Arbeiterbewegung

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BÜFFELN STATT BUCKELN

NACH WIE VOR IST DER ANTEIL DER ARBEITERKINDER AN DEN DEUTSCHEN UNIVERSITÄTEN GERING. STIPENDIEN HELFEN ZWAR, SETZEN DIE GEFÖRDERTEN ABER AUCH UNTER DRUCK. VON ESTHER SCZESNY Es klang wie eine frohe Botschaft, als das deutsche Studentenwerk am 23. April die neue Sozialerhebung vorstellte: Erstmals seit Jahrzehnten gibt es an deutschen Hochschulen wieder mehr Arbeiterkinder. Doch trotz des leichten Anstiegs kommt weiterhin über die Hälfte der Studenten aus gehobenen Schichten. Noch deutlicher wird der Unterschied, wenn man die Bildungskarrieren vergleicht: Von 100 Nichtakademiker-Kindern beginnen nur 24 ein Studium, während bei Akademiker-Erben die Studenten-Quote bei 71 Prozent liegt. STIPENDIEN BEI DER HANS-BÖCKLER-STIFTUNG

Die DGB-eigene Hans-Böckler-Stiftung will mehr Kinder aus Arbeiterfamilien an die Universität bringen und vergibt dafür Stipendien. Gefördert werden Gewerkschaftsmitglieder und gesellschaftspolitisch Engagierte – bewerben kann sich jeder. Seit 2007 gibt es außerdem die „Böckler-Aktion Bildung“ für Arbeiterkinder: Studenten, deren Eltern ein Studium nicht finanzieren können, bekommen eine monatliche Finanzspritze. Motto: „Ihr studiert, wir bezahlen.“ Nach Angaben der Stiftung kommen 62 Prozent ihrer rund 2450 Stipendiaten aus Nicht-Akademikerfamilien. WIE ES KLAPPEN KANN

„Das ist der Unterschied zwischen der Hans-Böckler-Stiftung und anderen Stiftungen“, erklärt Klaus Westermann. Politische Stiftungen förderten im Endeffekt vor allem Kinder aus der oberen Mittelschicht. Klaus Westermann, der Geschäftsführer des DGB Rechtsschutzes, wurde zu seiner Studienzeit auch durch den Gewerkschaftsbund gefördert. „Ohne die Studienstiftung hätte ich vermutlich gar nicht oder nur unter schwierigen Bedingungen studieren können“, erklärt der Volkswirt.

und einen Kredit aufnehmen müssen, sagt sie. Hülya bekommt die Vollförderung, das maximale Grundstipendium von 585 Euro, zusätzlich ein Büchergeld in Höhe von 80 Euro sowie 59 Euro als Zuschuss zur Krankenversicherung. Jedes Semester muss Hülya einen schriftlichen Semesterbericht anfertigen, in dem sie ihre soziale Situation und die Studienplanung darstellt sowie über ihr gewerkschaftliches Engagement berichtet.

59 PROZENT VON ELTERN UNTERSTÜTZT Laut der aktuellen Sozialerhebung bekommen 59 Prozent der deutschen Studierenden die Studienbeiträge von ihren Eltern bezahlt. Rund ein Drittel der Befragten gab an, für die Gebühren zu jobben. Nur etwa jeder Zehnte nimmt ein Darlehen auf. Studierende haben im Schnitt 812 Euro im Monat zur Verfügung.

Das Deutsche Studentenwerk befragt alle drei Jahre die Studierenden zu ihrer wirtschaftlichen und sozialen Lage. Die Sozialerhebung wird finanziert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung und wissenschaftlich durchgeführt. Bei der 19. Sozialerhebung wurden im Sommer 2009 rund 16.370 Studierende befragt.

Die Förderung von Dogan zahlt sich für die Gewerkschaften aus: Im November des Jahres 2007 ließ sich Hülya Dogan zur stellvertretenden Bundesvorsitzenden der Verdi-Jugend wählen. Seit diesem Zeitpunkt bestimmt sie die politische Ausrichtung der Organisation ganz wesentlich mit. MEHR GELD, WENIGER ENGAGEMENT

Doch auch wenn das Geld hilft – den Zeit- und Leistungsdruck, der durch das Stipendium entsteht, findet Dogan nicht gut. „Vor dem Studium wird von mir erwartet, dass ich mich ehrenamtlich engagiere, um das Stipendium zu bekommen. Im Studium wird dann verlangt, dass ich innerhalb der Regelstudienzeit meinen Abschluss mit guten Noten erziele und mich irgendwie auch weiterhin engagiere. Tatsächlich aber bedeutet das, dass das ehrenamtliche Engagement wegfallen muss.“ Für alles gleichzeitig bleibe zu wenig Zeit. Da beißt sich die Katze in den Schwanz. Dogan hat sich für ihre Tätigkeit bei der Verdi-Jugend entschieden und damit gegen die Einhaltung der Regelstudienzeit. Deshalb braucht sie zwei Semester länger an der Universität. Für diesen Zeitraum wird ihr die Förderung von der Stiftung gestrichen. Ein erheblicher finanzieller Einschnitt für die Studentin. Die Folge: Jetzt muss sie wahrscheinlich einen Kredit aufnehmen. Kein gerechter Lohn für den Eifer und die Arbeit, die sie in die Gewerkschaft gesteckt hat.

„Wer Geld hat, hat alle Möglichkeiten“, sagt Westermann. Für Arbeiterkinder dagegen sei die Ausgangssituation besonders schwierig. „Der familiäre Hintergrund entscheidet nämlich über die finanziellen Startbedingungen.“ Und damit auch über die Nachfrage nach Hochschulbildung. Die 26-jährige Hülya Dogan trat 2003 als Krankenschwester der Gewerkschaft Verdi bei, um in der Jugendvertretung Seminare und Schulungen zu besuchen. Heute studiert sie Sozialökonomie in Hamburg. Seit sieben Semestern wird sie durch die Hans-Böckler-Stiftung gefördert. Ohne das Extra-Geld hätte sie ihr ehrenamtliches Engagement bei Verdi aufgeben

Esther Sczesny Freiburg, 23 Jahre Hat vor einem Monat das erste juristische Staatsexamen gemacht und fängt nun mit der Promotion an. Als Kind wollte sie Lehrerin werden.

THEATERSCHMINKE STATT KOHLERUSS. ARBEITERKINDER WIE HÜLYA DOGAN MACHEN SICH DIE HÄNDE NUR NOCH FÜR SYMBOLFOTOS SCHMUTZIG. Foto: Martin Knorr

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