REUE ODER DAS SINNLICHE EINES MANUSKRIPTS Alexander Puschkin und «Jewgeni Onegin» Dana Grigorcea
Neulich auf einem Dachterrassenfest unter Literaten, bei flackerndem Kerzen licht, sprach man über grosse Themen, die früher ausgiebig behandelt, heute aber in der Literatur nahezu verschwunden sind. Zum Beispiel die Reue. Wo gibt es noch das seitenweise Klagen über die eigenen Verfehlungen, das Grübeln über die eigene Unzulänglichkeit, über Gut und Böse, und dann den Schrecken, dass es vielleicht zu spät ist für eine Wiedergutmachung? Wie soll Reue vorkom men, wenn Selbsteingeständnisse und echtes Bedauern fehlen? Das wurde heftig diskutiert. Da sind andere Erzähltechniken, das Bedauern kommt schon noch vor, fragmentarisch eben, oder nicht? Aber warum die Ausflüchte des Fragmen tarischen, Abgehackten? Wo doch die Reue einer gewissen Ruhe und Stille bedarf. Vielleicht, weil die eingestandene Reue der christlichen, katholischen und orthodoxen Beichtpflicht entstammt, die heutzutage kaum mehr praktiziert wird. Damit ist die Reue, wie auch überhaupt der Glaube, Privatsache geworden. Hat sich denn wirklich Radikales ereignet, das alles verändert hat? Und auch für den Künstler? Ja – man betrachte nur schon die Manuskripte von einst: Mittels grafologischer Analysen lassen sich allerlei Rückschlüsse auf den Charak ter des Schriftstellers ziehen und auch untersuchen, wie seine Gemütslage beim Schreiben bestimmter Textstellen war, ob er fahrig geschrieben hat oder expan siv, druckstark oder druckschwach, einen Satz einfach oder mehrfach durchge strichen hat, mit Nachdruck, oder aber ob er seine Schrift mit vielen Girlanden und Bögen versehen hat, langsam und verträumt, lange auf der Seite verblieben ist. Heutzutage entstehen keine solchen Manuskripte, vor dem Bildschirm un
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