HEIMATLOSE JULI 2016
UNABHÄNGIGES MAGAZIN ZUM 13. JUGENDMEDIENWORKSHOP IM DEUTSCHEN BUNDESTAG IM APRIL 2016, HERAUSGEGEBEN VON DER JUGENDPRESSE DEUTSCHLAND E.V.
Foto, Titelfoto: Anna Rakhmanko
»OHNE HEIMAT SEIN, HEISST LEIDEN«
EDI TOR I A L Liebe Leserinnen und Leser,
SCHRIEB SCHON DER RUSSISCHE SCHRIFTSTELLER DOSTOJEWSKI. SEIT VIELEN JAHRZEHNTEN KAMEN NICHT MEHR SO VIELE GEFLÜCHTETE NACH DEUTSCHLAND WIE HEUTE. ALISA STERKEL UND JOHANN STEPHANOWITZ HABEN SICH MIT DEM BEGRIFF »HEIMAT« AUSEINANDERGESETZT. Wir hatten bei dem „Geburtslotto“ Glück, das andere Menschen nicht hatten. Verpflichtet uns dieses Glück zu helfen oder müssen wir es verteidigen? Und was ist eigentlich Glück? Ist Glück nicht eigentlich gerade dann schön, wenn man es mit anderen teilt? Die Frage ist also, ob wir bereit sind, unser Glück und damit auch unsere Heimat zu teilen.
Foto: Anna Rakhmanko
INTEGRATION VERLANGT ANSTRENGUNG BEIDER SEITEN
TREFFPUNKT FÜR BERLINERINNEN, BERLINER UND ZUGEZOGENE: KULTURBETRIEB NEUE HEIMAT
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ine Frage auf einem orangenen Zettel: Was ist Heimat für dich? Familie. Freunde. Elternhaus. Geborgenheit. Vertrautheit. Sicherheit. Der Ort, an dem man verwurzelt ist und an den man immer wieder zurückkehrt. Der Ort, an dem man sich wohlfühlt. Der Ort, nach dem man sich sehnt. Das ist nur ein kleiner Querschnitt aller Antworten, die wir, aus ganz Deutschland kommende Teilnehmende des Jugendmedienworkshops 2016 in Berlin, gegeben haben. Beim Nachdenken über den Begriff „Heimat“ kommen zahlreiche weitere Fragen auf: Ist Heimat ein Ort und kann man sich auch an mehreren Orten heimisch fühlen? Oder ist Heimat vielleicht ein Gefühl? Ein Geschmack? Ein Geruch? Oder ein Geräusch? Oder sogar eine Mischung aus allem? Denn Heimat ist: „so fassbar und gleichzeitig so unfassbar“, wie eine Teilnehmerin schrieb. Heute sind ungefähr 65 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht. Die Gründe, warum sie fliehen, sind vielfältig: Krieg, Terror, Hunger, Gewalt oder Zerstörung. Dabei lassen die Menschen alles
zurück, was ihr Leben bisher ausmachte. Was würden sie wohl auf den orangenen Zettel schreiben?
DIE VORSTELLUNG VON HEIMAT IST ÜBERALL DIE GLEICHE Da ist zum Beispiel Mohamad Osman, der vor zwei Jahren alleine aus Aleppo nach Deutschland geflohen ist und für diese Ausgabe der politikorange fotografiert hat. Er sagt: „Meine Heimat sind meine Familie und meine Freunde.“ Doch beides hat er in Syrien zurücklassen müssen. Mohamad kann sich vorstellen, in Deutschland eine (neue) Heimat zu finden, wenn auch seine Familie eines Tages hier wohnen würde. Aleppo wird allerdings immer seine eigentliche Heimat bleiben, denn dort hat er den Großteil seines Lebens verbracht. Viele Menschen hier in Deutschland haben nur Frieden und Demokratie erlebt. Gerade unsere Generation kennt Krieg, Leid und Entbehrung im eigenen Land nur noch aus den Geschichtsbüchern und den Erzählungen unserer Großeltern.
Meinen wir es wirklich ernst mit der Integration der Geflüchteten, die nach Deutschland gekommen sind? Denn dann reicht es nicht, dass wir den Geflüchteten ein Dach über dem Kopf bieten (manchmal auch nur ein Zeltdach), ihnen Essen geben und für ihre Sicherheit sorgen (manchmal nicht einmal das, man denke an Freital und Bautzen). Nein, es braucht mehr, viel mehr, wenn die Geflüchteten bei uns heimisch werden, eine neue Heimat finden sollen. Wir müssen bereit sein, sie bei uns aufzunehmen, mit ihnen zu diskutieren, sie an unseren Schulen, am Arbeitsplatz oder im Sportverein willkommen zu heißen. Dazu gehört auch, dass wir ihnen unsere Regeln erklären und unsere Werte vermitteln, aber ebenso ihnen zuhören – und von ihnen lernen. Natürlich müssen auch die Geflüchteten ihren Teil beitragen, damit Integration gelingt. Hier stehen das Erlernen der deutschen Sprache und die Akzeptanz unserer Werte und Normen an erster Stelle. Beide Seiten müssen sich also bewegen. Nur dann kann Deutschland eine andere, eine neue Heimat für die Geflüchteten werden. Denn wie Mohamad sagt: „Jeder Mensch muss mindestens eine Heimat haben.“
Alisa Sterkel 17, Saarbrücken Johann Stephanowitz 18, Berlin ... haben festgestellt, dass Heimat viele Facetten hat.
30 Jugendliche, 30 Heimatorte, 30 unterschiedliche Vorstellungen davon, was Heimat eigentlich ist. Eine Woche lang haben wir uns beim Jugendmedienworkshop in Berlin innerhalb der Redaktion, mit Politikerinnen und Politikern, Medienmachenden, Geflüchteten und Obdachlosen, Ehrenamtlichen und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern über Heimat ausgetauscht und diskutiert. Die Teilnehmenden haben mit Abgeordneten gesprochen, hinter die Kulissen zweier Fernsehtalkshows geschaut, Vereine und Institutionen besucht, Expertinnen und Experten interviewt und Artikel geschrieben. Dabei sind mehr Texte entstanden, als in diese Zeitung passen. Auf www.blog.politikorange.de gibt es daher noch mehr zu lesen. Das Thema des Workshops „Eine andere Heimat“ betrachten wir aus ganz verschiedenen Blickwinkeln. Weltweit sind mehr als 65 Millionen Menschen auf der Flucht. Hunderttausende sind nach Deutschland gekommen. Einige wollen zurück in ihre Heimat, sobald es dort wieder sicher ist. Andere hoffen, in Deutschland eine neue Heimat zu finden. Was muss passieren, damit jemand seine ursprüngliche Heimat aufgibt? Und welche Voraussetzungen müssen gegeben sein, damit ein Ort Heimat werden kann? Und da wir schon mal in der Hauptstadt mit ihren zahlreichen Redaktionen, Studios und Mediengrößen waren, haben wir die Chance genutzt, in Expertengesprächen über die Rolle der Medien und die Berichterstattung über Flucht und Geflüchtete zu diskutieren. Wir haben Julian Reichelt (bild.de) und Maximilian Popp (SPIEGEL) interviewt und mit Joachim Jauer (ehemals ZDF) gesprochen. Doch nicht nur in den Diskussionen rund um Flucht spielt der Heimatbegriff aktuell eine große Rolle. Wir haben mit Menschen gesprochen, die in Berlin auf der Straße leben – darüber, was Heimat für sie bedeutet, wo ihre Heimat aktuell ist und wo sie sie in Zukunft sehen. „Heimatlose“ ist der Titel dieser Ausgabe, auf den sich die Redaktion geeinigt hat. Denn es ist Zufall, wo die erste Heimat ist – der Ort, an dem man aufwächst. Der Ort, den viele Geflüchtete verloren haben. Auch sie können sich als „Heimatlose“ fühlen. Mit Deutschland haben wir ein glückliches Los gezogen: Unsere Heimat ist friedlich, unser Leben und unsere Existenz hier sind derzeit nicht bedroht. Das sollten wir zu schätzen wissen. Luise Schneider, Sebastian Stachorra, Sandra Schaftner und Julian Weber (Chefredaktion und Redaktionsleitung)
IN HALT
»In der Schlange«
»Mit dem Islam«
»Auf der Platte«
Ein Einblick in die Situation am LaGeSo in Berlin. Seite 12
Wolfgang Schäuble sieht Deutschland multireligiös. Seite 25
Obdachlose über die Straße als Zuhause. Seite 29
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EINE ANDERE HEIMAT?
DIE WELT IST IN BEWEGUNG. MILLIONEN MENSCHEN VERLASSEN IHRE HERKUNFTSLÄNDER UND KOMMEN NACH EUROPA. ÄNDERT SICH DAMIT AUCH DER BEGRIFF »HEIMAT«? ANNE ESCHENWECK UND LAURA REISSER HABEN EINHEIMISCHE UND GEFLÜCHTETE GEFRAGT: WAS BEDEUTET DAS – »HEIMAT«? Foto: Anna Rakhmanko
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eimat ist für mich meine Mutter in Hilfe von Sprach- und Integrationskursen, von Scheve, Soziologie-Professor der Syrien“, erzählt Said, ein 19-jähriger bessere Unterbringungsmöglichkeiten FU Berlin. Insbesondere populistische Syrer, den wir in einem Berliner Flücht- und durch schnellere Asylverfahren. Au- Parteien hätten ein Interesse daran, Belingsheim treffen. Er ist nicht der Einzige, ßerdem braucht es Zeit, in dem neuen drohungsszenarien zu kreieren, um poder sich nach Syrien zurücksehnt: „Wenn Zuhause eine Heimat zu finden. litische Unterstützung zu erhalten. Einer der Krieg vorbei ist, möchte ich wieder ihrer Schachzüge sei es, unter anderem zurück“, ist sich der zehnjährige Mahmut HEIMATWANDEL die genaue Definition von „Heimat“ zu sicher, der mit seinen Eltern geflüchtet ist. unterstreichen und diese dann als be„Ich mag Syrien viel lieber als Deutschland.“ „Heimat“ und deren Bedeutung ändern droht darzustellen. Und dieses Empfinsich aber nicht nur für die Flüchtenden. den von Bedrohung steigert sich schnell Im Gegensatz dazu hofft Suhad, eine 34-jährige Syrerin, darauf, dass ihr Asyl- Auch die deutsche Gesellschaft befindet in Furcht, die Heimat zu verlieren. Sie sich im Wandel, beeinflusst von Migra- wird verteidigt, indem die „Eindringantrag genehmigt wird. Ihr Mann wurde in Syrien getötet. „Ich habe nichts mehr, tion und Völkerwanderung, so eine weit linge“ ausgegrenzt werden. was mich dorthin zurückzieht.“ Auch die verbreitete Meinung. Wie sich das konkret auswirken wird, lässt sich schwer 45-jährige Hanan möchte sich hier ein neues Leben aufbauen: „Ich möchte hier- sagen. FDP-Politiker Wolfgang Kubicki HEIM AT = ? ist sich einer Sache jedoch sicher: „Tatbleiben. Doch Deutschland wird für mich erst eine neue Heimat, wenn ich sehe, sache ist, Deutschland wird sich durch »SCHUTZ UND ZUFLUCHT« die Flüchtlinge verändern“, schreibt er dass meine Kinder hier glücklich sind.“ (Lena, 17) in einem Gastbeitrag auf Focus Online. Steven Vertovec, Professor am Göttinger EINE WANDERUNG MIT »FREUNDE UND FAMILIE« Max-Planck-Institut zur Erforschung OFFENEM ENDE (Sandra, 19) multireligiöser und multiethnischer GeViele Geflüchtete haben in diesem Land sellschaften Göttingen, erwartet gemäß »PFANNKUCHEN UND GÜLLE« zumindest vorübergehend einen neuen seines Beitrags auf sueddeutsche.de (Julia, 20) Wohnort gefunden. Ob die Neuankömm- „weitreichende politische, ökonomische linge hier jedoch Wurzeln schlagen, wird und soziale Restrukturierungen“. sich erst noch zeigen. Laut Jochen Oltmer, Für die Redakteurinnen und Redakteure Professor für Neueste Geschichte an der ZWISCHEN ANGST UND dieses Hefts ist „Heimat“ vor allem ein Universität Osnabrück, planen die we- AUSGRENZUNG Gefühl von Freiheit, von Liebe und Vernigsten Geflüchteten, sich dauerhaft nieständnis – im subjektiven Sinn. Gemeint derzulassen. Er bezeichnet Migration als Veränderungen sind bereits jetzt spürbar. sind orts- oder personenabhängige SinEs scheint eine große Kluft zu geben: neseindrücke. Jan, 19, beschreibt „Heieinen „ergebnisoffenen Prozess“: Manche Zwischen der größten ehrenamtlichen lassen sich in Deutschland nieder, andere mat“ als „seelischen Rückhalt“, als eine wandern weiter und wieder andere keh- Bewegung zur Hilfe der Geflüchteten „Mischung aus Örtlichkeit und seelischer in der deutschen Geschichte und anhal- Unterstützung“. Wirklich daheim ist ren in ihre Herkunftsländer zurück. Und wirklich: Das Gefühl von An- tenden Demonstrationen durch Grup- Bernd, 25, wenn er den Fernsehturm pierungen wie Pegida in Dresden gegen sieht. Er hat während seiner Kindheit gekommensein will sich bei den meisten Befragten nicht so recht einstellen. „In „Überfremdung“ und „Islamisierung“. in Berlin gelebt. Professor von Scheve Doch was steckt dahinter? Steht zwi- erzählt Ähnliches. Für ihn ist „Heimat“ Deutschland kann ich nichts für meine Zukunft planen, im Gegensatz zu früher schen der Unterscheidung von Gut- und dort, wo er aufgewachsen ist, und desin Syrien. Ich fühle mich hier nicht wohl, Wutbürgern dann vielleicht eigentlich wegen kann er auch nicht nachvollzieda ich das Gefühl habe, nur Flüchtlinge die Angst vor einem Heimatverlust? „Die hen, wie Geflüchtete das ändern sollten. zu kennen“, erzählt uns Said. Aus den Idee, hier fände irgendeine Art von Is- Migration verändere demnach also Gelamisierung statt, ist natürlich Quatsch. sellschaften, politische Landschaften, Gesprächen kann man ableiten, dass noch viel getan werden muss, z.B. mit Wo soll denn das sein?“, fragt Christian die Vorstellung von Solidarität. Aber
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dass sich „Heimat“ durch Migration wandele, glaubt der Soziologe nicht.
DER UNTERSCHIED LIEGT IM BEGRIFF Als etwas, das nicht objektiv zu betrachten ist, kann Heimat also auch nicht durch Menschen aus anderen Kulturen verloren gehen. Wolfgang Kubicki hat in dieser Hinsicht trotzdem recht: Deutschland wird sich tatsächlich verändern. Genauso, wie sich Gesellschaften immer verändern, sich in einem dauerhaften Wandel befinden. „Veränderung ist nicht nur Teil des menschlichen Daseins, sondern auch essentielles Moment jeder Form von Sozialität“, erklärt von Scheve. In multireligiösen, multiethnischen und multikulturellen Gesellschaften müssen Wege des Miteinanders gefunden werden und das kann zu notwendigen Änderungen führen. Heimat jedenfalls muss nicht an einen Ort gebunden sein oder gar an eine Prozentzahl von Migranten und Migrantinnen in der Bevölkerung. Heimat ist vielleicht einfach nur, wo man gern ist. Ganz nach dem Motto „Home is where your dog is“. Nun gilt es für viele Hergezogene nur, ihren Hund auch hier in Deutschland zu finden.
Laura Reisser 17, Nordheim Anne Eschenweck 19, Biberach an der Riss … haben beide im vergangenen Jahr eine zweite Heimat gefunden.
UNGEWISSE ZUKUNFT?
IN EINEM BERLINER FLÜCHTLINGSHEIM SCHEINT DIE LAGE FÜR DIE MEISTEN GEFLÜCHTETEN DÜSTER. WÄHREND SIE SEIT MONATEN AUF DIE MÖGLICHKEIT WARTEN, ASYL ZU BEANTRAGEN, SCHEINEN ZUKUNFTSTRÄUME WEIT WEG ZU SEIN. LENA TOMALIK HAT SICH MIT DEN WÜNSCHEN UND PERSPEKTIVEN VON GEFLÜCHTETEN BEFASST.
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eit acht Monaten ist ein 25-jähriger Syrer nun schon arbeitslos, seit sieben Monaten wartet er auf einen Platz im Sprachkurs. Sein größter Wunsch sei, Deutsch zu lernen. Denn nur so könne er besser wissen, was er machen kann.
Das Problem: Ohne Sprachkurs und Informationen vom Sozialamt darf er nicht arbeiten. Ohne Arbeit gebe es keine Perspektive für ihn, denn als junger Mann bedeutet Arbeit die Existenzsicherung. Zurück in seine Heimat Syrien möchte er
aber auf jeden Fall. „Aber erst, wenn der Zustand im Land wieder besser ist.“
KEINE ZUKUNFT IN SYRIEN Ganz anders geht es Suhad, einer 34-jährigen Syrerin. Sie ist vor einem Jahr nach Deutschland geflohen und wartet auf eine Aufenthaltsgenehmigung. Ihr Heimatland verließ sie allein, ihr Mann starb, als sie Brot kaufen war. Seitdem ist sie verzweifelt: „Ich will nur Ruhe ohne Krieg, aber der Krieg ist immer in meinem Kopf. Ich sehe tote Leute und habe ständig Angst. Ich kann nicht mehr träumen“, sagt sie. Nach Syrien möchte sie nicht zurückkehren, dorthin zieht sie nichts mehr zurück. Ihr Ziel ist ein neues Leben in Deutschland mit einem Haus und Kindern.
ge in Deutschland gestellt, eine Steigerung um mehr als 150 Prozent. Davon stammen fast 36 Prozent der Erstanträge von Menschen aus Syrien. In den Jahren 2004 bis 2011 lag die Zahl der Zuzüge von Asylsuchenden jeweils unter 50 000. Nichtsdestotrotz haben in demselben Jahr auch gut 37 000 Menschen im Rahmen staatlicher Förderprogramme Deutschland freiwillig verlassen, um in ihre Heimat zurückzukehren. Die Programme übernehmen Reisekosten und geben Starthilfen in den Rückkehrländern. Neben Asylsuchenden aus Albanien, dem Kosovo und Serbien kehren nun auch Geflüchtete aus dem Irak und Afghanistan wieder vermehrt in ihre Heimat zurück.
MEHR ASYLANTRÄGE, ABER AUCH MEHR RÜCKKEHRER
WAS BRINGT DIE ZUKUNFT?
Foto: Mohamad Osman
Lena Tomalik 17, Solingen
Alle Geflüchteten stehen früher oder später vor der Frage, ob sie in ihre Heimat zurückkehren oder sich in Deutschland ein neues Leben aufbauen. Laut dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) wurden 2015 mehr als 475 000 Asylanträ-
… hat keine Angst vor einer ungewissen Zukunft.
GESEHEN, GETAN, ERLEBT UND GESCHWIEGEN
NUR WENIGE GEFLÜCHTETE ERZÄHLEN, WIE IHRE FLUCHT WIRKLICH ABGELAUFEN IST. WARUM IST DAS SO? JAN HENDRIK BLANKE SUCHT NACH ANTWORTEN.
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m Jahr 2011 reist Kingsley mit seinem Bruder zusammen über Italien nach Deutschland. Ein Jahr später kommen die Schwestern Nor und Ahlam über Griechenland nach Dortmund. Diese Vier haben eines gemeinsam. Sie mussten im Alter von nur 15 Jahren aus ihren Heimatländern fliehen.
VERSCHWIEGENE SCHICKSALE Im Jahr 2002 verlässt Kingsley sein Haus in einem Dorf in Liberia zum letzten Mal. Die Rebellenarmee Revolutionary United Front hat seine Eltern ermordet und entführt nun die Brüder, um sie als Kindersoldaten zu missbrauchen. Zwei Wochen später gelingt ihnen die Flucht nach Guinea. Von dort flüchten sie nach Libyen und nach harter Kinderarbeit auf einer Kakaoplantage weiter nach Italien. Nor und Ahlam, zwei Schwestern aus Aleppo, reisen mit ihren Eltern mit dem Boot über Ägypten und Libyen nach Italien. Die beiden betteln in Genua auf der Straße, um Geld für Zugtickets zu sammeln und stehlen Kleidung, um bei den Zollkontrollen nicht aufzufallen. Nur wer saubere und ordentliche Kleidung trägt, hat eine Chance, nicht kontrolliert zu werden. Von Genua aus kämpfen sie
sich durch, fahren mit Regionalzügen über Frankreich nach Deutschland. Geschichten, wie sie viele Geflüchtete erlebt haben, aber nur wenige erzählen – vor allem nicht in der Öffentlichkeit. So erzählte auch Nor zu Beginn ausweichend: „Es war nicht ganz leicht, nach Deutschland zu kommen.“ Oder: „Die Zugfahrt nach Deutschland war schwierig, wir mussten uns ordentlich anziehen.“ Durch die gesprochenen Verharmlosungen verdrehen sie oft die Tatsachen der Flucht und vermitteln der Öffentlichkeit ein verzerrtes Bild. Diese vier stehen stellvertretend für viele Geflüchtete, die sich aus vielschichtigen Gründen nicht trauen, ihre wahren Geschichten zu erzählen. „Die von den Flüchtlingen erzählte Geschichte muss so passend sein, dass diese ermöglicht einen Schutzstatus zu erhalten“, erklärt Professor Jochen Oltmer vom Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien an der Universität Osnabrück. Um einen Schutzstatus zu erhalten, muss nach Asylgesetz zwar „nur“ glaubhaft versichert werden, dass der Antragsteller aufgrund der eigenen Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten
sozialen Gruppe verfolgt wird. Jedoch werden hohe Ansprüche an den Nachweis der Verfolgung gestellt. Aufgrund der Regelungen zu sicheren Drittstaaten und der Erweiterung der sicheren Herkunftsstaaten wird es für Geflüchtete immer schwieriger, einen Fluchtweg zu finden, der es ermöglicht, eine Asylberechtigung in Deutschland zu erhalten. Vor allem auf der Flucht begangene Straftaten können den Asylantrag erschweren. „Jeder Flüchtling hat gegenüber dem Land, in dem er sich befindet, Pflichten, zu denen insbesondere die Verpflichtung gehört, die Gesetze und sonstigen Rechtsvorschriften […] zu beachten“, besagt Artikel 2 der Genfer Flüchtlingskonvention. Eine Pflicht, gegen die zum Beispiel Nor und Ahlam in Italien verstoßen haben.
krankt. Nach Schätzungen der Kammer werden jedoch nur zehn bis zwanzig Prozent der Betroffenen behandelt. Die nicht behandelten Traumata paaren sich mit der Vorstellung vieler Geflüchteter, dass im friedlichen Deutschland eine Biographie wie die ihre als Makel wahrgenommen wird. Eine offene, tolerante deutsche Gesellschaft könnte die Hemmschwelle für Geflüchtete herabsetzen und ihnen Mut machen, ihre Geschichten zu erzählen. Was müsste uns zustoßen, damit wir uns wie so viele Geflüchtete unserer Vergangenheit entledigen wollen? Eine Frage, die wir uns viel zu selten stellen.
UNBEHANDELTE TRAUMATA Neben diesen Faktoren spielen Fluchttraumata eine entscheidende Rolle für das Verschweigen der tatsächlichen Fluchterlebnisse. Viele Geflüchtete sind gar nicht in der Lage über das Erlebte zu sprechen. Nach einer Studie der Bundespsychotherapeutenkammer aus dem Jahr 2015 ist die Hälfte der Geflüchteten psychisch er-
Jan Hendrik Blanke 19, Essen ... hat beim JMWS ein Herz erobert #herzausherz.
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SMARTER LEBENSRETTER
FÜR MENSCHEN AUF DER FLUCHT SIND SMARTPHONES KEINE LUXUS- ODER STATUSSYMBOLE, SONDERN VIELMEHR KOMMUNIKATIONSMITTEL, NAVIGATIONSGERÄTE, REISEFÜHRER, ÜBERLEBENSGUIDES UND DOKUMENTENSPEICHER. BEATRICE PIEPER ZEICHNET ANHAND EINES FIKTIVEN BEISPIELS – BASIEREND AUF VIELEN WAHREN BEGEBENHEITEN – NACH, WIE SMARTPHONES DEN MENSCHEN AUF DER FLUCHT DEN WEG WEISEN. UND OFT AUCH DAS LEBEN RETTEN.
Foto: Mohamad Osman
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eptember 2015: Ahmad lebt in Aleppo, er ist 19 Jahre alt. Seine Familie wohnt mittlerweile in ärmlichen Verhältnissen, täglich werden durch den Krieg Teile der Stadt zerstört. Seine Freunde verlassen nach und nach das Land oder sind tot. Lange hat er gespart, um auch bald gehen zu können. Er will nach Hamburg zu seinem Onkel.
SYRIEN In wenigen Tagen soll sie losgehen, die Reise nach Europa. Ahmad scannt dafür seinen Personalausweis sowie alle Bescheinigungen und Zeugnisse ein, die er besitzt. Anschließend lädt er sie in einen online-basierten Dropbox-Ordner hoch, auf den er überall auf der Welt zugreifen kann. So kann er seine Identität und seine Qualifikationen nachweisen, auch wenn er diese Papiere auf der Flucht verlieren sollte. Dann kommt die größere Herausforderung: Er muss jemanden finden, der ihn nach Damaskus, durch den Libanon und dann in die Türkei bringt. Angebote für diese Route gibt
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es mittlerweile viele. Auf Empfehlung seiner Freunde sucht Ahmad in privaten Facebook-Gruppen nach Schlepperbanden und fordert von ihnen Angebote an. Es zählt das beste Preis-Leistungs-Verhältnis. Um eine Entscheidung zu treffen, nutzt er andere geschlossene Facebook-Gruppen, in denen er sich mit bereits Geflüchteten über „seriöse Schmuggler“ austauscht. Die Wahl fällt auf einen „Booker“, der ihm diese Strecke für 220 US-Dollar anbietet. Am nächsten Morgen ist es so weit. Ahmad packt Geld, Ausweisdokumente und sein Smartphone mit Ladekabel ein. Er hat extra einen mobilen Akku besorgt, der für circa fünf bis acht Ladungen reicht. Von Bekannten hat er auch den Tipp bekommen, ein Kilo Datteln mitzunehmen, von dem er sich einige Tage ernähren kann, sowie Wasser und einen Schlafsack. In die Zwischenräume seiner Tasche quetscht er noch Unterwäsche, Kohletabletten gegen Durchfall und Plastiktüten, in die er sein Smartphone während der Fahrt mit dem Boot wickeln kann.
dings nicht so viel Geld besitzt, entscheidet er sich für eine Fahrt mit dem Boot nach Griechenland für 1 300 zuzüglich 50 US-Dollar Versicherung. Diese garantiert ihm bei polizeilicher Verhinderung seines Fluchtversuchs, dass er den Anspruch auf eine zweite Fluchtchance bei diesem Schlepperring hat. Auch bei dieser Auswahl hilft ihm wieder eine Facebook-Gruppe. Eine Nutzerin hat ihn davor gewarnt, allzu günstigen Angeboten zu trauen. Einige Schmugglerinnen und Schmuggler sollen Gerüchten zufolge die Flüchtenden nachts in einem Zimmer TÜRKEI unterbringen, in dem sie diejenigen töNach etwa 20 Stunden erreicht er Izmir, ten und anschließend mit deren Organen eine fast 1500 Kilometer von Damaskus handeln. entfernte türkische Küstenstadt. Dort geht Die Nacht verbringt Ahmad in der junge Syrer in eines der berüchtigten einem Hotelzimmer zusammen mit zehn Cafés, in denen sich Schlepperinnen und anderen syrischen Flüchtenden. Einige Schlepper aufhalten. Sie bieten ihm ver- von ihnen haben versucht, eine Weile schiedene Reiseoptionen an. Ein Flug in der Türkei zu leben. Dabei hat ihnen aus der Türkei oder Griechenland nach „Gherbetna“ geholfen. Die App richtet Hamburg inklusive eines gefälschten sich insbesondere an Syrerinnen und SyAusweises würde zwischen 5 000 und rer, die in die Türkei fliehen. „Gherbetna“ 10 000 US-Dollar kosten. Da Ahmad aller- bedeutet so viel wie „unser Heimweh“
Am nächsten Morgen geht Ahmad zum vereinbarten Treffpunkt. An der Straße steht ein in die Jahre gekommener Transporter. Er steigt ein, nickt dem Fahrer zu und gibt ihm den vereinbarten Geldbetrag. Mit ihm im Van sind noch drei weitere Männer in seinem Alter. Alle schauen während der Fahrt schweigend aus dem Fenster. Sie verlassen Aleppo, vielleicht für immer. Seiner Familie hat Ahmad versprochen, dass er mit ihnen via WhatsApp in Kontakt bleibt.
GRIECHENLAND Am nächsten Morgen um neun Uhr holt ein Van Ahmad und die anderen Flüchtenden ab. Er fährt einige Stunden die Küste entlang und hält dann im Nirgendwo. Die Syrer müssen aussteigen. Der Fahrer nennt ihnen die Koordinaten, zu denen sie laufen sollen, und fährt weg. Mit Hilfe von GPS und „MAPS.ME“, einer App, die offline Karten der ganzen Welt zur Verfügung stellt, erreicht Ahmad mit seiner Gruppe nach einem ein- bis zweistündigen Fußmarsch ein verlassenes Stück Strand. Nach einer Weile taucht ein Schlepper auf – sowie viele weitere Menschen, die ebenfalls mit dem Boot nach Griechenland übersetzen wollen. Ahmad gibt dem Mann einen Packen Geldscheine und der Händler verschwindet wieder. Gemeinsam mit etwa 80 weiteren Menschen steigt Ahmad vorsichtig in das sieben Meter lange Boot. Keiner rührt sich, die nächsten zwei Stunden lang. Ahmad hat Angst – laut der App „Sea conditions“ soll es sehr stürmisch werden. Die Vorhersage bewahrheitet sich: Durch die hohen Wellen gelangt immer mehr Wasser in den Innenraum. Das Boot droht zu kentern, kurz vor dem Ziel. Eine andere Passagierin schickt daraufhin den Standort des Bootes per WhatsApp an einen Freund auf dem Festland. Dieser postet ihn bei
Facebook, um die Küstenwache darauf aufmerksam zu machen. Mit Erfolg: Sie werden gerettet. Ein kleines Schiff nimmt sie mit nach Griechenland. Wo genau Ahmad ist, weiß er nicht. Doch das ist ihm in diesem Moment egal – er hat es geschafft. Er ist in Europa.
SERBIEN
Beispiel vor Minenfeldern des ehemaligen Balkankrieges zu warnen. Von Budapest nehmen sie sich zu neunt ein Taxi. 5 000 US-Dollar verlangt der Fahrer, der Ahmad und die anderen einige Kilometer vor der Grenze zu Österreich absetzt. Bei Verhandlungen über den hohen Preis zückt der Taxifahrer eine Waffe. Er bekommt das verlangte Geld und verschwindet.
Von der griechischen Küste läuft Ahmad DEUTSCHLAND mit einer Gruppe über Athen und Mazedonien bis zur serbischen Hauptstadt Der Rest der „Geschichte“ ist schnell Belgrad – insgesamt über 1 000 Kilo- erzählt: Ahmad kommt in Wien an und meter. Dort gibt es eine Anlaufstelle für nimmt einen Zug nach Hamburg. 21 Flüchtende namens „Miksaliste“. Von Tage hat die Flucht gedauert. MittlerweiEhrenamtlichen erhält Ahmad Nahrung, le sind vier Monate vergangen und er Getränke, Hygieneartikel, Kleidung und wohnt nicht mehr bei seinem Onkel. In einen W-LAN-Zugang. Außerdem hat er einer Berliner WG hat eine neue Bleibe die Möglichkeit, sein Smartphone sowie gefunden, zusammen mit drei deutschen den mobilen Akku aufzuladen. Sobald er Studenten. Gefunden hat er die Jungs bei sich in das W-LAN einwählt, wird er au- „Refugees-welcome.net“. Die Plattform tomatisch auf eine Seite geleitet, die ihm vermittelt Zimmer zwischen Wohnungseinen Überblick gibt, wie viel eine Taxi- bietenden und Geflüchteten und hilft bei fahrt, öffentliche Toiletten und Lebens- der Finanzierung der Miete. Auf der Seite kann Ahmad auch Ansprechpartner finmittel durchschnittlich kosten. Ahmad helfen diese Informationen, um nicht auf den, wenn er Probleme mit der WG hat. Hier in Deutschland stehen dem Syüberhöhte Preise hereinzufallen. Denn rer im Internet alle Möglichkeiten offen, viele Einheimische nutzen die Situation die auch wir ständig benutzen – von der der Geflüchteten aus. DB-App bis zu „KaufDa“. Die Anwendung „Duolingo“ hilft ihm beim DeutschUNGARN lernen. Nur eine Funktion hat Ahmads Von Belgrad geht es für 50 US-Dollar wei- Smartphone in Berlin verloren: die des ter zur Grenze nach Ungarn. Der Grenz- Lebensretters. beamte verwehrt ihnen die legale Einreise, verweist jedoch auf ein Loch im Zaun 200 Meter weiter. Durch dieses schlüpft Beatrice Pieper, Ahmad illegal nach Ungarn, weil ihm 19, Berlin keine andere Möglichkeit bleibt. Mit der Unterstützung eines Schleppers und nach … sind inzwischen ihre einem langen Fußmarsch erreicht die 15 ungenutzten FitnessApps peinlich. Gruppe schließlich Budapest. Geholfen hat Ahmad dabei vor allem die App „InfoAid“, von ungarischen Ehrenamtlichen kreiert, um Flüchtende zum
Foto: Beatrice Pieper
und ist von Mojahed Akil entwickelt worden. Der Programmierer ist selbst aus Syrien in die Türkei geflohen. Mit der Anwendung will er anderen Flüchtenden bei den zahlreichen Formalitäten helfen. Es gibt zum Beispiel eine Schritt-für-SchrittAnleitung, wie man eine Arbeitserlaubnis bekommt. Ebenfalls ist es möglich, über die App nach Angeboten für Sprachkurse und nach Flüchtenden in der Nähe zu suchen.
IN LUFT AUFGELÖST IM GESPRÄCH MIT
DEM GEFLÜCHTETEN AHMED MERKT LINDA GURSKI, DASS SIE EIN VORURTEIL GEGENÜBER GEFLÜCHTETEN HATTE – OHNE ES ZU WISSEN. WIE GEHT DAS?
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n der Kleiderkammer der Erstaufnahmestelle in Meßstetten arbeitet der 25-jährige Ahmed. Er ist vor einigen Wochen aus dem Irak nach Deutschland geflohen und einer der Wenigen, die gut Englisch sprechen. Viel Geld bekommt er für seine Arbeit nicht. „Ich will anderen Menschen helfen, wie sie mir geholfen haben“, sagt er. Ich merke, dass etwas in mir vorgeht – ich bin darüber überrascht. Komisch – ich hatte scheinbar das Vorurteil, dass Geflüchtete gar nicht arbeiten wollen und habe es nicht gewusst. Wie geht das?
DER ERSTE SCHRITT IST SCHWER Das ist der Klassiker: Uns ist nicht bewusst, dass wir Vorurteile haben. Zum Beispiel, dass ein Geflüchteter auch ein Arzt sein kann. Im Gespräch passiert dann der Bruch, wir merken, dass wir
voreingenommen waren. „Aber das ist damit die Gruppenmitglieder auf oder schon mal der erste Schritt zur Verbes- ab. Meist treffe es Menschen, die als serung“, erklärt Beate Küpper, Professo- ‚anders‘ gewertet würden. Geflüchtete rin für Soziale Arbeit an der Hochschule stünden derzeit stellvertretend für ‚die Niederrhein. Fremden‘ und alle Stereotype, die wir Wir trügen Vorurteile tief in un- über diese Gruppe hätten, würden auf seren Gedanken, etwa, weil wir sie von Geflüchtete übertragen. den Eltern mitbekommen hätten und Mit den Worten des VorurteilsforMedien sie verstärkten. Sie zeigten Bil- schers Gordon W. Allport lässt sich sagen: der, die Vorurteile bedienen und durch „Ein Vorurteil ist, von anderen ohne ausdie Häufigkeit, mit der Vorurteile in reichende Begründung schlecht denken.“ Medien vorkommen, würden sie ihre Wirkung entfalten. „Denn das, was wir WAS NICHT PASST, WIRD häufig hören, bleibt hängen. Das ken- AUSGEBLENDET nen wir vom Vokabeln lernen“, sagt Vorurteile steuern unsere Wahrnehmung. Küpper. Aber wie entstehen diese Vorur- „Wir nehmen nur das wahr, was wir erteile überhaupt? Ein Vorurteil könne warten. Vorurteile geben uns die Bilder sich gegen jeden richten, den man einer vor, vor deren Folie wir dann Menschen Gruppe zuweist, die man nicht als die wahrnehmen und einordnen“, erklärt Beate Küpper. Was nicht ins Bild passt, eigene wahrnehme. Der eigenen Gruppe würden positivere Eigenschaften zuge- wird ausgeblendet. Deshalb ist es schwer, wiesen als den anderen. Sie werteten dagegen zu argumentieren.
Ich bemerke, wie sich mein Vorurteil im Gespräch mit Ahmed immer mehr in Luft auflöst. Ich versetze mich in seine Lage: Wie ist es wohl, aus der Heimat zu fliehen, weil dort Krieg herrscht? Und dann in einem Land anzukommen, in dem du nicht erwünscht bist?
Linda Gurski 19, Albstadt … reflektiert jetzt über ihre Vorurteile.
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»ES IST NICHT NICHTS PASSIERT«
KENANA KOUKEH IST VOR ZWEI JAHREN MIT IHRER FAMILIE AUS IRBIN IN SYRIEN GEFLÜCHTET UND EIGENTLICH DAS PERFEKTE BEISPIEL FÜR GELUNGENE INTEGRATION. DOCH VON PERFEKTION IST IHR LEBEN WEIT ENTFERNT. STEFANIE HUSCHLE HAT SIE BEGLEITET.
LIEBLINGSORT: AN SCHÖNEN TAGEN VERBRINGT KENANA GERNE ZEIT IN DEN SCHREBERGÄRTEN AM STADTRAND VON FREIBURG.
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s ist das Jahr 2010: Ein heißer Sommerabend in Irbin, Syrien. Eine fünfköpfige Familie hat es sich auf dem Balkon gemütlich gemacht. Der Vater erzählt eine Geschichte. Drei Jahre später: Die 13-jährige Kenana steht auf demselben Balkon und träumt von besseren Zeiten. In der Dunkelheit sieht sie, wie unter ihr Kugeln durch die Luft schießen. Menschen sterben. Seine Geschichten erzählt Kenanas Vater nun im Keller. Dort ist es sicherer und kühler. Die Klimaanlage funktioniert nicht, denn Strom gibt es schon lange nicht mehr. Zu Beginn der Sommerferien geht die Familie nach Ägypten, weil es dort sicherer ist. Fünf Tage später steht in Syrien ihr Haus in Flammen. Familie Koukeh hat Glück im Unglück. Doch auch in Ägypten wird unter dem damaligen, islamistischen Präsidenten Mohammed Mursi auf Demonstranten geschossen, Tränengas zieht in die neue Wohnung. Die Familie findet keinen Frieden und flüchtet nach Deutschland.
»ICH MUSS NOCH VIEL LERNEN« Kenana ist mittlerweile 17 Jahre alt und wohnt in Freiburg im Breisgau. Sie besucht seit acht Monaten die zehnte Klasse eines Wirtschaftsgymnasiums. An diesem Tag hält sie einen Vortrag über Syriens Wirtschaft im Krieg. Souverän und ohne Notizen erklärt sie ihren Mitschülern und Mitschülerinnen, was die Begriffe Bruttoinlandsprodukt, Inflation und Kriegswirtschaft bedeuten. Sie wirkt nicht aufgeregt.
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Zwischendurch zupft sie ihr weißes Kopf- sie. „In der Zukunft würde ich gerne tuch zurecht, damit ihr schwarzer Haar- ein gutes Unternehmen führen, einen ansatz verdeckt bleibt. Als Kenana zurück Mann, den ich liebe, und Kinder haben an ihren Platz geht, reckt ein Junge den – hoffentlich glücklich sein. Vielleicht in Daumen nach oben. Deutschland.“ Für Kenanas Mitschüler und Mit„Um das zu erreichen, muss ich aber schülerinnen ist ihre Vorgeschichte nicht noch viel lernen“, sagt sie überzeugt. greifbar. Die einzige Frage, die ihr nach Manchmal leiht Kenana sich in der Stadtihrem Vortrag gestellt wird, zeigt, dass bibliothek Filme aus, um ihr Deutsch zu sich die Jugendlichen in Kenanas Klasse verbessern. „Weil ich keinen Computer wohl noch nie näher mit den Themen habe, gehe ich in der Bibliothek auch ins Naher Osten, Krieg oder Tod beschäftigt Internet, schaue mir dort Videos über das haben: „Fliehen die Menschen aus Syrien Weltall an, mache etwas für die Schule wegen der schlechten Wirtschaft oder we- oder höre Lieder“ – vor allem amerikagen des Krieges?“ nische Pop-Balladen. Kenana geht mit ihrer sanften, hoKenanas Lieblings-Eissorte dunkle hen Stimme auf die Frage ein: „Wegen Schokolade schmeckt bittersüß, passend beidem.“ Wenn die Wirtschaft wegen zur Stimmung. Der Tag ist toll und von des Krieges schlecht sei, könnten sich die außen betrachtet geht es Kenana gut. Menschen kaum noch Essen oder Medi- Doch über ihr liegt eine Schwere, die kamente leisten. „Meine allerbeste Freun- nicht zu ihren 17 Jahren passt. Die Verdin ist deswegen gestorben.“ gangenheit hat sie geprägt und verändert. In der Mittagspause fährt Kenana mit dem Fahrrad zu den Schrebergärten »MAN BRAUCHT SPASS am Stadtrand – einem ihrer Lieblings- IM LEBEN« orte. Es ist ein warmer Frühlingstag, der Himmel ist blau. Ob der Rentner, der Kenana erzählt, dass an diesem Morwegschaut, als er an Kenana vorbeiläuft, gen ein Fußballwettkampf in der Schule stattfand. „Früher in Syrien hätte ich das einfach nur schlecht gelaunt ist, oder ob ihm das in der Sonne leuchtende Kopf- geliebt. In den letzten Jahren bin ich so tuch nicht gefällt? Die Antwort bleibt of- viel ernster geworden und nicht mehr fen. Ist auch egal, denn die Sonne macht ausgelassen. Das ärgert mich selbst. Man braucht Spaß im Leben.“ glücklich und es geht weiter zu Kenanas Kenana fehlen ihre Freunde. WähLieblingseisdiele. Auf den Stufen des Stadttheaters las- rend sie gerne philosophiert und kocht, sen sich beim Eisessen gut die vielen Stu- denken die meisten Mädchen in ihrem dierenden beobachten, die an diesem Tag Alter an Jungs und ans Shoppen. Die Sprache ist eine zusätzliche Barriere. Obwohl unterwegs sind. Nach dem Abitur möchte Kenana auch studieren. „Wirtschaft und sie schnell lernt, braucht sie sechs StunHandel interessieren mich sehr“, erzählt den zusätzlichen Deutschunterricht in der
Foto: Stefanie Huschle
Woche. Es fehlt die Zeit und oft auch die gemeinsame Basis, um Freundschaften zu schließen. Dadurch fühlt sie sich manchmal einsam und unverstanden: „Ich glaube, dass viele denken, wir hatten Glück und es ist ja nichts passiert. Aber es ist nicht ‚nichts‘ passiert“. Der Krieg sowie Unterschiede der Kulturen und Religionen geben der 17-Jährigen viel Denkstoff, lassen sie manchmal an ihren Überzeugungen zweifeln. In ihren blauen Augen sammeln sich Tränen: „Ich habe schon lange nicht mehr so mit jemandem gesprochen. Das tut richtig gut.“ Als Kenana an diesem Abend nach Hause kommt, freut sie sich auf ihre vier Geschwister. Ein Baby ist darunter, keine zwei Wochen alt. Später kommt ein freiwilliger Helfer und gibt Kenana Gitarrenunterricht. Sie übt den G-Akkord. Hinter ihr hängt ein Bild, das sie selbst gemalt hat. Darauf zu sehen sind Vögel vor blauem Himmel, eine große gelbe Sonne und die syrische Flagge. Rechts unten im Bild umrahmen zwei Herzen die Worte: „Frei Syrien“.
Stefanie Huschle 20, Oberkirch ... kennt durch Kenana nun die beste Eisdiele ihrer Stadt.
GEFLÜCHTETE HELFEN SICH SELBST
HILFE FÜR GEFLÜCHTETE GIBT ES AN VIELEN STELLEN. DOCH ANGEBOT UND NACHFRAGE MÜSSEN AUCH ZUEINANDER PASSEN. WO SOLLTE DAS BESSER KLAPPEN, ALS IN VEREINEN, DIE GEFLÜCHTETE SELBST BETREIBEN? SOPHIE LAASS STELLT EINEN AKTEUR VOR, DER SICH IN ZWEI VEREINEN FÜR DIE RECHTE UND TEILHABE GEFLÜCHTETER EINSETZT.
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ehr als eine Million Geflüchtete kamen 2015 nach Deutschland. Diese Zahl stellt uns alle vor eine enorme Herausforderung. Wie geht man mit den hier ankommenden Migrantinnen und Migranten um? Wie kann man ihre Situation nachhaltig verbessern? Die Fragen sind nicht neu. Für einen 43-jährigen Nigerianer aber könnten sie aktueller kaum sein. Vor zehn Jahren floh Rex Osa aus seiner Heimat nach Deutschland. Hier hat er sich bald politisch engagiert: Geflüchtete wie er sollten gehört werden und die Hilfe erhalten, die sie brauchen. In den Selbsthilfe-Organisationen „Refugees4Refugees“ aus Stuttgart und „The Voice“ aus Jena engagiert er sich seitdem für die Rechte von Asylbewerberinnen und Asylbewerbern. Geflüchtete setzen dort auf eine in ihrer Situation essentielle Fähigkeit: Eigenverantwortung.
tisch – mit Beratungen zu Asylanträgen, gemeinsamen Behördenbesuchen und Aufklärung zu Rechten und Pflichten im Ausländer- und Sozialrecht. „Wir sind unsere eigenen Sozialarbeiter“, meint Osa. Sein Engagement sei für ihn eine Antwort auf die Ignoranz in der Gesellschaft. „Für mich ist klar zu sehen, dass der Status Quo hier auf rassistischer Überheblichkeit basiert“, beschreibt Osa die Lage. Ziele von „The Voice“ sind unter anderem
die Abschaffung der Residenzpflicht, ein Bleiberecht ohne Abschiebung und mehr Aufmerksamkeit für die isolierte Situation in Erstaufnahmeeinrichtungen. Es ist ein weiter Weg dahin, aber dem 43-Jährigen gelinge es zunehmend, die Debatte in die Öffentlichkeit zu tragen. „Wir sind sichtbarer geworden“, meint der Nigerianer. In Deutschland habe sich das Flüchtlingsthema zu einem eigenen Markt entwickelt. Nach Osas Ansicht werden Mi-
grantinnen und Migranten zu oft für die Ziele Anderer instrumentalisiert. „Es ist schwer herauszufinden, wer auf unserer Seite ist”, sagt Osa. Die Zusammenarbeit mit deutschen Hilfsorganisationen findet für ihn viel zu oft von oben herab statt. Die Frage ist für ihn: Wie wird daraus Solidarität auf Augenhöhe? Rex Osa hat darauf eine eigene Antwort gefunden. Unabhängig vom Staat möchte er mit anderen Geflüchteten ein Parlament gründen. Es soll ein Platz werden, an dem sie sich informieren und austauschen können, ohne auf nationale, kulturelle oder religiöse Hindernisse zu stoßen. Ein guter Anfang, denkt Osa: „Unsere Präsenz macht den Unterschied.”
»WIR SIND UNSERE EIGENEN SOZIALARBEITER« Die Vereine arbeiten nach dem Motto: Niemand verlässt sein Land ohne Grund. Mit Aktionstagen und Kampagnen machen sie auf die Situation von Geflüchteten aufmerksam. „Refugees4Refugees“ unterstützt aber auch ganz prak-
Sophie Laaß 20, Dessau ... denkt, dass sich Frauen auch mit Kopftuch für ihre Rechte einsetzen können. NICHT NUR DEUTSCHE, AUCH GEFLÜCHTETE ENGAGIEREN SICH.
Foto: Mohamad Osman
FRUCHTFLEISCH Wonach schmeckt Heimat?
MEINE HEIMAT SCHMECKT NACH FETT UND KIBBE (ARABISCHE FLEISCHKUGELN).
FRANK PLASBERG, 58 JAHRE, MODERATOR NACH PILLEKUCHEN, MEINEM LIEBLINGSGERICHT. DAS IST FAST DASSELBE WIE TORTILLA. WENN ICH IN SPANIEN URLAUB MACHE, IST TORTILLA MEIN LIEBLINGSGERICHT.
Foto: Alisa Sterkel
Foto: Julia Kleene
Foto: Inga Dreyer
OMAR SHEIKH DIEH, 26 JAHRE, FREIER VIDEO-REDAKTEUR
»YAPRAK«
»PILLEKUCHEN«
»FLEISCHKUGELN«
MJD WAEL KILMITTO, 16 JAHRE FÜR MICH HAT HEIMAT DEN GESCHMACK VON YAPRAK (WEINBLÄTTER GEFÜLLT MIT HACKFLEISCH UND REIS), MEIN ABSOLUTES LIEBLINGSESSEN AUS SYRIEN.
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ARBEITEN? JA BITTE!
B E G RI F F
IN|TE|GRA|TION, DIE
ENTGEGEN MANCHEM VORURTEIL WOLLEN VIELE GEFLÜCHTETE SCHNELL ARBEITEN UND EIGENES GELD VERDIENEN. ARRIVO BERLIN VERHILFT IHNEN ZU PRAKTIKA UND BEREITET SIE AUF JOBS VOR. LILLY GRÜNMÜLLER HAT DIE INITIATIVE IN BERLIN BESUCHT.
Müssen sich Geflüchtete deutsche Werte aneignen? Samia Mohammed geht der Herkunft dieser Forderung auf den Grund. Bei der Frage, was Integration bedeutet, klingt eine zweite mit: Integration in was? Wenn Menschen von Leitkultur und gemeinsamen Werten sprechen, sei nach Holger Ziegler von der Universität Bielefeld damit eine Tugendgemeinschaft gemeint. Integration würde nach diesem Verständnis bedeuten, dass die typischen Werte der Gesellschaft übernommen werden.
mer und Teilnehmerinnen können hier bereits feststellen, welche Bereiche ihnen besonders gut liegen und somit Ideen für mögliche Tätigkeiten sammeln. Im Innungsfachkurs – dem dritten der Module – lernen sie bestimmte Gewerbe genauer kennen. Wenn die Teilnehmenden bereit sind, sucht Arrivo im Betriebsnetzwerk nach einem geeigneten Unternehmen und stellt den Kontakt her. Gefördert werden die Übungswerkstätten von dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales sowie aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds.
MYTHOS DER HOMOGENEN KULTURGEMEINSCHAFT
Samia Mohammed 19, Borgholzhausen ... war trotzdem immer pünktlich bei den Redaktionssitzungen.
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INTEGRATION BEGINNT BEI DER ARBEIT
Foto: Anna Rakhmanko
Viele sagen Deutschen Pünktlichkeit als einen solchen Wert nach. Er ist Teil des deutschen Verständnisses einer Tugendgemeinschaft, ohne dass er im Gesetz verankert ist. Wolfgang Kabuscha vom Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung sieht hinter dieser Idee ein Problem. Seiner Aussage nach existiere eine allgemeine Kultur nicht, weil Deutschland keine homogene, sondern eine vielfältige Gesellschaft sei. Es sei also nicht möglich, sich an eine deutsche Tugendgemeinschaft anzupassen – denn auch innerhalb Deutschlands gebe es unterschiedliche Wertvorstellungen. Nicht für alle Deutschen sei Pünktlichkeit zentral, diese Eigenschaft könne demnach nicht pauschal von Flüchtlingen verlangt werden. Eine Alternative dazu zeigt Holger Ziegler auf, indem er der Integration ein anderes Nationenbild zugrunde legt. Aus seiner Sicht sei es eine demokratische Errungenschaft, dass wir eine Nation als Rechtsgemeinschaft verstehen. Eine Rechtsgemeinschaft definiere sich durch ihren gesetzlichen Rahmen. Maßgeblich für das Einfinden, also die Integration in diese Gemeinschaft, sei demnach die Einhaltung geltenden Rechts, nicht etwa individuelle Wertvorstellungen. „Ein formal-demokratisches Institutionenwesen guckt nicht, ob ich die Einzelperson gern bei mir im Wohnzimmer hätte”, sagt Ziegler. Auf die Frage, in was sich Flüchtlinge integrieren sollen, ist die Tugendgemeinschaft den beiden Wissenschaftlern zufolge also keine Antwort. Vielmehr müssten alle Menschen sich an Gesetze halten, wenn sie Deutschland zu ihrer Heimat machen wollen. Darüber hinaus dürften sie ihr Leben frei und selbstbestimmt gestalten – so wie es eine Demokratie vorsieht.
HILFE FÜR GEFLÜCHTETE BEI DER JOBSUCHE: FLYER VON ARRIVO BERLIN
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ie Arbeit ist ein wichtiger Teil im Integrationsprozess“ erklärt Jona Krieg, ein Mitarbeiter der Initiative Arrivo Berlin. „Dennoch ist es schwer für Geflüchtete im Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, da sie das Arbeitsmarktsystem nicht kennen.“ Seit dem 6. November 2014 gilt: Geduldete und Geflüchtete mit erfolgreichem Asylverfahren können nach drei Monaten beginnen, sich für Jobs und Praktika zu bewerben. Sie brauchen jedoch eine Erlaubnis der Ausländerbehörde und die Zustimmung der Zentralen Auslands- und Fachvermittlung.
UNTERSTÜTZUNG BEI DER SUCHE NACH EINEM JOB Die Gesetzesänderung war der Anlass für die Gründung von Arrivo Berlin – einer gemeinsamen Initiative der Senatsverwaltung für Arbeit, Integration und Frauen, der Handwerkskammer Berlin, dem Berliner Netzwerk für Bleiberecht „bridge" und dem Internationales JugendKunstund Kulturhaus „Schlesische27“. Sie hat es sich zum Ziel gesetzt, Geflüchtete bei
der Vorbereitung auf ein Praktikum und bei der Suche nach einer Arbeitsstelle zu unterstützen. Die Initiative vermittelt Geflüchtete für drei- bis sechswöchige Praktika in Betriebe und bereitet sie mit Hilfe von Kursen und Werkstätten auf eine berufliche Tätigkeit vor.
ÜBUNGSWERKSTÄTTEN UND DEUTSCHUNTERRICHT Im Rahmen des Projekts „Übungswerkstätten“ werden die Geflüchteten gezielt auf Handwerksberufe vorbereitet und mit den lokalen Arbeitsstrukturen vertraut gemacht. Die Werkstätten werden von den Teilnehmenden im Durchschnitt über einen Zeitraum von drei bis vier Monate besucht. Sie bestehen aus drei verschiedenen Modulen, die alle zwei Wochen wechseln. Im Berufssprachkurs erhalten die Geflüchteten intensiven fachspezifischen Deutschunterricht. Die hauseigenen so genannten Einführungswerkstätten ermöglichen einen Einblick in die praktische Arbeitswelt und den Umgang mit verschiedenen Werkzeugen. Die Teilneh-
Von der Arbeit der Initiative profitieren alle Beteiligten – sowohl die Geflüchteten als auch die Unternehmen. Letztere klagen in den vergangenen Jahren zunehmend über einen Mangel an Auszubildenden. Es gibt nur wenige Bewerberinnen und Bewerber und viele Stellen bleiben in Folge dessen unbesetzt. „Der demografische Wandel ist ein entscheidender Grund“, erläutert Jona Krieg. „Es gibt immer weniger Jugendliche, die eine Ausbildung beginnen können oder möchten.“ Durch die Vermittlung von Geflüchteten in Betriebe wirkt Arrivo diesem Mangel entgegen. Zwei Drittel der Teilnehmenden, die durch Arrivo ein Praktikum vermittelt bekommen, werden nach den drei bis sechs Wochen in den Betrieb übernommen und erhalten eine Ausbildung oder Anstellung. Dort können sie soziale Kontakte knüpfen und verdienen ihr eigenes Geld, was das Selbstbewusstsein und die Selbstständigkeit stärkt. Die Tätigkeit in einem Unternehmen trägt zudem einen großen Teil zur Integration der Geflüchteten in die Gesellschaft bei. Krieg erläutert: „Wenn zusammen an einem Projekt gearbeitet wird, stärkt es den Gruppenzusammenhalt und die Vorurteile und Hysterie, die die Flüchtlingsthematik bei einigen aufwirft, wird vergessen.“
Lilly Grünmüller 16, Neuseddin … möchte ihr Hobby zum Beruf machen.
AM ANFANG WAR DER BALL
IHR SPIELFELD WAR DIE DORFSTRASSE, OHNE FUSSBALLTORE UND SPIELFELDLINIEN. NUR MIT EINEM BALL LERNEN ZWEI JUNGEN IN AFGHANISTAN DAS KICKEN LIEBEN. JETZT SPIELEN SIE SEIT DREI MONATEN IN EINER BERLINER MANNSCHAFT. JAN JÜTTNER UND LUKAS GRUNDMANN HABEN DIE BEIDEN BEIM TRAINING BESUCHT UND IHRE GESCHICHTE ERFAHREN.
VOLLER FOKUS AUF DEM SPORT: MOSTAFA (MITTE) IST EIN LEBENDIGES BEISPIEL FÜR INTEGRATION.
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er 14-jährige Ahmad hebt seine rech- flohen vor Krieg, Zerstörung und Elend te Hand und nimmt im Laufen den aus ihrem Dorf. Pass an. Geschickt umkurvt er drei Gegenspieler und gibt den Ball an den Stür- ANGEKOMMEN UND mer weiter – Tor! Ahmad jubelt, klatscht AUFGENOMMEN? seinen Mitspieler ab. Schweiß rinnt von seiner Stirn. Die Sonne brennt auf den Der Fußball ist für sie ein alter Bekannter. Rasenplatz des SV Blau-Weiß Berolina. Gekickt haben sie auch in ihrer Heimat – und zwar auf der Straße, ohne RasenAhmad grinst über das ganze Gesicht. platz und Fußballtore. Mit einem Ball aus Er ist nicht der einzige Geflüchtete in der Berliner Mannschaft, auch Mostafa Flicken. Egal aus welchem Material – der spielt seit drei Monaten im Team. Seitdem Ball ist für die beiden Kicker mehr als ein sind die quirligen Afghanen kaum aus der Sportgerät. „Auf der einen Ebene dient Truppe wegzudenken. „Sie gehören zu der Fußball als Trostpflaster, um Trauden besten Spielern der Mannschaft, ich mata zu bewältigen. Auf der anderen Ebemöchte sie nicht mehr missen“, berichtet ne kann man durch ihn wichtige Kontakte knüpfen und sich in die Gesellschaft inTrainer Holger Kulick. tegrieren“, erklärt uns der Berliner SportMostafa lebt seit etwa eineinhalb psychologe Georg Froese. Jahren in Deutschland und spricht schon Zurück auf dem Platz. Während eierstaunlich gut Deutsch, sein Cousin ner kurzen Spielunterbrechung fragen wir: Ahmad hat erst vor fünf Monaten seine Heimat verlassen. Die beiden 14-Jährigen „Was gefällt euch am besten an Deutsch-
land?“ – „Der Fußball“, antwortet Mostafa breit grinsend. Durch den Zusammenhalt innerhalb der Mannschaft fällt die Integration in den Berliner Alltag leichter. Der Fußball ist eine willkommene Abwechslung zur Schule und all den neuen Eindrücken, die auf die Jungen einprasseln. Denn 22 Jugendliche, die zwischen zwei Toren einem Ball hinterherjagen, finden sich überall auf der Welt. Die Sprache spielt keine Rolle, das wird auch im Gespräch mit der ganzen Mannschaft deutlich. Skepsis hatten die wenigsten unter ihnen, als die neuen Mitspieler zum ersten Mal zum Training kamen. „Wichtig ist nicht, woher sie kommen oder wie sie aussehen, sondern ob sie der Mannschaft helfen können“, so die einstimmige Meinung unter den Jungs. Das zeigt sich auch beim heutigen Training. Ahmad hat alles gegeben. Er stützt die Arme in die Hüften, ringt nach
Foto: Anna Rakhmanko
Luft. Mit zwei Trainingseinheiten in der Woche wird er wohl kein Bundesligaprofi werden, aber einen wichtigen Schritt in Richtung Zukunft hat er durch den Fußball bereits gemeistert. Denn durch ihn haben er und Mostafa Halt in der Gesellschaft gefunden und neue Freunde kennen gelernt. Das ist mehr wert als ein Profivertrag. Und mehr als jeder Sieg.
Lukas Grundmann 16, Bremen Jan Jüttner 19, Hildesheim ... finden, dass in der Integrationspolitik Sportprojekte mehr gefördert werden sollten.
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ETWAS ORDNUNG IM CHAOS
DIE ÜBERFORDERUNG DES LANDESAMTES FÜR GESUNDHEIT UND SOZIALES MACHTE IN DEN VERGANGENEN MONATEN SCHLAGZEILEN. SEBASTIAN MUSCHTER IST DER MANN, DER DAS CHAOS IN DEN GRIFF BEKOMMEN SOLL. ANNIKA SCHULZE UND GESINE STAUCH ERHIELTEN BESONDERE EINBLICKE IN DIE EINRICHTUNG. Foto: Anna Rakhmanko
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asskalter Regen prasselt auf den Boden vor dem Landesamt für Gesundheit und Soziales (LaGeSo) in Berlin. Drei Kinder spielen Fangen. Eine Frau singt und spielt abwechselnd eine traurige Melodie auf einer Blockflöte. Neben ihnen warten weitere Geflüchtete in einer langen Schlange. Doch die ist nichts im Vergleich zu der Situation Ende vergangenen Jahres. Das LaGeSo war überfordert: tagelanges Warten, Prügeleien und Geflüchtete, die in Zelten übernachten mussten. Bilder entstanden, die einen hoffen ließen, sie kämen nicht aus Deutschland. Die offenkundige Unfähigkeit des Systems führte neben bundesweiter Aufmerksamkeit dazu, dass Sebastian Muschter, ein McKinsey-Berater, Anfang des Jahres 2016 neuer Präsident des LaGeSo wurde. Wir haben ihn zu seinen Maßnahmen befragt.
MUSCHTER WILL ES BESSER MACHEN Gleich am Anfang betont Muschter, dass sich die Wartesituation verbessert habe. Beispielsweise werden statt 250 neuerdings 540 Anträge pro Tag bearbeitet, sodass kaum noch Rückstände entstehen. Wir erfuhren bei unserem Besuch, dass ein neues Registrierungssystem auf Basis von Fingerabdrücken eingeführt wurde. Zudem sorge ein neues Ablagesystem für mehr Übersicht und Gerechtigkeit bei der Terminvergabe. Das LaGeSo bekomme auch die Möglichkeit, Personalengpässe durch die Einstellung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Bundesamtes
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für Migration und Flüchtlinge sowie der Bundeswehr zu verbessern. Die Angestellten arbeiten neuerdings in Teams. So können krankheitsbedingte Ausfälle aufgefangen werden. Ende 2015 stand der Betrieb im LaGeSo zeitweise still, weil sich bis zu 70 Prozent der Beschäftigten krank meldeten – der Grund war Überforderung. Auch gibt es bessere Unterstützung für gesundheitlich angeschlagene Geflüchtete. Eine Clearingstelle in Zusammenarbeit mit der Charité und einen Extrabereich für gesundheitliche Versorgung auf dem Gelände des LaGeSo wurden eingerichtet. Vor allem psychische Folgen der Flucht können schneller behandelt werden. Erstaunlich offen gibt Muschter zu, dass längst nicht alles perfekt sei. „Es kann nicht wahr sein, dass wir das den Flüchtlingen zumuten“, sagt er beispielsweise über die Versorgungssituation. Neben der Qualität sei auch die Menge des Essens unzureichend. Deshalb komme es manchmal zu Aggressionen bei der Essensausgabe. Insgesamt hielten sich laut dem Präsidenten gewaltsame Vorfälle im LaGeSo in Grenzen. Nach dem Gespräch mit dem Präsidenten suchen wir andere Perspektiven.
EIN BLICK HINTER DIE FASSADE Vor dem Eingang des LaGeSo-Hauptgeäudes Haus A reden wir mit den Sicherheitsleuten. Breitbeinig stehen sie vor den weißen Zelten. Die Sicherheitskräfte seien eben Türsteher, sagte Muschter zuvor. Sie reagieren skeptisch auf unseren Versuch, mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Auf
unsere Fragen antworten sie nur ausweichend. Die Arbeitsatmosphäre sei entspannt, sagen die Sicherheitsmänner. Das Chaos, von dem später Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie Geflüchtete berichten, nähmen sie nicht wahr. Dennoch merkt man ihnen eine unterschwellige Anspannung an. Möglicherweise liegt es ja an der negativen Berichterstattung über das LaGeSo in den vergangenen Monaten. Muschter spricht sogar von „Verzerrungen der Wahrheit“ durch Medien.
WAS BESCHÄFTIGTE UND GEFLÜCHTETE ERZÄHLEN Daraufhin machen wir uns auf den Weg in die nahegelegene Kruppstraße, die mittlerweile als Registrierungszentrum für Geflüchtete dient. Dort sprechen wir mit ein paar Beschäftigten. Die verschiedenen Aufgaben des LaGeSo wurden durch Muschter auf unterschiedliche Standorte verteilt. Die Angestellten berichten ebenfalls von einem lockeren Arbeitsklima. Sie kämen gut miteinander aus – „abgesehen von ein paar Ausnahmen“. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter können nicht alle Aussagen Muschters bestätigen. Beispielsweise das Fingerabdrucksystem versage häufig aus technischen Gründen. Die derzeitige Entspannung führen die Beschäftigten mehr auf die gesunkenen Zahlen an Geflüchteten zurück als auf Optimierungen des Bearbeitungsprozesses. Sie bezweifeln, dass die Veränderungen einem erneuten
Anstieg der Zahlen besser standhalten könnten als im vergangenen Jahr. Ein Geflüchteter erzählt uns von fünf Stunden Wartezeit, nach der er nur eine Nummer für einen Termin ziehen konnte. Ein Gespräch habe nie stattgefunden. Ein anderer Asylbewerber berichtet von seinem ungeklärten Aufenthaltsstatus, selbst nach einem Jahr Wartezeit und regelmäßigen Besuchen beim LaGeSo. Er habe immer noch keine Papiere, keine Möglichkeit Deutsch zu lernen oder der Notunterkunft, einer Turnhalle, zu entkommen. Wir spüren die Frustration. Sehr komplex ist das Asylsystem, in dem etwa das Bundesamt für Migration und Integration für Aufenthaltstitel, das LaGeSo für Gesundheits- und Sozialleistungen zuständig ist. Muschter sprach von „realistischer Termingebung“ und kürzeren Bearbeitungszeiten. Solche Veränderungen sehen wir nur bedingt. Aber zumindest ist es ein Anfang, der uns auf Besseres hoffen lässt. Darauf, dass die spielenden Kinder und wartenden Erwachsenen bald ein Zuhause finden, in dem sie sich wohlfühlen.
Annika Schulze 16, Hamburg Gesine Stauch 16, Dresden ... finden, dass man Dinge auch mal positiv sehen darf.
UND DANN: WARTEN... EIN DDR-PLATTENBAU WIRD ZUR FAMILIENUNTERKUNFT: IN DER EHEMALIGEN STASI-ZENTRALE IN BERLIN LICHTENBERG SIND RUND 1300 GEFLÜCHTETE UNTERGEBRACHT – DIE HÄLFTE VON IHNEN KINDER. NUR JEDES ZWÖLFTE VON IHNEN KANN ZUR SCHULE GEHEN. FÜR DIE ÜBRIGEN HEISST ES: WARTEN UND LANGWEILEN. MEHR IN UNSERER ONLINE-REPORTAGE »PLATTENBAUBEWOHNER 2.0« UNTER BLOG.POLITIKORANGE.DE.
blog.politikorange.de/Ut8T9
Foto: Mohamad Osman
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Z UR PER SON Petra Pau (DIE LINKE) Seit 2006 ist Petra Pau Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages. Von 2005 bis 2008 war sie stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Partei Die Linke. Schwerpunkte ihrer politischen Arbeit sind Bßrgerrechte und Demokratie.
Foto: Mohamad Osman
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»MENSCHENRECHTE SIND KEINE HANDELSWARE « PLÄDOYER FÜR OFFENHEIT
IM INTERVIEW MIT ANN-CHRISTIN RINKER UND JAN JÜTTNER SPRICHT BUNDESTAGSVIZEPRÄSIDENTIN PETRA PAU (DIE LINKE), DIE AUS DEM BERLINER BEZIRK MARZAHN-HELLERSDORF STAMMT, ÜBER IHRE PERSÖNLICHE VORSTELLUNG VON HEIMAT. SIE KRITISIERT DIE FLÜCHTLINGSPOLITIK DER BUNDESREGIERUNG UND VERRÄT SCHLIESSLICH, WARUM SIE UNSERE GENERATION BENEIDET.
FRAU PAU, WAS VERBINDEN SIE MIT DEM BEGRIFF »HEIMAT«? Den Ort, wo ich mich wohlfühle, an dem ich Wurzeln schlagen kann. Einerseits mein Zuhause, Marzahn-Hellersdorf, dort, wo ich wohne, und andererseits mein Umfeld, meine Familie, Freunde und Bezugspersonen. Insofern ist es für mich ein fließender Begriff.
SIE ENGAGIEREN SICH SEHR GEGEN FREMDENHASS. KÜRZLICH WURDE EINE TERRORZELLE IN FREITAL AUSGEHOBEN. EIN SCHRITT IN DIE RICHTIGE RICHTUNG ODER NUR EIN TROPFEN AUF DEM HEISSEN STEIN? Ich bin aktuell und in der vergangenen Legislaturperiode Obfrau im NSU-Untersuchungsausschuss gewesen. Das Thema liegt mir sehr am Herzen. Ich habe eben getwittert: „Hört auf mit der Verharmlosung und dem Sprechen über Böller!“ Denn es waren keine einfachen Böller, sondern tödlicher Sprengstoff. Diese Zustände gibt es nicht nur in Freital. Ich habe kein Verständnis dafür, dass Kolleginnen und Kollegen dies verharmlosen und von Böllern oder besorgten Bürgern sprechen. Diese Menschen sind Schwerststraftäter, die den Tod von Menschen billigend in Kauf nehmen.
„WIR SIND DAS VOLK“: DIES RIEFEN VIELE MENSCHEN IN OSTDEUTSCHLAND AUF DEN MONTAGSDEMOS. WAS GEHT IHNEN DURCH DEN KOPF, WENN DIES PEGIDA-DEMONSTRANTEN SKANDIEREN? Die Allermeisten, die damals mit diesem Ruf auf die Straße gingen, meinten dies im emanzipatorischen Sinn, indem sie demokratische Rechte, Meinungsfreiheit und geheime Wahlen einforderten. Sie standen damals für für souveräne Bürgerinnen und Bürger. Die Pegida-Demonstranten verstehen darunter vor allem, dass sie das weiße, deutsche Volk sind und sich bewusst abgrenzen wollen. Sie erhöhen sich dadurch beispielsweise über den Islam und verunglimpfen ihn. Hierbei handelt es
sich nicht um die Wahrnehmung seiner emanzipatorischen Rechte, sondern um Verunglimpfung von Religionen und Andersdenkenden. Es ist deshalb ein absoluter Missbrauch dieser Aussage.
WIE BEURTEILEN SIE DIE DEUTSCHE INTEGRATIONSPOLITIK? Unter der Überschrift „Integrationspaket“, welches gerade auf dem Tisch des Bundestages landet, verstehe ich eher ein „Abschreckungspaket“. Bis auf ein paar kleine Dinge und die sogenannten Integrations- und Sprachkurse, die ich durchaus begrüße, handelt es sich um eine Art „Ausschlusspaket“. Weil man eigentlich erst an der Stelle ansetzen will, wo völlig klar ist, dass die Betroffenen hierbleiben. Ich finde, jeder sollte Anspruch darauf haben, sobald er hier ist, auch die Sprache zu erwerben. Selbst wenn er irgendwann nicht hierbleiben kann, hat er damit diese Zeit für sich genutzt und auch Kompetenzen für sich geschaffen, um gegebenenfalls woanders wieder Wurzeln zu schlagen oder in seine Heimat zurückzukehren.
WAS KANN JEDER EINZELNE FÜR DIE ZUKUNFT EUROPAS TUN? Ich fang´ mal bei Ihnen an: Ich beneide Sie und Ihre Generation. Sie sind mit einer Selbstverständlichkeit aufgewachsen, was die offenen Grenzen betrifft. Die Möglichkeiten der Ausbildung, des sich Anschauens der Welt, bevor man sich seinen Standpunkt selbst bildet. Und das wird im Moment gerade in Frage gestellt, indem Grenzen plötzlich wieder geschlossen werden. Insofern sollten Sie sich sehr bewusst werden, in welches chancenreiche und Zukunft verheißende Europa Sie hineingeboren wurden. Sie sollten vielleicht auch überlegen, welchen Beitrag man leisten kann, dies zu verteidigen oder diese Zustände auch wieder neu herzustellen und zu verfestigen. Ich denke, der Rückzug aufs Nationale wird nicht die Lösung der Probleme auf dieser Welt bringen. Das sage ich auch denjenigen, die im Moment von Ängsten getrieben sind, und jenen, die diese Ängste ausnutzen, ob in Freital oder anderswo. Insofern ermuntere ich jeden, sich vor Ort zu engagieren, aber auch seine eigenen Anforderungen an die Gesellschaft und zum Schluss natürlich auch an die Politik zu formulieren.
ZIEHT SICH DEUTSCHLAND DURCH DAS RÜCKNAHMEABKOMMEN MIT DER TÜRKEI ZU SEHR AUS DER VERANTWORTUNG? Na zumindest verkauft man sie. Und ich finde, Menschenrechte sind keine Handelsware. Abgesehen davon warne ich auch davor, weitere Staaten, in denen keine demokratischen Verhältnisse herrschen, zu sicheren Herkunftsländern auszurufen. Durch diesen Deal bestärken wir die Machthaber in undemokratischen Ländern, ihre Praktiken weiter auszuführen. Und etwas Ähnliches erleben wir im Moment in der Türkei. Das Vorgehen gegen die Kurdinnen und Kurden genauso wie das Aussetzen der Pressefreiheit ist zu verurteilen. Erst heute Morgen hörte ich, dass eine christlich-armenische Kirche beschlagnahmt wurde. Das bedeutet, dass das Recht auf Religionsfreiheit an dieser Stelle nicht mehr gewährleistet ist. Und deswegen kritisiere ich als Mitglied der Fraktion Die Linke diesen Vertrag in aller Deutlichkeit. Es ist absolut menschenunwürdig, was dort zurzeit geschieht.
Ann-Christin Rinker 19, Münster Jan Jüttner 19, Hildesheim … sind totale Nachrichtenfreaks, vor allem in Sachen Sport und Politik.
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Heimat ist ein Ort, den man sich zu eigen gemacht hat. Familie, Schule oder das Stammlokal um die Ecke – all das ist Teil meiner Persönlichkeit, weil ich es liebe und weil ich mich daran gewöhnt habe. Sophie Laaß, 20
Heimat muss kein bestimmter Ort sein, es sind eher bestimmte Menschen, Freunde, Familie, die einen oder mehrere Orte zur Heimat machen. Stefanie Huschle, 20
Heimat ist das Gefühl, eine unabänderliche Konstante in seinem Leben zu haben, in die man all sein Vertrauen setzen kann, niemals verlassen zu werden. Leopold Papke, 17
HEIMAT IST... VOR ALLEM EIN GEFÜHL
DIE TEILNEHMENDEN DES JUGENDMEDIENWORKSHOPS SIND TIEF IN SICH GEGANGEN UND HABEN ÜBERLEGT, WOFÜR IHR HERZ SCHLÄGT.
Heimat ist, was uns vertraut ist, wo wir uns wohl fühlen, wo wir sein können, wie wir es wollen. Heimat ist, was man vermisst, wenn man nicht da ist. Deshalb kann Heimat auch so viel Verschiedenes und alles zugleich sein. Laura Reisser, 17
Egal, wohin ich reise, werde ich immer das Verlangen haben, in meine Heimat zurückzukehren. Julia Kleene, 20
Heimat ist vor allem ein Gefühl, und das ist nicht nur an einen Ort gebunden. Das Gefühl kommt auf, wenn ich im Bus die Menschen grüße und genau weiß, an welcher Haltestelle sie aussteigen. Wenn ich Google Maps nicht brauche, um den Weg zu finden – denn ich kenne die Stadt. Samia Mohammed, 19
Heimat ist ein Ort, an dem man sich zugehörig fühlt. Carolina Pfau, 20
Grafik: Benedikt Bungarten, Fotos: Mohamad Osman, Benedikt Bungarten
PANOPTIKUM DER POPULISTEN
DAS EU-PARLAMENT IST TREFFPUNKT FÜR VIELE VERSCHIEDENE MENSCHEN MIT UNTERSCHIEDLICHSTEN ANSICHTEN, UNTER ANDEREM AUCH RECHTSPOPULISTISCHE POLITIKERINNEN UND POLITIKER. WELCHE AUSWIRKUNGEN KANN ES HABEN, WENN MAN IHNEN FREIRÄUME LÄSST? LEANDER LÖWE HAT MEINUNGEN ZUM THEMA RECHTSPOPULISMUS EINGEHOLT.
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ie Politikwissenschaftlerin Julie Hamann schätzt die Lage als gefährlich ein. „Es ist auffallend, dass die rechtspopulistischen Parteien in Europa derzeit einen Zuwachs erleben. Dabei bekommen gerade die etwas älteren Parteien Aufwind“, so die Politologin, die bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik arbeitet. Jüngstes Beispiel: Österreich. Hier sei zu beobachten, dass die die rechtspopulistische FPÖ (Freiheitliche Partei Österreichs) sich in die Gesellschaft eingliedere und dabei sogar die großen, vorher etablierten Volksparteien unterlegen seien.
Die Expertin erklärt, dass die Ursachen für diesen nicht nur in Österreich erkennbaren Trend ganz unterschiedlich und länderabhängig seien. Außerdem hätten die rechtspopulistischen Parteien ganz verschiedene Wählerschaften. Manche Wählerinnen und Wähler träfen ihre Entscheidung aus Protest, erläutert Hamann. Sie würden getrieben durch die Krisen, die derzeit die gesamte EU erschütterten. Europaweit sei aber auch zu beobachten, dass die Wählerschaft mittlerweile über solche Protestwählerinnen und Protestwähler hinausgehe. Wehren könne man
sich gegen diesen Rechtsruck nur auf eine Art und Weise: durch offene Kommunikation. „Es müssen die Werte der EU in den Vordergrund gestellt und überlegt werden, wie man sich gegen rechtspopulistische Parteien abgrenzen kann“, so Julie Hamann. Die Intervention des EU-Parlamentspräsidenten Martin Schulz sei dafür ein Beispiel. Anfang März hatte er den rechtsextremen Politiker Eleftherios Synadinos, Mitglied der griechischen Partei „Goldene Morgenröte“, wegen rassistischer Äußerungen aus dem EU-Parlament geworfen. So mit rechtsextremen Äußerungen umzugehen, ist sicher richtig. Ungleich schwieriger ist der Umgang mit rechtspopulistischen Politikerinnen und Politikern, die Rassismus besser verstecken und die Demokratie nicht offen ablehnen.
Grafik: Maximilian Gens, Benedikt Bungarten
»WIR BRAUCHEN JETZT EINE STÄRKUNG EUROPAS«.
RAUS AUS DER MITTE: RÜCKEN EUROPAS STERNE NACH RECHTS?
So sehen das Mitglieder aus dem Ausschuss des Deutschen Bundestages für die Angelegenheiten der Europäischen Union, wie sie in einem informellen Gespräch verraten. Die Mitglieder erklären: Oft werde von den rechtspopulistischen Parteien als „Protestparteien“ gesprochen. Das bedeute, dass die Menschen aus ihrer Unzufriedenheit heraus eine Alternative benötigten, und den Rechtspopulistinnen und Rechtspopulisten deshalb aus Verzweiflung eine Basis geben. Bei ihnen fühlten sich die Bürgerinnen und
Bürger dort verstanden, wo die Regierung ihnen lediglich Ignoranz entgegenbringe. Dadurch stecke die Politik in einer Krise, so einer der Abgeordneten des Ausschusses. „Unsere Probleme in der EU sind so gewaltig, dass wir nur im Nebel stochern. Die Konsequenzen einer Entscheidung sind nie abzusehen. Allgemein passen die Probleme und die Lösungsstrukturen nicht mehr zueinander“, erklärt ein SPDAusschussmitglied. Eine weitere Politikerin (CDU) aus dem Ausschuss sagt: „Aufgrund dessen befinden wir uns in einer ganz schwierigen Situation. Die Europäische Union ist gefährdet.“ Als Union oder SPD frage man sich natürlich die ganze Zeit, ob man mehr Alternativen brauche. Deutliche Worte findet das SPD-Ausschussmitglied: „Die Rattenfänger fangen nach wie vor ihre Beute. Wir brauchen jetzt eine Stärkung Europas. Aber es gibt keine Zustimmung dafür.“ Weder auf europäischer, noch auf nationaler Ebene.
Leander Löwe 19, Tostedt ... fragt sich immer noch, warum die politikorange nicht blau ist.
UNTER FREUNDEN STADTTEILE WIE DIE DORTMUNDER NORDSTADT HABEN SICH IN DEN
VERGANGENEN JAHREN EINEN SCHLECHTEN RUF EINGEHANDELT. MIT DER HOHEN ANZAHL VON MIGRANTEN UND MIGRANTINNEN GEHEN ARBEITSLOSIGKEIT UND ARMUT EINHER – SO LAUTEN ZUMINDEST VORURTEILE. ELIAS ETTENKOFER HAT SICH GEFRAGT, OB SOLCHE VIERTEL AUCH VORTEILE HABEN.
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enschen gehen nicht in die Fremde“, sagt Professor Jochen Oltmer vom Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien der Universität Osnabrück. Lokale Netzwerke seien entscheidend für Einwanderung. Bekannte seien die erste Anlaufstelle für Migranten und Migrantinnen. Sie würden die ersten wichtigen Schritte, wie das Finden einer Bleibe, erleichtern. Auch Behördengänge seien leichter mit einem Menschen an der Seite, der die Sprache spricht und das System kennt. Die Suche nach Netzwerken scheint also eine Rolle bei der Entstehung von Gegenden zu spielen, in denen ein großer Teil der Migranten und Migrantinnen zusammentrifft. Dabei geht es in der Regel nicht um ganze Stadtteile, sondern viel
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eher um Straßenzüge oder auch nur einzelne Blocks.
ANSCHLUSS AN DIE GESELLSCHAFT Jaqueline Kauka, Referentin im Landesjugendring Berlin, stellt die Problematisierung sogenannter „Einwandererviertel“ generell in Frage. „Es ist nachvollziehbar, sich in einem fremden Land einen Wohnort zu suchen, an dem Menschen sind, die bereits ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Man kommt dort beispielsweise schneller an wichtige Informationen und kann so leichter Anschluss an die Gesellschaft finden“, erklärt sie. Viele der Einwohnerinnen und Einwohner jener Viertel verweilen
jedoch nicht lange in ihrer neuen Heimat. Fast 80 Prozent derjenigen, die zwischen 1955 und 1973 im Rahmen der Gastarbeiteranwerbung in Deutschland ankamen, haben ihre neue Heimat innerhalb von wenigen Jahren wieder verlassen, berichtet Oltmer. Im Grundsatz gelte dies ebenfalls für heutige Migrationsbewegungen – auch wenn die Prozentanteile sich verändern könnten. Einwandererviertel sind also extrem dynamisch. Laut eines Forschungsberichts der Universität Köln aus dem Jahr 2012 tauschen sich in manchen Gegenden des Ruhrgebiets die Hälfte der Einwohner und Einwohnerinnen innerhalb eines Jahres komplett aus. Risiken dieser Viertel – darunter Abschottung und mangelnde Integration – sind sicherlich nicht zu verleugnen.
Vor allem diejenigen, die eine lange Zeit in solchen Gegenden leben und so keine langfristigen Kontakte knüpfen können, sind gefährdet. Allerdings scheinen vermeintliche „Problembezirke“ trotz allem auch positive Seiten zu haben.
Elias Ettenkofer 21, Darmstadt ... ist trotzdem in die Fremde gezogen.
AUFBRECHEN UND ANKOMMEN
DIE DERZEITIGEN FLUCHTBEWEGUNGEN BEZEICHNEN VIELE ALS BEISPIELLOS. DOCH AUCH VOR ETWA 70 JAHREN BRACHEN MENSCHEN AUS IHRER HEIMAT AUF. EDITH KIESEWETTER-GIESEN FLÜCHTETE NACH DEM ZWEITEN WELTKRIEG AUS DER TSCHECHOSLOWAKEI. LEOPOLD PAPKE HAT MIT IHR UND DEM SYRISCHEN GEFLÜCHTETEN MOHAMAD OSMAN ÜBER IHRE VERTREIBUNG GESPROCHEN. ist überfüllt und die Menschen drängen sich verängstigt zusammen. Doch das Boot sinkt unaufhörlich weiter. Das Ziel Griechenland sollte das Boot nicht mehr erreichen. Die kalten Fluten schlagen über Mohamad zusammen. Er ist der einzige aus dem Boot, der nicht schwimmen kann. Doch er kämpft. Langsam sieht er sein Leben an sich vorbeiziehen. Und gerade, als er aufgeben will, kommt ein Boot der Grenzpatrouille und rettet ihn aus den Wogen. Schließlich kommt er an der griechischen Küste an.
AUFBAU EINES NEUEN LEBENS
ZWEI FLUCHTGESCHICHTEN: MOHAMAD OSMAN UND EDITH KIESEWETTER-GIESEN TEILEN EIN ÄHNLICHES SCHICKSAL.
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isiger Wind peitscht uns entgegen, Rache von tschechoslowakische Soldaten als wir am Brandenburger Tor vor- für die Grausamkeiten, die die Deutschen beilaufen. Typisch deutsches Wetter, aber im Zweiten Weltkrieg begangen hatten, das kann man sich nicht aussuchen. Hei- wurde. Ihre Geschichte: Im Alter von mat ist halt Heimat. Neben mir spurtet zehn Jahren werden sie und ihre Familie Mohamad, ein Syrer, der vor zwei Jah- mit der Pistole aus dem Bett getrieben. ren nach Deutschland geflüchtet ist und Man verpasst ihnen weiße Stoffkreise der durch Sprachkurse und seine Arbeit mit einem schwarzen „N“ für „Nemec“, als Fotograf bereits gut integriert ist. „deutsch“, die sie auf der Kleidung tragen Durch den Beton-Dschungel, schmutzige müssen. Jeder Tscheche und jede TscheHauseingänge und verwinkelte Hinter- chin, der/die ihnen begegnet, kann mit höfe gelangen wir zur Wohnung von ihnen nun anstellen, was er oder sie will. Edith Kiesewetter-Giesen, um über zwei Nur die Sachen, die sie am Körper tragen, Fluchtgeschichten zu sprechen – die 70 dürfen sie mitnehmen. Zu Fuß müssen Jahre auseinanderliegen und doch ähn- sie zehn Kilometer in eine andere Stadt lich schicksalhaft sind. laufen. Danach werden sie in einen Zug Wir versammeln uns um den mit Hä- mit offenen Viehwagons geladen und keldeckchen gezierten Wohnzimmertisch. nach Westen gefahren. An der Elbe enHeute wird selten über die Vertreibung det die Fahrt. „Als ich ausgestiegen bin, der Sudetendeutschen geredet. Deshalb hatte ich keine Kindheit mehr.“ Man verblasst das Schicksal der Menschen aus scheuchte die Deutschen „wie eine Viehden Ostprovinzen des damaligen Deut- herde“ den Flusslauf entlang. Neben schen Reiches allmählich im kollektiven ihnen treiben Leichen auf dem Wasser. Gedächtnis und gerät in den Debatten um In einer Flussbiegung stapeln sich die Flucht und Migration zunehmend in den kalten, toten Körper am Ufer – „wie im Hintergrund. Trotzdem oder vielleicht ge- schlimmen Winter die Eisblöcke an der rade deswegen sind die Geschehnisse von Brücke“. Da die Männer in Gefangendamals wieder relevant. schaft, im Krieg geblieben oder tot sind, Kiesewetter-Giesen ist eine Vertrie- sind vor allem Alte, Frauen und Kinder bene, die 1945 Opfer der willkürlichen Teil des unbarmherzigen Marsches. „Die
Foto: Annika Schulze
Soldaten haben zum Beispiel einer Mutter den Säugling aus dem Kinderwagen genommen, ihn in die Luft geworfen und einfach wie eine Tontaube abgeschossen. Das vergisst man ein Leben lang nicht.“ In einer Schlucht, durch die die Vertriebenen geschleust werden, nehmen die Bewaffneten ihnen ihre letzte Habe: Sie reißen ihnen Ohrringe ab und schlagen ihnen mit dem Gewehrkolben Zähne aus, sofern diese aus Gold sind. Zuletzt setzen sie mit einem Schiff bei Pirna über die Elbe und werden in ein Lager gesteckt.
BOOTSFAHRT IN EINE UNGEWISSE ZUKUNFT Unberechenbare Willkür erfährt auch der Fotograf Mohamad, als er in Syrien politisch verfolgt wird. Nachdem seine Arbeitsmaterialien und sein ganzes Werk von der Polizei beschlagnahmt worden sind, verdächtigt man ihn, Agent der USA zu sein. Darauf beschließt er, Syrien zu verlassen. Seine einzige Möglichkeit: die Schlepperbanden. Er muss 2 000 Euro im Voraus für eine Überfahrt bezahlen, die ins Ungewisse führt. Langsam, Welle um Welle, schwappt Wasser in das Boot. Es
Zurück zu Kiesewetter-Giesen: Als sie aus dem Lager in Pirna herauskommt und durch das in Trümmern liegende Deutschland zieht, merkt sie schnell, dass man sich nur mit Arbeit und Leistung integrieren kann. Sie engagiert sich, um einen Platz an einem Internat und ein Stipendium zu bekommen. „Ich bin eine schwierige Person“, sagt sie von sich selbst. „Ich gebe einfach keine Ruhe.“ Auch Mohamad hat sich mit seiner Arbeit als Fotograf aus der Lethargie der überfüllten Flüchtlingsunterkünfte herausgezogen, verdient nun sein eigenes Geld und lebt in einer kleinen Wohnung. Aber seine Heimatstadt wird er nie wieder so fotografieren können wie früher, denn nun ist es seine Heimat, die in Trümmern liegt. Ort, Zeit und Grund der Fluchtgeschichten unterscheiden sich. Doch das Schicksal der Menschen – die schrecklichen Erfahrungen, Ängste und Leid – schlägt eine Brücke zwischen Glauben, Sprache und Nationalität. In ihrem Schicksal sind sie vereint. „Die wichtigsten Fragen bleiben gleich“, meint KiesewetterGiesen. „Essen, Familie, Sicherheit.“ Wir treten zurück auf die Straße und die Kälte hat uns wieder. Auf Nieselregen folgt Hagel und auf einmal fällt mir ein, was mir Mohamad und Kiesewetter-Giesen zum Schluss sagten: „Heimat bleibt Heimat.“ Das Interview wurde möglich gemacht durch die freundliche Unterstützung der Zeitzeugenbörse Berlin.
Leopold Papke 17, Stuttgart ... hätte gern so ’ne Art Politik-Geschichte-Leistungskurs genommen.
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»WIR MÜSSEN DIE ZUMUTUNG SEIN!«
BESONDERS ZU EINEM BEWEGENDEN THEMA WIE DER FLÜCHTLINGSFRAGE SCHEINT ES OFT SCHWIERIG, EINE SACHLICHE DISTANZ ZU WAHREN. TRISTAN DÜCK UND ANN-CHRISTIN RINKER BEFRAGTEN ZWEI JOURNALISTEN GROSSER MEDIENHÄUSER, JULIAN REICHELT (CHEFREDAKTEUR, BILD.DE) UND MAXIMILIAN POPP (REDAKTEUR, DER SPIEGEL), ÜBER IHR SELBSTVERSTÄNDNIS ZU DIESER FRAGE.
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ach bestem Wissen und Gewissen, unbeeinflusst von persönlichen Interessen“ sollen Journalistinnen und Journalisten ihrer Aufgabe nachgehen, die Menschen zu informieren und zur Meinungsbildung beizutragen – so sieht es der Pressekodex vor. Was bedeutet das konkret? Wie viel persönliche Haltung in die eigene Arbeit einfließen darf oder vielleicht sogar muss, ist unter Medienschaffenden umstritten. Darum soll es in diesem Gespräch gehen.
HERR POPP, WIE SEHEN SIE IHRE AUFGABE IN DER FLÜCHTLINGSKRISE? Popp: Ich halte die „Flüchtlingskrise“ zuallererst einmal für eine Managementkrise. Den Flüchtlingen hätte man viel Leid und den Deutschen viel Ärger ersparen können, wenn man es von Anfang an besser geordnet hätte. So wie es abgelaufen ist, ist es eine Katastrophe und das Massensterben ein Verbrechen. Europa ist durch Unterlassung mitschuldig. Meine Aufgabe als Journalist ist es, darauf hinzuweisen, dagegen anzuschreiben und das hoffentlich zu verändern – insofern eine aktivistische Rolle.
SUBJEKTIV STATT SACHLICH-DISTANZIERT? Popp: Absolut. Jeder, der längere Zeit an den Außengrenzen recherchiert hat, verliert relativ schnell den Glauben
INF O Der dreijährige Aylan Kurdi aus Syrien und seine Familie waren auf der Flucht nach Griechenland, als ihr Boot auf dem Mittelmeer kenterte. Am 2. September 2015 wurde sein Leichnam an der türkischen Küste angespült. Ein Foto davon ging um die Welt und löste eine Debatte darüber aus, was Bilder zeigen dürfen.
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an eine vermeintliche Objektivität und Sachlichkeit. Dafür ist es zu dramatisch. Ich ergreife ganz offen Partei für die Flüchtlinge.
WIE SEHEN SIE DAS, HERR REICHELT? Reichelt: Nach meiner Erfahrung als Reporter ist es in vielen Situationen unmöglich und auch falsch, neutral zu bleiben. Objektiv kann man dennoch bleiben. Das Versagen Europas, die Ursachen zu erkennen und richtig darauf zu reagieren, ist eine Katastrophe. Es gab ja zum Beispiel die Debatte, ob man das Foto von Aylan Kurdi zeigen darf. Darauf lautet meine Antwort: Ja, natürlich. Das ist das unmittelbare Ergebnis, entweder unseres Handelns oder – noch erschütternder – unseres Unterlassens. Und es ist unsere Aufgabe, jeden Tag über diese katastrophalen Missstände, die von Syrien bis zum LaGeSo in verschiedenen Abstufungen herrschen, schonungslos zu berichten.
DIE BILD-ZEITUNG ARBEITET HÄUFIG MIT STARKEN BILDERN. IST ES SCHWIERIG FÜR SIE, DIE MITTE ZWISCHEN DEM EINSATZ DIESER BILDER UND VERANTWORTUNGSVOLLEM JOURNALISMUS ZU FINDEN? Reichelt: Die Suche nach der Mitte ist für mich nicht das ausschlaggebende Kriterium. Wir versuchen, Geschichten auf eine besonders menschliche Weise zu erzählen. Dafür benutzen wir Fotos von Menschen. Die Tragödie all dieser, die da versuchen zu uns zu kommen, besteht sehr oft in Ereignissen, die in dramatischen Bildern festgehalten sind. Aber genau diese Bilder sind die Geschichte. Es geht darum, das zu zeigen, was passiert. Popp: Ich finde übrigens, dass wir gerade bei diesem Thema Emotionalisierung total brauchen. Mich stört oft
die technokratische Sprache, die einige Medien verfolgen. Ich empfinde es als wichtigen journalistischen Ansatz, Einzelfälle und Schicksale herauszugreifen. Zum Thema Fotos ist Aylan Kurdi ein wunderbares Beispiel. Es war ein „Game Changer“ und hat etwas bewirkt. Das hat man ja oft mit so ikonenhaften Fotos. Die Medien allgemein waren eher zurückhaltend mit dem, was sie den Lesern an Fotos zugemutet haben. Reichelt: Wir müssen die Zumutung sein! Es ist Teil unserer Aufgabe, die Leser so nah wie möglich ans Geschehen zu bringen. Und machen wir uns nichts vor – das dramatischste Foto, das schrecklichste Video wird die Menschen nie in die Situation derjenigen auf der Flucht versetzen können.
WELCHE SCHLAGZEILE ZUM THEMA GEFLÜCHTETE WÜRDEN SIE IN EINEM JAHR GERNE SCHREIBEN? Popp: „Europa schafft endlich legale Einreisewege für Flüchtlinge“ Reichelt: „Frieden in Syrien“
Ann-Christin Rinker 19, Münster Tristan Dück 20, Hamburg ... haben sich am Telefon bis zur Bild-Chefetage durchgekämpft.
M EIN UN G
HERZLICH WILLKOMMEN IM WORLD WIDE HATE
HASSKOMMENTARE, DER VERMEINTLICHE DRUCK, SICH PERMANENT POSITIONIEREN ZU MÜSSEN – UND WAS HAT EIGENTLICH DIE EVOLUTION DAMIT ZU TUN? EIN KOMMENTAR ÜBER DAS VIRTUELLE SCHLACHTFELD VON FELIX RUSS.
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in Junge am Strand. Er trägt ein rotes T-Shirt. Er ist alleine und tot. Der Junge Aylan Kurdi wurde drei Jahre alt. Das Foto vom September 2015 aus der Türkei haben wir alle noch vor Augen. „Wir trauern nicht, sondern wir feiern es“, schrieb ein Facebook-Nutzer. Für diesen Satz hat ihn sein Chef rausgeschmissen – zu Recht. Die Menge der Hasskommentare ist in den vergangenen Monaten drastisch gestiegen. Wir müssen verstehen, dass diese Shitstorms nicht von „den Social Media“ geschrieben werden, sondern von den Usern dahinter. Letztlich Menschen mit eingeschränktem Horizont, die auf ihren Handys Parolen und Beleidigungen loslassen, die sie wahrscheinlich selbst gar nicht aushalten würden. Aber nicht nur Kommentare gehen blitzschnell viral und ploppen bei jedem auf der Startseite auf – auch Bilder und Videos verbreiten sich schnell.
INFORMATIONSGEILHEIT? Integration von Geflüchteten ist hier nicht mehr das Thema – es geht um tägliche Schicksalsschläge und vermeintlich immens wichtige Geschichten, die als kontextbefreite Elemente auf uns einschlagen. Wenige Tage später sind sie dann meist vergessen, stellen sich als irrelevant heraus oder als falsch. So wie im Fall einer NDR-Dokumentation aus 2015, als aus dem Fernsehbeitrag die Passage zusammenhangslos herausgeschnitten und auf YouTube verbreitet wurde, in der Geflüchtete angeblich erklären, dass sie Kinder essen würden. „Der darf kein Handy haben und keine teure Uhr besitzen! Und warum trägt der Flüchtling denn überhaupt Schuhe? Ich denke, der hat nichts...“ Durch dieses stereotypische Kategoriedenken befeuern wir die Angst und Wut gegen Geflüchtete nur noch mehr. Verbirgt sich dahinter eine allgemeine Unwissenheit in der jeweiligen Situation, in der nur die (vor-) schnelle Kategorisierung die Informationsgeilheit befriedigt? Oder trifft die Evolution die Schuld? Immerhin war derjenige mit einem Gespür für Negativismus und gravierende Nachrichten früher im Dschungel der Gewinner. Man nehme nur den Bewohner, der durch aktuelle Nachrichten seinen Stamm am schnellsten vor Gefahren warnen konnte.
STELLUNG BEZIEHEN?
weit zu vernetzen, sich zu informieren oder das Internet anderweitig kreativ auszuschlachten, sind phänomenal. Doch die Kehrseite schlägt genauso stark in das andere Extrem. Wir müssen ständig darauf achten, was wir da jetzt liken, sharen, twittern oder posten. Die neue Meldung erreicht schnell alle mit Internetanschluss und Facebook-Konto und etwas später weiß auch jeder von jedem die persönliche Meinung. Doch geht es nur noch um das Posten selbst, leiden der Inhalt und die Relevanz. Vielleicht gar keine Stellung beziehen? Aber wo ist dann der Sinn einer vernetzenden Onlineplattform? Wobei es schon einen Unterschied macht, ob man mit fünf Leuten in einer Kneipe diskutiert oder ob man seine Gedanken gleich für die ganze Welt publisht. Es treffen so viele Seiten, Meinungen und Gedanken aufeinander, dass es schwierig ist, alles einzuordnen. Wie es in der Flüchtlingsfrage weitergeht und ob es irgendwann ein Ergebnis geben wird, können wir heute nicht wissen. Aber anstatt Pegida und Co. täglich in diversen Medien und Gesprächen Plattformen zu bieten und generell vorschnell Meldungen zu verbreiten, sollten wir eher ein Gespür für den Umgang mit heißen News und die zeitliche Distanz zu Ereignissen entwickeln. Vielleicht Internetunterricht in der Schule oder Gesetze, die Grauzonen im Netz verkleinern – wenigstens aber konsequentere Strafverfahren für Beleidigungen und Hate Speech im World Wide Web. Das wäre immerhin ein Anfang.
Felix Russ 17, Frankfurt a. M. ... hat auch einen Internetanschluss.
Nun gut, Spaß beiseite. Das Internet als Verbreitungsmittel ist Fluch und Segen zugleich. Die Möglichkeiten, sich welt-
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DEUTSCHGEFÜHL?
DEUTSCHLAND – EIN LAND WIE JEDES ANDERE? NATIONALGEFÜHL IM JAHR 2016 – GIBT ES DAS ÜBERHAUPT NOCH? WIE SELBSTBEWUSST ZEIGT SICH DEUTSCHLAND 71 JAHRE NACH DEM ENDE DES ZWEITEN WELTKRIEGS? NOAH EBERLE HAT SICH AUF DEN WEG GEMACHT, UM DIESEN UND ANDEREN FRAGEN NACHZUGEHEN.
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fD, Pegida und Co. locken die so- einer Nation, die entweder durch gemeingenannten „besorgten Bürgerinnen same Bande beschrieben werden oder sich und Bürger“ mit rechtspopulistischen tatsächlich auf ein politisches Gebilde beStatements. Hierbei muss aber zwischen ziehen, würden eine Rolle spielen. Patriotismus, der „Vaterlandsliebe“, und Nationalismus unterschieden werden. Na- VATERLANDSSTOLZ tionalismus glorifiziert die eigene Nation und setzt andere herab. Wie schaffen wir „Ohne das Unterfutter von Wir-Gefühlen es zu einem gesunden Nationalstolz, dass sind Staaten nur willkürlich konstruierwir uns mit einem adäquaten Selbstbe- te Gewalthülsen, die unter Belastung wusstsein in Europa und der Welt präsen- zerfallen“, schrieb der Soziologe Karl Otto Hondrich 1994 in einem Essay tieren können? Stefan Liebig ist Professor für So- in der Wochenzeitung „Die Zeit“. Das ziologie an der Universität Bielefeld. Er Nationalgefühl haucht also dem Staat definiert Nationalgefühl als ein „Gefühl Leben ein. Aber warum ist der Natider Zugehörigkeit“. Identität sei dabei ein onalstolz der Deutschen viel weniger wichtiger Begriff. Auch Zugehörigkeitsge- ausgeprägt als anderswo auf der Welt? fühle, die entweder zu einem Land oder „Die Ursache dafür liegt darin, dass das
Nationalgefühl oder die nationale Identität, das Zugehörigkeitsgefühl in den 1930er-Jahren missbraucht worden sind. Die daraus entstandene Überhöhung führte zu Unterdrückung und Ermordung und im Endeffekt zum Zweiten Weltkrieg“, so Liebig. Er bewertet das heutige Nationalgefühl der Deutschen jedoch nicht als schwächer, vielmehr habe es seiner Ansicht nach eine gänzlich andere Form angenommen, den sogenannten Verfassungspatriotismus. Dieser beschreibe, dass die Deutschen stolz auf ein freies, liberales, demokratisches Land sein könnten, das sie sich nach dem Zweiten Weltkrieg selbst aufgebaut haben.
FUSSBALL UND DAS NATIONALGEFÜHL
GETRÜBTER NATIONALSTOLZ: SCHWARZ-ROT-GOLD IM REGENWETTER?
Foto: Noah Eberle
Das Jahr 2006. Unter dem Motto „Die Welt zu Gast bei Freunden“ wurde damals die Fußballweltmeisterschaft in Deutschland ausgetragen. Laut Jana Jöckel habe kein anderes Ereignis dieses Jahr, vielleicht das gesamte Jahrzehnt, in Deutschland so geprägt, wie die WM im eigenen Land. Sie ist Autorin des Buches „Vom Wunder von Bern zum Sommermärchen“. Solche Effekte habe es auch schon früher gegeben. „Der WM-Sieg 1954 in Bern gab den Deutschen das Gefühl, nach dem zweiten Weltkrieg wieder einigermaßen im Kreis der europäischen Völker anerkannt zu werden“, so Stefan Liebig.
2006 sei Deutschland dann als offenes Land in den Medien gezeigt worden. Der Fußball hat also durchaus zu der Entwicklung eines Wir-Gefühls in Deutschland beigetragen.
VERBIETEN WIR UNS UNSEREN NATIONALSTOLZ SELBST? Es würde uns niemand daran hindern, auch abseits der Fußballweltmeisterschaft eine Deutschlandflagge in unseren Vorgarten zu stellen. Oder mit einem Deutschlandtrikot durch die Stadt zu laufen. Warum tun es dann nur wenige Menschen? Eine Erkärung könnte die deutsche Geschichte sein. „Dass Deutschland seinen Nationalstolz zurückgefahren hat, ist sinnvoll“, ist sich Liebig sicher. Was die Deutschen in der Nazi-Zeit gemacht hätten, seien ja nicht nur irgendwelche Politiker gewesen.
Noah Eberle 16, Flonheim ... der, der keinen Kasten wollte.
M EIN UN G
»WIR SIND DAS VOLK« ICH BIN BLOND. ICH BIN BLAUÄUGIG. UND ICH BIN DEUTSCH. ICH BIN
IN DEUTSCHLAND GEBOREN, HABE DEUTSCHE ELTERN UND EINEN BUNDESADLER AUF MEINEM PASS. UND BIS VOR KURZEM WAR ICH, LAURA REISSER, DAVON ÜBERZEUGT, TEIL DES DEUTSCHEN VOLKES ZU SEIN.
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er deutsche Staatsrechtler Georg Jel- te. Ein ähnliches Bild ist zur gleichen Zeit linek definierte Ende des 19. Jahr- auch in Dresden zu sehen, wo tausende hunderts ein Volk unter anderem als einen Pegida-Anhängerinnen und Anhänger Personenverband, der sich seiner Zusam- durch die Straßen „spazieren“ und skanmengehörigkeit bewusst geworden ist. dieren, sie seien das Volk. Im Zusammenhang der Proteste in der DDR 1989 wurde der Begriff des WELTBÜRGERIN MIT EINEM Volkes zum Ausdruck für eine Freiheits- DEUTSCHEN PASS bewegung. „Wir sind das Volk“ wurde die Parole von Demonstrierenden, die da- Damals wie heute basiert dieser Satz mit mehr Mitbestimmung forderten – als „Wir sind das Volk“ auf Ausschluss – auch in den Zeiten der friedlichen Revolution souveräne Bürgerinnen und Bürger. Fährt man heute an einem Montag nach Erfurt, und davor. Wenn auf der einen Seite ein kann man dort Björn Höcke, den Frakti- „Wir“ steht, muss auf der anderen ein „Ihr“ stehen. Die Protestierenden in der DDR onsvorsitzenden der Partei „Alternative für Deutschland“ (AfD) im Thüringer mussten nur nie definieren, wer „Wir“ ist. Landtag, denselben Satz skandieren hö- Pegida und Co. tun nun genau das. Nicht ren. Die eine Faust in die Luft gestreckt, nur die Bedeutung von „Wir“ ändert sich, steht er dort hinter einem Redepult neben sondern auch die von „Ihr“: Während in der DDR eine nicht demokratische SEDDeutschland-Fahnen und ruft, er sehe Führung damit gemeint war, positionie„eine Gemeinschaft“, „ein Volk, das eine Zukunft haben will“, und spricht außer- ren sich heute rechte Gruppen gegenüber dem von größer werdenden „Angsträu- einer demokratisch gewählten Regierung men“ für blonde Frauen durch Geflüchte- und einer freien Presse, stellen Deutsche
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und Geflüchtete gegenüber, Christen und Muslime. Kurz formuliert, das „Wir“ gegen das „Ihr“. Natürlich bin ich Deutsche laut meines Passes, aber vor allem verstehe ich mich selbst als Weltbürgerin. Mein Kaffee kommt aus Äthiopien, meine Lieblingsautorin aus Nepal, meine beste Freundin von den Philippinen. Und mich gehen die syrischen und afghanischen Geflüchteten genauso etwas an, wie die amerikanische und französische Außenpolitik. Man kann sich nicht abgrenzen in dieser Welt, weil sie ein Wirkungsgefüge darstellt, in das jeder von uns verwickelt ist. „Der Traum von Homogenität ist eine Lüge“, sagt Thomas Krüger, der Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung, im Hintergrundgespräch. Globalisierung bedeute eben auch, dass es kein Begrenzen geben könne und daraus folge Pluralität. Worum es wirklich geht, ist, dass der Begriff des deutschen Volkes nicht ausschließen, sondern zusammenführen
sollte. Vielleicht würde es helfen, wenn Populisten wie Höcke realisieren würden, dass sie mit ihrer Hetze für Deutschland eigentlich Deutsche angreifen. Deutsche wie mich. Und wenn er und seine Partei- oder Ideologiegenossinnen und -genossen „Wir sind das Volk“ schreien, tun sie genau das. Zu diesem Volk gehöre ich dann nämlich nicht. Das wäre dann eine blonde deutsche Frau weniger in ihrer Vorstellung von Deutschland.
Laura Reisser 17, Nordheim ... hat in Berlin viele verschiedene Menschen kennengelernt und glaubt, dass genau diese Vielfalt Deutschland ausmachen sollte.
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er Gülistan Yüksel in ihrem Büro im Jakob-Kaiser-Haus besucht, dem fällt der Samowar auf, der auf einer Anrichte neben der Sofa-Ecke steht. Das aus zwei Kannen bestehende Gerät dient der Zubereitung von Tee auf türkische Art. Yüksel erinnert dieser an ihre Herkunft. Schwarzer Tee gehört in der Türkei zum Alltag. Yüksel ist seit 2013 Mitglied des Deutschen Bundestages. Sie wurde 1962 in Adana in der Türkei geboren: „Ich kann mich gut an meine ersten zwei Schuljahre an der Grundschule dort erinnern. Insbesondere an die Schuluniform oder daran, wenn mein Vater, der seit Mitte der 1960er Jahre in Deutschland lebte, zu Besuch kam. Er brachte immer Geschenke mit. Ich erinnere mich noch sehr gut an eine Puppe, die größer war als ich selbst.“
INTEGRATION IST EIN PUZZLE
GÜLISTAN YÜKSEL IST EINE DER WENIGEN BUNDESTAGSABGEORDNETEN MIT MIGRATIONSERFAHRUNG. MAXIMILIAN GERHARDS WURDE IN IHREM BÜRO MIT TÜRKISCHEM TEE EMPFANGEN.
NACH DEUTSCHLAND 1970 folgte die Familie dem Vater nach Nordrhein-Westfalen. Yüksel war glücklich darüber, endlich wieder mehr Zeit mit ihm verbringen zu können. Ihr erster Eindruck von der fremden Umgebung: „Es ist weniger los, es ist nicht so lebendig wie in der Türkei.“ Eine Hürde stellte die Sprache dar. Mit Händen und Füßen musste sich Yüksel anfangs verständigen: „Ich habe mich immer gefragt, was erzählen die da?“ Ihre Mitschülerinnen und Mitschüler halfen ihr aber, schnell Deutsch zu lernen. „Sprache ist der Schlüssel für Integration. Das habe ich selbst erfahren“, meint sie nach kurzem Nachdenken. Kommunikation war jedoch nicht die einzige Hürde: „Es gab Situationen, die wirklich nicht schön waren und in denen man zu spüren bekam, kein Teil dieser Gesellschaft zu sein. Ich habe aber immer versucht, das Positive rauszuholen.“ Yüksel wollte diese positiven Erfahrungen weitergeben. Wenn ande-
Fotos: Anna Rakhmanko
re Migrantinnen und Migranten Sprachschwierigkeiten hatten, half Yüksel als Übersetzerin bei Behördengängen und an anderen Stellen. 1995 begann sie, sich im Ausländerbeirat (jetzt Integrationsrat) der Stadt Mönchengladbach zu engagieren. Gleich mehrere Parteien wurden auf sie aufmerksam und baten sie, sich parteipolitisch einzubringen. Darunter war auch die SPD. Die Inhalte dieser Partei überzeugten sie und sie trat ein.
INTEGRATION BRAUCHT NICHT VIEL GELD
GÜLISTAN YÜKSEL IM GESPRÄCH
„Gleiches Recht für alle Menschen“ scheint ein Grundsatz in Yüksels politischen Überzeugungen zu sein. Immer wieder kommt sie auf das Kommunalwahlrecht für Nicht-EU-Ausländerinnen und Nicht-EU-Ausländer zu sprechen: „Zu sagen, Sie können doch die deutsche Staatsbürgerschaft annehmen, dann können sie auch wählen, ist mir zu einfach. Dadurch verändert sich doch an dem Menschen nichts. Die Frage ist, ob unsere Gesellschaft einen Nachteil dadurch hat. Darüber muss diskutiert werden. Insbesondere in der Politik.“ Das Thema geht ihr sichtlich nahe: „Ich war schon 32, als ich zum ersten Mal wählen durfte. Das muss man sich mal vorstellen.“ „Integration betrifft viele Aspekte. Es ist wie ein Puzzle, denn es braucht viele verschiedene Teile, die an der richtigen Stelle sitzen müssen, damit ein gutes Bild entsteht“, vergleicht Yüksel.
Sie betont, dass Integration vor Ort stattfinden muss und nicht von oben herab geschehen kann: „Für Integration muss nicht immer viel Geld investiert werden. Sie muss nur gewollt sein. Politik muss die Rahmenbedingungen schaffen und alle Parteien in Bund, Land und Kommune müssen gemeinsam daran arbeiten.“ Das macht Yüksel unter anderem als Mitglied im Ausschuss für Familie, Frauen, Senioren und Jugend. Sie versteht sich dort als Brückenbauerin und bringt sich mit ihren eigenen Erfahrungen ein. Das fremde Deutschland konnte schnell zur Heimat für Yüksel werden: „Ich glaube, mit dem ersten Schritt, den ich nach Deutschland gemacht habe, war das schon meine Heimat. Da waren meine Liebsten, da war meine Familie. Für mich ist Heimat dort, wo ich lebe, wo ich mich glücklich fühle und wo meine Liebsten um mich herum sind. So würde ich Heimat auch definieren.“ Yüksel hat ihre Wurzeln nicht vergessen. Sie sind sowohl in Adana als auch in Mönchengladbach. Mit nachdenklicher Stimme beschreibt sie: „Es ist so, du lebst mit deinen Geschwistern, Eltern in einer Wohnung. Wenn du ausziehst oder selber eine Familie gründest, ziehst du in deine eigene Wohnung, aber du vergisst dann doch nicht, wo du herkommst. Genauso verhält es sich mit der Heimat auch.“, sagt sie. „Ich hatte mal eine Phase, in der ich gesagt habe, ich schaffe das nicht mehr, das hat keinen Zweck. Integration oder
ehrenamtliches Engagement ist nicht gewollt.“ Yüksel brachte das nicht von ihrem Weg ab: „Ich habe weitergemacht. Dann kam 2007 ein Brief des Bundespräsidenten, der mir das Bundesverdienstkreuz am Bande verleihen wollte. Da habe ich gemerkt, ich bin auf dem richtigen Weg.“
DAS LETZTE PUZZLETEIL Fotos an der Wand über dem Samowar in Yüksels Büro zeugen von der Verleihung. Horst Köhler und Yüksel stehen vor einer Deutschlandfahne mitten im großen Festsaal von Schloss Bellevue. Mit bewegter Miene hält sie Medaille und Urkunde in ihren Händen. Möglicherweise ist mit der Verleihung das letzte Puzzleteil an seinen Platz gebracht worden: „Dieser Tag ist für mich unvergesslich.“
Maximilian Gerhards 18, Neef …hat türkischen Tee zu schätzen gelernt.
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DEB AT T E
EU-TÜRKEI-ABKOMMEN: NOTWENDIG ODER INHUMAN?
DIE VEREINBARUNG VOM 20. MÄRZ 2016 ZWISCHEN DER EU UND DER TÜRKEI HAT VIELE FRAGEN AUFGEWORFEN UND FÜR HEISSE DISKUSSIONEN GESORGT. WAS BEINHALTET SIE UND WAS SIND DIE STREITPUNKTE? WAS SPRICHT EIGENTLICH FÜR UND WAS GEGEN DAS ABKOMMEN? CAROLINA PFAU UND MAX BRETZMANN HABEN STELLUNG BEZOGEN.
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So wie es in Deutschland aussah, konnte es nicht weitergehen. Die Stimmung war mehr als angespannt: Man war überfordert mit der Zahl der Einreisenden und noch immer haben wir mit schwerwiegenden Problemen im Umgang mit den Geflüchteten zu kämpfen. Es hagelt aus sämtlichen Bevölkerungsschichten Kritik gegen die Flüchtlingspolitik. Einiges ist schief gelaufen, und diese Fehler galt es nun auszubügeln. Deutschland kann auf Dauer schlichtweg nicht jede und jeden aufnehmen, das ist Fakt. Eine Lösung musste her: das EUTürkei-Abkommen. Auf einem Gipfeltreffen im März 2016 geschlossen, umfasst es unter anderem die Rückführung illegal eingereister Geflüchteter aus der Türkei. Im Gegenzug werden legale Einreisemöglichkeiten für syrische Geflüchtete geschaffen. Zudem erhält die Türkei als Kompensation Hilfsgelder bis 2018, Fortschritte bei den EUBeitrittsverhandlungen und Visafreiheiten für ihre Bürger werden in Aussicht gestellt.
KRITIK AN DER KANZLERIN Kritikerinnen und Kritiker behaupten, Kanzlerin Angela Merkel würde sich damit von dem türkischen Präsidenten Erdogan abhängig machen, aber das stimmt nicht. Es ist eine Partnerschaft, von der beide Länder profitieren. Und was blieb der Kanzlerin auch anderes übrig? Sie musste endlich die illegale Einwanderung eingrenzen und notwendige Schritte, in diesem Fall das Abkommen mit der Türkei, einleiten. Dieses Abkommen ist durchaus sinnvoll. Deutschland muss weniger Flüchtende aufnehmen und für die Türkei gibt es gleich mehrere Vorteile. Teil des Abkommens ist die Eröffnung eines neuen Kapitels im Zuge der EU-Beitrittsverhandlungen. Ein weiterer Vorteil für die Türkei ist der Gewinn der Visafreiheit, welche
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Türkinnen und Türken die Einreise nach Deutschland ohne Visum ermöglichen soll. Ein Deal ohne Rücksicht auf die Menschen, die vor Krieg und Verfolgung fliehen? Das kann man so nicht sagen. Diejenigen syrischen Geflüchteten, die in der Türkei nachweislich nicht sicher sind, haben weiterhin Anspruch auf Asyl in Deutschland. Es ist also garantiert, dass Hilfesuchenden auch weiterhin geholfen wird, aber auf legalem Wege. Allerdings schreckt der erschwerte Weg viele Flüchtende ab und das hat einen entscheidenden Vorteil: Den Schlepperbanden wird damit die Geschäftsgrundlage entzogen. Dadurch, dass die Flüchtenden direkt auf dem Wasser abgefangen werden, wagen immer weniger Menschen die gefährliche Schifffahrt, die sowieso schon zu viele Opfer gefordert hat. Natürlich wird auch das Abkommen zwischen der EU und der Türkei nicht wie aus Zauberhand alle Probleme mit dem Schmuggel von Menschen aus der Welt schaffen. Allerdings ist es schon ein Gewinn, dass den Kriminellen die Ausübung ihres Geschäfts erschwert wird und damit zumindest weniger Flüchtende den Weg über das Meer wagen. Ob das Abkommen der absolut richtige Weg ist, um mit der Flüchtlingsproblematik umzugehen, ist eine andere Frage. Da aber derzeit keine europäische Lösung in Sicht ist, ist das EU-Türkei-Abkommen ein erster und richtiger Schritt, um Ordnung in das Flüchtlingschaos zu bringen, und damit durchaus legitim.
Carolina Pfau 20, Stolzenau … hat beim Schreiben dieses Kommentars viele Kekse gegessen.
CONTRA
Wir haben es geschafft! Die Balkanroute ist zu. Die Geflüchteten warten in Griechenland auf ihre Abschiebung. Einfach: Ende gut, alles gut. Dass wir uns dabei nicht nur an den Geflüchteten schuldig machen, sondern auch von der Türkei abhängig, ist unserer Bundesregierung wohl egal. Seit dem 4. April wird der „Deal“, den die Europäische Union mit der Türkei abgeschlossen hat, konsequent umgesetzt. Er beinhaltet, dass jeder Flüchtling, der ab dem 20. März 2016 illegal über die Türkei nach Griechenland kommt, wieder in die Türkei abgeschoben wird.
ERPRESSUNG IST KEINE PARTNERSCHAFT Dafür lässt Europa syrische Geflüchtete aus der Türkei einreisen. Die Intention der EU scheint zu sein, dass die Bedingungen, die die illegale Einwanderung nach Europa ermöglichen, erschwert werden. Den Schlepperbanden soll somit ihre Arbeitsgrundlage genommen werden. Jetzt weiten sich deren illegale, inhumane Geschäfte eben in andere Mittelmeeranrainerstaaten aus, zum Beispiel Libyen. Daran erkennt man, dass die Geflüchteten so lange aus ihrer Heimat nach Europa fliehen, so lange die Fluchtursachen nicht behoben sind. Und genau das ist der Punkt: Es hilft nichts, sich gegen fliehende Menschen abzuschotten. Wir müssen dafür sorgen, dass die Menschen aus den Kriegsregionen in einigen Jahren wieder in ihr Heimatland zurückkehren können. „Wir müssen unsere Außengrenze schützen, weil wir Schengen erhalten wollen.“ Dies sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel Anfang Februar. Die Aussage impliziert, dass wir angegriffen würden. Von wem? Von „den“ Geflüchteten etwa? Nein, es ist unsere Pflicht als hoch-
entwickeltes, gut strukturiertes und wirtschaftlich starkes Land, den Menschen zu helfen, die unsere Hilfe benötigen. Dabei sind wir allerdings nicht alleine in der Verantwortung, sondern brauchen die gesamte Europäische Union. „Wir müssen achtgeben, dass nicht der Tag kommt, an dem Europa ein größeres Interesse an der Türkei haben wird als die Türkei an Europa.“ Dies sagte der damalige deutsche Außenminister Guido Westerwelle 2013 zu den Beitrittsverhandlungen zwischen der Türkei und EU. Viele meinen, die Zeit sei gekommen, dass wir die Türkei brauchen, um die „Flüchtlingskrise“ zu bewältigen. Wir müssen mit der türkischen Regierung sprechen, aber wir dürfen uns nicht von ihr erpressen lassen! Recep Tayyip Erdogan vollzieht dieses Tauschgeschäft mit Geflüchteten nicht ohne Rekompens von der EU. Bis 2018 soll die Türkei sechs Milliarden Euro für die Flüchtlingspolitik erhalten. Erdogan betont, falls die Visafreiheit für Türkinnen und Türken nicht eingeführt werde, werde er den „Deal“ mit der EU auch nicht einhalten. Jede und jeder Schutzsuchende, der aus seiner Heimat fliehen muss, wird versuchen, eine neue Heimat in einem sicheren Staat zu finden. Durch Grenzen, seien sie natürlich oder künstlich, lassen sich diese Menschen nicht davon abhalten.
Max Bretzmann 17, Anderbeck … ist überzeugt, dass Geflüchtete eine Bereicherung für die EU sind.
»DER STAAT KANN NICHT BARMHERZIG SEIN, ER MUSS GERECHT SEIN«
2006 SAGTE WOLFGANG SCHÄUBLE ALS ERSTER POLITIKER, DASS DER ISLAM EIN TEIL VON DEUTSCHLAND SEI. ZEHN JAHRE SPÄTER HAT STEFANIE HUSCHLE MIT IHM IM FINANZMINISTERIUM ÜBER SEINE EIGENE HEIMAT, DIE FLÜCHTLINGSAUFGABE UND DAS TÜRKEI-ABKOMMEN GESPROCHEN.
wir helfen - auch dabei, dass sie möglichst schnell wieder in ihre Heimat zurückkehren können.
ALSO: DIE HEIMAT BLEIBT SYRIEN? Ja gut, manche werden irgendwann hier in Deutschland heimisch werden. Wer hier bleiben möchte und sich gut integriert hat, wer auf dem Arbeitsmarkt erfolgreich ist, der kann auch bleiben. Wir werden ohnedies durch die demographische Entwicklung mehr Zuwanderung und junge Menschen brauchen. Nur muss es alles im Maß gehalten werden.
SIE HABEN DIE AUSSAGE FRAUKE PETRYS ZUM EINSATZ VON SCHUSSWAFFEN AN DER DEUTSCHEN GRENZE STARK KRITISIERT. WIE RECHTFERTIGEN SIE DIE TATSACHE, DASS DIE TÜRKEI FINANZIELLE MITTEL VON DER EU ERHÄLT, OBWOHL DORT LAUT HUMAN RIGHTS WATCH AN DER GRENZE AUF FLÜCHTENDE GESCHOSSEN WIRD?
WOLFGANG SCHÄUBLE IST DIE MEISTE ZEIT IN BERLIN: »ABER HEIMAT IST UND BLEIBT DIE ORTENAU.«
HERR SCHÄUBLE, WAS BEDEUTET HEIMAT FÜR SIE? Für mich ist Heimat zum einen der Ort, an dem ich aufgewachsen bin – obwohl ich da gar nicht mehr oft hinkomme, denn meine Eltern und meine Brüder sind tot. Aber da empfinde ich die Erinnerung an meine Kindheit. Und natürlich ist Heimat auch dort, wo die eigenen Kinder groß geworden sind und wo man lebt. Zwar bin ich momentan mehr in Berlin als in Offenburg, aber Heimat ist und bleibt die Ortenau. Wenn der SC Freiburg aufsteigt, ist das für mich wichtiger, als wenn Union Berlin aufsteigt.
SIE HABEN VOR 10 JAHREN ALS ERSTER POLITIKER IN DEUTSCHLAND GESAGT, DER ISLAM SEI EIN TEIL VON DEUTSCHLAND. ERINNERN SIE SICH? Ja, sehr gut sogar!
WIE STEHEN SIE HEUTE DAZU? Naja, das ist unbestreitbar wahr, nicht? Dass der Islam ein Teil von Deutschland ist, war schon 2006 offensichtlich. Deswegen habe ich damals gesagt: Die Menschen aus dem islamischen Kulturkreis machen einen erheblichen Teil unserer Bevölkerung aus. Darauf müssen wir uns einstellen. Wir müssen den Muslimen sagen, wenn ihr in Deutschland lebt, müsst ihr auch die deutsche Ordnung kennenlernen und hier heimisch werden. Und umgekehrt
Foto: Stephanie Beutler
müssen wir dazu stehen, dass die Muslime zu uns gehören. Damals habe ich die Islamkonferenz gegründet. Inzwischen gibt es Ausbildungen in islamischer Theologie an deutschen Universitäten. Diejenigen, die behaupten, der Islam gehört nicht zu Deutschland, haben genauso wenig Recht, wie diejenigen, die jetzt aus der Türkei eine islamische Rechtsordnung machen wollen.
ANFANG DES JAHRES MEINTEN SIE, DIE RÜCKKEHR DER SYRISCHEN FLÜCHTLINGE SOLLTE DER NORMALFALL SEIN. SOLL DEUTSCHLAND FÜR DIE GEFLÜCHTETEN KEINE NEUE HEIMAT WERDEN? In Syrien ist Krieg, in Afrika gibt es Dürreperioden, wir werden einen Klimawandel erleben. Nicht alle Menschen auf der Welt, die fliehen müssen, werden nach Deutschland oder Europa kommen können. Der Staat kann nicht barmherzig sein, er muss gerecht sein, das ist ein Unterschied. Wir werden mehr Menschen aufnehmen und diese Menschen auch gut behandeln. Doch wir müssen Hilfsbereitschaft und die Aufrechterhaltung der Ordnung miteinander vereinbaren.
SOLL NUN DEUTSCHLAND FÜR DIE GEFLÜCHTETEN ZUR HEIMAT WERDEN?
In der Türkei ist sicherlich nicht alles in Ordnung, aber man muss fair über die Türkei urteilen. Die Türkei hat mindestens 2,5 Millionen Menschen aufgenommen und unternimmt große Anstrengungen, um die Kinder in die Schule zu bringen. Zwischendurch haben sie mal die Grenze geschlossen, weil sie sagen, zu viele können sie auch nicht aufnehmen. Sie befinden sich ja in unmittelbarer Nachbarschaft zu Syrien. Dass sie schießen, ist mir nicht bekannt, und das ist auch keine Rechtfertigung dafür, unverantwortliches Zeug zu reden.
DIE FRAGE BEZOG SICH NICHT AUF DIE AUFNAHMEBEREITSCHAFT DER TÜRKEI, SONDERN AUF DIE MENSCHENRECHTLICHEN PROBLEME, DIE DORT EXISTIEREN. Natürlich macht die Türkei Dinge, die gar nicht mit unseren Werten zu vereinbaren sind. Die Einschränkungen der Pressefreiheit und vieles andere mehr sind überhaupt nicht in Ordnung. Trotzdem müssen wir anerkennen, was die Türkei leistet, und ihr die Partnerschaft anbieten, statt sie von oben herab zu kritisieren. Die Türkei hat doppelt so viele Flüchtlinge aufgenommen wie ganz Europa und braucht sich in der Hinsicht von den Europäern keine Belehrungen anzuhören. Dieses Interview wurde Ende April 2016 geführt.
Stefanie Huschle 20, Oberkirch ...weiß jetzt, wo Schäuble seine Entscheidungen trifft.
Für die Menschen, die dauerhaft hierbleiben können: ja. Denen, die nicht dauerhaft hierbleiben können, wollen
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SPRACHLOSE LIEBE
WENN EINES KEINER WORTE BEDARF, IST ES DIE LIEBE. DIES BEGREIFT RAJAA, EINE GEFLÜCHTETE IRAKERIN, AUSGERECHNET IN EINEM DEUTSCHKURS. SIE VERLIEBT SICH IN YUSUF, IHREN LEHRER. MÜCELLA SEN ERZÄHLT EINE GESCHICHTE ÜBER DIE GRENZENLOSIGKEIT DER GROSSEN LIEBE.
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iebe - darunter verstehen Rajaa und Yusuf Leidenschaft, Zärtlichkeit und Zweisamkeit. Glück und Liebe, das alles hat Rajaa lange nicht mehr gefühlt. Das Gefühl, Schmetterlinge im Bauch zu haben, war ihr fremd. Das ändert sich, als sie Yusuf kennenlernte. Irak, ein Land in Trümmern. Für die einen ist es nur ein weiteres Kriegsgebiet. Für die anderen ist es Heimat: ein Ort voller Erinnerungen und Erfahrungen. Liebe, Freude, Leid und Trauer machten dort das Leben der gebürtigen Irakerin Rajaa aus. In ihrer Heimat war sie lange nicht mehr glücklich, zu groß war die Angst um das
eigene Leben und das ihrer Angehörigen. Jede Nacht schlief sie mit dem Gedanken ein, am Morgen vielleicht nicht mehr aufzuwachen. Rajaa ist 24 Jahre alt, eine recht zierliche Person. Im Gegensatz dazu hat sie eine starke Persönlichkeit. Im Gespräch erzählt sie nachdenklich über ihre Vergangenheit, oft schaut sie dabei Yusuf in die Augen. Irgendwann beschloss Rajaas Familie, das Land zu verlassen, in der Hoffnung, an einem anderen Ort glücklich zu werden. Zunächst sollte die Türkei dieses Land werden. Etwa ein Jahr lang lebte die
Familie dort – ohne jegliche Sprachkenntnisse. Es gab auch keine Möglichkeit, einen Sprachkurs zu besuchen. Anders als in Deutschland: Hier durfte Rajaa in einen Deutsch-Vorkurs.
DIE MAGISCHE BEGEGNUNG Dort lernte Rajaa nicht nur die deutsche Sprache, sondern auch Yusuf kennen. Yusuf ist ein 24-jähriger Deutschtürke aus Essen. Zunächst brachte die Arbeitslosigkeit Yusuf dazu, seine Deutschkenntnisse mit Geflüchteten zu teilen, um so seinem Traumberuf des Lehrers ein Stück näher zu kommen. Yusuf wirkt weltoffen und extrovertiert. Auf der einen Seite also eine junge Frau, die Deutsch lernen will. Auf der anderen Seite ein junger Mann, der ihr Deutschlehrer ist. Dabei sprechen beide keine gemeinsame Sprache. Sie spricht fließend Arabisch, er spricht Deutsch und Türkisch.
Beziehung nicht einzugehen: Es wäre zu anstrengend, zu strapazierend. Eventuell würde man sich erst gar nicht ansprechen. Anders bei Yusuf und Rajaa. Wenn Rajaa mit Yusuf zusammen ist, erlebt sie das Gefühl von Freude und Zufriedenheit. Vier Monate, nachdem Rajaa das erste Mal in Yusufs Kurs saß, verloben sich die beiden. Bald wollen sie heiraten. Liebe auf den ersten Blick – das klingt märchenhaft. Wie jedes Märchen auch hat dieses eine Hürde zu überwinden: Die Kommunikationsprobleme und kulturellen Unterschiede der beiden und ihrer Familien. Den Deutschkurs kann Rajaa nicht weiter besuchen, sie wartet auf die Erlaubnis des Integrationsamtes. Wer weiß: Mit Yusuf als Deutschlehrer und Ehemann braucht sie den Kurs bald vielleicht gar nicht mehr.
Grafik: Mikkel Sommer
LIEBE OHNE WORTE
DIE BEIDEN SPRECHEN DREI SPRACHEN - ABER KEINE GEMEINSAM. TROTZDEM SIND SIE VERLIEBT.
Yusuf und Rajaa sind in einer Beziehung, können sich aber nicht unterhalten. Zwei verschiedene Lebensweisen, unterschiedliche Herkunftsländer, diverse Kulturen, zwei komplett andere Sprachen. Für viele wären diese Unterschiede möglicherweise ein Grund, solch eine
Mücella Sen 19, Gelsenkirchen ... weiß jetzt, dass die Liebe keine Erfindung von Hollywood ist.
FRUCHTFLEISCH Wonach schmeckt Heimat?
NACH SCHWARZBROT MIT BERGKÄSE UND FRISCHEN, KNACKIGEN ÄPFELN.
»HERFORDER«
FIRAS ARSALAN, 32 JAHRE FÜR MICH SCHMECKT HEIMAT SÜSS, WIE HALAWET EL JIBN (BLÄTTERTEIGTEILCHEN MIT SIRUP).
Foto: Foto AG Gymnasium Melle
SUSANN FEUERSCHÜTZ, 30 JAHRE, SACHBEARBEITERIN, BPB IN BERLIN
»SÜSS«
Foto: Alisa Sterkel
Foto: privat
»SCHWARZBROT«
TIM OSTERMANN, 36 JAHRE, MDB HEIMAT SCHMECKT FÜR MICH WIE HERFORDER PILS, DAS BIER AUS MEINEM WAHLKREIS. DAS GIBT ES HIER BEI MIR IM BÜRO IN BERLIN AUCH.
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WG MIT EINEM ABGEORDNETEN
DER CDU-BUNDESTAGSABGEORDNETE MARTIN PATZELT AUS BRIESEN IN BRANDENBURG HAT ZWEI GEFLÜCHTETE BEI SICH AUFGENOMMEN. MIT LAURA HACKL HAT ER SICH ÜBER SEINE MOTIVATION, REAKTIONEN DES UMFELDS UND EMOTIONALE MOMENTE UNTERHALTEN.
W
ohin gehst du, wann kommst du wieder? Das sind Fragen, die der Bundestagsabgeordnete Martin Patzelt beantworten muss, wenn er das Haus verlässt. Doch sie stammen nicht von seiner Frau oder seinen Kindern, sondern von den Eritreern Awet und Haben. Die beiden leben seit vergangenem Jahr bei dem CDU-Politiker und seiner Familie. Kennengelernt hat Patzelt seine neuen Mitbewohner im Gottesdienst seiner Gemeinde. Nachdem er und seine Frau immer wieder Zeit mit den beiden verbracht hatten, waren es schließlich Awet
und Haben, die fragten, ob sie nicht einziehen könnten. Seine Frau reagierte zunächst kritisch, Patzelt konnte sie jedoch überzeugen.
INTEGRATION IM ALLTAG Seitdem erleben Patzelt und seine Familie eine lehrreiche Zeit. Zwei sehr unterschiedliche Kulturen treffen in ihrem Haushalt täglich aufeinander, was Akzeptanz und Geduld erfordert. Entscheiden sich Familien dazu, Geflüchtete in ihre Familie aufzunehmen, benötige es in er-
ster Linie eine innere Offenheit gegenüber dem Fremden, meint Patzelt. „Geister vertreibt man am besten dadurch, dass man Licht macht“, erklärt er. Auch das persönliche Umfeld spielt eine entscheidende Rolle, die Angst vor Abneigung ist oft groß. Patzelt hat solche Situationen selbst erlebt: Als er die beiden Eritreer zu einer Familienfeier mitnehmen wollte, reagierten die Gastgeber plötzlich mit Skepsis. Patzelt sieht es als seine Aufgabe, die Geflüchteten so in die Familie zu integrieren, dass sie von unbekannten Fremden zu Familienmitgliedern werden.
Der Politiker erinnert sich an viele besondere Momente mit seinen neuen Mitbewohnern. Emotional bewegend war es für ihn, als er mit einem der beiden über Morddrohungen gegen ihn sprach: „Ich habe erklärt, dass er keine Angst haben muss und wir hier sicher sind. Er meinte dann aber, er hätte Angst um mich!“ Erfahrungen wie diese sind es wert, sich Gedanken über die eigenen Möglichkeiten der Aufnahme von Geflüchteten zu machen. Kooperiert man bei der Aufnahme mit den zuständigen Behörden, können Miet- und Betriebskosten erstattet werden. Nur muss man sich eben Zeit nehmen. Zeit für das Neue, Zeit, um sich zu überwinden und Zeit für Verständnis, wenn sich Kulturen und Ansichten vereinen. Patzelt ist überzeugt: „Da sind zwei fremde, junge Männer, die haben bei uns ein Stückchen Heimat gefunden und erhalten Schutz und Hilfe in einer schwierigen Lebenssituation.“
Laura Hackl 20, Bad Kötzting ... würde gerne auch ein Zimmer vergeben, hat aber nur eine Einzimmerwohnung.
MARTIN PATZELT TEILT SEINEN WOHRAUM GERNE: BEI IHM SIND GEFLÜCHTETE WILLKOMMEN.
Foto: Anna Rakhmanko
DER WEG WAR DAS ZIEL
FÜHRT DAS MUSLIMISCHE FRAUENBILD ZU INTEGRATIONSPROBLEMEN? GESINE STAUCH UND JULIANE KRAUS HABEN SICH AUF DIE SUCHE NACH EINER ANTWORT GEMACHT. EIN EINBLICK IN EINE RECHERCHE, IN DER JEDE ANTWORT NEUE FRAGEN AUFWARF.
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as sind Probleme der Integration? Welche Bedeutung haben dabei Rollenbilder? Wir haben uns die Frage gestellt, ob ein muslimisches Frauenbild die Integration erschwert. Doch was ist DAS muslimische Frauenbild? Schnell verfällt man in Schubladendenken: Wenn man davon ausgeht, dass im Islam die Frau dem Mann untergeordnet ist, klingt das zunächst pauschal. Oder etwa konservativ? Erscheint zunächst logisch, wenn man – wie wir – in einem freiheitlich organisierten Land aufgewachsen ist. Aber ist das Adjektiv „konservativ“ nicht relativ? Was soll es bedeuten? Begriffe und Definitionen sind bei diesem Thema schwer greifbar. Um eine Antwort zu finden, haben wir mit Politikerinnen und Politikern, sowie einer Islamwissenschaftlerin gesprochen. Jede und jeder hatte andere Ansätze, von denen er oder sie ausgeht.
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Katja Kipping, Fraktionsvorsitzende der Linkspartei im Bundestag, glaubt beispielsweise: „Verschiedene Geschlechterbilder existieren, sind aber nicht nur an Religionszugehörigkeiten festzumachen“.
EINE FRAGE DES FEMINISMUS? Diese Haltung erweitert die Frage in Bezug auf muslimische Frauenbilder um einen weiteren Aspekt: die Frage nach Geschlechterbildern überhaupt. Ist es möglich, dass Probleme in patriarchalen Verhältnissen unabhängig von kulturellen Unterschieden entstehen? Darf man diese Debatte überhaupt nur auf Religionen reduzieren? Man muss wohl Geschlechterverhältnisse im Allgemeinen betrachten, um ausgewogen beurteilen zu können. Stefan Heck, Bundestagsabgeordneter der CDU, ist der Meinung: „Frauenrechte sind leider nicht in allen Ländern so ge-
währleistet, wie wir es aus dem westlichen Europa kennen.“ Trotz allem sind Probleme auch durch radikale religiöse Strömungen möglich. Als Gefahr für unser Zusammenleben sieht Sören Bartol, Bundestagsabgeordneter der SPD, fundamentalistisches Gedankengut und nicht den Islam an sich. Dieser gehöre wie jede andere Religion zu Deutschland. Während unserer Arbeit hat sich unsere Eingangsfrage als immer komplexer erwiesen. Mögliche Antworten machten das Thema immer vielfältiger und uns wurde klar: Es kann nicht die eine Antwort geben. Jede und jeder, mit dem wir geredet haben, vertritt einen klaren Standpunkt. Diese ergeben zusammengenommen jedoch kein einheitliches Bild. Wenn es um Frauen und ihre Stellung in der Gesellschaft geht, erscheint es uns, als müsse man sehr differenziert analysie-
ren und genau hinschauen. Vielleicht ist die Grundlage für ein harmonisches Zusammenleben „gegenseitiges kulturelles Verständnis“, wie Islamwissenschaftlerin Sigrid Schubart glaubt. Denn, egal ob Kultur oder Religion, der Interpretationsspielraum für Begriffe rund um Frauenbilder und Islam ist groß.
Gesine Stauch 16 Jahre, Dresden Juliane Kraus 19 Jahre, Marburg ... haben mehr Fragen als Antworten.
OBDACHLOS GLEICH HEIMATLOS?!
BEDEUTET KEINE BLEIBE, GLEICHZEITIG KEINE HEIMAT ZU HABEN? AUF DEM ALEXANDERPLATZ UND VOR DEM BAHNHOF ZOO HAT JULIA KLEENE BERLINER OBDACHLOSE IN IHREM »ZUHAUSE« BESUCHT UND MIT IHNEN ÜBER IHR HEIMATGEFÜHL GESPROCHEN.
Foto: Julia Kleene
H
elmut* sitzt gegenüber der Bahnhofsmission am Bahnhof Zoo in Berlin: Neben ihm eine Packung lieblicher Tetrapackwein und eine Plastiktüte mit dem Allernötigsten. Er lebt seit vier Monaten auf der Straße. Nachdem er sich umbringen wollte, hat er den Kontakt zu seiner Familie verloren. Jetzt ist das Viertel Wilmersdorf in Berlin das Zuhause des 45-Jährigen. „Trotzdem fehlt mir meine Familie sehr“, sagt er mit Tränen in den Augen. Sobald er von seiner Vergangenheit erzählt, reagiert der 45-Jährige sehr emotional. Trotz vieler Freunde auf der Straße kann Helmut sich nicht vorstellen, jahrelang ohne Dach über dem Kopf zu leben. Zu hart und unbeständig sei das Leben auf der Platte. Wie viele Menschen in Deutschland auf der Straße leben, weiß das Statistische Bundesamt nicht. Die Erfassung sei ein zu hoher bürokratischer und finanzieller Aufwand. Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Wohnungslosenhilfe
(BAGW) schätzt die Anzahl der Woh- nung, aber dort verbringt er kaum Zeit. ße überwiegt das Bedürfnis nach einem nungslosen im Jahr 2014 auf 335 000. „Ein Zuhause zu haben bedeutet nicht Dach über dem Kopf. „Heimat riecht für Ganz anders sieht das Michael*. Heimat zwangsläufig, dass ich mich dort auch zu mich nach Bier, dreckigen Unterhosen und Abenteuern.“ ist für ihn nichts Beständiges. Kein ex- Hause fühle“, sagt er. Fazit: Jeden wohnungslosen Menakter Ort, sondern die Umgebung seiner schen kennzeichnet ein anderes SchickFreunde und das Wohlgefühl, willkom- HEIMAT IST ZUSAMMENHALT sal. Viele von ihnen haben auf der Straße men zu sein. Die Gefährten auf der StraMit 13 ist er zusammen mit seinem Bruder eine Heimat gefunden, die nicht ortsgeße, vor allem die Nähe zu der Frau, die er seine Adoptivmutter nennt, geben ihm durchgebrannt. Seitdem zieht es ihn im- bunden ist. das Gefühl einer Familie. Er glaubt nicht, mer wieder nach Berlin. „Zusammenhalt ist für mich Heimat“, erklärt er. Basti ist *alle Namen von der Redaktion geändert. dass jeder Mensch unbedingt eine Heimat freiwillig auf die Straße gegangen, das ist benötigt - aber einen Rückzugsort. laut dem Statistischen Bundesamt bei fast der Hälfte der Wohnungslosen so. In 51 EINE GROSSE FAMILIE Prozent der Fälle sei der Verlust des Jobs Seit mehr als sechs Jahren lebt er auf der der Grund. Straße. „Im Sommer ist die ganze Welt Seine Mutter hat sich dafür oft VorJulia Kleene mein Zuhause, aber im Winter wünsche würfe gemacht. Nach jahrelangem Schwei20, Vrees ich mir manchmal eine Bleibe“, sagt der gen halten die beiden seit mehreren Mo27-Jährige. Sieben Obdachlose sind laut naten Kontakt. „Muddern, mach dir keene … durfte die Fotos nur im der BAGW in diesem Winter trotz zahl- Sorgen“, sagt er ihr am Telefon. „Familie Gegenzug für eine Spende machen. reicher Kältehilfeprogramme erfroren. gehört für mich auf jeden Fall zur Heimat Der 31-jährige Basti* schätzt die dazu, doch nicht jeder“, sagt er und erFreiheiten, die ihm die Straße bietet. zählt von den Dreschen seines Stiefvaters. Zwar hatte er für kurze Zeit eine Woh- Trotz der Verbundenheit mit der Stra-
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»UNGARN BESTEHT NICHT NUR AUS ORBÁN!«
ALS KORRESPONDENT WAR JOACHIM JAUER FÜR DAS WESTFERNSEHEN IN DER DDR UND IN OSTEUROPÄISCHEN STAATEN TÄTIG. IM GESPRÄCH MIT ALISA STERKEL UND FELIX RUSS KANN ER ANGESICHTS DER HEUTIGEN BERICHTERSTATTUNG ÜBER GEFLÜCHTETE UND UNGARN NUR DEN KOPF SCHÜTTELN.
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erlin Zollernhof. 11 Uhr morgens. Joachim Jauer ist pünktlich. Aktenkoffer in der rechten Hand, aufrechter Gang, adrette Kleidung. Er lädt uns auf einen Kaffee ein. Unser Gespräch beginnt. Der Berliner überrascht uns gleich zu Be-
Man merkt direkt: Er kennt sich aus und das Thema ist ihm sehr wichtig. Anschaulich erzählt er von seinen Erfahrung und verleiht seinen Worten mit Gesten Nachdruck. Für ihn hat dieser Tag eine symbolische Bedeutung. Hel-
zur Hilfe holen sollen. Jauer geht noch einen Schritt weiter und erzählt uns eindringlich, dass ein wichtiger Teil der Geschichte immer ausgeblendet werde. Man vergesse, dass den „Wir sind das Volk“Rufen und dem Fall der Mauer Revolutionen in Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei vorausgingen. „Am Anfang gab es in der DDR keine Demonstrationen, vorher haben die DDR-Bürger nicht den Mut gehabt. Das kann man doch mal laut sagen. Aber in Polen sind sie schon zehn Jahre lang auf die Straße gegangen und haben sich tot schießen lassen. Weiß man das, sieht die Welt schon ganz anders aus. Das macht das Heldentum derer, die damals in der DDR auf die Straße gegangen sind, gar nicht kleiner. Nur sie waren es nicht alleine.“
AUDIATUR ET ALTERA PARS
WARNT VOR EINSEITIGER BERICHTERSTATTUNG: JOACHIM JAUER
ginn, indem er die Rollen vertauscht und uns eine Frage stellt. Diese wollen wir jetzt weitergeben: Was verbindet ihr mit dem 11. September, einem Tag, der unsere Welt verändert hat? Etwas Furchtbares und den Anfang des Kriegs gegen den Terror? Genau das ist auch unsere Antwort. Der Ex-Korrespondent antwortet zu unserem Erstaunen, dass genau das den 11. September nicht allein beschreibe – zumindest nicht den Tag, den er meine. Er erklärt uns, dass er den 11. September 1989 meint. Das war genau der Tag, an dem Ungarn 50 000 DDR-Flüchtlinge in die Freiheit entließ. Er selbst erlebte die Zeit der Spaltung und den Umbruch in Europa live mit.
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Foto: Mohamad Osman
mut Kohl habe damals 1989 versprochen, dass das deutsche Volk Ungarns Hilfe nie vergessen werde. Dieses Versprechen haben wir – jedenfalls im Herbst 2015 – nicht eingelöst, so Jauer.
ES GIBT EINE VORGESCHICHTE Nun hat genau um diese Zeit im September 2015 Angela Merkel die Grenze für tausende Menschen geöffnet, die in Ungarn festgesessen haben. Geflüchtete aufzunehmen und die Ungarn dann als die Bösen darzustellen, sei falsch. Vielmehr hätte man mit Ungarn zusammen nach einer Lösung suchen sollen, wie damals 1989 die Malteser, das Deutsche Rote Kreuz, das Technische Hilfswerk
Jetzt sind wir am Fragendrücker. Wie denkt Jauer über die Medien? Der 75-Jährige, dem man sein Alter nicht anmerkt, macht den für ihn wichtigsten journalistischen Grundsatz klar: Audiatur et altera pars. Das ist Latein und bedeutet, dass auch immer die andere Seite gehört werden muss, um gelungen und vor allem verantwortungsvoll zu berichten. Das Anhören der anderen Seite vermisst er auch in der Flüchtlingsthematik. Er stellt die rhetorische Frage, ob je ein deutscher Journalist oder eine deutsche Journalistin eine landesweite Untersuchung in Ungarn gemacht hat, die den Umgang der ungarischen Bevölkerung mit den Flüchtlingen aufzeigt. Er beantwortet die Frage mit nein. „Ungarn ist nicht nur Orbán, da sind noch neun bis zehn Millionen andere Menschen im Land.“ Generell hat Jauer den Eindruck, dass die Medien heute „einem Mainstream folgen“. Dabei bedauert er, dass Medienverantwortliche sich zunehmend nach dem richten, was das Publikum vermeintlich lesen, sehen und hören will, statt auf eigene Schwerpunkte zu setzen. Dadurch würden häufig andere wichtige Themen gar nicht aufbereitet. Das Problem der einseitigen Berichterstattung erinnert Jauer an die frühen Jahre der damaligen DDR. Er habe damals „wunderbare Dokumentationen“ über entlegene Länder gesehen, allerdings nicht aus der DDR. Dieser Staat sei bis weit in die sechziger Jahre ein „weißer Fleck auf der Fernsehlandkarte“ gewesen. Jauer erzählt von seiner allerersten Reise in die DDR. Getarnt als britischer Reporter stieg er in Oberwiesental auf einem Marktplatz aus einem Mercedes aus und wollte berichten. „Die Leute dachten wohl, ich bin ein Marsmännchen.“ Prompt machte er eine Umfrage. Er verstand sofort, dass alle diese Leute
Westfernsehen schauten. „Das war für mich als junger Journalist das Ur-Erlebnis.“ Er habe an diesem Punkt verstanden, welche Wirkung dieses „unkontrollierbare grenzüberschreitende Medium“ hat.
PEGIDA & CO. Wir bleiben im Osten: Warum entstehen Gruppen wie Pegida gerade in Ostdeutschland? Die Wurzeln dieser Szenarien lägen in der Vergangenheit, sagt Jauer. Nach der Wende habe der Osten die westliche Lebensweise übergestülpt bekommen – die meisten hätten diese angenommen, aber andere seien nie damit fertig geworden. Die hießen heute dann DDR, „Der Doofe Rest“. Die Menschen in Ostdeutschland seien mit einem völlig anders geregelten Alltag, zumindest zeitweiliger Arbeitslosigkeit, neuen Mietverträgen und anderen Gesetzen konfrontiert worden. Wer zur Wende 40 Jahre alt war, ist heute 65 Jahre alt – viele dieser Menschen seien in ihrem Beruf nie mehr auf die Beine gekommen. „Wenn jemand 20 Jahre lang für Hartz IV ansteht, hat der einfach die Nase voll.“ Jauer habe versucht, mit Pegida-Anhängern zu sprechen – ohne Erfolg. Dennoch, sagt er, sei es wichtig, ihre Sorgen und Ängste ernst zu nehmen. Denn Abstempeln sei der falsche Weg. Doch dieser Wortwechsel koste nun einmal Mühe. In Sachen AfD müsse man zwischen Führungsfiguren und Wählerinnen und Wählern differenzieren. Der Dialog sei entscheidend, um auf die Unzufriedenheit einzugehen. Das sei die Aufgabe der Abgeordneten – „es heißt abgeordnet und nicht abgehoben.“ Joachim Jauer. Ein sympathischer Mann, der weiß, wovon er spricht und sich seiner exzeptionellen Eindrücke bewusst ist. Seine Nachrichten bekomme er heute aus den Medien und erfahre sie nicht mehr selbst vor Ort – er sei angewiesen auf eine niveauvolle Berichterstattung. Seine tägliche Zeitung würde er in ein paar Jahren am liebsten in Italien zwischen Pinien und Chianti lesen – das Land liebe er sehr.
Alisa Sterkel 17, Saarbrücken Felix Russ 17, Frankfurt a. M. ...finden, dass Menschen wie Jauer essenziell sind, wenn es um die Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte geht.
F RISC H , F R U CH T I G, S E L BS TGE P R E S S T – M IT M ACHEN @PO LIT IK O RAN G E.DE
I MPR ESSUM Diese Ausgabe von politikorange entstand beim Jugendmedienworkshop im Deutschen Bundestag 2016, der vom 24. bis 30. April in Berlin stattfand. Er ist ein Projekt der Jugendpresse Deutschland in Kooperation mit der Bundeszentrale für politische Bildung und dem Deutschen Bundestag.
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rintmagazine, Blog und Videos: politikorange erreicht sein Publikum über viele Kanäle und steht neuen Wegen offen gegenüber. Junge, kreative Köpfe berichten in wechselnden Redaktionsteams aus einer frischen Perspektive. Ob aktuelle Themen aus Politik und Gesellschaft oder die kritische Begleitung von Veranstaltungen – politikorange ist mittendrin.
POLITIKORANGE – DAS MULTIMEDIUM politikorange wurde 2002 als Veranstaltungszeitung ins Leben gerufen. Rund 130 Ausgaben wurden seither produziert. Seit Anfang an gehören Kongresse, Festivals, Parteitage und viele weitere Events zum Programm. 2004 kamen Themenhefte hinzu, die aktuelle Fragen aus einer jugendlichen Sichtweise betrachten. 2009 nahm politikorange Video und Blog ins Portfolio auf und präsentiert spannende Beiträge unter den Labels politikorange TV und blog.politikorange.de.
WO KANN ICH POLITIKORANGE LESEN?
spruchsvolle Ergebnisse aus jugendlicher Perspektive. Frei nach dem Motto: frisch, fruchtig, selbstgepresst.
Gedruckte Ausgaben werden direkt auf Veranstaltungen und über die Landesver- WER MACHT POLITIKORANGE? bände der Jugendpresse Deutschland e.V. verteilt. Im Online-Archiv auf politiko- Junge Journalistinnen und Journalisten range.de können digitalisierte Magazine – sie recherchieren, berichten und komdurchgeblättert und Videos aufgerufen mentieren. Wer neugierig und engagiert werden. Printausgaben können kosten- in Richtung Journalismus gehen will, los nachbestellt werden – natürlich nur, ist bei politikorange an der richtigen solange der Vorrat reicht. Für das Stö- Adresse. Genauso willkommen sind bebern auf dem Blog genügt der Aufruf geisterte Fotografinnen und Fotografen, Videoredakteurinnen und -redakteure von blog.politikorange.de. sowie kreative Köpfe fürs Layout. politikorange funktioniert als Lehrredaktion: WARUM EIGENTLICH Die Teilnahme ist kostenlos und wird POLITIKORANGE? für jede Ausgabe neu ausgeschrieben – Welchen Blick haben Jugendliche auf der Einstieg ist damit ganz einfach. Den Politik und gesellschaftliche Verände- Rahmen für Organisation und Vertrieb rungen? politikorange bietet jungen stellt die Jugendpresse Deutschland. Menschen zwischen 16 und 26 Jahren Du willst dabei sein? Infos gibt es eine Plattform für Meinungsaustausch unter politikorange.de, in unserem Newsund den Ausbau eigener Fähigkeiten. letter und via Facebook und Twitter. Engagement und Begeisterung sind die Grundpfeiler für journalistisch an- mitmachen@politikorange.de
Herausgeber und Redaktion: politikorange c/o Jugendpresse Deutschland e.V., Alt-Moabit 89, 10559 Berlin www.politikorange.de Chefredaktion (V.i.S.d.P.): Luise Schneider (luise.schneider@berlin.de), Sebastian Stachorra (seb.stachorra@jp-rheinland.de) Redaktionsleitung: Sandra Schaftner, Julian Weber Redaktion: Jan Hendrik Blanke, Max Bretzmann, Tristan Dück, Noah Eberle, Anne Eschenweck, Elias Ettenkofer, Maximilian Gerhards, Lukas Grundmann, Lilly Grünmüller, Linda Madlen Gurski, Laura Hackl, Stefanie Huschle, Jan Jüttner, Julia Kleene, Juliane Kraus, Sophie Laaß, Leander Löwe, Samia Mohammed, Leopold Papke, Carolina Pfau, Beatrice Pieper, Laura Reisser, Ann-Christin Rinker, Felix Russ, Annika Schulze, Mücella Sen, Gesine Stauch, Johann Stephanowitz, Alisa Sterkel, Lena Tomalik Bildredaktion: Anna Rakhmanko (rakhmanko@googlemail.com) Mohamad Osman (mdm_osman@hotmail.com) Layout: Benedikt Bungarten (b.bungarten@jugendpresse.de) Projektleitung: Inga Dreyer (i.dreyer@jugendpresse.de) Jens Moggert (j.moggert@jugendpresse.de) Betreuung: Leonard Kehnscherper, Bernd Fiedler, Christoph Umhau Druck: BVZ Berliner Zeitungsdruck GmbH Auflage: 16.000 Besonderer Dank gilt: dem Deutschen Bundestag (Dr. Siegfried Gelbhaar, Christoph Grunske, Uwe Dohmen, Andrea Arolt, Katerina Ness, Anja Konanec und Kristina Kredler), der Bundeszentrale für politische Bildung (Thomas Krüger, Susann Feuerschütz, Holger Kulick, Fatih Demircan, Miriam Vogel, Dr. Michaela Conen), der Jugendpresse Deutschland sowie unserer Schirmherrin Petra Pau und den engagierten Abgeordneten.
Foto: Anna Rakhmanko
DER JUGENDMEDIENWORKSHOP IM DEUTSCHEN BUNDESTAG
U
nser Foto zeigt das Team und die Teilnehmenden des Jugendmedienworkshops im Deutschen Bundestag 2016. 30 junge Journalistinnen und Journalisten zwischen 16 und 20
Jahren haben sich kritisch mit dem aktuellen politisch-parlamentarischen und gesellschaftlichen Geschehen auseinandergesetzt. Vorab und während des Workshops werden journalistische Grundlagen vermittelt und die kritische Auseinandersetzung mit den Medien geschult. 2016 trafen die jungen Medi-
enmachenden während der Workshopwoche auf Abgeordnete des Deutschen Bundestages, Hauptstadtkorrespondentinnen und -korrespondenten sowie Expertinnen und Experten zum Workshoptitel „Eine andere Heimat“. Diese Treffen bildeten die Recherche-Grundlage für die Ausgestaltung dieses Themenmagazins.
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www.bpb.de/flucht Online-Themenseite der Bundeszentrale fĂźr politische Bildung mit den Angeboten zu Flucht und Zuwanderung