Verlorene Orte, gebrochene Biografien

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V E R LO R E N E O R T E | G E B R O C H E N E B I O G R A F I E N Fotografien | R端diger Lubricht


Peter Junge-Wentrup | Erinnern für eine gemeinsame Zukunft »Tschernobyl« ist ein Wort, das wir gerne aus unserer Erinnerung streichen würden… Doch es gibt zwei zwingende Gründe, warum diese Tragödie nicht vergessen werden darf. Erstens, wenn wir Tschernobyl vergessen, erhöhen wir das Risiko weiterer solcher Technologie- und Umweltkatastrophen in der Zukunft… Zweitens, mehr als sieben Millionen unserer Mitmenschen können sich den Luxus des Vergessens nicht erlauben. Sie leiden noch immer … Das Vermächtnis von Tschernobyl wird uns und unsere Nachkommen begleiten – und zwar für viele kommende Generationen. Kofi Annan, New York 2000

Durch Erinnern ein Lernen aus der Vergangenheit zu ermöglichen und so gemeinsam die Zukunft zu gestalten, gehört zu den Grundprinzipien des Internationalen Bildungs- und Begegnungswerks in Dortmund. Das IBB Dortmund wurde eben in jenem Jahr 1986 gegründet, als die Explosion im AKW Tschernobyl die Menschen in allen Ländern Europas erschütterte. Mit der 1994 gegründeten Internationalen Bildungs- und Begegnungsstätte »Johannes Rau« Minsk und einem 2009 in Kiew eröffneten Büro hat das IBB zudem seinen Tätigkeitsschwerpunkt in den Ländern, die am meisten unter den Folgen der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl leiden. Aber nicht nur aus diesem Grund ist die Erinnerung an Tschernobyl zu einem zentralen Anliegen des IBB geworden.

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Die Katastrophe von Tschernobyl löste 1986 bei vielen Menschen eine Art »anthropologischen Schock« aus, der ihnen die allgegenwärtige Bedrohung menschlichen Lebens durch moderne Technologienutzung anschaulich machte. Die radioaktive Wolke zog über ganz Europa und machte weder vor nationalen noch politischen Grenzen Halt. Tschernobyl wurde damit zur »letzten Mahnung«, wie es der amerikanische Mediziner Robert Gale formulierte, den die Sowjetunion als ersten westlichen Arzt zur Behandlung der akuten Strahlenopfer einlud. Auch die politischen Debatten um die Energiewende erhielten durch Tschernobyl eine neue Brisanz, da Atomenergie eindeutig keine sichere Zukunft mehr garantieren konnte. 25 Jahre später droht Tschernobyl jedoch in Vergessenheit zu geraten. Insbesondere junge Menschen, die nach 1986 zur Welt kamen, verbinden keine eigenen Erfahrungen mehr mit der Reaktorexplosion und ihren Folgen. Aktuelle Umweltkatastrophen halten uns in Atem, erfordern öffentliche Aufmerksamkeit und lassen Tschernobyl allmählich verblassen. Zudem lässt der Klimawandel Atomenergie vielen wieder als reale Zukunftsoption erscheinen. Für unzählige Menschen ist Tschernobyl jedoch nicht Vergangenheit, sondern unmittelbare Gegenwart. Mehrere Hunderttausend Menschen haben infolge der Reaktorkatastrophe ihre Heimat verloren, ihre Häuser mussten vernichtet und begraben werden. Nach wie vor leben fünf Millionen Menschen in Gebieten, die mit über 1 Curie/km² Cäsium-137 radioaktiv belastet sind – und somit in ständiger Ungewissheit um ihre eigene Gesundheit und die Gesundheit ihrer Kinder. Auch die etwa 800.000 Liquidatoren, die ihr Leben riskierten, um den Reaktorbrand zu löschen und die Katastrophenfolgen zu begrenzen, können Tschernobyl nicht aus ihrer Erinnerung streichen. Viele von ihnen sind bereits verstorben, die meisten heute noch lebenden Liquidatoren kämpfen mit gesundheitlichen Problemen. Die tatsächliche Dimension von Tschernobyl wird erst begreifbar, wenn man sich mit den Lebensgeschichten dieser Menschen auseinandersetzt und versucht nachzuvollziehen, welche Zäsur die Reaktorkatastrophe für ihr Leben bedeutete und welche Verluste sie hinnehmen mussten. Der Fotograf


Rüdiger Lubricht ist seit 2003 auf inzwischen 16 Reisen nach Belarus und in die Ukraine den Auswirkungen von Tschernobyl nachgegangen. Er fotografierte in der Geisterstadt Pripjat und in den verlassenen Dörfern der ukrainischen und belarussischen Sperrzonen. Vor allem aber beschäftigen Lubricht die Menschen, deren Leben Tschernobyl für immer veränderte: die Rückkehrer, die trotz der Strahlengefahr in die Zone zurückkamen, um dort ihren Lebensabend zu beschließen, oder die Liquidatoren, die damals stolz darauf waren, für ihr Land und ihre Mitmenschen zu arbeiten und sich nachträglich die Frage nach dem Sinn ihres Einsatzes stellen. In Lubrichts Bildern können wir gleichzeitig erkennen, wie gefährdet menschliches Leben heute schon ist. Dennoch bleibt unfassbar, dass in den nach Tschernobyl zur Sperrzone gewordenen Gebieten über mehrere Jahrhunderte kein normales Leben möglich sein wird. Etliche zukünftige Generationen müssen mit dem schweren Erbe der radioaktiven Belastungen leben. Tschernobyl sollte uns daher eine Mahnung sein, endlich ein Gesellschafts- und Wirtschaftsmodell zu entwickeln, das nicht die Lebensgrundlagen unserer Nachkommen zerstört. Hierfür brauchen wir auch eine Kultur des aktiven Erinnerns. Das Fundament für diese Erinnerungskultur bilden neben den Zeitzeugen vor allem die zahlreichen Tschernobyl-Initiativen, die sich seit Anfang der 1990er Jahre in allen europäi-

schen Ländern gebildet haben und bis heute aktiv sind. Diese einmalige europaweite Solidaritätsbewegung hat im Zuge der Auflösung des Ost-West Konfliktes und der »Öffnung des Eisernen Vorhangs« Brücken der Verständigung gebaut, Begegnungen ermöglicht und konkrete Projekte durchgeführt. Allein in Deutschland sind heute noch über 500 Initiativen aktiv. Die »Bewahrung der Schöpfung« wird außerdem von orthodoxen, katholischen und evangelischen Christen als dringende gemeinsame Aufgabe angesehen. Zukünftig sollten in der Erinnerung an Tschernobyl auch die Parteigrenzen überwunden werden. Der vorliegende Bildband versteht sich als ein Beitrag zur Kultur des aktiven Erinnerns an Tschernobyl. Wir wünschen uns, dass er dazu beiträgt, die von Tschernobyl betroffenen Menschen ins europäische Gedächtnis aufzunehmen und ihnen die für ein weiteres würdiges Leben so wichtige Aufmerksamkeit zu schenken. Und wir hoffen darauf, dass die Erinnerung hilft, die notwendigen Konsequenzen zu ziehen, um die Wiederholung einer vergleichbaren Katastrophe in der Zukunft zu vermeiden. Münster, Januar 2011 Peter Junge-Wentrup Geschäftsführer IBB Dortmund

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Astrid Sahm | Verlorene Orte In den modernen, von der Globalisierung geprägten Gesellschaften Westeuropas hat Heimat für die meisten Menschen ihren eindeutigen örtlichen Bezug verloren. Der moderne Mensch, der sich durch Ausbildung, Arbeit und private Bindungen in ständiger Bewegung befindet, lernt, sich an mehreren Orten gleichzeitig zu Hause zu fühlen. Die Katastrophe von Tschernobyl traf jedoch vorrangig Regionen, die von dem Prozess der Globalisierung noch nicht erfasst waren. Für die hier lebenden Menschen war es die Regel, in ihrem Geburtsort auch begraben zu werden. Selbst für die jungen Menschen, die auf der Suche nach einem höheren Lebensstandard vom Land in die Stadt strebten, blieb das Geburtsdorf stets der Inbegriff der Heimat, mit der sie weiterhin in Kontakt blieben. Diese für selbstverständlich gehaltene Heimat wurde durch Tschernobyl zerstört. Tschernobyl als Dritter Weltkrieg Zwischen 1986 und 2000 wurden über 345.000 Menschen aufgrund der gesundheitsgefährlich radioaktiven Belastung ihrer Wohnorte umgesiedelt. Über 600 Orte in Belarus, Russland und der Ukraine blieben menschenleer zurück. Nur im Zweiten Weltkrieg waren mehr Dörfer vernichtet worden. Doch im Unterschied zum Krieg, nach dessen Ende über zwei Drittel der zerstörten Dörfer wieder aufgebaut werden konnten, wartet auf die von der Radioaktivität heimgesuchten Gebäude und Straßen lediglich die Wiederaneignung durch die Natur. Die Behörden betrachten die langsam zerfallenden Orte vor allem als einen möglichen Zufluchtsort für Obdachlose und Illegale oder eine besondere Gefahr für Waldbrände. Zudem können aus den leer stehenden Häusern immer noch Einrichtungsgegenstände oder Materialien entwendet werden, die dann irgendwo außerhalb der Tschernobyl-Sperrzone »strahlende Spots« bilden. Um dies zu verhindern, sehen die staatlichen Tschernobyl-Programme die Beschleunigung des natürlichen Verfallsprozesses durch die schrittweise »Beerdigung« dieser Dörfer vor, wie der Abriss von Häusern und Infrastruktur sowie das anschließende Vergraben des hierbei zusammengetragenen Schutts im Erdboden bezeichnet wird. Daran, dass hier einmal Menschen gewohnt haben, erinnert dann nur noch ein Gedenkstein oder eine Gedenktafel. In den

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Verwaltungszentren vieler betroffener Bezirke wurden zudem Denkmäler oder kleine Gedenkstätten für die verlorenen Orte errichtet. Ihre ästhetische Anlehnung an die Denkmäler für die während des Zweiten Weltkriegs vernichteten Dörfer unterstreicht die in den betroffenen Ländern vorherrschende Verarbeitung von Tschernobyl durch den Vergleich mit den Kriegserfahrungen. Der individuelle Verlust der Heimat wird begleitet durch den gesellschaftlichen Verlust von wertvollen Kulturgütern und Traditionen. Denn Tschernobyl hat insbesondere die historische Landschaft von Polessje betroffen, die als die Wiege des ostslawischen Siedlungsraums gilt. Über Jahrhunderte hat sich hier eine besondere Volkskultur entwickelt, die sich durch den Reichtum an Liedgut, Stickerei und Handwerkskunst auszeichnet und nun ausstirbt. Zwar versuchen Künstler, Ethnografen und Historiker Stickereien, Trachten, alte Ikonen und andere historische Objekte zu retten und in Museen zu bewahren. Ebenso werden Lieder gesammelt und aufgezeichnet. Zudem bleiben Friedhöfe, Kirchen und Denkmäler unangetastet und werden nicht gemeinsam mit den Dörfern dem Erdboden gleichgemacht. Über die in der Tschernobyl-Sperrzone liegenden Kulturgüter werden akribische Datenbanken geführt. Doch so wichtig all diese Bemühungen auch sind: sie dokumentieren lediglich das unwiederbringlich Verlorene und können ihm kein neues Leben schenken. Robinson im 21. Jahrhundert Obwohl nach wissenschaftlichen Erkenntnissen aufgrund der hohen Strahlung in der 30-km-Sperrzone um den zerstörten Reaktor auf unabsehbare Zeit keine Menschen leben sollten, ist diese Zone nicht menschenleer. Es gibt einige wenige Menschen, die entgegen den staatlichen Vorgaben wieder in ihre Heimat zurückgekehrt sind und die Tschernobyl-Zone auch heute ihr ständiges Zuhause nennen. Die Zahl dieser sogenannten »samosely« (Selbstansiedler) wird auf mehrere hundert geschätzt. In der Regel handelt es sich dabei um alte Menschen, die sich an den neu zugewiesenen Wohnorten nicht einleben konnten und ihre letzten Lebensjahre in vertrauter Umgebung verbringen wollen. Häufig wohnen sie


alleine oder mit wenigen Nachbarn in der Gemeinschaft von Hunden oder Ziegen in einem verlassenen Dorf. Damit sind sie ebenso sehr auf sich gestellt wie der bekannte Romanheld Robinson Crusoe auf seiner Insel. Nur selten erhalten diese realen Robinsons Besuch von ihren Kindern oder Enkeln. Eine Chance, ihre ehemaligen Nachbarn wiederzusehen, haben sie nur am Totengedenktag Raduniza zehn Tage nach Ostern. Denn an diesem Tag gibt es einen freien Zugang zur Sperrzone, um den weit verstreut lebenden Menschen die Möglichkeit zu geben, die Gräber ihrer verstorbenen Angehörigen zu besuchen. Da sich die Behörden inzwischen mit dem Aufenthalt der »samosely« in der Sperrzone abgefunden haben, gewähren sie ihnen zumindest eine minimale Versorgung: die Auszahlung der Renten, den regelmäßigen Besuch durch einen mobilen Lebensmittelwagen u. a. Insgesamt fehlen jedoch fast alle Annehmlichkeiten der Zivilisation, wie Strom- oder Wasseranschluss. Dementsprechend muss der Ofen mit Holz geheizt und das Wasser vom Brunnen geholt werden, für die Beleuchtung sorgt eine Kerosin- oder Petroleumlampe. Zudem ernähren sich die »samosely« fast ausschließlich von selbst angebauten Erzeugnissen sowie im Wald gesammelten Beeren und Pilzen. Mahn-Erbe oder Touristenattraktion? Der belebteste Teil der Sperrzone ist der Bereich in der Nähe des stillgelegten Atomkraftwerks, wo weiterhin Wartungsarbeiten durchgeführt werden müssen. Etwa 3.800 Menschen sind hier noch immer beschäftigt, deren Aufenthaltsdauer allerdings auf ihre Arbeitszeit beschränkt ist. Die Kantine und alle sonstige für ihre Tätigkeit erforderliche Infrastruktur befinden sich in der Stadt Tschernobyl. Die einstige sozialistische Musterstadt Pripjat, in der die AKW-Mitarbeiter mit

ihren Familien vor der Katastrophe lebten, ist hingegen zu einer Geisterstadt geworden. Im Unterschied zu den Dörfern mit ihren Holzhäusern wäre der Abriss der Betonbauten dieser einst über 45.000 Einwohner zählenden Stadt eine viel zu aufwendige und kostspielige Maßnahme. Infolgedessen kann man in ihren Gebäuden noch das einstige Leben und den fluchtartigen Aufbruch seiner Bewohner bei ihrer Evakuierung am 28. April 1986 erahnen. Seit 2002 ist Pripjat für touristische Besucher im Rahmen von Tagestouren zugänglich. Auch der Besuch von »samosely« ist Bestandteil dieser Touristenprogramme. Die Nachfrage scheint groß zu sein: Im 20. Jahr nach der Reaktorkatastrophe sollen etwa 200.000 Menschen den ukrainischen Teil der Tschernobyl-Sperrzone besucht haben. Ende 2010, d.h. im Vorfeld des 25. Jahrestags von Tschernobyl, kündigte die Ukraine an, das verstrahlte Sperrgebiet »in großem Stil« für Touristen zu öffnen. Noch hat der ukrainische Staat aber keine Konservierungsmaßnahmen ergriffen, so dass sich auch in Pripjat die Natur dem Asphalt und Beton zum Trotz allmählich ausbreitet. Perspektivisch könnte Pripjat in ein Freiluftmuseum verwandelt werden. Den mit Tschernobyl verbundenen individuellen und gesellschaftlichen Verlusten würde dieses Museum jedoch nur dann gerecht werden, wenn es nicht die nervenkitzelnde Attraktion des Aufenthalts in einer strahlungsbedingten Extremsituation in den Vordergrund stellt, sondern sich als ein Mahn-Erbe für die permanente Bedrohung menschlichen Lebens und menschlicher Errungenschaften in der modernen Risikogesellschaft versteht. Denn Pripjat und alle anderen verlorenen Orte in der TschernobylZone versinnbildlichen das Scheitern einer Lebensweise, die sich nicht an den Grundsätzen einer nachhaltigen Entwicklung orientiert.

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Pripjat | Riesenrad vor Wohnblocks | 2005

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Pripjat | Hotelbalkon mit rotem Stuhl und Birke | 2005

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Bartolomeewka | Verlassenes Dorf im Gebiet Gomel | 2004

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Bartolomeewka | Frau im Wohnzimmer | 2004

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Zhelesniza | Verlassenes Dorf im Gebiet Gomel | 2004

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Borowaja-Krasnopol‘e | Wohnzimmer von W. Saturanow | 2006 Waldimir Saturanow sammelt in seinem Wohnzimmer Lebensmittelvorräte für den Winter.

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10-km-Sperrzone Tschernobyl | Hausruine | 2003

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30-km-Sperrzone Tschernobyl | Frau am Grab ihres Mannes | 2004

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Guta | Verlassenes Dorf im Gebiet Gomel | 2004

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10-km-Sperrzone Tschernobyl | Rastplatz mit Spielger채t | 2003

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Andrii Mizko * 1960 in Fergana Andrii Mizko war vom 5. bis zum 27. Mai 1986 als Hubschrauberpilot in Tschernobyl. Nach seinem Einsatz als Liquidator wurde er nach Afghanistan geschickt. 2000 wurde er wegen gesundheitlicher Probleme aus dem Militärdienst entlassen.

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1986 gehörte ich zu einem Hubschrauberregiment im Leningrader Gebiet. Vom 5. bis 27. Mai 1986 wurde ich nach Tschernobyl geschickt, wo ich Hubschrauber des Typs Mi-6 flog. Eigentlich sollte ich nach Afghanistan fliegen, um dort der internationalen Pflicht unseres Landes nachzukommen. Dafür absolvierte unsere Hubschrauberstaffel im April ein Überlebenstraining auf der Krim. Am 30. April wurde das ganze Regiment in Alarmbereitschaft versetzt – wir wussten, dass etwas Ernstes passiert sein musste. Am 2. Mai wurden acht Hubschrauberbesatzungen vom Typ Mi-6 abkommandiert, zuvor wurden die Hubschrauber für äußerste Lasten umgerüstet. In Tschernobyl lösten wir eine Hubschrauberbesatzung ab, die zwischen dem 27. April und 5. Mai geflogen war. Die Arbeit war sehr hart: um 4 Uhr Aufstehen, um 5:30 Uhr Frühstück in der Kantine und sofort zum Flughafen. Wir flogen verschiedenes Material in die 30-km-Zone und warfen es über dem Reaktor ab. Ich selbst habe elf Abwürfe über dem Reaktorblock IV mitgemacht. Die Transportfallschirme beluden uns die sogenannten »Partisanen«. Das waren Reservisten, die aufgrund des Ausnahmezustands auf die Schnelle einberufen worden waren. Die Flüge wurden wie am Fließband alle zwei bis drei Minuten durchgeführt. Mein

erster Flug zum Reaktor prägte sich mir tief ein. Die Einwohner von Pripjat waren bereits evakuiert und wir sahen die verlassene Stadt, Lastwagen und Autos, die Wäsche auf den Balkonen. Es war eine unheimliche Leere, niemand war mehr da. In meinem Kopfhörer ertönte die Stimme des Flugleiters, der auf dem höchsten Gebäude in Pripjat, einem Hotel stationiert war. Er gab uns die Erlaubnis zum »Kampfeinsatz« und die Entfernung zum Reaktor durch. Beim Anflug auf den IV. Block sahen wir nur eine leichte Rauchfahne aufsteigen. Wir schwebten in 200 Metern Höhe über dem zerstörten Reaktor und warfen unsere Last ab. Erst abends war unsere Arbeit beendet. Gegen 21 Uhr wurden wir dann in unsere Unterkunft in Tschernigow gebracht. Die lokale Bevölkerung behandelte uns mit großem Respekt und mit ebenso großer Vorsicht. Wenn wir ein Geschäft betraten, wurde dieses schlagartig leer. Wir hörten wie die Leute flüsterten und uns Todeskandidaten nannten. Am 27. Mai wurden wir endlich abgelöst. In einem Krankenhaus untersuchten uns Spezialisten des Leningrader Instituts für Kernphysik. Danach verbrachten wir zehn Tage in einem Sanatorium. Im September wurden wir schließlich nach Afghanistan verlegt. Erst Tschernobyl, dann Afghanistan.


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Yauheniya Filomenka * 1957 im Gebiet Gomel Yauheniya Filomenka arbeitete ab April 1986 in der Zone um Tschernobyl, wo sie vor allem bei der Umsiedlung der Dorfbewohner half. Heute leitet sie einen Verein für Umsiedler im Minsker Stadtteil Malinowka.

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In der Apotheke waren alle jodhaltigen Medikamente ausverkauft. Wir alle wussten ja nicht, wie und wie viele Tabletten wir einnehmen sollten. Sogar Leute mit technischer Hochschulbildung konnten sich nicht vorstellen, welche Folgen diese Katastrophe haben würde. Sie hat unser Leben drastisch verändert. Am 27. April 1986 wussten schon viele Leute aus Pripjat, dass es einen Unfall im Atomkraftwerk Tschernobyl gegeben hatte. Ich komme ursprünglich aus Narowlja in Belarus und mehrere Leute aus meinem Ort arbeiteten im Reaktor, zum Beispiel als Wächter. Von ihnen erfuhren wir, dass etwas passiert war, aber niemand wusste, wie man sich verhalten sollte. Einige Funktionäre brachten ihre Kinder weg, doch die Behörden ordneten an, sie zurückzuholen. Die kursierenden Informationen waren sehr widersprüchlich. Ich musste mit meinen Kollegen in die Dörfer fahren, Kolchosen und Schulkantinen kontrollieren, alles notieren, worüber sie verfügten. Diese Dörfer wurden einige Tage oder Wochen später ausgesiedelt – unsere Arbeit war also für die Katz. Meine Schwiegermutter wohnte in einem Dorf unweit des Reaktors. Sofort nach der Katastrophe kam ich sie mit meinem ältesten Sohn besuchen. Er war erst fünf. Ärzte kamen mit einem Krankenwagen dorthin und untersuchten die Kinder. Meinem Pawel wurde Blut abgenommen. Eine Laborantin flüsterte mir ins Ohr: »Fahren Sie sofort weg!« Ich habe geantwortet: »Wir wohnen nicht hier, wir wohnen in der Kreisstadt.« Sie hat erneut geflüstert. »Weg von hier! Sofort!« Meine Mutter nahm meine beiden Jungs, Pawel und Alexej mit sich und floh am 4. Mai zu ihrer anderen Tochter nach Minsk. Der ehemalige Gesundheitsminister ordnete an, alle Kinder aus den Tschernobyl-Regionen zu untersuchen, meine beiden Kinder wurden also im Minsker Krankenhaus untersucht. Ich kam erst am 8.Mai nach Minsk,

um sie in der Klinik zu besuchen. Drei Tage stand ich vor der Tür, bevor ich auf die Station durfte. Erst als meine Jungs 40 Grad Fieber hatten, durfte ich tagsüber zu ihnen. In Wirklichkeit wurden meine Kinder nicht richtig behandelt. Die Pfleger weigerten sich, Tschernobylkinder zu behandeln. Sie hatten Angst, sich anzustecken. Die Ärzte sagten mir kein Wort über den Gesundheitszustand meiner Kinder, sie beobachteten nur. Nach etwa drei Wochen wurden sie entlassen. Mein ältester Sohn Pawel erkrankte schwer. Seit 1987 gilt er als Tschernobyl-Behinderter – von Kindheit an. Ich habe später erfahren, dass in Narowlja viel Plutonium niedergegangen war, die Kinder waren sehr stark verstrahlt. In Belarus wurde überall verkündet, dass man keine Bedenken zu haben brauche und die Situation unter Kontrolle sei. In Narowlja kam es deswegen zur ersten Protestkundgebung der betroffenen Bevölkerung. Die Menschen verlangten, die Wahrheit über das Ausmaß der Katastrophe zu erfahren und die sofortige Evakuierung der Bevölkerung. Die Aussiedlung begann trotzdem erst 1991. Wir gehörten zu den ersten Umsiedlerfamilien aus Narowlja und bekamen eine Dreizimmerwohnung in Minsk. Da mein Kind behindert war, konnte ich nicht arbeiten und mein Mann hatte Schwierigkeiten, eine Arbeit zu finden. Anderthalb Jahre später starb er an Herzversagen. Wir Umsiedler hatten es sehr schwer. Als wir unsere Rechte bei einem Abgeordneten einforderten, sagte er nur: »Keiner hat euch eingeladen!« Wir begriffen damals, dass wir nur gemeinsam etwas erreichen können. Deshalb gründeten wir einen Verein für Umsiedler in unserem Stadtteil Malinowka. Erst fühlte ich mich fremd in Minsk, aber inzwischen habe ich mich eingelebt. Ich wohne mit meinem kranken 31-jährigen Sohn Pawel und mit dem jüngeren Sohn Alexej, seiner Frau und 2 Enkelkindern zusammen.


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