen Atomkraftwerks. Um seine Geschichte zu erzählen und die Gefahren der Nuklearindustrie zu veranschaulichen, fuhr er noch vor dem dreißigjährigen Jahrestag der Katastrophe vom 26. April zwei Wochen lang im Wagen der Theatergruppe „Brut de béton“ durch Frankreich. FranceTV.info begleitete diesen wortkargen Wortführer der Opfer von Tschernobyl.

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Nach Tchernobyl gefahren, wie man in den Krieg zieht „Man wusste nichts über die Strahlungen. Die Zeitungen erwähnten sie natürlich auch nicht“, erinnert sich Oleg Veklenko, während er in der Schulbibliothek eines Gymnasiums in Guebwiller (Haut-Rhin) mit geradem Rücken, übereinander geschlagenen Beinen und den auf dem Schoß ruhenden Händen sitzt. Trotz der Schulferien ist an diesem frühen Morgen des 4. Aprils ein Dutzend Jugendliche gekommen, um ihm zuzuhören. „Da die Zeit vergeht, ist es wichtig, die jungen Generationen zu erziehen“, meint dieser Professor für Kunstgewerbe an der Charkiwer Universität in der Ostukraine. 1986 unterrichtete er schon. Er war damals 36, als er ein Einberufungsschreiben erhielt, sich innerhalb von 24 Stunden zur nächstgelegenen Militärkaserne zu begeben. „Er dachte, er hatte ja nur Unterlagen oder so etwas zu holen“, teilte Nika, sein Dolmetscher, beiläufig mit. „Er fuhr aber sofort nach Tchernobyl, wie man in den Krieg zieht“. Die Armee bat ihn, seine Kameraden beim Reinigen der Anlage, also die sogenannten „Liquidatoren“, zu fotografieren. Nicht nur um sie zu unterhalten, auch um den Generalstab über die Situation zu informieren, denn die Parteiführer und die Experten hielten sich nicht sehr lange dort auf. Somit macht er die ersten Stunden der evakuierten Städte und Dörfer, der an dem Ort hinterlassenen Tiere („eine fürchterliche Erinnerung“) und der Verwüstung unsterblich. „Man sah, dass alle

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QUELLE: MARIE-ADELAIDE SCIGACZ | FRANCETVINFO.FR

in großer Eile weggegangen waren“, erzählte er den stillen Schülern. Wie die Einwohner dieser Gegend ist zu diesem Zeitpunkt Oleg Veklenko der Meinung, „das Ganze wird sauber gemacht und das Kraftwerk wird in einigen Monaten wie früher wieder laufen“. Rückblickend bringt ihn seine Naïvität zum Lächeln.

OLEG VEKLENKO BEI EINEM GESPRÄCH MIT SCHÜLERN IN GUEBWILLER

Zwei Monate lang arbeitete er dort, „lange genug, um 25 Röntgen in den Körper zu bekommen. Es war die Voraussetzung, um nach Hause zurückkehren zu dürfen“, fügt er hinzu. Die verwirrten Jugendlichen fragen ihn danach, wie es ihm heute geht. Der Mann aus der Ukraine antwortet lächelnd und humorvoll: „Ich treibe viel Sport, ich führe ein gesundes Leben“. Dann Pause. Dann „Sie werden meinen Tod nicht zu sehen bekommen!“ sagt er spöttisch. „Er mag diese Frage nicht“, flüstert später André, ein Mitglied der Theatergruppe und Begleiter von Oleg Veklenko. „Er wird aber doch diese Frage beantworten müssen. ALLE stellen sie ihm!“ Seit er Tschernobyl verlassen hat, hat sich der Künstler einen Auftrag gegeben: seine Fotos überall auf der Welt zu zeigen. Schon im Oktober 1986 stellt er sie in Kiew aus. Diesen Montag im April soll er sie im Festsaal in Munchhouse vorstellen und dem Bürgermeister von Fessenheim einen Abzug übergeben. An diesem Tag hat er viel vor, Oleg Veklenko geht trotzdem unerschütterlich seinen Verpflichtungen nach. Er macht alles mit, während ihn die Aktivisten von Besuch zu Besuch, von Konferenz zu Demonstration führen. Sie betrachten ihn als Symbol, als Held. Oleg

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lächelt also freundlich und drückt immer wieder Hände mangels Austauschmöglichkeiten in Französisch. Er spricht wenig, ja sogar in Russisch. Er flüstert Nika kaum einige Worte zu und sie antwortet ihm auch leise. Dieser Mann ist „furchtbar diskret“, sagt Gabriel Weisser lächelnd, der Veranstalter dieses elsässischen Besuchs. Mit diesen Worten stellt er ihn der Menschenmenge vor, die sich für den Theater- und Projektionsabend im kleinen Festsaal versammelt hat. Obwohl er der Star des Abends ist, sitzt er ganz hinten im Saal, so dass das Publikum den Hals verdrehen muss, um Beifall zu klatschen. Seine Fotos und Zeichnungen sprechen für ihn. „Hier handelt es sich um einen Held, der in ein Loch gesprungen ist, um einen Mann aus einer radioaktiv verseuchten Zone herauszuholen“, beschreibt er und tippt dabei auf seinen Computer, der an einem Videoprojektor angeschlossen ist. Auf einem im nahliegenden Wald aufgenommenen Foto sind Folkloretänzer zu sehen, die extra aus dem Ural gekommen sind, um die Stimmung

Ich bin hier, um die Wahrheit zu sagen und damit man anschließend nicht sagen kann, dass ich lüge, dass ich dort nicht war. EUROPÄISCHE PERSPEKTIVEN

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Nach einigen Tagen in Frankreich macht sich Oleg mit den Wahnvorstellungen und indiskreten Fragen langsam vertraut. „Ich werde oft gefragt, ob ich auf dem Dach der Anlage war, um die radioaktiven Trümmer zu entfernen, wie es im Fernsehen gezeigt wurde. Ich hatte aber gar nicht damit zu tun“, erklärt er. Er weiß übrigens, dass er nicht krank aussieht. „Nein, zwei Köpfe habe ich nicht. Ich bin trotzdem krank. Ich habe zahlreiche Operationen über mich ergehen lassen. Und viele dieser Männer sind gestorben. Jeden Tag sterben welche“.

OLEG VEKLENKO BEI EINER ANTI-ATOMKRAFTWERKVERSAMMLUNG IN ALT-BREISBACH

QUELLE: MARIE-ADELAIDE SCIGACZ | FRANCETVINFO.FR

der Männer zu heben. „Ihre langen Kleider berührten den verseuchten Staub“ - den Feind Nummer eins der Liquidatoren, erklärt Oleg Veklenko. Auf einem anderen Foto ist ein Lager auf dem Land zu sehen, mit Männern ohne Masken und Männern mit Masken. „Das war nur für das Foto, wir haben diese Masken viel zu spät bekommen…“ Er kommentiert ein anderes Foto: „Nichts Besonderes, nur LKWs, die mit verseuchtem Staub bedeckt sind … Hier sind Ruinen“. Immer in Schwarz-Weiß. Apokalyptisch. „Hinter jedem Porträt versteckt sich ein Mensch oder eine Geschichte“, die Arbeitsszenen weisen auf etwas Sinnloses hin. „Hier werfen die Männer die verseuchte Erde in Container hinein, die sie danch in den Waldboden eingraben. Erde eingraben, komisch, nicht wahr?“ - „Das alles hat nichts genutzt“, flüstert er weiter. „In Pripiat bin ich in eine Kinderkrippe gegangen, in der kleine Masken überall auf dem Boden herumlagen. Ich habe ein Foto davon gemacht, ich will es Ihnen aber nicht zeigen. Es macht einem zu große Angst“. Schließlich erscheint eine abstrakte Zeichnung mit nervösen und verworrenen Strichen. „Hier versuchte ich zu zeichnen, was ich tief in meinem Herzen empfand“. Nein, zwei Köpfe habe ich nicht. Ich bin trotzdem krank. In dem überfüllten Saal geht das Licht wieder an. Da sitzen Aktivisten und Einwohner dieses kleinen elsässischen Städtchens, dessen Wirtschaft sich zum Teil auf das Kraftwerk von Fessenheim verlässt. Einige Zuschauer greifen nach dem Mikrofon und fragen nach Zahlen. „Wie viele Liquidatoren hat es gegeben? Wie viele Tote? Über welchen Zeitraum?“

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„Ich bin hier, um die Wahrheit zu sagen und damit man anschließend nicht sagen kann, dass ich lüge, dass ich dort nicht war“. Die Etappen seiner „Tournee“ sind natürlich strategischer Art. Am vorigen Tag war die kleine Gruppe in Bure (Meuse), wo sich eine unterirdische Atommülldeponie im Bau befindet. In Fessenheim wurde Oleg Veklenko ins Rathaus eingeladen, wo ein Transparent Pro-Atomenergie hing. Nachdem Nika ihm die Überschrift übersetzt hatte, schien der ehemalige Liquidator, sich darüber lustig zu machen, obwohl er die Kunstbewegung „Block 4“ (vierter Reaktor, derjenige, der in Tchernobyl explodierte) gegründet hatte, um ein kämpferisches Design gegen das Atom zu fördern. In Claude Brenders Arbeitszimmer verlief das Gespräch freundlich, es hinterließ aber dem Zeugen der Nuklearkatastrophe einen bitteren Geschmack. „Ich habe großen Respekt vor dem, was Sie gemacht haben“, sagte ihm zum Schluss der Bürgermeister von Fessenheim. „Es erschüttert mich jedoch nicht in meiner Überzeugung, dass die Kernenergie ein positiver Teil unserer Energiequellen ist“. Während Oleg dem Bürgermeister das Bild schenkte, worauf Liquidatoren vor dem aufgerissenen Gebäude stehen, bekam er ein Buch mit dem Titel „Es lebe die glückliche Kernenergie“. Da lächelte der Mann aus der Ukraine. „Ich soll das mit Humor nehmen, so habe ich es immer gemacht“. Wenn man aber behauptet: „ein solcher Unfall kann hier nicht geschehen...“, er seufzt. „In Tschernobyl wie in Fukushima hat sich die Katastrophe unerwartet ereignet“. Er spricht nicht über die Zukunft, sondern über die Vergangenheit. Aus Erfahrung weiß er, „man kann nicht immer alles vorhersehen“.

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ITALIEN IM RAHMEN DER EUROPÄISCHEN AKTIONSWOCHEN WURDEN IN ITALIEN IM ZEITRAUM VOM 15. BIS 23. APRIL 2016 MEHRERE VERANSTALTUNGEN MIT ZEITZEUGEN ORGANISIERT

FESTIVAL DER FREIWILLIGEN LUCCA

In Rahmen der Europäischen Aktionswochen „Für eine Zukunft nach Tschernobyl und Fukushima“ wurden in Italien im Zeitraum vom 15. bis 23. April 2016 mehrere Veranstaltungen mit Zeitzeugen organisiert. Neben den zahlreichen Begegnungen mit angereisten Liquidatoren aus Belarus und der Ukraine fand auch das Festival der Freiwilligen in Lucca statt. Zentrale Veranstaltung des Festivals war eine Konferenz, an der unter anderen zwei Tschernobyl-Liquidatoren - der Arzt Anatolij Rutschitsa und der Ingenieur Wladimir Sednew - teilnahmen. Zusammen mit dem leitenden Endokrinologen der Universität Pisa Paul Vitti und Riccardo Romeo Jasinski, Katastrophenmanager, sprachen die Liquidatoren über ihre persönlichen Eindrücke, die aktuelle Situation vor Ort, die kurz- und langfristigen Folgen der Katastrophe, sowie die damit einhergehenden Auswirkungen für Umwelt und Gesundheit. Ein weiterer Kernpunkt war ein Seminar, welches den Teilnehmern die Möglichkeit bot sich untereinander auszutauschen, welche Initiativen in den kontaminierten Gebieten weiter vorangetrieben werden sollten und inwieweit diese unterstützt werden können. In Rahmen des Festivals trafen die Liquidatoren sich mit italienischen Organisationen, die in den von Tschernobyl betroffenen Gebieten arbeiten, sowie mit Menschen aus dem Katastrophenschutz.

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NORWEGEN FERNSEHINTERVIEW MIT ANATOLIJ GUBAREW, LIQUIDATOR. AUSGESTRAHLT AM 26. APRIL 2016 IN NRK NYHETER

Geruch dieser brennenden Kabel wurde für mich zu dem Geruch von Tschernobyl. Zu unseren weiteren Aufgaben gehörte, die benachbarten brennenden Torfmoore zu löschen und von Anfang bis Mitte Mai versuchten wir mithilfe der Feuerwehrautos die umliegenden Häuser von radioaktiven Rückständen zu reinigen. Damals hoffte die Regierung noch, dass die Menschen die dort lebten, in ihre Häuser zurückkommen können.

QUELLE: DAGSAVISEN.NO

ANATOLIJ GUBAREW LIQUIDATOR

[…] Leider, wusste niemand in der damaligen Sowjetunion darüber Bescheid, was in Tschernobyl in Wirklichkeit passiert ist. Ein oder zwei Wochen nach der Katastrophe wussten viele Menschen immer noch absolut nichts. Alles, was wir erfuhren, erfuhren wir per Zufall und das auch nur aus inoffiziellen und zu der damaligen Zeit illegalen Informationsquellen, wie Radio „Liberty“, BBC oder „Voice of America“. Staatliche Medien berichteten nicht über das Geschehene. Wie der größte Teil der Liquidatoren, wurde auch ich am 8. Tag nach der Havarie, am 4. Mai 1986, mobilisiert. Als wir nach Tschernobyl fuhren, wussten wir nicht, welche Arbeiten dort auf uns warten. Bis dahin arbeitete ich in einer Charkiwer Fabrik und war Zivilist. Doch als ich in Tschernobyl ankam, wurde ich von jetzt auf gleich ein Feuerwehrmann. Ich war nicht der einzige, der auf diese Weise „umgeschult“ wurde. Innerhalb von zwei, drei Tagen wurden aus uns Feuerwehrmänner, Chemiker oder andere „Spezialisten“ gemacht. Niemanden interessierte es, ob jemand von uns eine ausreichende Qualifikation hatte um diese Tätigkeiten überhaupt ausüben zu können. Uns wurde eine Aufgabe gestellt und die musste erfüllt werden. Auf Menschenleben wurde dabei leider kein Wert gelegt. […] Ich sehe dieses Bild (Anm. d. Red. – auf dem Bildschirm) und erinnere mich daran, als ich in der Nacht vom 23. auf den 24. Mai neben dem zerstörten Block 4 einen Kabelbrand löschte. Der

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Im Nachhinein betrachtet, hat sich mein Leben in „vor Tschernobyl“ und „nach Tschernobyl“ aufgeteilt. Vor der Katastrophe war ich ein kerngesunder junger Mann, der professionell Volleyball spielte - aber schon zwei Wochen nach meinem Rückkehr aus Tschernobyl begann ich auf der Arbeit ohnmächtig zu werden. Ich bekam massive gesundheitliche Probleme und hatte 1989 eine Operation wegen einer onkologischen Erkrankung. Meinen damaligen Kollegen erging es nicht besser. Laut einer Information vom 1. Januar 2016 sind aus meiner Feuerwehr-Einheit, bestehend aus 352 Personen, nur noch etwa 90 am Leben. Die Gesamtsituation der Liquidatoren zeigt, dass mittlerweile jeder zweite Liquidator an den Folgen der Tschernobyl-Havarie gestorben ist. Bedauerlicherweise hat sich die Regierung nicht für uns interessiert, nachdem wir aus Tschernobyl zurückkamen. Niemand hier hat uns gebraucht, niemand hat sich um unsere Gesundheit gekümmert. Deswegen gründeten wir im Jahr 1988 die erste Nichtregierungsorganisation, die die Verantwortung übernahm und die Interessen von „Tschernbyltsy“ (Anm. d. Red. -„Tschernobyl-Menschen“ – Liquidatoren oder Umgesiedelte) zu vertreten begann. Diese Organisation in Charkiw leite ich bis heute. Wir propagieren die Idee „einer kernkraftlosen“ Zukunft und arbeiten systematisch mit Jugendlichen. Jährlich treffen wir uns mit über 2.500 jungen Menschen – mit Schülern und Studenten. […] Wir versuchen ihnen die Notwendigkeit einer Welt ohne Atomkraft zu vermitteln, die Notwendigkeit daran zu denken, was sie ihren Kindern in der Zukunft hinterlassen und wie sie überhaupt weiter leben werden. Somit versuchen wir das Bewusstsein junger Menschen zu verändern, damit sie in einer sauberen, atomkraftlosen Welt leben können.

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TÜRKEI DIE ORGANISATION „YESIL DÜSÜNCE“ (GRÜNES DENKEN) GING FÜR DIE AKTIONSWOCHEN 2013 ERSTMALIG EINE KOOPERATION MIT DEM IBB EIN UND IST SEITDEM EIN FESTER PARTNER IM PROJEKT

FOTO: NAHIDE GÖKHAN

Die Organisation „Yesil Düsünce“ (Grünes Denken) ging für die Aktionswochen 2013 erstmalig eine Kooperation mit dem IBB ein und ist seitdem ein fester Partner im Projekt. Die Organisation wurde 2008 in Istanbul gegründet und hat es sich zur Aufgabe gemacht, die türkische Bevölkerung für die Themen Umweltschutz und Nachhaltigkeit zu sensibilisieren.

FOTO: FATOS ÖNCÜ

FOTO: NAHIDE GÖKHAN

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In der Türkei ist weiterhin der Bau von zwei Atomkraftwerken geplant. Um den regionalen Protest zu stärken nahm Yurij Schumtschenko, Liquidator aus der Ukraine, im Rahmen der Europäischen Aktionswochen an Demonstrationen, Infoveranstaltungen und Gesprächen mit Einwohnern in Mersin und Sinop teil. Besonders eindrucksvoll ist dabei seine Rede vor rund 10.000 Menschen in Sinop, nahe der Stelle an dem eines der AKWs geplant ist, im Rahmen einer Demonstration. Zudem gelang es in Kooperation mit mehreren anderen Initiativen erstmals einen Empfang im türkischen Parlament in Ankara zu organisieren, bei dem der ukrainische Liquidator die Gelegenheit bekam, sich Fragen bei einer Pressekonferenz zu stellen.

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POLEN FÜNF ZEITZEUGEN BEI ÜBER 55 VERANSTALTUNGEN IN ÜBER 50 ORTEN SIND DIE BILANZ DER DIESJÄHRIGEN AKTIONSWOCHEN IN POLEN

Fünf Zeitzeugen bei über 55 Veranstaltungen in über 50 Orten sind die Bilanz der diesjährigen Aktionswochen in Polen. Mittlerweile haben sich dabei vielfältige Partnerschaften über sämtliche Regionen Polens ergeben. Neben der „Fundacja Eko-rozwoju“ FER aus Warschau, die bereits seit 2014 federführend an den Aktionswochen teilgenommen hatte und der „Fundacja HerStory“ aus Lublin, die 2015 zu den Aktionswochen dazu gestoßen war, nahmen die Organisationen „Transgressive Art“ und „Fundacja Sedlaka“ in diesem Jahr erstmals Zeitzeugen als Gäste im Rahmen der Europäischen Aktionswochen auf. Mithilfe der Berichte der Tschernobyl-Zeitzeugen wollen die Organisationen die polnische Bevölkerung für die Gefahren der Atomenergie sensibilisieren und sich für die Energiewende in Polen stark machen. Neben Veranstaltungen in Schulen, an den Universitäten und anderen Bildungseinrichtungen nutzten sie dazu die verschiedensten Formate, wie Filmvorführungen, öffentliche Aktionen, sowie Kunstund Diskussionsveranstaltungen. Herausragend sind dabei sicherlich die Diskussionsveranstaltungen im Solidarnosc Museum Danzig und im Polnischen Theater Breslau.

ZEITZEUGENGESPRÄCHE IM CENTRUM SOLIDARNOSCI DANZIG

PODIUMSDISKUSSION IM CENTRUM SOLIDARNOSCI DANZIG

INFORMATIONSVERANSTALTUNG MIT ZEITZEUGEN AN EINER POLNISCHEN SCHULE

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SPANIEN IM RAHMEN DER EUROPÄISCHEN AKTIONSWOCHEN WURDEN IN SPANIEN IM ZEITRAUM VOM 15. BIS 23. APRIL 2016 ZAHLREICHE VERANSTALTUNGEN ORGANISIERT

ZEITZEUGIN HELENA BLATUN EMPFANG DES ANDALUSISCHEN PARLAMENTSPRÄSIDENTEN JUAN PABLO DURAN

Während der Europäischen Aktionswochen 2016 in Andalusien wurden durch die spanischen Hilfsorganisationen FEDASIB und ANIDA zahlreiche Veranstaltungen organisiert. Hervorzuheben ist der Empfang der Ärztin und Zeitzeugin Helena Blatun aus Belarus bei dem Präsidenten des andalusischen Parlaments, Juan Pablo Duran. Während dieser Begegnung zeigte der Präsident sein großes Interesse an der Geschichte der Zeitzeugin, die nach der Tschernobylkatastrophe für fünf belarussische Dörfer im kontaminierten Gebiet nahe Gomel als Internistin zuständig war. Es entwickelte sich ein reger Austausch über die Möglichkeiten andalusischer Organisationen, die Unterstützung in den betroffenen Ländern wei-

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ter auzubauen und darüber, wie den Kindern, die in den Regionen mit hoher Umweltbelastung leben müssen, geholfen werden kann. Frau Blatun berichtete ihrerseits über die gesundheitliche Situation der belarussischen Bevölkerung, die in den hoch kontaminierten Gebieten lebt. Felix Gonzalez, Mitglied der Organisation FEDASIB, machte darauf Aufmerksam, wie groß die Bedeutung der wirtschaftlichen Unterstützungen für die Institutionen sind, die belarussischen Kindern eine Erholungsreise nach Spanien ermöglichen. Die Organisation gab weiterhin bekannt, ein weiters Haus für das Projekt „Nester der Hoffnung“ bauen zu wollen - ein Gemeinschaftsprojekt mit der onkologischen Klinik in Minsk, gefördert durch das Internationale Tschernobyl-Netzwerk (ICN).

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