Belarus Perspektiven nr 47

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01 / 10 Winter 2010 ISSN 1616-7619 4,- € K 46699

Insider analysieren, Initiativen berichten.

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Editorial

Liebe Leserinnen und Leser, „Und es bewegt sich doch...“ mit einem kleinen Hoffnungsschimmer können möglicherweise die Entwicklungen in Belarus in den letzten Monaten beschrieben werden. Gleichzeitig verändern sich auch die Belarus Perspektiven: Im neuen Design und mit der international gültigen Transkription. Dynamischer, offener und analytisch schärfer wollen wir im neuen Jahr über Belarus berichten. Denn es könnte Bewegung in die Beziehungen zwischen Belarus und Europa kommen: In gleich drei Foren zeigten Staat und Zivilgesellschaft in den letzten Monaten ihre Affinität für die EU. Auf dem Minsk Forum loteten Staatsvertreter nicht nur die Möglichkeiten des Dialoges aus, sondern zeigten sich auch teilweise liberaler als in den Vorjahren (Seite 6). Zwei andere Foren – in Brüssel und Minsk – richteten sich insbesondere an die belarussische Zivilgesellschaft. Wie dort die Konfliktlinien innerhalb der belarussischen Opposition verliefen, erfahren Sie auf Seite 7. Zum zivilgesellschaftlichen Forum der Östlichen Partnerschaft wiederum strömten viele belarussische NGO-Vertreter nach Brüssel. Auch hier beteiligte sich die belarussische Delegation an den verschiedenen Gesprächen – ob erfolgreich, lesen Sie auf Seite 8.

Berichte über die Zusammenarbeit von NGOs aus Belarus und Deutschland gehören zum Standard der Belarus Perspektiven. Die Initiativen wollen etwas bewegen und hoffen, „dass etwas in Bewegung kommt...“. Das Jubiläum der Stiftung West-Östliche Begegnungen machte deutlich, mit welch langem Atem viele von ihnen nun schon über 15 Jahre unterwegs sind und sich in ihrer Arbeit nicht entmutigen lassen. Das zeigen auch die über 40 neuen Projekte des Förderprogramms Belarus. Dass viele Initiativen heute zielgerichtet und landesweit arbeiten, zeigt der Bericht zum Fachkräfteaustausch (Seite 28). Denn NGO-Arbeit wird getragen von dem Engagement konkreter Menschen; dies wird dann besonders deutlich, wenn sie nicht mehr unter uns sind. Auch davon berichten wir in dieser Ausgabe. „Und es bewegt sich doch…“ gilt auch für die Belarus Perspektiven selbst. Unsere neue Chefredakteurin Sabrina Bobowski hat nach einem Design Ausschau gehalten, das übersichtlicher, dynamischer und abwechslungsreicher ist. Ob ihr dies mit unserer neuen Layouterin Grit Tobis zusammen gelungen ist, können nur Sie selbst entscheiden. Wir freuen uns über Anregung und Kritik an belarusperspektiven@gmail.com. Herzlich Ihr Peter Junge-Wentrup

Die Redaktion der Belarus Perspektiven

Sabrina Bobowski studier-

Martin  Schön  studierte

Dr. Edith Spielhagen leitete

Dorothea  Wolf  studierte

Grit  Tobis  studierte  Be-

te  Kulturwissenschaften

Kulturwissenschaften  und

6 Jahre die Medienakade-

Slavistik und Politikwissen-

triebswirtschaftslehre  mit

in Frankfurt an der Oder,

Soziologie  in  Minsk  und

mie bei der IBB Minsk. Seit

schaft in Mannheim, Sankt

Schwerpunkt Marketing in

Krakau und St. Petersburg.

Frankfurt an der Oder. Er

Januar 2008 ist sie freibe-

Petersburg und Woronesch.

Dresden  und  Kommuni-

Sie ist hauptverantwortliche

arbeitete unter anderem

ruflich tätig als Medienwis-

Während  ihres  Studiums

kationsdesign und Medien

Redakteurin  der  Belarus

für die Deutsche Welle und

senschaftlerin,  Publizistin

arbeitete sie bei verschiede-

in Wismar. Seit 2006 ist sie

Perspektiven und engagiert

das IBB, seit 2009 ist er

und Osteuropaexpertin mit

nen  öffentlich-rechtlichen

freiberuflich tätig als Gra-

sich in der Jugend- und

im IBB Dortmund für das

dem Schwerpunkt  Vorbe-

und  privaten  Medienan-

fikdesignerin.  Im  Herbst

Projektarbeit  mit  Mittel-

Förderprogramm Belarus

reitung und Durchführung

stalten und Unternehmen.

2009  begann  sie ihre  Ar-

und Osteuropa.

zuständig.

von  Bildungsprogrammen

Seit  Frühjahr  2009  leitet

beit als Art Directorin bei

für Journalisten aus Ost-

sie die Medienakademie an

der Belarus Perspektiven.

europa.

der IBB Minsk.


Inhalt

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Goethe versus Volski Ingo Petz berichtet vom XII. Minsk Forum

Für Gott und Vaterland Die christliche Rechte in Belarus

Anfang November fand in der IBB Minsk das XII. Minsk Forum statt. Die deutsch-belarussische Gesellschaft hatte bereits zum zwölften Mal zahlreiche Vertreter aus Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft eingeladen. Während auf der Hauptbühne vor allem schöne Worte ausgetauscht wurden, bot das Forum abseits davon auch einige neue, unerwartete Spielräume.

Seit Jahren scheitert die Oppositionspartei Belarussische Christliche Demokratie an ihrer Registrierung. Ende Oktober konnte zumindest der Gründungskongress stattfinden. Wer steckt hinter der neuen christlichen Rechten?

Außenpolitik

Innenpolitik

Minsk Forum Forum Zivilgesellschaft Europäisches Forum EU-Sanktionen Lukašenko in der Ukraine Mauerfall in Belarus Schnelle Eingreiftruppe

6 7 8 10 11 12 13

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Belarus Perspektiven

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Publikationen

Kultur/Wissenschaft Weihnachten und Neujahr in Belarus Sexualität in Belarus

Schweinegrippe in Belarus Reform der Wahlgesetzgebung Partei Christliche Demokratie Konsultationsrat aufgelöst

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Musial und Brakel

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Nr. 47  01 / 10


Inhalt

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Happy Birthday Die Stiftung West-Östliche Begegnungen feiert ihr 15-jähriges Jubiläum

Hand aufs Herz! Sexualität in Belarus

Ende Oktober feierte die SWÖB ihr 15-jähriges Jubiläum im Auswärtigen Amt in Berlin. Spätestens bei der Verleihung des Förderpreises war den etwa 100 geladenen Gästen klar, dass die Stiftung sich nicht auf eine Zielgruppe festlegen will.

In Belarus hat nach langjähriger Pause vor kurzem wieder ein Erotikshop seine Pforten geöffnet. Grund genug das Verhältnis der BelarussInnen zu Sexualität einmal näher zu betrachten.

Wirtschaft & Umwelt

NGOs & Gesellschaft

Krisenmanagement – Kommentar Preisliberalisierung Zollunion Investitionsforum

20 22 22 23

Editorial Inhalt Chronologie Impressum

3 4 18 35

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Förderprogramm Belarus 7. Städtepartnertreff Jubiläum SWÖB Denkmal ermordete Psychiatrieopfer Fachkräfteaustausch Behindertenarbeit Nachruf für O. Nechaj Nachruf für A. Fratz

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Außenpolitik

Zähneknirschend schöne Worte Anfang November fand in der IBB Minsk das XII. Minsk Forum statt. Die deutsch-belarussische Gesellschaft hatte bereits zum zwölften Mal zahlreiche Vertreter aus Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft eingeladen. Während auf der Hauptbühne vor allem schöne Worte ausgetauscht wurden, bot das Forum abseits davon auch einige neue, unerwartete Spielräume. Ingo Petz, Berlin

„Wer sichere Schritte tun will, muss sie langsam tun.“ Vladimir Makej, der smarte Chef der belarussischen Präsidialverwaltung, weiß um die Bedeutung des schönen Wortes. Für seinen Vortrag am Eröffnungsabend des Minsk Forums hatte er ein Goethe-Zitat gewählt, um für Geduld bei der Umsetzung der Reformprozesse zu werben. Unter den starken Männern des Lukašenko-Regimes gilt Makej als vorsichtiger Reformer und damit als einer der Autoren der zögerlichen Annäherung zwischen der EU und Belarus, wie sie seit den Parlamentswahlen in Belarus im September 2008 zu beobachten ist. Makej teilte mit, dass Belarus zu „einem ehrlichen

Unerwarteter Gast: belarussische Sprache beim vergangenen Minsk Forum. Foto: IBB

Dialog“ mit der EU bereit sei. Er betonte die „gemeinsamen Werte“ und warnte davor, die Anfang 2009 ausgesetzten Sanktionen gegenüber seinem Land zu reaktivieren. Schöne Worte, zögerliche Annäherung auf der einen Seite und Einforderung demokratischer Werte auf der anderen Seite - unter dieser Spannung stand auch das Minsk Forum, das vom 4. bis 6. November 2009 zum zwölften Mal seit 1997 in der belarussischen Hauptstadt von der deutsch-belarussischen Gesellschaft veranstaltet wurde. Makejs Vortrag war ein Vortrag, wie man ihn erwartet hatte: luftig, um Optimismus und Verständ-

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nis ringend, aufgebauscht mit diplomatischen Floskeln und Phrasen, mit einem betonten Akzent auf der Verbesserung der wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Belarus und der EU und insbesondere der zwischen Belarus und Deutschland. Demonstrativ nannte Makej den anwesenden Klaus Mangold, Vorsitzender des Ost-Ausschusses der deutschen Wirtschaft, mehrmals seinen „guten Freund“. Bekenntnisse oder gar Versprechen zur demokratischen und zivilgesellschaftlichen Entwicklung, mit denen Makej in der schwierigen Lage der europäisch-belarussischen Beziehungen ein wichtiges Zeichen hätte setzen können, hatte er nicht mitgebracht. Stattdessen bekam man auch im Laufe der dreitägigen Konferenz, an der rund 350 Politiker, Wirtschaftsvertreter und Experten teilnahmen, den Eindruck, dass das Regime Lukašenko aufgrund seiner prekären Wirtschaftslage zwar an einer wirtschaftlichen Liberalisierung interessiert ist, eine demokratische Liberalisierung aber nur zähneknirschend akzeptiert und sie deswegen nur sehr langsam vorantreibt. Wohl deswegen wurden als mögliche Szenarien für ein künftiges Belarus in den verschiedenen Arbeitsgruppen des Forums immer wieder China und Vietnam als Beispiele für autokratische Systeme herangezogen, die zwar eine Marktwirtschaft fördern, aber an einer demokratischen Entwicklung kein Interesse zeigen. Im Vergleich zum vergangenen Jahr geriet das Forum 2009 mit dem Schwerpunkt „Belarus und die Östliche Partnerschaft: Perspektiven für Politik, Wirtschaft und Gesellschaft“ allerdings weniger konfrontativ und kontrovers. Alle waren sichtlich bemüht, den Seiltanz der EU und Belarus nicht zu sehr zu stören und ihm bei aller Gefährlichkeit Optimismus und Verständnis entgegenzubringen. Nur wenige sprachen das aus, was wohl viele dachten. Wie beispielsweise Marieluise Beck, Bundestagsabgeordnete von Bündnis90/Die Grünen. Sie fand in der Abschlussveranstaltung deutliche Worte Nr. 47  01 / 10


Außenpolitik

für die nach wie vor „eklatanten“ demokratischen Mängel des belarussischen Staates. Seit der Aufnahme Belarus´ in das Östliche Partnerschaftsprogramm der EU, sagte Beck, habe sich hinsichtlich einer Demokratisierung nichts mehr getan. „Was wir im Moment erleben, ist ein Experiment, von dem wir noch nicht sagen können, ob es gelingt. Aber die EU sollte sich genau anschauen, ob Belarus ihren Forderungen nach einer demokratischen Entwicklung nachkommt.“ Und auch Sergej Kaljakin, Chef der Kommunisten von Belarus, mahnte, dass die EU sich vom Regime Lukašenko nicht an der Nase herumführen lassen solle. „Mir ist der Zweckoptimismus, der auf dem Forum betrieben wird, sehr fremd. Das Regime führt seit Jahren einen weichen Krieg gegen die eigene Gesellschaft. Das muss viel mehr betont und berücksichtigt werden.“ Dem Minsk Forum wird turnusmäßig immer wieder vorgeworfen, dass es entweder eine Plattform

für die Opposition sei oder eine Präsentationsfläche für das Regime. Zudem wird oft kritisiert, dass der kritische Dialog zwischen Regierungsvertretern und Oppositionellen, der in Belarus tatsächlich nur auf dem Forum möglich ist, zu kurz käme. Dass sich aber dennoch etwas bewegt, sah man deutlich. Beispielsweise daran, dass im Foyer des IBB belarussischsprachige Bücher verkauft wurden, dass das Programm des Forums nach zwölf Jahren erstmals auch in belarussischer Sprache veröffentlicht wurde, dass Regime-Vertreter auf der Forum-Party dem bekanntesten Rockstars des Landes Lavon Volski lauschten oder dass im sehr lebendigen Panel „Identität im Wandel: Jugend- und Subkultur in Belarus“ Andrej Kim, einer der bekanntesten Jugend-Aktivisten, neben Julja Zeljankevič, 2. Sekretärin der staatlichen Jugendorganisation BRSM im Minsker Oblast, saß und beide ihre scheinbar unüberbrückbaren Meinungsdifferenzen mit Humor und Selbstironie angingen. Allein um das zu beobachten, hatte sich das Minsk Forum 2009 gelohnt.

Auf nach Brüssel! Rund 30 belarussische NGOs nahmen vom 16. bis 17. November am zivilgesellschaftlichen Forum in Brüssel teil Dmitrij Karpeevič, Minsk / SB

Am 16. und 17. November fand in Brüssel die erste Sitzung des zivilgesellschaftlichen Forums innerhalb der Östlichen Partnerschaft statt. 240 Vertreter nicht-staatlicher Organisationen aus Aserbaidschan, Armenien, Belarus, Georgien, Moldau und der Ukraine sowie aus den EU-Ländern waren nach Brüssel gekommen, um gemeinsam in vier thematischen Panels Empfehlungen für die Arbeit innerhalb der Östlichen Partnerschaft auszuarbeiten (Demokratie und verantwortungsvolle Regierungsführung, wirtschaftliche Integration und Konvergenz mit der EU-Politik, Energieversorgungssicherheit und Kontakte zwischen den Menschen). Aus Belarus kamen unter anderem Vertreter der Jungen Front, der Bewegung Für Europa, der belarussischen Journalistenvereinigung, des belarussischen Helsinki-Komitees sowie Vertreter des alternativen Jugendverbandes RADA und des Bildungszentrums POST zu dem Forum. Die belarussischen Teilnehmer regten insbeson01 / 10  Nr. 47

dere eine Diskussion über die Arbeitsstrukturen und die Selbstorganisation des Forums an, die zu der Gründung einer Koordinierungsgruppe (Steering Committee) führte. Viele der Anwesenden zeigten sich darüber erstaunt, dass aus Belarus die meisten Teilnehmer pro Programmland angereist waren und machten auf die aussichtsreichen Perspektiven innerhalb der zivilgesellschaftlichen Zusammenarbeit aufmerksam. Der Anfang des zivilgesellschaftlichen Forums wird von vielen Hoffnungen und Chancen begleitet. Ob es allerdings wirklich zu einer wichtigen Institution innerhalb der Östlichen Partnerschaft werden kann, bleibt abzuwarten. Unklar bleibt auch, wie lange Minsk tolerieren wird, dass die EU auch Vertreter der Zivilgesellschaft in die Östliche Partnerschaft integrieren will. Langfristig könnte die belarussische Regierung die zivilgesellschaftlichen Techtelmechtel eher als Störung des Dialogprozesses empfinden.

Weitere Informationen zum Forum und insbesondere zu den Empfehlungen der thematischen Gruppen finden Sie unter: http://ec.europa.eu/ external_relations/ eastern/civil_society/ index_en.htm.

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Außenpolitik

Europa wartet Im November organisierte Alekandr Milinkevičs Bewegung Für die Freiheit ein großeuropäisches Vernetzungstreffen in Minsk. Das Europäische Forum brachte viele hohe Gäste aus ganz Europa nach Minsk. Dennoch boykottierte ein großer Teil der Opposition die Veranstaltung. Genadij Kesner, Minsk

Etwa 800 Delegierte aus praktisch allen Regionen des Landes und mehr als 100 Gäste waren in den Veranstaltungssaal des Minsker Automobilwerkes geströmt, um „es“ zu sehen: das von den Organisatoren angekündigte Streben der belarussischen Gesellschaft nach Europa und zur Demokratie. Unter den hochkarätigen ausländischen Gästen war auch der stellvertretende Sprecher des polnischen Sejm, Zbigniew Romaszewski, die stellvertretende Vorsitzende der Europäischen Volkspartei, Corien Wortmann-Kool, sowie Jacek Protasiewicz, Vorsitzender der Delegation für Beziehungen zu Belarus des EU-Parlaments. Aus unerfindlichen Gründen verweigerte die belarussische Staatsmacht dem litauischen Abgeordneten Emanuelis Zingeris die Einreise. Dafür konnten sich die Gäste an Videobotschaften einiger Grands der europäischen Politikbühne erfreuen, darunter der ehemalige tschechische Präsident Vaclav Havel. Es folgten Live-Auftritte der Anführer des neu gegründeten belarussischen national-konservativen Blocks der Unabhängigkeit – Aleksandr Janukevič, Vorsitzender der Volksfront, Dmitrij Daškevič, Kopf der illegalen Jungen Front, sowie Pavel Severynec, stellvertretender Vorsitzender der Partei Belarussische Christliche Demokratie. Bei der Oppositionsprominenz trafen die freiheitsorientierten Auftritte der Europäer auf offene Ohren. Wortmann-Kool rief den Zuhörern ein „Hätten wir uns vor 20 Jahren vorstellen können, dass die Berliner Mauer fällt?“ zu und unterstrich, Belarus gehöre zur Europäischen Familie, weshalb das Europaparlament die belarussische Staatsführung dazu aufrufe, freie Präsidentschaftswahlen durchzuführen „sowie die Meinungs- und Pressefreiheit zu gewährleisten“. Sinnfrage Manch kritische Stimme zum Forum verpuffte, als der schwedische Botschafter Stefan Eriksson die heimlich kolportierte Frage offen aussprach: „Braucht man überhaupt so ein Forum?“ Die Antwort, so Eriksson, laute: ja. Eriksson plauderte 8

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aus dem historischen Nähkästchen seines Heimatlandes, dessen Bewohner sich sehr schwer mit der europäischen Integration getan hätten. Aber letztendlich hätten sich die Schweden, so Eriksson, „davon überzeugen lassen, dass man Europäer sein und gleichzeitig Schwede bleiben kann“. Man müsse, meinte Eriksson, jene Belarussen vereinen, die das Land als Teil Europas sähen. Dazu sei das Forum eine gute Möglichkeit. Was kann Europa Belarus in diesem Kontext bieten? Recht viel, fand Europaparlamentarier Protasiewicz, mindestens das Programm Östliche Partnerschaft. Es diene dazu, dem belarussischen Volk zu helfen, sich „der Freiheit anzunähern, Kraft zu schöpfen, um zu handeln, Führer zu finden, die Verantwortung für das Land übernehmen, wenn die Zeit dafür gekommen ist“. Nicht alle anwesenden Gäste waren davon überzeugt, dass die belarussische Staatsführung da mitspielen würde. Der grüne Bundestagsabgeordnete Manuel Sarrazin erklärte, der Staatsmacht fehle es an einem grundsätzlichen Verständnis von Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaat, und sie müsse sich daran orientieren, was den Menschen wirklich wichtig sei. Begeistert auf Bestellung Dazu gehört bisher jedoch nicht unbedingt die europäische Integration, wagte der Philosoph Valentin Akudovič kritisch anzumerken. Der Vater der belarussischen Postmoderne fügte allerdings hinzu, dies sei lediglich eine Frage des politischen Willens,: „Wenn die Staatsführung heute alle ihre Ressourcen darauf verwenden würde, die Bürger davon zu überzeugen, dass sie ins Europäische Haus gehören, würden nach einem halben Jahr 80 Prozent der Bevölkerung für einen EU-Beitritt votieren!“ Die Konkurrenz indes boykottierte das Forum. Milinkevičs Ex-Kollegen aus dem oppositionellen Parteienbündnis Vereinte Demokratische Kräfte (VDK), darunter die Vereinte Bürgerpartei und die Partei der Belarussischen Kommunisten, hatten bereits im Vorfeld die These kolportiert, Nr. 47  01 / 10


Außenpolitik

Milinkevič wolle die Veranstaltung als Startschuss für seine Kampagne als Präsidentschaftskandidat nutzen. Dies blieb zwar aus, allerdings inszenierte sich Milinkevič geschickt als Garant eines politischen Wechsels. Seinen eigenen Auftritt hatte der Ex-Präsidentschaftskandidat dramaturgisch vorteilhaft ans Ende der Rednerliste gesetzt. Seine Programmrede ließ sich in fünf Hauptthesen zusammenfassen:

• Milinkevič will keinen Unionsstaat mit •

Russland – er zieht „gute, vorteilhafte Nachbarschaftsbeziehungen“ vor. Partnerschaft mit der EU und die entsprechenden politischen Freiheiten sind vorteilhaft, sogar für jene, die laut Milinkevič heute Angst davor haben oder diese bekämpfen. Man werde, so Milinkevič, die Staatsmacht bei der Modernisierung des Landes unterstützen, allerdings dabei auch um jedes Stückchen Freiheit zu kämpfen wissen. Das zentrale Problem ist aus Milinkevičs Sicht nicht das Regime selbst, sondern die politische Wahrnehmung der Menschen. Deshalb sei es besonders wichtig, an Wahlen teilzunehmen, um die Menschen zu erreichen. Der Zentrale Wahlslogan müsse „Unabhängigkeit, Demokratie, Europa“ sein. Einen guten Kandidaten, der einen Großteil der Opposition vereint, ein gutes Programm habe und „alle überzeuge“, werde er unterstützen, so Milinkevič. Bisher hat er wohl keine Alternative zu sich entdecken können – Milinkevič meinte, heute könne er selbst dieser Kandidat sein.

vermuten, das neue Bündnis habe vor allem einen Zweck: Milinkevič zum Präsidentschaftskandidaten für 2011 zu machen. Die dezimierten VDK klammern sich derweil an die Idee von „Primeries“, also Vorwahlen nach US-amerikanischem Vorbild. Viele Analysten halten dies schlicht für eine Verschwendung von Zeit und Ressourcen, durch die das Bündnis im Kampf mit Aleksandr Lukašenko und auch Aleksandr Milinkevič völlig chancenlos wird. Milinkevič ist also, auch durch das von ihm initiierte Forum, der Oppositionskandidat mit den größten Aussichten. Für die Aufstellung eines anderen Präsidentschaftskandidaten und seine Profilierung in der schwer zugänglichen, staatlich dominierten Medienlandschaft bleibt Milinkevičs Gegnern schlichtweg keine Zeit mehr.

Zwar entzogen die VDK mit ihrem Boykott dem Forum ein wenig Legitimation, gleichzeitig offenbarten sie jedoch vor allem die eigene Schwäche. Denn eines der stärksten Mitglieder der VDK, die Belarussische Volksfront (BNF) hat unter ihrem neuen Vorsitzenden Aleksej Janukevič eben jenen Block der Unabhängigkeit mit gegründet und damit faktisch die Fronten gewechselt. Experten Willkommen auf meinem Forum! Aleksandr Milinkevič begrüßt einen oppositionellen Delegierten. Foto: bymedia.net

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Außenpolitik

Zuckerbrot ja, Peitsche eher nicht Am 17. November beschlossen die EU-Außenminister, den janusköpfigen Kurs gegenüber der belarussischen Regierung in puncto Sanktionen weiterzuführen. Die Sanktionen gegen belarussische Beamte wurden erneut um ein Jahr verlängert und gleichzeitig ausgesetzt. Als vollkommen überraschend erwies sich indes der Plan der europäischen Kommission, EU-Richtlinien zu Visaerleichterungen und Rückübernahmeabkommen mit Belarus vorzuschlagen. Marina Rachlej, Minsk

Die EU hatte 2004 gegen einige belarussische Beamte Visa-Sanktionen eingeführt, weil sie ihnen vorwarf, Menschenrechtsverletzungen begangen zu haben. Bis 2006 war die Liste der „unbeliebten“ Vertreter der belarussischen Regierung auf 41 Personen angewachsen. Im Oktober 2008 beschlossen die EU-Außenminister jedoch, die Sanktionen gegen die meisten der belarussischen schwarzen Schafe auszusetzen. Mit Ausnahme von fünf hohen Regierungsbeamten: dem ehemaligen Innenminister Vladimir Naumov, dem ehemaligen Staatssekretär des Sicherheitsrats Viktor Šejman, dem ehemaligen Leiter des Innenministeriums Jurij Sivakov, dem ehemaligen Kommandeur der Sondereinheit der Inlandsstreitkräfte Dmitrij Pavličenko sowie der Leiterin der Zentralen Wahlkommission Lidija Ermošina. Ihnen wird vorgeworfen, an dem Verschwinden vermeintlicher Regimegegner in den Jahren 1999 und 2000 sowie an Wahlfälschungen beteiligt gewesen zu sein. Große Aussichten... Bereits im März 2009 hatte die EU die Aussetzung der Sanktionen um weitere neun Monate bis Mitte Januar 2010 beschlossen. Eine generelle Aufhebung der Einreiseverbote kam zu diesem Zeitpunkt nicht in Frage, so dass die EU den Freundschaftskurs erneut nur temporär einschlug. Inzwischen stellt Brüssel den Minskern durchaus in Aussicht, das Kriegsbeil auch dauerhaft zu begraben. Dafür wolle man aber auch tatsächliche Fortschritte in fünf zentralen, reformbedürftigen Bereichen sehen (Wahlgesetzgebung, Versammlungsfreiheit, Bedingungen für NGOs, Pressefreiheit, Persönlichkeitsrechte). ...kleine Veränderungen Mit den realen Veränderungen waren die Minister dann im November nicht sonderlich zufrieden. Begrüßt wurde zwar der politische Dialog 10

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auf hoher Ebene, der Beginn eines Dialogs über Menschenrechte, die Teilnahme an der Östlichen Partnerschaft sowie die Intensivierung der technischen Zusammenarbeit. Wie so oft hieß es aber, dies reiche noch lange nicht aus. Der Ministerrat bedauerte die unangemessenen Reaktionen von Sicherheitskräften auf friedliche Proteste und die Tatsache, dass etlichen Parteien, NGOs und Medien die Registrierung verweigert worden sei. Die Außenminister forderten die belarussische Regierung dazu auf, die Vereinigungs- und Versammlungsrechte zu achten, die Wahlgesetzgebung zu reformieren und ein Moratorium für die Todesstrafe zu beschließen. Trotz alledem riet der Rat zum ersten Mal der EU-Kommission dazu, eine Vereinbarung für Visaerleichterungen und ein Rückübernahmeabkommen zu unterschreiben. Da bis dato noch kein grundlegendes Abkommen besteht und auch ein erheblicher Fortschritt in den Reformbereichen weiterhin aussteht, zeigt der Vorschlag, wie ernst es die EU mit einer Annäherung meint. Nach dem Spiel ist vor dem Spiel Die Entscheidung der EU, die Sanktionen weiter auszusetzen, war längst absehbar. Brüssel verteilt seit der Dialogaufnahme vor einem Jahr Zuckerbrot – mit der Peitsche droht man allerdings kaum noch. Nach Meinung des Politologen Andrej Fëdorov setzt die EU auf einen Kompromiss à la „weder Krieg noch Frieden“. Auf die politischen Forderungen wolle Brüssel keinesfalls verzichten, aber die EU bemühe sich sichtlich die Barrieren abzubauen. Der belarussischen Regierung bleibt nun erneut ein Jahr um eigene Vorschläge für einen Dialog zwischen Belarus und der EU zu erarbeiten. Viel Zeit, in der es sich gleichzeitig anbieten würde, den Dialog mit Zivilgesellschaft und Opposition anzustoßen – denn ohne diesen könnte das Zuckerbrot bald knapp werden. Nr. 47  01 / 10


Außenpolitik

Wahre Freundschaft Ende des Jahres 2009 wärmten sich die belarussisch-ukrainischen Beziehungen bis zu Temperaturen auf, die alle politischen Wetterkundler verblüfften. Jahrelang hatten die Präsidenten beider Länder nicht miteinander gesprochen, nun trafen sie sich gleich zwei Mal und fällten im Eilverfahren wichtige politische Enscheidungen. Was war geschehen? Genadij Kesner, Minsk

Nachdem beide Präsidenten bereits beim GUSGipfel im Oktober Gespräche geführt hatten, reiste Aleksandr Lukašenko Anfang November zu seinem Kollegen Viktor Juščenko nach Kiev. Der belarussische Präsident traf auch Juščenkos Widersacherin und Premierministerin Julia Timošenko sowie den Vorsitzenden des ukrainischen Parlaments, Vladimir Litvin. Bei ihren Gesprächen einigten sich die Präsidenten dann überraschend schnell auf einen Grenzverlauf zwischen beiden Ländern zugunsten Kievs. Dafür erklärte sich die Ukraine nach Informationen des russischen Kommersant bereit, ihre Auslandsschulden gegenüber Minsk in Form von Energielieferungen zu tilgen. Innerhalb von nur 72 Stunden gelang es den beiden Staatsoberhäuptern so, Probleme zu lösen, die ihre Regierungen über zehn Jahre lang vor sich her gewälzt hatten. Ein diplomatisches Wunder? Zeit der Wunder Mitnichten, erklärt Valeri Karbalevič, Experte des belarussischen Analysezentrums Strategija. Die Zeit sei einfach reif, weil eine engere Zusammenarbeit beiden Staatschefs maximale Vorteile bringe. Denn Juščenko, dessen Umfragewerte für die Wahl im Januar zwischen drei und fünf Prozent umherdümpeln, habe außenpolitische Erfolge „bitter nötig”. Auch für Lukašenko, nach wie vor nicht gerade mit vielen internationalen Auftritten in Europa gesegnet, sei das Treffen eine gute Gelegenheit. Mindestens ebenso schwer wie die politische PR wiege jedoch der Zugewinn an außenpolitischer Manövrierfähigkeit. Denn Moskau „wird es schwer haben”, meint Karbalevič, falls sich beide Seiten auf eine gemeinsame Position zum Gas- und Öltransit oder über den Weiterbau der Gasleitung vom Kaspischen Meer nach Europa einigen. Kein Wunder, dass russische Kommentatoren Lukašenkos Visite teilweise heftig kritisierten. Den belarussischen Präsidenten ließ das jedoch kalt. Er erklärte den Journalisten: „Das ist nicht unser Problem. Wir haben uns über 01 / 10  Nr. 47

vieles geeinigt, auch über Energie- und Handelsbeziehungen.” Ein schönes Gesprächsthema für beide Seiten, denn das Handelsvolumen ist seit 2006 um mehr als das sechsfache gestiegen und betrug 2009 beeindruckende sechs Milliarden US-Dollar. Selber Schuld? Dass sich Kiev und Minsk jetzt auch politisch in die Arme fallen, kann durchaus mit der aggressiven russischen Außenpolitik erklärt werden. Erst der Georgien-Krieg, der die Ukraine in Alarmbereitschaft versetzte; dann folgten Handelskriege mit Minsk um Zucker, Milch und Fleisch, nicht zu vergessen Streitigkeiten mit beiden Nachbarn um

Gaslieferungen. Zwar enthält die neue belarussischukrainische Freundschaft eine Unbekannte, denn es ist unklar, wer im nächsten Jahr Präsident der Ukraine sein wird. Dennoch bleibt Politologe Karbalevič verhalten optimistisch, denn es gebe in Minsk „eine Tendenz dazu, sich von Russland zu distanzieren und die Beziehungen zu Europa zu verbessern. Deshalb kann man durchaus vorhersagen, dass sich die belarussisch-ukrainischen Beziehungen weiter gut entwickeln werden”.

Tuscheln gegen Russland? Die beiden Präsidenten beim tête-à-tête in Kiev Foto: Pressesekretariat von V. Juščenko

Belarus Perspektiven

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Außenpolitik

Echos der Vergangenheit 20 Jahre Mauerfall aus belarussischer Sicht

Im vergangenen Jahr 2009 wurden die Deutschen auf Schritt und Tritt von dem Gedenken an den November 1989 begleitet. Das ganze Jahr über war der lange Schatten der fallenden Berliner Mauer nicht aus der deutschen Medienlandschaft wegzudenken. Trotz der vielen internationalen Glückwünsche reflektierte in Deutschland wohl kaum jemand darüber, wie es um das Mauer-Gedenken in anderen Ländern steht – zum Beispiel in Belarus. Wir baten Konstantin Sidorovič, Redakteur bei dem Portal telegraf.by, darum, diese Wissenslücke für uns zu schließen. Konstantin Sidorovič, Minsk

Mauerfall reloaded: Lech Wałęsa und Miklos Nemeth machen schon wieder die Berliner Mauer kaputt. Foto: mauerfall09.de

Bei einer Delegationsreise belarussischer Medienvertreter durfte ich die Stimmung in Deutschland anlässlich des 20. Jahrestages des Mauerfalls miterleben. Das Ereignis, das die beiden deutschen Staaten wieder zusammenschweißte, beschäftigte auch viele andere Länder, insbesondere die Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Ich hatte zunächst erwartet, dass sich die Belarussen nicht übermäßig mit dem Mauerfall auseinandersetzen würden. Schließlich hatte sich in den zwei Jahrzehnten seit dem Zusammenbruch des gemeinsamen ideologischen Haus vieles verändert. Eine neue Generation war herangewachsen, die weder die letzten Jahre der Stagnation noch den Zusammenbruch des SowjetSystems bewusst erlebt hatte. Die Belarussen hatten sich nach dem Neuanfang daran gemacht, einen eigenen souveränen Staat aufzubauen und stießen dabei auf viele Schwierigkeiten und Hindernisse. Zudem schien es auch schon damals, als würde sich der durchschnittliche Bürger ausschließlich mit den eigenen Angelegenheiten beschäftigen – im besten Fall spähte man vorsichtig in Nachbars Garten, aber darüber hinaus blieb die äußere Welt eher uninteressant. Mauer überall Ich war deswegen sehr angenehm überrascht, als ich zum Jahrestag feststellte, dass sich auch in Belarus

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Belarus Perspektiven

viele Menschen mit dem Mauerfall beschäftigen. Er avancierte sogar zum medialen Thema Nummer eins: Staatliche und unabhängige Medien brachten tagein tagaus die unterschiedlichsten Reportagen, Berichte und Features zum Thema. Aber besonders in vielen Internetplattformen konnte man einen regen Meinungsaustausch beobachten. Eine mögliche Erklärung für die Popularität des Mauerthemas könnte die belarussische Geschichte sein, die auch ein Teilungs- und Wiedervereinigungsereignis vorzuweisen hat. Zwischen 1921 und 1939 ging das westliche Belarus infolge des polnisch-sowjetischen Kriegs an Polen. Nach 1939 wurde dieser Teil dann sehr schnell und kompromisslos wieder in die Sowjetunion eingegliedert. Ziel war ein geeintes ökonomisches System, deshalb hielt man Kollektivierung und Nationalisierung des westlichen Belarus‘ für die einzigen und probaten Mittel der Wiedervereinigung. In einem Teil des Landes, dessen Einwohner die sowjetische Wirtschaftsordnung – geschweige denn das autoritäre russische Staatsverständnis – bis dahin praktisch nicht gekannt hatten, kam dies einem kulturellen Schock gleich. Bis heute gilt das Land unter Sozialwissenschaftlern als kulturell geteilt in Ost- und Westbelarus. „Anschluss“ der BRD an die DDR? Heute beurteilen die meisten Belarussen die deutsche Wiedervereinigung positiv. Nichtsdestotrotz kritisieren einige, dass der Prozess zu schnell verlaufen sei. Ab und an hört man auch die Ansicht, die BRD hätte der DDR „angeschlossen“ werden sollen und nicht umgekehrt. Einige sind auch überzeugt, man hätte damals lieber die EU-Variante wählen sollen – also einen jahrzehntelangen kulturellen und ökonomischen Annäherungsprozess, innerhalb dessen die Staaten weiterhin souverän bleiben. Selbstverständlich gibt es auch in Belarus – und in Deutschland, wie ich bei meiner Reise Nr. 47  01 / 10


Außenpolitik

feststellte – einige Nostalgiker, die vor allem dem eigenen ideologischen System hinterher trauern. Dies sind meist Menschen der älteren Generation, die sich durch den Systemzusammenbruch auf einmal in einer unerwarteten und ungewöhnlichen Lage wiederfanden. Das Land, das sie mühselig aufgebaut hatten, war auf einmal nichts mehr wert oder ganz von der Landkarte verschwunden. Diese Menschen – und nicht die Regimegegner – fühlten sich von der Sowjetunion betrogen, da sie „den Brüdern in schwerer Stunde nicht beistand“. Es zeigt sich also, dass die Ansichten in Deutschland

und Belarus gar nicht so weit auseinander liegen. Das Interesse an den Ereignissen resultiert jedoch keinesfalls nur aus der Geschichte, sondern ist auch stark von den jeweiligen politischen Realitäten geprägt. Natürlich kann kein anderes Land die eigene historische Erfahrung ersetzen, allerdings bietet es sich durchaus an, über den eigenen Tellerrand zu schauen und auch aus fremden Erfahrungen zu lernen. Und diese zeigen im vorliegenden Fall nun mal auch, dass selbst nach 20 Jahren und einem abgeschlossenen Liberalisierungsprozess ab und an Echos der Vergangenheit nachklingen.

Minsk geht Russland auf die Kriegsnerven Krieg ist für die russische Regierung ein sensibles Thema. Genauso empfindlich zeigt sich Moskau allerdings auch bei kleineren Projekten, wie bei der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit und deren Schneller Eingreiftruppe. Marina Rachlej, Minsk

Die OVKS existiert bereits seit 1992, ihre Schnelle Eingreiftruppe wurde im Februar 2009 gegründet. Laut Vertrag ist die Truppe zur Abwehr militärischer Aggression und für spezielle Operationen im Kampf mit dem internationalen Terrorismus, Extremismus und Drogenhandel vorgesehen. Belarus ließ sich besonders viel Zeit, den Vertrag über die Schnelle Eingreiftruppe zu unterschreiben. Verfassungsgemäß darf die belarussische Armee nicht an militärischen Konflikten auf dem Territorium anderer Länder teilnehmen. Im Endeffekt überwogen dennoch die Wirtschafts- und Handelsangebote von russischer Seite gegenüber der eigenen Verfassung. Gleichzeitig nutzte Minsk jede Diskussion über den Vertrag, um weitere Verhandlungspunkte auf den Tisch zu bringen oder zeigte sich in anderer Form störrisch. So auch im Juni während des „Milchkriegs“: Als alle anderen Bündnisspartner brav in Moskau erschienen, um den Vertrag zu unterschreiben, blieb Aleksandr Lukašenko zu Hause in Minsk. Zwei Monate später ärgerte sich der belarussische Staatschef über russische Kommentare zur belarussischen Wirtschaft und verkündete, dass er selbst entscheide, wann er ein Dokument unterschreibe. Bis dato 01 / 10  Nr. 47

habe er allerdings noch nicht verstanden, „wofür die belarussischen Jungs sterben sollen“. Bei einem bilateralen Treffen mit dem russischen Präsidenten Medvedev bekräftigte Lukašenko allerdings, dass er das Dokument unbedingt bald unterschreiben wolle. Zu Anfang Oktober erschien dann tatsächlich die Information, „es“ sei geschehen. Nichtsdestotrotz ignorierte Lukašenko – und mit ihm die belarussische Armee – die gemeinsamen Übungen der OVKS-Bündnispartner.. Den entsprechenden Vorwand boten dieses Mal die schwierigen Verhandlungen mit Russland auf dem GUS-Gipfel in Chisinau am 9. Oktober. Offenbar wollte Lukašenko durch sein Fernbleiben dem Bündnis keine Absage erteilen, sondern lediglich eigene Stärke demonstrieren. Denn Streit hin oder her, der Vertrag ist jetzt in Sack und Tüten.

Nach einigem Zögern sind sich die beiden Staatschefs wohl doch einig geworden. Foto: Pressesekretariat von D. Medvedev

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Innenpolitik

Die „Grippe, die es gar nicht gibt“ Der Grippevirus A/H1N1 hat weltweit viele Regierungen in Aufruhr versetzt und sie dazu veranlasst, ernsthafte Maßnahmen für die Sicherheit ihrer Bürger zu ergreifen. Umso erstaunlicher war die Reaktion der belarussischen Regierung, die mit Beharrlichkeit das Problem einfach ignorierte. Das staatliche Reaktionsschema erinnert an alte Zeiten. Konstantin Sidorovič, Minsk

Nach altbewährtem sowjetischem Muster ignorierten die belarussischen Beamten entweder die Ansteckungsfälle oder verhinderten die offizielle Berichterstattung zu dem Thema. Das Gesundheitsministerium bestätigte die Grippegefahr erst, als der Leiter der sanitären Kontrollbehörde der Russischen Föderation argen Zweifel an der „NichtExistenz“ von Grippeinfizierten in Belarus äußerte. Die Lage verschärfte sich Ende Oktober, als die Krankenhäuser sich mit Menschen füllten, deren Symptome eindeutig auf „Schweinegrippe“ hinwiesen. Ärzte berichteten in privaten Gesprächen von Hunderten Infizierter und von Todesfällen. Gleichzeitig verbreitete sich das Gerücht, die Mediziner seien gezwungen worden, keine Informationen weiterzugeben.

Weihnachten im Mundschutz? Foto: bymedia.net

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Misstrauen Obwohl die Regierung die Existenz der Epidemie bestätigte, zog sie es weiterhin vor zu schweigen oder höchstens zu verkünden, dass keine große Gefahr bestehe. Am 2. November strahlte ein staatlicher Sender eine Zuschauerbefragung zur Grippe aus, bei der sich herausstellte, dass 93 % der Befragten überzeugt waren, dass die Regierung das tatsächlich Ausmaß der Situation verschweigt. Offenbar hatte man nicht mit so viel Misstrauen gerechnet, denn am Folgetag ließ Lilija Ananič, die stellvertretende

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Informationsministerin, verlautbaren, ihr Ministerium würde alle Versuche unterbinden, die Bevölkerung falsch über das Virus zu informieren. Vladimir Makej, Leiter der Präsidialadministration, erklärte, der Präsident habe ihm aufgetragen, das Informationsdefizit anzugehen. Unvorbereitet Als sich die Epidemie dann über mehrere Wochen hinzog, entschloss sich auch das Staatsoberhaupt zu einem öffentlichen Kommentar. Allerdings unterschieden sich die Worte des Präsidenten kaum von denen anderer Beamter. Aleksandr Lukašenko rief die Belarussen dazu auf, „keinen Lärm“ um die Grippe zu machen, versicherte, dass alles unter Kontrolle sei und beschuldigte Pharmakonzerne der Förderung von Medikamenten-Schwarzmärkten. Offiziell wurde das Ende der Epidemie in Minsk auf den 1. Dezember datiert, einen Monat nachdem sie begonnen hatte. Amtlichen Daten zufolge hatten in der Zeit 9,5 % der Bevölkerung an einem Grippevirus gelitten, darunter wurden 179 Fälle des A/ H1N1-Virus registriert. Bei 13 Menschen, die an einer Lungenentzündung gestorben waren, wurde die „Schweinegrippe“ festgestellt. Schweigen ist Gold Ende November gab der belarussische Gesundheitsminister Robert Časnojt‘ zu, dass das Gesundheitsministerium nicht genügend vorbereitet gewesen wäre. Zuvor war die Behörde sogar von sonst loyalen Parlamentariern kritisiert worden. Der Vorsitzende des belarussischen Oberhauses, Boris Batura, beklagte beispielsweise, das Gesundheitsministerium habe sich „erst dann mit dem Problem befasst, als sich die Bevölkerung bereits dafür interessierte“. Bei solchem Vorgehen bleibt nichts anderes als die Behörden daran zu erinnern, dass eine solche „Tschernobyl-Taktik“ schon einmal zu Panik, Schwarzmärkten und unzähligen Gerüchten geführt hat. Offenbar hat aus den damaligen Folgen der Schweigetaktik niemand etwas gelernt. Nr. 47  01 / 10


Innenpolitik

Alles ganz anders Am 11. Dezember verabschiedete das belarussische Unterhaus einstimmig die Überarbeitung der Wahlgesetzgebung. Nun soll das Gesetzesvorhaben noch vom Oberhaus bestätigt und vom Präsidenten unterzeichnet werden. Bereits bei den Kommunalwahlen im April 2010 könnte das neue Gesetz in Kraft treten. Marina Rachlej, Minsk

Der Gesetzesentwurf liberalisiert insbesondere die Regeln, nach denen die Wahlkommissionen zusammengesetzt werden, die den Wahlprozess steuern und überwachen. Ein Drittel der Kommission soll nun aus Vertretern politischer Parteien und gesellschaftlicher Vereinigungen bestehen. Der Staat soll sich neuerdings zurückhalten: Die Exekutivkomitees können nach dem neuen Gesetz nicht mehr ihre eigenen Vertreter in die Kommission einbringen, Staatsbeamte dürfen nicht mehr als ein Drittel der Kommission ausmachen. Organisationen, die einen Kandidaten für die Kommission aufstellen, können an den Sitzungen der städtischen Exekutivkomitees sowie der Legislativorgane teilnehmen, bei denen die Entscheidungen über die Zusammensetzung der Wahlkommission getroffen werden. Diese Entscheidung kann nun auch vor Gericht angefochten werden. Vereinfacht werden soll auch die Aufstellung von Kandidaten. Politische Parteien sollen Kandidaten aus jedem beliebigen Wahlkreis aufstellen dürfen, unabhängig davon, ob sie dort über eine lokale Vertretung verfügen. Gestrichen wurde auch eine Klausel, nach der bis dato die Unterschriftensammlungen für Kandidaten durch lokale Behörden beglaubigt werden mussten. Für die Behörden soll es auch schwieriger werden, die Richtigkeit der Unterschriften anzuzweifeln. Bei den regelmäßig vom Ausland als potentiell fälschungsanfällig eingestuften „Vorwahlen“ soll nach den vorliegenden Ergebnissen ein Protokoll angefertigt werden, das Auskunft darüber gibt, wie viele Bürger tatsächlich die Wahlstimmzettel erhalten haben. Auch das Problem der Finanzierung der Wahlkampagnen haben sich die Abgeordneten vorgenommen: Bei Parlaments- und Präsidentschaftswahlen sind dafür individuelle Finanzierungsfonds vorgesehen. Kandidaten für die Repräsentantenkammer können dabei über bis zu 8.500 Euro verfügen, der Präsidentschaftskandidat über bis zu 255.000 Euro. 01 / 10  Nr. 47

Die Verbesserung der Wahlgesetzgebung stand nach Ansicht von OSZE und EU schon lange an. Aleksandr Lukašenko befand aber, dass das Gesetz bereits dreifach ausreichend reformiert worden sei. Nach Ansicht von Lilija Ermošina, der Leiterin der Zentralen Wahlkommission, wird der Entwurf in jedem Fall helfen, das Gesetz zu verbessern und das Vertrauen bei der Bevölkerung zu stärken. Dass man es ablehnte, sich weitere Expertise bei der OSZE einzuholen, begründete Ermošina damit, dass dies einer „internationalen Erniedrigung“ gleich käme. Zudem hätte man durchaus die Vorschläge der OSZE berücksichtigt. Mit Bedauern konstatierte Ermošina die mangelnde Initiative der belarussischen Opposition und wies die Behauptung des Parlamentes zurück, es hätte Vorschläge von NGOs gegeben, unter anderem vom belarussischen Helsinki-Komitee.

Schon bei den nächsten Wahlen kann alles ganz anders werden. Foto: bymedia.net

Vertreter der Opposition monieren schon jetzt, dass die Reform keinesfalls eine Verbesserung der Wahlbedingungen bedeutet. Schließlich entscheidet weiterhin die Regierung über die Verwaltungsressourcen im Wahlkampf, so zum Beispiel über die Auszählung der Stimmen. Die Opposition plant deshalb, ihre eigenen Vorschläge einzureichen und fordert eine weitere Überarbeitung des Dokuments. Zudem merken Experten an, dass die Gesetze in Belarus gar nicht so schlimm seien wie ihre tatsächliche Umsetzung. Wie diese dann aussehen wird, zeigt sich im kommenden Frühling.

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Innenpolitik

Das Ende der Moral Seit Jahren scheitert die Oppositionspartei Belarussische Christliche Demokratie (BCHD) an ihrer Registrierung. Ende Oktober konnte zumindest der Gründungskongress statt finden. Wer steckt hinter der neuen christlichen Rechten? Martin Schön, Dortmund

Hand aufs Herz: Ideengeber Pavel Severynec singt beim Kongress die Hymne seiner Partei. Foto: bymedia.net

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Geduld ist eine christliche Tugend. Die Mitglieder der BCHD bewiesen sie in Vorbereitung auf ihren Parteitag zur Genüge: elf Mal versuchten sie im Herbst, ein Gebäude für ihren Kongress zu bekommen, elf Mal sagte ihnen das Minsker Exekutivkomitee ab. Am Ende gab die Stadtverwaltung doch ihr ok, vielleicht aus Großzügigkeit, vielleicht, um das politisch sensible Europa zu beruhigen. Dennoch: Um ihren Kongress mussten die demokratiebewegten Christen bis zum letzten Tag zittern, denn die Leitung des Kulturpalastes des Minsker Traktorenwerkes unterschrieb erst zwei Tage vorher den Mietvertrag. Zuvor hatten die protestbereiten Nationalisten gedroht, zur Not ihren Kongress unter freiem Himmel auf dem Oktoberplatz in Minsk durchzuführen. Kein besonders entspanntes Szenario für die Staatsmacht, denn auf eben jenem Platz hatten die Proteste gegen die Präsidentschaftswahlen 2006 stattgefunden, die in ganz Europa Aufmerksamkeit erregt hatten.

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Ein Kongress unter freiem Himmel – das ist ganz der Stil von Pavel Severynec, 33, dem Ideengeber der BCHD. Fünf Jahre, von 1999 bis 2004, war Severynec Vorsitzender der Jungen Front, einer nationalkonservativen, radikaloppositionellen Jugendorganisation, die er zu einem Sammelbecken für junge Evangelikale machte. Severynec kämpfte unermüdlich auf Demos, Kongressen und in Agitationskampagnen gegen das Regime, wurde verhaftet, demonstrierte wieder, wurde wieder verhaftet, brachte es insgesamt auf fast 40 Festnahmen. Aber er ließ sich nicht beirren. Die Staatsmacht, zermürbt von so viel stoischem Gottesglauben, verlor 2004 die Nerven und verurteilte den Uneinsichtigen zu drei Jahren Arbeitshaft. Präsident Lukašenko begnadigte ihn 2006. Da hatte Severynec bereits zwei Jahre im gottverlassenen nordbelarussischen Dorf Maloje Sitno im Sägewerk gearbeitet. Böse Journalistenzungen behaupten heute, Severynec seien die Einsamkeit, die rauen Umgangsformen und die Bibel nicht bekommen. In der Stille des Waldes gebar der Jungpolitiker Werke wie “Nationale Idee. Phänomenologie von Belarus” sowie unzählige heimatverbundene Reportagen für die Intellektuellenzeitschrift Naša Niva. Hier kam Severynec auch die zündende Idee: Eine Bewegung aus gläubigen, patriotisch gesinnten Christen sollte das unter Lukašenko moralisch verkommene Land erneuern. Seither arbeitete der Jungpolitiker unverdrossen an der Umsetzung seines Geistesblitzes, und wurde auf dem Kongress von seinen Mitstreitern dafür belohnt: Die 311 Delegierten im Kulturpalast wählten einstimmig (!) Severynec und seine vier Kollegen zu gleichberechtigten stellvertretenden Vorsitzenden der BCHD. Neben Severynec führen die BCHD nun drei weitere aktive Christen an: Georgi Dmitruk, 40, und Vitalij Romašesvskij, 35, beides erfolgreiche Geschäftsleute, sowie Aleksej Šejn, 33, Mitgründer der Jungen Front und der von Aleksandr Milinkevič angeführten Bewegung Für die Freiheit. In diesem national-konservativen Dunstkreis bewegt sich auch die BCHD. Nr. 47  01 / 10


Innenpolitik

Die Probleme des heutigen Belarus‘ brachte Severynec auf den christlichen Punkt: „In 70 Jahren Kommunismus und 15 Jahren Lukašenko ist im Land die Moral zerstört.“ Ihre Moraloffensive baut die noch-nichtPartei auf Themen auf, die an jene der Bush‘schen Republikaner erinnern. Ganz oben auf der Prioritätenliste stehen der Kampf gegen Abtreibung – im Parteijargon „Massenmord ungeborenen Lebens” - sowie gegen Kasinos, andere Formen der „moralischen Degradierung” und, last but not least, gegen das autoritäre Regime. In der BCHD verschmelzen national-patriotische Ideologie, christlicher Ultrakonservativismus und radikale Regimekritik. Kern der christlichen Gesellschaftsvision, meint Severynec, sei die „Triade Gott – Mensch – Vaterland”. Nicht alle christlichen Tugenden vertragen sich gut mit politischen Ambitionen. Bescheidenheit zum Beispiel. Auf dem Kongress verkündete Romaševskij stolz, die BCHD wolle zur führenden politischen

Kraft des Landes werden. Sein Kollege Severynec erklärte die Formel des Erfolgs: Faktor vier. Das sei, so Severynec, die Dynamik, mit der die Mitgliederzahlen der BCHD im letzten Jahr angestiegen seien, nämlich von 430 auf 1800. Severynec‘ einfache Rechnung: „Wenn wir bis zum Wahljahr weiter so wachsen, ist die BCHD bis 2011 wirklich die größte Partei des Landes.” Ähnlich dämonisch anmutendes Wachstum fürchtet wohl auch der belarussische Staat. Selbst auf dem bereits genehmigten Parteitag ließ die misstrauische Staatsmacht den gläubigen Demokraten keine Ruhe. Viele Gläubige blieben bei der Anreise „zufällig“ in spontan anberaumten Polizeikontrollen hängen. Doch das bittere Ende kam erst einen Monat nach dem Kongress, als das Justizministerium die Registrierung der Partei aus formalen Gründen ablehnte. Es sieht so aus, als gehe der Kampf der aufrechten Christen gegen das Regime in die nächste Runde.

Timeout Die letzte Sitzung des Konsultationsrates bei der Präsidialadministration war für den 12. November vorgesehen. Am Vorabend der Sitzung löste Vladimir Makej, Leiter der Präsidialadministration und gleichzeitig des Rates, das Beratungsgremium überraschend auf. Makej verordnete eine vermeintliche „Auszeit“, da zunächst eine gemeinsame Arbeitsweise gefunden werden müsse. Zuvor hatten sich oppositionelle Vertreter des Gremiums sehr abwertend über den Rat geäußert. Marina Rachlej, Minsk

Die Regierung berichtete erstmals Ende Januar 2009 darüber, dass ein Konsultationsrat bei der Präsidialadministration eingerichtet worden sei. Dieser sollte staatliche und gesellschaftliche Entwicklungen verfolgen, sie analysieren sowie der Regierung Vorschläge für sozio-ökonomische und politische Veränderungen unterbreiten. Gleichzeitig wurden die Mitglieder des Rats publik gemacht: Zum ersten Mal seit Mitte der neunziger Jahre saßen mehr als 20 Personen aus staatlichen Institutionen, politischen Parteien und NGOs gemeinsam an einem Tisch. Mit dabei waren viele Regimekritiker, beispielsweise der Vorsitzende des belarussischen Helsinki-Komitees Oleg Gulak, der Leiter der Gesellschaft der belarussischen Sprache Oleg Trusov, die Wirtschaftswissenschaftler Aleksandr Potupa, Leonid Zaiko, Stanislav Bogdankevič, und der Gewerkschaftsführer Aleksandr Jarošuk. Die verordnete Auszeit erklärte Makej den Medien 01 / 10  Nr. 47

damit, dass sich die Mitglieder des Rates zunächst auf eine gemeinsame, alle zufrieden stellende Arbeitsweise einigen müssten. Zudem – so Makej – hätten einzelne oppositionelle Mitglieder in der Presse verkündet, der Rat sei eine Scheininstitution, die vor allem PR betreibe. Experten werten diese Demarche hingegen als Zeichen an Europa. Bei der Ratsgründung ging es der Regierung hauptsächlich um eine Intensivierung des Dialogs mit der EU, und man ließ sich noch auf Kompromisse ein. Beobachter vermuten, die Regierung wolle nun zeigen, dass der Liberalisierungskurs jederzeit ein Ende haben kann. Der schwedische Botschafter Stefan Eriksson erklärte hingegen im Namen des Ratspräsidenten Schweden, dass er sehr hoffe, der Rat werde bald neue Formen der Zusammenarbeit finden. Schließlich sei er prädestiniert als Plattform für den inneren Dialog im Lande. Den hat Belarus inzwischen bitter nötig.

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Chronologie

Chronologie 12. Oktober bis 31. Dezember 12. - 18. Oktober Jean-Eric Holzapfel, Leiter der Vertretung der Europäischen Kommission in Belarus, äußert seine Zufriedenheit über die Ratifizierung des Rahmenvertrags über technische Zusammenarbeit durch das belarussische Parlament. In Helsinki trifft sich Außenminister Sergej Martynov mit seinem finnischen Kollegen Alexander Stubb, der sich für einen Beitritt Belarus‘ zum EU-Kooperationsprogramm Nördliche Dimension ausspricht. Aleksandr Lukašenko sagt seine Teilnahme an den Manövern der Schnellen Eingreiftruppe der Organisation des Vertrags über Kollektive Sicherheit (OVKS) ab und sorgt damit für diplomatische Aufregung. Der vietnamesische Vizepremier Hoang Trung Hai besucht Minsk und unterzeichnet mit der belarussischen Regierung eine Reihe von Wirtschaftsabkommen im Wert von etwa 60 Mio. Dollar.

Das Justizministerium lehnt aus formalen Gründen eine Registrierung der regimekritischen Partei der Arbeiter ab. Pallam Radschu, indischer Verteidigungsminister, trifft in Minsk zu Gesprächen mit seinem Kollegen Leonid Malcev ein. Thema sind belarussische Rüstungslieferungen an Indien.

26. Oktober – 01. November In Minsk unterschreiben die Köpfe mehrerer rechtskonservativer Oppositionsorganisationen ein Abkommen zur Schaffung des Belarussischen Blocks der Unabhängigkeit. Das Minsker Exekutivkomitee erlaubt überraschend der oppositionellen Partei Christliche Demokratie, ihren Gründungskongress in der Stadt abzuhalten.

19. - 25. Oktober

Premier Sergej Sidorskij trifft sich in Moskau mit seinem Kollegen Vladimir Putin. Sie bilanzieren die Arbeit des Unionsstaats. Putin lobt die Zusammenarbeit bei der Bewältigung der Finanzkrise.

Der ukrainische Außenminister Pëtr Porošenko trifft sich in Minsk mit seinem Kollegen Martynov. Er unterstreicht die Notwendigkeit einer Verbesserung der Beziehungen und lädt Präsident Lukašenko nach Kiev ein.

Philip Gordon, Berater des US-Außenministeriums, erklärt auf Nachfrage im Kongress, Belarus habe noch einen „weiten Weg vor sich“ bis zur Normalisierung der Beziehungen mit den USA.

Aleksandr Lukašenko unterschreibt trotz aller Kritik die Vereinbarung über die Schaffung einer Schnellen Eingreiftruppe der OVKS. Der estnische Außenminister Urmas Paet eröffnet in Minsk die Botschaft seines Landes und trifft sich mit Präsident Lukašenko sowie Außenminister Martynov.

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In Belarus wird der Tag der Toten Ahnen gefeiert. Konservative Oppositionsgruppen nehmen an einer 500-köpfigen Gedenkveranstaltung für die Opfer des Stalinismus teil.

02. - 08. November Maris Riekstins reist als erster litauischer Außenminister nach Minsk und trifft sich mit NGO-Vertretern und Präsident Lukašenko. Letzterer dankt Litauen für

die Unterstützung beim Dialog mit der EU. Aleksandr Lukašenko trifft zu Gesprächen mit seinem Kollegen Viktor Juščenko in Kiev ein. Beide Seiten lösen ihre jahrelangen Streitigkeiten über Grenzverlauf und Altschulden. Die beiden belarussischen Parlamentskammern schaffen eine Kommission, die sich mit der Anerkennung Abchasiens und Südossetiens beschäftigen soll. Hans-Dieter Lukas, Beauftragter des Auswärtigen Amtes für Osteuropa, Kaukasus und Zentralasien, warnt Belarus im Namen der EU vor einer Anerkennung der abtrünnigen georgischen Republiken. Belarus verweigert dem Berichterstatter für Menschenrechte der Parlamentarischen Versammlung des Europarats, Christos Pourgourides, die Einreise.

09. - 15. November Aleksandr Lukašenko leitet eine Sitzung zur Liberalisierung der belarussischen Wahlgesetzgebung, welche von der OSZE und der EU gefordert wird. Der aserbaidschanische Präsident Ilham Aliev trifft in Minsk zu Gesprächen mit Aleksandr Lukašenko ein. Es werden Verträge über einen Ausbau der Transportund Handelszusammenarbeit unterzeichnet. Das belarussische Außenministerium gestattet dem von der EU finanzierten regimekritischen Euroradio die Eröffnung eines Büros in Belarus. Der EU-Ministerrat entscheidet in Brüssel, sowohl die Sanktionen gegen belarus-

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Chronologie

sische Beamte als auch deren Aussetzung bis Oktober 2010 zu verlängern. In Minsk findet das von Milinkevičs Bewegung für die Freiheit organisierte Europäische Forum statt. Unter den Teilnehmern sind 100 europäische Gäste.

16. - 22. November In Brüssel findet das zivilgesellschaftliche Forum im Rahmen der Östlichen Partnerschaft statt. Es nehmen Vertreter von 27 belarussischen NGOs teil. Für ihre nicht genehmigte Teilnahme am Brüsseler Forum wird die Pressesekretärin der oppositionellen Jungen Front, Tatjana Šaput‘ka, in Minsk exmatrikuliert. Eine Delegation des belarussischen Unterhauses bricht zu einer Reise nach Abchasien, Südossetien und Georgien auf, um sich ein Bild zur Frage der Anerkennung der Republiken zu machen. NATO-Vertreter James Apaturay erklärt nach einem Treffen der Mitgliedsstaaten, die NATO sei besorgt über die russischbelarussischen Manöver „Westen 2009“ im September, die auf einem Verteidigungsszenario gegen westliche Angreifer basierten. Belarus plane eventuell die Einführung eines visafreien Reiseverkehrs für EUBürger für die Jahre 2010-2011, erklärt der stellvertretende belarussische Tourismusminister Česlav Šul‘ga. In Minsk unterzeichnen Vertreter des polnischen und belarussischen Verteidigungsministeriums ein gemeinsames Abkommen.

23. - 29. November Russlands Präsident sagt beim Treffen mit belarussischen Journalisten, sein Land nehme keinerlei Einfluss auf die Innenpolitik des Nachbarn. Die politische Nähe beider Länder sei allein durch die bedeutenden Finanzhilfen Russlands bewiesen.

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Die Minsker Spezialeinheiten des belarussischen Innenministeriums schaffen eine Frauentruppe. In Moskau findet das Kollegium der belarussischen und russischen Außenministerien statt. Minister Martynov erklärt, beide Länder würden ihre EU-Politik in Zukunft aufeinander abstimmen. Aleksandr Konovalov, russischer Justizminister, entschuldigt sich dafür, dass in seinem Ministerium oft „Belarussland“ („Belarussija“) als Ländername verwendet wird und verspricht eine Umstellung auf „Belarus”. In Minsk findet das Treffen der Teilnehmerstaaten des Eurasischen Wirtschaftsraums statt. Belarus, Russland und Kasachstan unterzeichnen die Papiere für eine gemeinsame Zollunion.

In Moskau trifft Aleksandr Lukašenko zu Gesprächen mit Präsident Medvedev ein. Thema ist unter anderem der Unionsstaat. Medvedev bekräftigt, sein Land werde Belarus weiter wirtschaftlich unterstützen. Die Oppositionspolitiker Lebed‘ko und Janukevič werden bei ihrer Rückkehr vom Kongress der Europäischen Volkspartei am Flughafen durchsucht. Kongressmaterialien werden konfisziert.

14. - 20. Dezember Das belarussische Außenministerium lässt verlauten, man werde nicht die Visakosten für EU-Bürger senken, ohne dass die Union ähnliche Maßnahmen einleite. In einer Belarus-Resolution kritisiert das Europäische Parlament Repressionen gegen oppositionelle Personen und Organisationen; es gebe zudem keine wirklichen Fortschritte bei den Menschenrechten.

30. November – 06. Dezember Das belarussische Unterhaus verabschiedet einstimmig eine Reform der Wahlgesetzgebung, die Forderungen von OSZE und EU berücksichtigt. Aleksandr Lukašenko erklärt der italienischen La Stampa, in Belarus sei keine Diktatur möglich, da sein Land nicht über die Ressourcen verfüge, um sich dem internationalem Druck zu stellen. Silvio Berlusconi trifft sich in Minsk mit Präsident Lukašenko und bespricht die wirtschaftliche Zusammenarbeit. Auch zeigt er sich beeindruckt von Lukašenkos hohen Wahlergebnissen. Präsident Lukašenko ernennt neue Minister für Information, Verteidigung, Wirtschaft, Steuern und Soziales. Zudem besetzt er etwa 35 andere Regierungsposten neu.

07. - 13. Dezember Der regimekritische polnische Fernsehsender Belsat bekommt keine staatliche Erlaubnis zur Eröffnung eines Büros in Belarus.

21. - 27. Dezember Matsuzaki Kiyoshi, japanischer chargé d‘affaires in Belarus, bedankt sich für Belarus‘ Unterstützung für einen ständigen Sitz Japans im UN-Sicherheitsrat und wünscht sich eine noch engere Kooperation beider Länder. Aleksandr Surikov, russischer Botschafter in Belarus, erklärt, sein Land werde nicht mit der belarussischen Opposition kooperieren, sondern ausschließlich mit Präsident Lukašenko.

28. Dezember – 31. Dezember Dmitrij Medvedev unterschreibt das Gesetz über die Schaffung einer gemeinsamen Luftabwehr mit Belarus. Das Abkommen war von beiden Seiten im Februar 2009 unterzeichnet worden. Aleksandr Lukašenko erklärt bei der Neujahrspressekonferenz, er habe „unsere Leute sozial zu sehr behütet und auf Händen getragen. Man muss die Menschen eventuell auch zur Selbständigkeit zwingen.”

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Wirtschaft & Umwelt

Erst das Fressen, dann die Moral? Belarus ist „ein integrativer Bestandteil von Europa“ und „wir wollen helfen, dass wir Belarus in den nächsten Jahren näher an Europa sehen“. So beschrieb Prof. Dr. Klaus Mangold, der Vorsitzende des Ost-Ausschusses der deutschen Wirtschaft, den Stand der Beziehungen zwischen Belarus und der EU bei seiner Rede zur Eröffnung des XII. Minsk Forums. Seine Thesen sind schon lange bekannt aus anderen Reden von EU-Politikern und Diplomaten sowie Vertretern internationaler Organisationen. Die eigentliche Frage, die sich aber stellt lautet: wozu braucht die EU Belarus eigentlich? Ein Kommentar von Marina Peeters, Bonn

In Belarus muss man alles ganz genau erklären, auch elementare Dinge. Zum Beispiel was wirtschaftliche Liberalisierung ist, was Demokratisierung oder politisches Leben bedeutet oder auch wer die Europäische Union ist und wie sie funktioniert. Dies gilt sowohl für die Behörden als auch für die Bevölkerung. Einige Journalisten aus der Provinz berichten beispielsweise von skurrilen Definitionen des Programms Östliche Partnerschaft durch die Bevölkerung. Östliche Partnerschaft – das sei die Annäherung an den Osten, an Russland, schließlich heißt das Programm ja „östlich – was also hat die EU damit zu tun?“ Aber zurück zu unserer eigentlichen Frage: warum braucht die EU Belarus? Die These von Klaus Mangold über das hohe wirtschaftliche Potenzial des Landes überzeugt mich nicht. Und da bin ich wohl nicht alleine: auch viele Politologen sehen die Ursachen an ganz anderer Stelle. Georgisches Syndrom Westeuropa fürchtet vor allem die Zunahme von russischem Einfluss im postsowjetischen Raum. Diese Angst wird offenbar von einer akuten Amnesie begleitet, die die EU all ihre Forderungen an Belarus vergessen lässt. Vielleicht haben sich die Eurodiplomaten aber auch still auf kalten Pragmatismus geeinigt. Zu dieser Politik gehören: verlängerte, aber weiterhin ausgesetzte politische Sanktionen, Einladungen belarussischer Staatsvertreter in die EU, was diese dann offensichtlich nutzen, um sich zu zeigen anstatt etwas über die westliche Demokratie zu lernen, und zu guter Letzt endlose IWF-Kredite. Ab und an wird dann der „Mangel an Fortschritten“ an der Politik Lukašenkos moniert, danach kommt wieder ein bisschen Lob und das Eingeständnis der „lahmenden Politik der Isolation“. Die Reden sind gesichtslos und wirken, als seien sie einem Heft mit Mustern entnommen, 20

Belarus Perspektiven

welches zuvor jedem Diplomaten, der mit Belarus zu tun hat, in die Hand gedrückt wurde. Hin und wieder hilft auch der belarussische Präsident, die richtigen Worte zu finden, so beispielsweise beim „offenen Dialog ohne Bedingungen“. Vorsicht, nicht berühren: Lukašenkos Fortschritte Der Generaldirektor für Demokratie und politische Angelegenheiten beim Europarat Jean-Louis Laurens, der im November Belarus nach 13 Jahren Pause zum ersten Mal wieder bereiste, behauptete, ein offener Dialog sei ein großer Erfolg. Wobei Laurens mit „Dialog“ lediglich meint, dass beide Seiten frei miteinander sprechen können. Das rechnet der Europaratsvertreter zu den großen Fortschritten zwischen Belarus und der EU. Diese seien ungenügend, aber schon ein wenig spürbar. Das sagte auch Klaus Mangold. Seiner Meinung nach gibt dies Anlass zu Optimismus. Mangold behauptete: „seit über einem Jahr sind die Dinge in Belarus spürbar in Bewegung geraten, im politischen wie auch im wirtschaftlichen Bereich“. Erst kommt das Fressen, dann die Moral Welche wirtschaftlichen Interessen könnte die EU in Belarus haben? Mangold erwähnt die Transitmöglichkeiten – nun, die günstige geografische Lage lässt sich tatsächlich kaum bestreiten. Doch in einem Land, in dem der Staat über alles entscheidet, würde ich sogar die noch so tollen Transitmöglichkeiten eher negativ bewerten. Darüber hinaus lobte der deutsche Experte Mangold an Belarus die „große logistische Bedeutung und eine industrielle Basis, die weit besser ist, als in anderen Ländern Mittel-und Osteuropas“. Allerdings erinnern belarussische Ökonomen regelmäßig daran, dass diese Industrie keinesfalls dafür da sei, westliche Märkte zu bedienen. Und die „hellen Nr. 47  01 / 10


Wirtschaft & Umwelt

Köpfe“ der jungen belarussischen Spezialisten, die Mangold lobte, sind größtenteils gefüllt mit Gedanken an viel Geld und ans Ausland. Initiative, selbständiges Denken und Kreativität stehen in Belarus nicht besonders hoch im Kurs – Ratschläge aus dem Westen schon gar nicht.

und möglichst viel Dividende daraus zu schlagen. Der Westen hört indes nicht auf, die ständigen Metamorphosen mit „großem Optimismus“ zu bestaunen. Vielleicht irre ich mich, aber ich kann Mangolds Optimismus einfach nicht teilen.

Sackgasse Belarus hat angeblich ein eigenes Wirtschaftsmodell und einen Sonderweg zur Privatisierung. Für mich heißt das, die belarussischen Unternehmer und die ausländischen Investoren können ihre Hoffnungen direkt begraben. In seiner Rede beim Minsk Forum bot Klaus Mangold Belarus Hilfe bei der Umsetzung des Privatisierungsprogramms an. In diesem Fall scheint das offizielle Minsk aber mehr nach Osten zu streben, denn die russischen Medien schreiben, Belarus sei bereit, russischen Investoren den Zugang zu den lukrativsten Unternehmen zu ermöglichen. Lukašenko mahnte dabei, wichtig sei vor allem, dass die verkauften Unternehmen die Produktion von wettbewerbsfähigen Waren gewährleisteten, sowie anständige Gehälter und Steuern zahlten. Solche Statements erhöhen nicht gerade das Vertrauen westlicher Investoren in die belarussische Wirtschaft. Dafür sind nach Ansicht von Experten eher Gesetzesänderungen nach europäischem Vorbild notwendig. Investoren kommen nicht von alleine, vor allem nicht zu Zeiten der Finanzkrise, meint Mangold. Inzwischen scheine es aber, als hätte Belarus dies verstanden und begonnen, die notwendigen Reformen einzuleiten. Problematisch bleibe weiterhin das weltweit komplizierteste Steuersystem und die unklar formulierten Gesetze, so der Vorsitzende des Ost-Ausschusses. Es stimmt, dass diese Probleme gelöst werden müssen. Allerdings ist es für die belarussische Regierung viel interessanter, permanent zwischen der EU und Russland zu lavieren Prof. Dr. Klaus Mangold beim vergangenen Minsk Forum Foto: IBB

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Wirtschaft & Umwelt

Preise frei auf Bewährung Das belarussische Wirtschaftsministerium hat eine Verordnung verabschiedet, nach der die Regierung ab dem 28. Oktober die Einzelhandelspreise in die Freiheit entlässt. Einzige Ausnahme bilden 50 „sozial bedeutsame“ Produkte, bei denen weiterhin die Gewinnspanne staatlich reguliert wird. Sergej Glagolev, Minsk

Zu den Waren, bei denen nach wie vor die Gewinnspanne des Händlers reguliert wird, gehören Fleisch erster Kategorie, Wurstwaren, Milchprodukte, Eier, Butter, Brot sowie Graupen, Nudeln, Gemüse und Obst, Waren für Kinder und Arzneimittel. Speziell für diese „sozial bedeutsamen“ Produkte hatte das Wirtschaftsministerium eine zweite Verordnung verabschiedet. Experten sind der Ansicht, dass die Regierung zwar die Preisregulierung aufgehoben hat, aber andere Barrieren der freien Preisbildung erhalten bleiben. Dazu gehören beispielsweise die Begrenzung der Gewinnspanne beim Import auf 30 Prozent, Gewinneinschränkungen beim Export sowie die ideologisch verordnete Notwendigkeit, die eigenen Preise „wirtschaftlich“ zu begründen. Zudem beinhaltet die neue Verordnung einige „bremsende“ Klauseln. Zum Beispiel darf der Großhandelszuschlag nicht

20 Prozent übersteigen – unabhängig davon, wie viele Organisationen an der Lieferung der Ware beteiligt sind. Wie die Regierung vorher angenommen hatte, gibt es bis dato keine spürbare Preiserhöhung im Einzelhandel. Unter anderem dürfte dies aber auch daran liegen, dass ein höherer Preis auch gleichzeitig mit höheren Steuern verbunden ist. Das komplizierte belarussische Steuersystem sorgt schon lange für Klagen und Widersprüche. Nichtsdestotrotz wurde mit der Preisliberalisierung formal ein sehr wichtiger Schritt getan. Zuvor hatte der Internationale Währungsfond, der Belarus insgesamt einen Kredit von fast 3,5 Milliarden Dollar gewährte, zumindest eine teilweise Liberalisierung gefordert. Die belarussischen Wirtschaftsverbände begrüßen die Regierungsinnovation. Allerdings – so die Unternehmer – sei dies noch zu wenig. Für eine freie Preisbildung müsse sich noch viel ändern.

Zoll und Zweifel Die Entscheidung über eine Zollunion zwischen Russland, Belarus und Kasachstan ist gefallen. Die Zweifel an dem suprastaatliche Gebilde aber bleiben. Aleksandr Dautin, Minsk

Schon zu Beginn der Sitzung des Hohen Rates der Zollunion, die Ende November in Minsk stattfand und an der Dmitrij Medvedev und Nursultan Nasarbaev teilnahmen, machte Aleksandr Lukašeko deutlich, dass Minsk zwar bereit sei für die Zollunion – allerdings hoffe er sehr, dass in der neuen Union die Interessen aller Partner gleich berücksichtigt werden. Was aber sind die Vor- und Nachteile der neuen Zollunion für Belarus? Ab 1. Januar 2010 soll zunächst eine Zollunion eingeführt werden, in der es einheitliche Zolltarife gibt, ab 1. Juli 2010 werden dann die Zollbehörden 22

Belarus Perspektiven

zusammengeführt. Der vermeintlich größte Vorteil für Belarus ist wie so oft der Energiepreis, denn der Zoll auf Öl wird im Zuge der Angleichung abgesenkt. Um wie viel, wird allerdings erst im Sommer absehbar. Von großem Nachteil für die Belarussen wiederum ist, dass der Zoll auf PKWs um 30 Prozent angehoben wird. Nach Ansicht des Vorstandsvorsitzenden der Belarussischen Automobil Assoziation (BAA), Sergej Michnevič, könnte der Verkauf von Neuwagen 2010 um das zehnfache zurückgehen (im Vergleich zu 2008), wenn die belarussischen Zölle auf ausländische Automarken bis auf das russische Niveau angehoben werden. Die Nr. 47  01 / 10


Wirtschaft & Umwelt

schlechten Folgen der Zollunion sind für Belarus also absehbar. Die tatsächlichen Vorteile lassen sich allerdings nur vermuten. Nicht auszuschließen ist beispielsweise, dass die Zollunion teils die Folgen der Finanzkrise kompensieren könnte. Dies scheint umso wahrscheinlicher, da die Öltarife an die Gaspreise gebunden werden könnten, die für die Zeit nach der Gründung der einheitlichen Tarifzone noch nicht festgelegt sind. Der belarussische

Vize-Premier Andrej Kobjakov gab hierzu folgende Auskunft: „Ich denke, dass für die Öl-Lieferbedingungen zeitweilige Importvereinbarungen in der Anfangsperiode 2010 erarbeitet werden. Danach wird es Bedingungen geben, die den Eintritt in die Zollunion berücksichtigen.“ Konkret heißt das: die Vorteile sind nicht absehbar, aber man macht sich schon jetzt große Hoffnungen auf vermeintliche Ölgewinne.

Wohlwollende Worte Das belarussische Wirtschafts- und Investitionsforum, das im November in Minsk stattfand, hinterließ einen guten Eindruck bei potentiellen Investoren und Wirtschaftsvertretern. Die Veranstaltung wurde von viel Wohlwollen und Optimismus begleitet. Unabhängige Unternehmer äußern indes ernste Zweifel an der tatsächlichen Effektivität des Forums. Aleksandr Dautin, Minsk

Zu der Ansicht, dass das belarussische Wirtschaftspotential auf großen, öffentlichkeitswirksamen Veranstaltungen präsentiert werden müsse, kam die Regierung offenbar 2008. Damals hatte der belarussische Staat das erste Investitionsforum durchgeführt. Als passender Ort wurde London gewählt, offenbar, um den Investoren entgegen zu kommen. Während die ambitionierte Regierung schon die globale Wirtschaft an die Türe ihres Landes klopfen sah, machte die einbrechende Krise den Träumen vom ausländischen Geldsegen ein jähes Ende. Offenbar war auch London kein wirklicher Erfolg. Die einzigen Äußerungen, die den finanziellen Nutzen des Forums betrafen, kamen von dem belarussischen Botschafter in Großbritannien und Nordirland, Alexander Michnevič. Er behauptete, dass die gebündelten Investitionspläne, „die beim Forum entstanden, mehr als drei Milliarden Dollar umfassten“, jedoch ohne konkrete Beispiele zu nennen. Ungeachtet der spärlichen Erfolge des ersten Versuchs startete die Regierung dieses Jahr den zweiten und gab sich erneut Mühe, bei einem Investitionsforum zu glänzen. Premierminister Sergej Sidorskij bemerkte auf dem Forum, dass die Inflation in Belarus insgesamt höchstens 10,5 Prozent betrage. Die Krise, so Sidorskij, habe de facto keinen Einfluss auf die Inflation gehabt. Auch das Vorstandsmitglied des belgischen Unternehmens AOI NV, William Stern, verkündete, das belarussische Wirtschaftsmodell habe in Kri01 / 10  Nr. 47

senzeiten seine Effektivität unter Beweis gestellt und verdiene es deshalb, nachgeahmt zu werden. Gleichzeitig meinten unabhängige Experten, vom Investitionsforum seien sicherlich keine Wunder zu erwarten. Es mache wenig Sinn zu hoffen, dass derartige Veranstaltungen kardinalen Einfluss auf den Investitionsfluss ins Land hätten. Wichtiger sei es, die Gesetzesgebung zu liberalisieren und ein wirklich investitionsfreundliches Klima zu schaffen. Leonid Zaiko, Leiter des Analysezentrums Strategija, betonte, die Tatsache, dass die belarussische Wirtschaft vorrangig in Staatshand sei, mache sie für Investoren nicht gerade attraktiv. Dem Ruf der belarussischen Regierung zum Investitionsforum folgten dennoch mehr als 500 Personen, etwa die Hälfte aus dem Ausland. Die Gastgeber hatten schließlich mit stolzen 90 Investitionsprojekten gelockt. Das Londoner Forum lehrt allerdings, dass die Effektivität des Treffens sich erst zeigen wird, wenn die potentiellen Investoren tatsächlich anfangen, Geld in die belarussische Wirtschaft zu stecken. Bis dato ist über einen solchen Investitionsfluss allerdings nichts bekannt.

Sergej Sidorskij bewirbt die belarussische Wirtschaft – ob die Gäste anbeißen? Foto: bymedia.net

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V. Phase Förderprogramm Belarus Mechthild vom Büchel, Dortmund

„Grünes Licht“ gab das IBB Dortmund Anfang November für 44 zivilgesellschaftliche Projekte in Belarus. Das Interesse am Förderprogramm hatte zum Auftakt der fünften Phase mit 94 gestellten Anträgen einen neuen Höhepunkt erreicht. Die endgültige Entscheidung über die Mittelvergabe fiel am 10. November durch Vertreter des Bundesministeriums für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit (BMZ) und Vertreter der Gesellschaft für

technische Zusammenarbeit (GTZ). Die Projekte widmen sich in der fünften Phase den vier Themenbereichen zivilgesellschaftliche Bildungsangebote und Modellprojekte, Verbesserung der sozialen Integration und Stärkung der Träger, nachhaltiger Umgang mit Energie- und Umweltressourcen sowie Regionale Entwicklung/Agenda 21. Über konkrete Projektbeispiele berichten wir in den kommenden Ausgaben.

Wir brauchen Nachwuchs! 7. Deutsch-Belarussisches Städtepartnertreffen in Mogilëv

Bäume, Bürgermeister, Begegnung - da klappts auch mit der Partnerstadt! Fotos: Hans-Joachim Hermann

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(SB) Vom 16.-18. Oktober 2009 fand in Mogilëv das 7. Deutsch-belarussische Städtepartnertreffen statt, zu dem unter anderem die Städte Mogilëv und Eisenach sowie der Bundesverband Deutscher West-Ost-Gesellschaften eingeladen hatten. Angereist waren Vertreter zwölf deutscher und 19 belarussischer Städte sowie einige Vertreter von Kommunen, die perspektivisch eine Partnerschaft anstreben, so beispielsweise Baranoviči oder Mozyr. Erstmalig waren auch Initiativen und NGOs zu der Konferenz eingeladen. „Kooperation-Vernetzung-

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Perspektiven“ lautete das Motto der Konferenz, die unter anderem von Botschafter Gebhard Weiss eröffnet wurde. Um Kooperation und Perspektiven ging es vor allem in einer Podiumsdiskussion zu der „Rolle und Bedeutung von belarussischdeutschen kommunalen Partnerschaften“, zur Vernetzung luden insbesondere die vier thematischen Arbeitsgruppen sowie der Besuch von beispielhaften deutsch-belarussischen Projekten ein. Die inhaltliche Ausrichtung der Konferenz führte zu ein paar Unstimmigkeiten unter den Städtepartnern: während die Gastgeber bemüht waren, die Teilnehmer mit einem zwar erstklassigen, aber zu ausgiebigen Kulturprogramm zu begeistern, wünschten sich einige Teilnehmer, auch einmal Probleme und Schwierigkeiten in der Kooperation anzusprechen und nach gemeinsamen Lösungen zu suchen. Einig hingegen war man sich vor allem über einen Punkt: die Städtepartnerschaften brauchen dringend Nachwuchs. Deswegen sollen zur kommenden Konferenz auch Jugendliche eingeladen werden, die selbst Formen des deutsch-belarussischen Austauschs erarbeiten könnten. Auch der Vorschlag, in Zukunft multilaterale Projekte mit mehreren Städtepartnern auszurichten, stieß bei einigen Teilnehmern auf Interesse. Wir dürfen also gespannt sein auf neue, innovative Projekte aus dem deutsch-belarussischen Städtepartnernetzwerk. Nr. 47  01 / 10


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Jugendkultur und Kriegsveteranen Ende Oktober feierte die Stiftung West-Östliche Begegnungen ihr 15-jähriges Jubiläum im Auswärtigen Amt in Berlin. Spätestens bei der Verleihung des Förderpreises war den etwa 100 geladenen Gästen klar, dass die Stiftung sich nicht auf eine Zielgruppe festlegen will. Martin Schön, Dortmund Die junge Tadschikin Elina Sattarova tanzte zum Klang der fernöstlichen Weisen ihres Heimatlandes: erst schlängelten sich ihre Arme vorsichtig durch den Raum, dann drehte sie den Kopf zur Seite und vollführte zum schneller werdenden Rhythmus kurze, energische Tanzbewegungen. Einige der Gäste schmunzelten über die von der tadschikischen Botschaft als „Geburtstagsgeschenk“ präsentierte Tanzvorführung, sind doch folkloristische Showeinlagen dieser Art bei deutschen Stiftungsempfängen eher unüblich. Dennoch zeigte sich keiner der Gäste verwirrt oder verärgert – viele von ihnen kannten ähnliche Präsentationen aus der jahrelangen Zusammenarbeit mit postsowjetischen Ländern. Wie wichtig der Stiftung gerade das gegenseitige Verständnis ist, betonte in seiner Rede Dr. Helmut Domke, der Vorstandsvorsitzende der Stiftung. Ihre Glückwünsche hatten außerdem die Botschafter der Ukraine, Belarus‘ und Tadschikistans ausrichten lassen, letzterer unter anderem mit erwähnter Tanzeinlage. Manch einer möchte anhand des Gründungsdatums 1994 meinen, die Stiftung West-Östliche Begegnungen sei ein Kind der Wendezeit. Das stimmt nicht ganz: Die SWÖB ging aus der 1949 gegründeten Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft hervor, die in 50 Jahren DDR zu einer Massenorganisationen mit über sechs Millionen Mitgliedern herangewachsen war. Als die DDR zusammenbrach, wurde mit Teilen des Stiftungsvermögens eine neue Stiftung gegründet, die seither Begegnungen und Kontakte zwischen dem vereinten Deutschland und den neuen Staaten der ehemaligen Sowjetunion fördert. Dabei zeigen die knapp 100 geförderten Projekte in 2008, wie groß der Bedarf der Bürger auf beiden Seiten ist, sich miteinander auszutauschen.

(CDU), der trotz spätabendlicher Arbeitskreissitzung des neu gewählten Bundestages zur Jubiliäumsfeier gekommen war. In seiner Rede betonte Grund, wie wichtig es sei, dass Länder ihren „eigenen politischen Weg“ fänden und warnte davor, dass eine einseitige Geberpolitik aus dem Ausland dazu führen könne, dass sich die Zivilgesellschaften in den betroffenen Ländern zu stark auf ausländische Geldgeber ausrichteten – und nicht auf die Adressaten im eigenen Land. Spätestens bei der folgenden Verleihung des Förderpreises der SWÖB war klar, dass die Stiftung hier ganz anders vorgeht und sich bewusst von professionellen NGO-Projekten fern hält, um zwischenmenschlichen Austausch zu fördern – und das in vielen verschiedenen Bereichen: Der zweite Preis ging an den Berliner Moviemento e.V. für sein multinationales Kulturfestival Moving Baltic Sea, bei dem junge Menschen aus allen Ländern der Ostsee gemeinsam auf einem Segelschiff Häfen „ihres“ Meeres anliefen und von Stadt zu Stadt zogen mit Kulturevents und Diskussionsrunden zu Nachhaltigkeit. An einen vollkommen anderen Bereich des Austauschs ging der erste Förderpreis: Die Gesellschaft zur Hilfe für Kriegsveteranen in Russland engagiert sich seit Jahren bei der Hilfe für Teilnehmer des Zweiten Weltkriegs auf beiden Seiten. Der Vortrag des russischen Vorsitzenden der Organisation, Viktor Maksimov, ließ wieder einige der Anwesenden schmunzeln: In pathetischen Worten bedankte sich Maksimov, nannte einen befreundeten deutschen Veteranen in großer Geste „Bruder“ und ließ Mitglieder der Organisation Geschenke an die Stiftung überreichen. Reminiszenzen an längst vergangene Zeiten kamen auf – Maksimov war sichtlich gerührt.

Die Förderung eines solchen direkten zivilgesellschaftlichen Austauschs solle nicht mit einseitiger politischer Beformundung der postsowjetischen Länder einhergehen, fand MdB Manfred Grund 01 / 10  Nr. 47

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Mahnmal für ermordete Psychiatriepatienten Im Juli wurde in Mogilëv ein Mahnmal eingeweiht, das an die Opfer der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Politik erinnert. Das Denkmal ist eine gemeinschaftliche Initiative von belarussischen und deutschen Organisationen. Von der Einweihungsfeier berichtet Dr. Ullrich Lochmann, der sich seit längerem für die Erforschung der Geschichte des Judentums in der Region um Mogilëv engagiert. Ullrich Lochmann, Karlsruhe

Der vorliegende Artikel wurde für die Belarus Perspektiven gekürzt. Der Artikel ist in voller Länge in der Zeitschrift „G2W. Ökumenisches Forum für Glauben, Religion und Gesellschaft in Ost und West“ erschienen (November 2009). Nähere Informationen finden Sie unter http://www. kirchen.ch/g2w.

Das Mahnmal erinnert an die 1200 Opfer der nationalsozialistischen „Euthanasie“- Politik und gedenkt erstmals dieser bislang vergessenen Opfergruppe auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion. Die Skulptur, aufgestellt vor der ehemaligen Vergasungskammer, entstand als Projekt der Universitätsklinik Heidelberg und des Psychiatrischen Gebietskrankenhauses Mogilëv, die mit den Gebietsbehörden und dem Arbeitskreis Weißrussland aus Rheinstetten/Baden in einer langjährigen partnerschaftlichen Beziehung stehen. In einem künstlerischen Wettbewerb war der ausdrucksstarke Entwurf des jungen Mogilëver Bildhauers Aleksandr Minjkov ausgewählt worden, der sich konzeptionell an der Tür orientiert, durch die die Unglücklichen einst geführt worden waren. Die Bundesärztekammer, die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, das Internationale Bildungs- und Begegnungswerk Dortmund, die deutsch-belarussische Gesellschaft, die Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas sowie viele private Spender machten das Projekt möglich. Historischer Hintergrund In den Jahren 1939 bis 1945 sind im deutschen Herrschaftsgebiet etwa 300 000 Menschen unter dem beschönigenden Begriff der „Euthanasie“ ermordet worden. Zu den Opfern zählten Patienten psychiatrischer Krankenhäuser, Pflegebedürftige in Behinderteneinrichtungen und Altersheimen sowie eine bisher unbekannte Zahl von Kindern und Jugendlichen. Mit dem Überfall auf Polen am 1. September 1939 begannen die Morde an Psychiatriepatienten in den besetzten Gebieten, ab Sommer 1941 auch in der Sowjetunion. In Mogilëv marschierte die deutsche Wehrmacht im Juli 1941 ein. Anfang August 1941 folgte der

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Wehrmacht das berüchtigte Einsatzkommando VIII mit etwa 90 Mann, das Mogilëv zu seinem Standort machte. Das Einsatzkommando war wesentlich verantwortlich für die Ermordung der Patienten sowie von etwa 10 000 Juden aus der Region. Als einer der ersten wurde dabei der jüdische Klinikdirektor Dr. Klipcan umgebracht. Der neue Leiter Dr. Stepanov erhielt den Auftrag, Listen mit den Namen aller Patienten zu erstellen – unterschieden nach „arbeitsunfähig“ und „arbeitsfähig“. Wenig später suchte eine Gruppe hochrangiger SS-Offiziere einen Raum in der Klinik für eine Probevergasung aus. (Dabei entstand eine kurze Filmsequenz, die später bei den Nürnberger Prozessen als Beweismittel diente). Die Patienten wurden in den Raum geführt, anschließend wurden aus zwei PKWs und später einem LKW Abgase in den Raum geleitet, so dass die Opfer qualvoll erstickten. Ende September, Anfang Oktober 1941 wurden dann etwa 850 vor allem chronisch kranke und arbeitsunfähige Patienten vergast. Natalja Nikitična Kosakova, ehemalige Angestellte der Psychiatrischen Heilanstalt, berichtete später: „Zur Zeit, als das Gas bei den Psychiatriepatienten angewendet wurde, hielt ich mich in einem an die ‚Gaskammer’ angrenzenden Raum auf und konnte das laute Jammern und Schreien der psychisch Kranken hören. Als die Leichen aus der ‚Gaskammer’ getragen wurden, hatten fast alle von ihnen eine unnatürliche Haltung. Sie waren verdreht, ihre Kleider zerrissen und sie hatten sich im Todeskampf ineinander verkrallt.“ Die zweite große Mordaktion fand im Januar 1942 statt, als die letzten überlebenden Patienten der Klinik und ihrer landwirtschaftlichen Kolonie, insgesamt über 250 Menschen, erschossen oder mit Handgranaten umgebracht wurden. Danach diente die Klinik der Wehrmacht als Militärlazarett. Nr. 47  01 / 10


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Die Gedenkfeier An der Enthüllung des Mahnmals nahmen zahlreiche Vertreter der Region um Mogilëv sowie der Stadt selbst, der deutschen Botschaft sowie Ärzte und Patienten teil; auch Presse und Rundfunk waren zugegen und berichteten ausführlich über die Enthüllungsfeier. In seiner Rede sagte Prof. Dr. Christoph Mundt, Direktor der Klinik für Allgemeine Psychiatrie am Universitätsklinikum Heidelberg, seine Klinik stehe in einer besonderen Verantwortung: Denn Carl Schneider, Direktor der Klinik von 1933 bis 1945, sei einer der beiden Hauptgutachter für die definitive Entscheidung zur Tötung psychisch Kranker im damaligen deutschen Reichsgebiet gewesen. Durch seine Schriften und sein Wirken habe er maßgeblich zu der Entstehung und Umsetzung des Tötungsprogramms beigetragen. Mogilëv könne als eine Fernwirkung des Programms mit einer besonderen Verrohung des Vorgehens unter Kriegsbedingungen angesehen werden. Die seit 1990 in Heidelberg tätige Historiker-Arbeitsgruppe unter Dr. Gerrit Hohendorf habe mit ihren Forschungen zur sog. Euthanasie einen wesentlichen Beitrag zur Offenlegung der Vernichtungsprogramme, der begleitenden Denkstile und der heute nicht mehr nachvollziehbaren emotionalen Abschottung der Akteure gegenüber ihren Taten erbracht. Mundt betonte des Weiteren: „Noch heute haben wir in Deutschland darum zu kämpfen, dass psychisch Kranken die gleiche Würde wie körperlich Kranken und Behinderten oder den Euthanasieopfern der gleiche Respekt wie anderen Opfern der nationalsozialistischen Tötungsmaschinerie zuteil wird.“

ist der Beginn vom Ende der Isolation psychisch Kranker in unserer Gesellschaft.“ Wandel der Gedenkkultur In Belarus ist die Zeit des Zweiten Weltkriegs bisher vor allem in einer Gedenkkultur allgegenwärtig, deren Fokus seit der Sowjetzeit ausschließlich auf den Helden des Großen Vaterländischen Kriegs liegt. Erst allmählich kommen auch verschiedene Opfergruppen und besonders die Opfer des Holocaust in den Blick. So wurde in Mogilëv zusammen mit dem Mahnmal für die ermordeten Psychiatriepatienten auch ein Denkmal für die in Zwangsarbeit und Konzentrationslagern gequälten und getöteten „Kinder des Krieges“ eingeweiht. Bereits zuvor war ein Mahnmal für die in und um Mogilëv ermordeten Juden errichtet worden. Bei der Enthüllungsfeier im Juli erinnerte der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde, H. Goldinberg, deshalb auch daran, dass zum Zeitpunkt des Kriegsbeginns in Mogilëv und Umgebung über 25 000 Juden gelebt hatten, d.h. 11% der Gesamtbevölkerung. Über die Hälfte davon seien während der Besatzungszeit umgebracht worden, darunter auch ca. 60 Patienten der psychiatrischen Anstalt. Die Geschichte des Judentums im Gebiet Mogilëv wird derzeit im Detail erforscht. Eine Autorengruppe um den Journalisten Aleksandr Litin arbeitet an vier Bänden, die alle verfügbaren Quellen seit dem Mittelalter verwerten. Zwei der Bände liegen bereits auf Russisch vor, der dritte ist im Druck, während sich der letzte in der Manuskriptphase befindet. Die vielseitigen Bemühungen um das Gedenken in Mogilëv sind ein weiterer Schritt in Richtung einer vielschichtigen Erinnerungskultur in Belarus.

v.l.n.r „Geschichte der Junden von Mogilëv“ von Aleksandr Litvin. Bei der Einweihung des Mahnmals in Mogilëv Foto: Ullrich Lochmann

Die stellvertretende Chefärztin der Psychiatrie Mogilëv, Elena Lacarenko, ergänzte in ihrer Rede: „Indem wir die Erinnerungen der Augenzeugen beziehungsweise der alten Mitarbeiter über die Kriegsereignisse hörten, uns in die mit der Zeit gelb gewordenen Krankengeschichten aus der Nachkriegszeit einlasen, die Szenen der letzten Augenblicke des Lebens unserer Patienten aus Dokumentarfilmen aufmerksam betrachteten, wurde uns bewusst, dass die Geschichte uns auf dem Fuß folgt. [...] Mit diesem Projekt möchten wir die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf eine oft vergessene Gruppe der Kriegsopfer lenken, um ihre Schicksale nicht zu verraten, um ihre Probleme nicht zu verschweigen, um nicht zu vergessen, welch qualvollen Tod sie erleiden mussten und um zu versuchen, ihre Schmerzen zu verstehen. […] Die heutige Veranstaltung 01 / 10  Nr. 47

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Andere Arbeitsweisen Ein Austausch zwischen deutschen und belarussischen Behindertenbetreuern

Der Verein Kanikuli e.V. engagiert sich seit Jahren in der Behindertenarbeit in Belarus. Er wurde von jungen Menschen gegründet, die ihren Freiwilligendienst in Minsk geleistet hatten. Nach vielen Ferienfreizeiten für Kinder und Erwachsene mit Behinderung veranstaltete Kanikuli 2008 und 2009 zum ersten Mal einen Austausch für Fachkräfte der Behindertenarbeit, der vom Kontaktprogramm Belarus der Robert Bosch Stiftung gefördert wurde. Ruben Werchan, Münster

Im November 2008 kamen neun belarussische Fachkräfte nach Deutschland um sich im Raum Bremen mit verschiedenen Organisationen aus der Behindertenarbeit zu treffen und deren Ansatz bei der Arbeit mit Menschen mit Behinderungen kennenzulernen. Sie tauschten Erfahrungen aus, entwickelten gemeinsam Ideen und schlossen Freundschaften. Beide Seiten freuten sich auf den anstehenden Gegenbesuch in Minsk und hofften, die zukünftige Zusammenarbeit danach fundierter gestalten zu können.

Teilnehmer und Organisatoren des Austauschs vor dem Hotel 40 let pobedy und bei einem Besuch der Werkstatt Otkrytyje dveri der BELAPDIMI. Fotos v.l.n.r: Andreas Schafberg, Niclas Brünjes

Vorort Fast genau ein Jahr nach dem Besuch der Belarussen in Bremen, am 24. Oktober 2009, machten sich die zehn Fachkräfte für zehn Tage auf den Weg nach Minsk. Alle Teilnehmer waren Mitarbeiter der schon beim ersten Teil des Austausches beteiligten Bremer Organisationen Johannishag, Martinsclub und Selbstbestimmt Leben. Die Gruppe wollte sowohl die Arbeitsweisen in Belarus kennen lernen, als auch Land und Leute. Schließlich war „Osteuropa“ bis dahin für die Fachkräfte ein ziemlich unerschlossenes Terrain. Die Gruppe besuchte sowohl große, überregional arbeitende Organisationen wie BELOI oder die Elterniniti-

ative BELAPDI, als auch kleine NGOs wie Mit dem Herzen sehen, die sich für blinde Menschen einsetzt oder die Organisation Verschiedene-Gleiche, die integrative Projekte für junge Erwachsene mit und ohne Behinderung organisiert. Um einen umfassenden Eindruck zu gewinnen, besuchte die Gruppe eine staatliche Wohneinrichtung. Es tut sich was Besonderen Eindruck auf die Teilnehmer machte das Zentrum Taracovo, in dem die Mitarbeiter sehr engagiert versuchen ein Seminar- und Tagungszentrum für Menschen mit Behinderung aufzubauen. Aber auch ein Wohnprojekt, in dem Menschen mit geistigen und körperlichen Behinderungen selbständiges Leben lernen, überzeugte die deutsche Gruppe. Gleichzeitig wurden die Teilnehmer des Austauschs auch mit den vielen Schwierigkeiten und Barrieren konfrontiert, denen kleinere belarussische NGOs ausgesetzt sind. Das integrative Theaterprojekt Mimose beispielsweise musste seine Proben aussetzen, da die Mitarbeiter keine geeigneten Räume fanden. Schockiert zeigten sich die Teilnehmer auch von dem Büro der Organisation Mit dem Herzen sehen: die Mitarbeiter konnten in der zehn Quadratmeter großen Kammer kaum ihren Stuhl drehen, Strom gab es aus Kostengründen nicht. Nach einer Woche konnte man den Teilnehmern die Erschöpfung und das Bedürfnis, die vielseitigen Eindrücke zu verarbeiten, deutlich ansehen. Dennoch wurde immer wieder der Wille zu weiterem Kontakt betont und es gab lebhafte Diskussionen zu den geäußerten Problemen. Die deutschen Teilnehmer waren sich einig darüber, dass sie viel für die eigene Arbeit gelernt hatten bei diesem ersten und hoffentlich noch lange nicht letzten Besuch in Minsk.

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NGOs & Gesellschaft

Nachruf Angelika Fratz * 02. Juni 1949   –  † 13. Dezember 2009 Wir trauern um einen Partner. Am 13. Dezember 2009 verstarb überraschend im Alter von 60 Jahren Angelika Fratz. Ihr Tod ist ein großer Verlust für die Menschen aus Gomel und für alle, die sich in den letzten zwei Jahrzehnten in dem Netzwerk der Tschernobylinitiativen engagiert haben. Wir sind sehr betroffen und möchten Angelika Fratz an dieser Stelle einige Zeilen widmen, um uns gebührend zu verabschieden. Selbstbewusst, kompetent, sicher und überzeugend war ihr Auftreten bei Sponsoren und Gebern. Ganz anders kannten sie die Menschen, für die Sie all die Jahre hart gekämpft hat – hilfsbereit, freundlich, offenherzig war Angelika Fratz zu den Menschen in Gomel. Besonders engagierte sie sich für die Errichtung eines Infektionskrankenhauses in Gomel, dass ihr in Deutschland und Belarus viel Anerkennung brachte. Auch während ihrer langen Krankheit hat sie gemeinsam mit ihrem Ehemann Peter und ihren Kollegen aus dem Verein Medicom in Schalksmühle ihre Arbeit in Belarus weitergeführt. Pavel Belskij, langjähriger Aktivist im Netzwerk der Tschernobylinitiativen, erinnert sich: „Angelika Fratz, genannt Skazka (Märchen) suchte den Kontakt zu den Menschen in Belarus. Sie konnte wie kaum ein anderer ein Gleichgewicht zwischen Geben und Nehmen schaffen.“ Besondere Bedeutung maß Angelika Fratz in ihrem Wirken den persönlichen Begegnungen bei. Sie organisierte Kindererholungen und Schülerreisen, warb für den Um- und Ausbau des Krankenhauses, unterstützte den Austausch von Studenten, arbeitete an Partnerschaftskonferenzen und Treffen mit. Aber auch für zahlreiche Hilfstransporte von Deutschland nach Belarus setzte sie sich ein. Mit viel Geduld und Ausdauer beseitigte sie Hindernisse, um die dringend benötigten Medikamente und andere Hilfsgüter rechtzeitig und unbeschadet zu den Empfängern zu bringen. Ihr lagen die Menschen am Herzen, und deshalb werden sie so Viele vermissen. Olga Rensch, Dortmund

Olga Aleksandrovna Nechaj * 16. Mai 1923  –  † 21. Oktober 2009 Wir trauern um Olga Aleksandrovna Nechaj. Sie verstarb am 21. Oktober 2009 in Minsk. Olga Aleksandrovna begleitete das IBB Dortmund und die IBB Minsk seit den ersten Dialogen mit Menschen, die die deutsche Schreckensherrschaft selbst erlebt haben. Ihre Offenheit und ihr Vertrauen hat es insbesondere den Deutschen, die Belarus besuchten, leicht gemacht, eine offene und herzliche Beziehung zu entwickeln. Olga Aleksandrovna wurde am 16. Mai 1923 in Minsk geboren, wo sie in den 30er Jahren die MusikFoto: Dr. Alf Seippel und Ballettschule besuchte. Seit den ersten Kriegstagen schloss sie sich der Untergrundbewegung an; 1943 wurde sie verhaftet und kam zunächst in das Minsker Gefängnis. Dort kam unter sehr schweren Bedingungen ihr Sohn Erik zur Welt; im Dezember 1943 wurde sie dann in das Konzentrationslager Henningsdorf bei Berlin verschleppt. 1945 beteiligte sie sich an der Befreiung von Berlin und arbeitete für die Rote Armee. Nach Minsk kehrte Olga Aleksandrovna im November 1945 zurück. Es gelang ihr, die Hochschule für Fremdsprachen zu besuchen und sie blieb ihr Berufsleben lang Professorin für englische Sprache. 1994 gründete sie die Vereinigung belarussischer Konzentrationslagerhäftlinge Schicksal, in der sie sich bis zu ihrem Tod engagierte. Schon bei der ersten Zeitzeugenreise nach Münster 1998 war sie dabei und berichtete in Schulen und Gemeinden von ihrem Schicksal. Von Anfang an unterstützte sie die Aktivitäten des IBB, unter anderem bei der Gründung der Geschichtswerkstatt 2003. Wohin die Reisen auch führten, ihr fiel es leicht Freundschaften zu schließen, egal ob in Münster, Gladbeck, Dortmund, Düsseldorf, Bückeburg oder Kassel. 2004 veröffentlichte sie ihr Buch Augenblicke meiner Erinnerung, das Freunde aus Bückeburg halfen zu übersetzen. Olga Nechaj wird uns fehlen. Peter Junge-Wentrup, Dortmund 01 / 10  Nr. 47

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Kultur & Wissenschaft

Alle Jahre wieder... Die Weihnachts- und Neujahrsfeiertage sind in Belarus etwas ganz Besonderes. Während man in anderen Ländern mit dem jährlichen Weihnachtsfest schon mehr als genug ausgelastet ist, lassen sich die Belarussen nur mit der doppelten Zahl an Feiertagen zufrieden stellen. Das hängt vor allem mit dem starken Einfluss der beiden großen christlichen Konfessionen zusammen, die gegenüber staatlichen Behörden jeweils den eigenen Kalender durchsetzen. Jeanna Krömer, Wien

Ded Moroz und Snegurocka marschieren durch Minsk Foto: bymedia.net

Die belarussische katholische Kirche feiert Weihnachten nach dem Gregorianischen Kalender am 25. Dezember und Neujahr wie fast überall in Europa am 1. Januar. Die Orthodoxen hingegen richten sich nach dem Julianischen Kalender, deswegen feiern sie nicht nur Weihnachten am 7. Januar, sondern auch Neujahr später. Das sogenannte „Alte Neujahr“, dass man also nach der orthodoxen Tradition am 14. Januar begeht, feiern aber nicht nur die Gläubigen, sondern auch viele andere, besonders nicht orthodoxe Jugendliche, die es als eine weitere Möglichkeit zum Feiern nutzen. Da in vielen Familien beide Konfessionen vertreten sind und auch die vielen Nichtgläubigen gerne feiern, begehen die meisten Belarussen zweimal Weihnachten und Neujahr. Praktischerweise sind das alles auch keine offiziellen Arbeitstage. Belarussische Kaljady Die wichtigsten Winterfeiertage nach vorchristlicher belarussischer Tradition sind aber die Kaljady , die je nach Konfession jeweils zwei Wochen gefeiert werden.Viele Kaljady-Rituale haben längst ihre heidnische Bedeutung verloren und werden als Teil des alljährlichen christlichen Weihnachtsspektakels gefeiert – deshalb verstehen einige Belarussen unter Kaljady heute eigentlich alles, was mit Weihnachten zu tun hat. Früher war vor allem Ordentlichkeit das Stichwort zu Kaljady. Haus und Hof wurden aufgeräumt, kaputter Kram repariert, neue

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Kleider genäht oder gekauft – schließlich sollte man das neue Sonnenjahr sauber und vor allem rausgeputzt willkommen heißen. Die Bauern schmückten ihre Häuser mit Gebinden und Puppen aus Weizen oder Roggen. Die Tradition das neue Jahr ohne Schulden und in neuer Kleidung anzutreten ist geblieben – schließlich heißt es: „Wie man das Neujahr empfängt, so verbringt man es auch.“ Die Weihnachtsfeiertage werden daher sehr ausgelassen gefeiert; der Tradition nach darf man schließlich nicht arbeiten, stattdessen „muss“ man entspannen und sich amüsieren. Ursprünglich sollte dies die bösen Geister aus dem Haus vertreiben. Auch die Tatsache, dass der Weihnachtstisch so gedeckt ist, dass sich die Balken biegen, hatte ursprünglich einen wichtigen Grund: ein üppig gedeckter Tisch galt als Garant für Gesundheit und eine reiche Ernte im Folgejahr. Viele Menschen in Belarus bereiten auch heute noch zwölf Gerichte vor, die als Symbol für die Apostel Christi gelten. Unter die Tischdecke legt man Heu, das später an die Kühe für „viel Milch und Schutz vor den Wölfen“ verfüttert wird. Das wichtigste Weihnachtsgericht war früher Kucja, ein Gerstenbrei mit Honig und Nüssen, das man am ersten Weihnachtsabend für den Fastentisch gekocht hat. Zudem gab es auch weitere, nicht so fettige Lebensmittel wie Fisch (Karpfen war besonders beliebt), Pilze, Gemüse und Obst. Erst am nächsten Tag aß man Fleischgerichte aller Art in Unmengen – ob gebacken, gekocht oder gebraten, Würste, festliches Gebäck mit Eiern und Milch oder Kucja mit Speck. Auch die Kinder kamen an Weihnachten nicht zu kurz: sie gingen von Tür zu Tür und sackten verschiedene Leckerbissen ein, zur Not sangen sie ein paar schiefe Weihnachtslieder oder spielten ein Theaterstück. Auch da hat sich die Tradition etwas Gutes einfallen lassen: ließ man die Kinder ohne Geschenke weiter ziehen, würde das kommende Jahr auch für einen selbst nicht reich ausfallen. Also waren die Kindersäcke immer reich gefüllt. Die belarussischen Kinder Nr. 47  01 / 10


Kultur & Wissenschaft

tion, die heute wohl eher nicht möglich wäre. Am letzten Weihnachtsfeiertag wurde dann über allen Türen im Haus ein Kreuz mit weißer Kreide gemalt, denn den Geistern, die man zuvor erfolgreich mit den Kaljady verscheucht hatte, sollte auch nach den Feiertagen kein Eintritt gewährt werden.

lernten früh, christliche und heidnische Tradition liebevoll miteinander zu kombinieren: das kindliche Liedgut war christlich, die Verkleidung als Kuh, Ziege, Storch, Bär oder anderes Totemtier aber heidnisch. Die Tiermasken hatten aber auch eine praktische Bedeutung: so anonym und unbeobachtet konnte man sich den einen oder anderen Fauxpas erlauben. Ein weiterer großer Weihnachtsspaß war das Wahrsagen. Früher interessierten die Bevölkerung natürlich vor allem Ernte und Heirat. Man goss Bienenwachs ins Wasser und interpretierte die Figuren, oder man warf einen Schuh hinter den Zaun, um aus der Richtung der Schuhspitze zu lesen, von wo der Bräutigam kommen müsste. Die besonders Tapferen gingen aber in die Banja, um aus dem beschlagenen Spiegel das Gesicht des Zukünftigen zu lesen. Ein lustiger Brauch war es Jugendliche zu Weihnachten proforma zu verheirateten, damit sie sich besser kennen lernen konnten. Die aus Spaß gebildeten Paare tanzten gemeinsam oder spielten fangen. Nicht selten wurde im Folgejahr aus Spaß Ernst. In einigen belarussischen Gegenden wurde auch eine Weihnachts-Schönheitskönigin gewählt. Da die Frau Reichtum und Gesundheit symbolisieren musste, wurden meist mollige, verheiratete Frauen gewählt – eine Tradi-

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Zweite Chance Heute sind die meisten Traditionen nur noch auf dem belarussischen Dorf erhalten geblieben. In den Großstädten setzen sich vor allem die Studenten für belarussische Weihnachtskultur ein, sie singen in Kaljady-Gruppen und machen Batleyka-Theater. Aber vor allem nutzen sie das heidnische Fest als willkommene Gelegenheit einmal richtig ausgelassen zu feiern. Der Silvesterabend bedient sich in Belarus ganz verschiedener Traditionen. Man liest chinesische Horoskope, feiert Santa Klaus, versteckt Geschenke in Socken und schaut sich die Rede des Präsidenten an – erst die Rede des russischen Präsidenten, da in Moskau eine Stunde früher gefeiert wird, dann die Rede des eigenen Staatsoberhaupts. Beide Ansprachen werden verglichen und gemeinsam analysiert. Der Fernseher gehört dabei häufig auch schon zur Familie. Gegessen wird vor allem Šuba, auch „Hering unterm Pelzmantel“ genannt, sowie weitere Majo-Salate. Der Sekt wird unabhängig von der Marke aus Prinzip Sovetskoe genannt. Auch an Neujahr bekommen die Kinder ihre eigenen Attraktionen geboten. Sie werden im Kindergarten und in der Schule von Väterchen Frost und seiner Enkeltochter Sneguročka besucht. Die Kinder tanzen um den Weihnachtsbaum, erzählen sich Geschichten und bekommen Geschenke – wenn sie denn artig waren. Und wenn sie dann bereits schlafen, warten die Erwachsenen gespannt auf die erste Minute des neuen Jahres, die auf keinen Fall verpasst werden darf, denn genau dann muss man an die wichtigsten Wünsche fürs neue Jahr denken, sonst gehen sie nicht in Erfüllung. Und wenn man die erste Minute dann doch einmal verpasst hat – auch nicht schlimm. Denn in Belarus gibt es ja immer eine zweite Chance: das alte neue Jahr.

So ausgelassen feiern Studenten belarussische Kaljady. Foto: bymedia.net

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Kultur & Wissenschaft

Liebe macht wieder Spaß In Belarus hat nach langjähriger Pause vor kurzem wieder ein Erotikshop seine Pforten geöffnet. Grund genug das Verhältnis der BelarussInnen zu Sexualität einmal näher zu betrachten. Jeanna Krömer, Wien

„Mädchen, das Ihren Rock mit einer Nadel ohne Öhr rot durchgestrickt hat“ gemeint ist.

In Deutschland längst etabliert, in Belarus gerade erst im Kommen: erotische Accessoires (hier von Beate Uhse).

Die heutigen Vorstellungen von Sexualität sind in Belarus von vielen verschiedenen Faktoren geprägt. Die Romantisierung von Liebe und Sexualität beispielsweise begann schon zu heidnischen Zeiten. Die Beschützerin der körperlichen Liebe war damals Mara – eine Göttin, die im Vergleich zu den Liebesgöttinnen anderer Kulturen nicht sonderlich attraktiv war. Vielmehr wurde sie als schreckliches und lüsternes Weib dargestellt, und viele Männer fanden in ihren unersättlichen Armen den Tod. Interessanterweise waren es in Belarus vor allem die weiblichen Genitalien, die als Symbol für Fruchtbarkeit oder die Erde dienten – die männlichen Genitalien spielten in der kulturellen Symbolik höchstens eine Nebenrolle. Wie die Herrin den Herrn... Ein altes belarussisches Sprichwort besagt „Wie der Herr die Herrin umarmt, so wird er auch ernten“, weswegen sich die Bauern im Bett natürlich große Mühe gaben. Wenn man den Effekt noch verstärken wollte – so hieß es zumindest im Volke – hat man sich im eigenen Feld geliebt. Erotische Motive kamen in den meisten Volksliedern vor, allerdings sehr gut getarnt. Man musste sich schon gut auskennen, um zu erkennen, dass sich hinter „Gevatter schenkt der Gevatterin einen Fisch“ Geschlechtsverkehr verbirgt. Achtet man aber auf die verschieden Geschlechtersymbole für Frauen (Kumt, Topf, Schurz, Backtrog) und Männer (Nadel, Zapfen, Tanne) wird schnell klar, was mit dem

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Junge, ab auf den Backtrog! Von Sexualität sprechen die Belarussen mit viel Humor, aber nie verwenden sie dabei die saloppe Lexik, die in der Kultur der Nachbarn gang und gäbe ist. Den Belarussen ist es immer gelungen bei diesem heiklen Thema bescheiden und poetisch zu bleiben – was allerdings nicht heißt, dass es weniger Bedeutung für sie hatte. Der Höhepunkt von Sexualität fiel auf dem belarussischen Land früher auf den Tag der Sommersonnenwende. Der Feiertag Kupalle war eines der schönsten und gleichzeitig erotischsten Ereignisse. Man sprang über das Feuer, Mädchen flochten Kränze aus Blumen und ließen sie im Wasser schwimmen. Am Abend ging man in den Wald um eine mythische Farnblume zu suchen, die „nur in dieser Nacht blüht“. Sogar in christlichen Zeiten galt die körperliche Liebe in dieser Nacht nicht als Sünde. Ein anderer schöner Brauch war, dass ein junges Ehepaar traditionell die erste Nacht in einer Vorratskammer verbringen musste. Die das Paar umgebenden Lebensmittel sollten Mann und Frau besonders fruchtbar machen. Wie bei vielen anderen Völkern war es wichtig, dass die Braut noch Jungfrau war. Wenn die Verwandtschaft nach der ersten Liebesnacht also im Bettlaken keine Spuren der Jungfräulichkeit entdeckte, wurde das Mädchen durch Lieder und Witze beschämt. Auch der Brautmutter war Hohn sicher: man durfte ihr zerrissene Pfannkuchen oder Wein im zerbrochenen Glas reichen. Ungewöhnlich im internationalen Vergleich – aber in Belarus ein Muss – war, dass auch der Bräutigam bei der Hochzeit jungfräulich sein musste. Vor der Hochzeit musste der Bräutigam sich auf einen Backtrog setzen. Wenn er es nicht tat, war dies ein Zeichen seiner Sünde. Sein Vater war dann berechtigt ihn zu verprügeln oder gar die Hochzeit abzusagen. Zu lügen war in der Situation auch nicht leicht, da die Belarussen überzeugt waren, dass das Sitzen auf dem Backtrog „sündigen“ Männern viele Nr. 47  01 / 10


Kultur & Wissenschaft

Jahre Unglück und Missernte brachte – und zwar für die ganze Familie. Für einen Bauern waren diese Aussichten viel schlimmer, als von dem eigenen Vater bestraft zu werden. Plötzlich ist der Teufel im Spiel Die Vorstellungen von Liebe und Sexualität haben sich durch das Christentum gewandelt. Mit Einzug des Christentums in Belarus wurde die Frau als eine Versuchung des Teufels betrachtet. Sicherlich keine dankbare Rolle, aber nichtsdestotrotz wurden in der Ehe bestimmte Frauenrechte geachtet. Im 17. Jahrhundert konnte sich die Frau beispielsweise von ihrem Mann scheiden lassen, wenn dieser den Beischlaf nicht vollziehen wollte. Ab dem Mittelalter übernahm der belarussische Adel sehr gerne europäische Moden. Hatte der europäische Adel das Dekolleté und den Hosenlatz entdeckt, so gab es sie in Belarus bald auch. Als die Zivilehe in Europa anerkannt wurde, galt sie in Belarus wenig später auch als akzeptabel. Seit dem 17. Jahrhundert nahm zunehmend die katholische Kirche die Moral des Adels unter ihre Fittiche, aber nichtsdestotrotz gelang die Idee vom „galanten Adel“ nach Belarus, der sich durch viele kleine außereheliche Skandale auszeichnete. Freie Liebe Anfang des 20. Jahrhunderts war die „freie Liebe“ im Trend. In Minsk wurde sogar eine „Liga der freien Liebe“ gegründet, über die leider nicht viel bekannt ist, außer, dass nur schöne, junge und gesunde Männer und Frauen Mitglied werden konnten. Die Oktoberrevolution brachte dann auch in sexueller Hinsicht eine Zäsur. Zunächst unterstützten die Sowjets die Ideale der sexuellen Freiheit, doch schon in den 30er Jahren änderte sich dies schlagartig. Es verbreiteten sich Praktiken der kollektiven und parteilichen Kontrolle über das Familien- und Intimleben der Mitglieder. Alles, was in irgendeiner Hinsicht mit Sexualität zu tun hatte, wurde seitdem zum Tabu erklärt. In der Zeit zwischen 1936 und 1961 wurden in der gesamten Sowjetunion lediglich zwei Bücher herausgegeben, die das Wort „Sex“ beinhalteten – und sie waren nicht einmal allen Ärzten zugänglich. Vielfalt des sexuellen Lebens war als Perversion stigmatisiert.

gekommen“. Aber heute gilt in Belarus nach wie vor: je weiter man sich von der Hauptstadt entfernt, desto patriarchaler wird die belarussische Gesellschaft. In der Provinz heißt es heute oft „vor der Hochzeit nicht Jungfrau bedeutet Hure“. In den Schulen gibt es kein adäquates Unterrichtsangebot, das Geschlechterverhältnisse thematisiert. Da die Zertifizierung von Medikamenten in Belarus sehr aufwendig ist und sich oft für die Händler nicht lohnt, haben viele Belarussinnen in der Provinz und teils auch in den Städten keinen Zugang zu modernen Verhütungsmethoden wie Spritzen, Pflastern oder Mini-Pillen. Die Moral bleibt in Belarus überwiegend traditionell und puritanisch. Häufig wird diese Moral auch staatlich verordnet: so wurden jüngst die beiden sexuell provokanten Filme „Bruno“ und „Borat“ in Belarus verboten. Sex-Shops gab es lange gar nicht, außer die Online Shops, deren Warenangebot stark begrenzt ist. Die Begrenzung erfolgte durch das Kulturministerium, dass Sadomasochistische Spielzeuge zum Verkauf verboten hatte, denn „sie entsprechen nicht der Mentalität des belarussischen Volkes“. Inzwischen hat sich die Gesetzeslage für die „Geschäfte mit Intimwaren“ gebessert und im Dezember 2009 wurde in Minsk der erste Sex-Shop nach fast zehn Jahren Abstinenz eröffnet. Leicht gemacht hatte man es dem Besitzer nicht. Mit Begründung wie der Nähe zum Kindergarten wurde ihm mehrfach verboten, sein Geschäft zu eröffnen. „Als ob die Erzieher mit den Kindern Ausflüge in meinen Laden machen würden“ empört sich der Leiter von Eroticon. Derweil müssen die angebotenen Waren des Ladens noch von den Kulturexperten des Ministeriums „geprüft“ werden, was auch immer damit gemeint sein mag. Auch nicht weiter schlimm, schließlich haben sich die Belarussen längst daran gewöhnt, Sexwaren, moderne Verhütungsmittel und Informationen aller Art aus dem Ausland und dem Internet zu besorgen.

Sexuelle Revolution Mit dem Fall des „Eisernen Vorhangs“ hieß es in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion „die sexuelle Revolution ist in die Ex-Sowjetrepubliken 01 / 10  Nr. 47

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Publikationen

Sowjetische Mythen und postsowjetische Wirklichkeiten Bogdan Musials „Sowjetische Partisanen. Mythos und Wirklichkeit 1941 – 1944“ und Alexander Brakels „Unter Rotem Stern und Hakenkreuz: Baranowicze 1939 bis 1944. Das westliche Weißrussland unter sowjetischer und deutscher Besatzung“ Felix Ackermann, Berlin

Musial, Bogdan: Sowjetische Partisanen. Mythos und Wirklichkeit 1941 – 1944. 2009, Paderborn. 29,90 €.

Brakel, Alexander: Unter Rotem Stern und Hakenkreuz: Baranowicze 1939 bis 1944. Das westliche Weißrussland unter sowjetischer und deutscher Besatzung. 2009, Paderborn. 39,90€.

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In Belarus treffen nicht nur Ost und West aufeinander, sondern auch unterschiedliche Geschichtskulturen. Rainer Lindner hat in seinem Buch über belarussische Historiker gezeigt, dass die Staatsräson immer auch Einfluss auf die Gestalt der Universitäten hat. Doch diese Auswirkungen der präsidialen Vertikale finden nicht in einem abgeschlossenen gesellschaftlichen Raum statt. So gibt es Suchbewegungen einzelner belarussischer Historiker, es gibt verschiedene Zentren, die Opposition, Exilinitiativen. Und es gibt Akteure aus dem Ausland. Bogdan Musial und Alexander Brakel haben 2009 zwei Bücher veröffentlicht, die zusammen auf eindrucksvolle Weise den Forschungsstand zur Geschichte des Zweiten Weltkriegs auf dem Territorium der heutigen Republik Belarus aufzeigen und eine Reihe von Erkenntnissen zutage fördern, die Einfluss auf die Vorstellung vom Großen Vaterländischen Krieg und seiner belarussischen Variante des Kampfes des gesamten Volkes haben werden, sobald beide Werke ins Belarussische übersetzt sind. Bogdan Musial hat nach langjährigem Studium sowjetischer, deutscher und polnischer Quellen eine Studie über den Partisanenkrieg von 1941 bis 1944 mit Schwerpunkt auf Belarus vorgelegt. Es handelt sich um eine akribische Chronik der wichtigsten Entwicklungsschritte vom schwach kontrollierten und ineffektiven Widerstand der ersten Kriegsmonate hin zu zentral organisierten und militärisch strukturierten Aktivitäten wie dem Schienenkrieg der Jahre 1943/1944. Der besondere Verdienst an Musials Arbeit liegt im Zusammenführen des bisherigen Forschungsstandes, der vor allem auf deutschen Dokumenten basierte, mit neuen Dokumenten aus Minsk, Warschau und Moskau. Dadurch wurde es ihm möglich, die Dynamik von Eskalation und Gewaltfreisetzung im Wechselspiel zwischen sowjetischer und deutscher Militärstrategie anhand konkreter sowjetischer Partisaneneinheiten sowie

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der sogenannten Bandenbekämpfung von deutscher Seite aufzuzeigen. Seine Kernthese ist klar: Der Partisanenkrieg war keine Erscheinung des gesamten belarussischen Volkes. Im Gegenteil führte der rücksichtslose Kampf von ehemaligen Kriegsgefangenen und versprengten sowjetischen Soldaten zur Freisetzung innergesellschaftlicher Gewalt, die sich nicht in heroischen Zügen schildern lässt. Alexander Brakel kommt anhand des Fallbeispiels Baranowicze zu einem ähnlichen Schluss, kann ihn aber gerade durch den Vergleich von vorangegangener sowjetischer Besatzung von 1939 bis 1941 mit der deutschen Besatzungszeit auf lokaler Ebene stärker in Bezug zu den unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen setzen. In seiner Dissertationsschrift verfolgt er auch weitere Stränge der Kriegswirklichkeit. So besteht der besondere Mehrwert seiner Arbeit im genauen Zusammensetzen eines Mosaiks der Zerstörung der städtischen Gesellschaft, das sowohl die sowjetischen Deportationen der Jahre 1940/41 als auch den Mord an den Baranowiczer Juden und die folgenden Repressionen gegen die polnische Bevölkerung enthält. Dabei geht er auch näher auf den Partisanenkrieg ein. Beide Autoren beziehen die Wirkung auf und die Wahrnehmung durch die Bevölkerung in ihre Analyse ein. Sie erzählen die Historie des Zweiten Kriegs als Kulturgeschichte eines radikalen gesellschaftlichen Zerstörungsprozesses. Sie überwinden damit den reinen Fokus auf militärische Akteure, obwohl diese auch aufgrund der Quellenlage und der jeweiligen Fragestellung im Zentrum der Analyse stehen. Für die Historiographie in Belarus wären baldige Übersetzungen als neue Diskussionsgrundlage sehr wichtige Impulse. Es wäre also mehr als wünschenswert, wenn 2010 in Minsk diese Bücher erscheinen würden. Nr. 47  01 / 10


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