44 Auf dem Nachhauseweg
Anders als sonst hat sich Frau Mani von niemandem verabschiedet, sie lĂ€uft nach der Vorstellung gedankenversunken ĂŒber den SechselĂ€utenplatz, hĂ€lt in der Mitte unvermittelt an und holt tief Luft, ein paar Mal, wie zur VergegenwĂ€rtigung ihrer selbst nach diesem Erlebnis. Was war das eben? Hastig holt sie das gefaltete Kalendarium aus der Tasche. Sie muss sich diesen Idomeneo nochmals ansehen gehen. Sie setzt sich auf einen der StĂŒhle, die in grosser Zahl auf dem Platz verstreut stehen, schaut lange vor sich hin, auf den steinernen Boden, der, dem tiefen Himmel folgend, stellenweise dunkel wird. Ob es angefangen hat zu regnen? In ihrer lĂ€nglichen Schrift hatte sie am Nachmittag Notizen zu Mozart gemacht, es behagt ihr, sich bei Gelegenheit handschriftliche Notizen zu machen, schöne GedankenstĂŒtzen anzufertigen. Mozart habe bei seinen Konzerten praktisch immer auch improvisiert, so lautet Frau Manis Notiz. Schon als Kind habe er improvisiert. Das Publikum hat seine Kompositionen und seine Interpretationen bewundert. Sobald er aber anfing zu improvisieren, konnten sich die Leute vor Begeisterung kaum mehr halten. Dieser Gedanke hat Frau Mani sehr gefallen. Ein Kind, das mit seinem Publikum in bester Absicht spielt, Possen reisst und so die DĂ€mme einbrechen lĂ€sst, ist auch als Wunderkind besser greifbar. Eigentlich wohnt alles Geniale dem Kindlichen inne, denkt Frau Mani. Und nun Idomeneo, eine tragĂ©die lyrique in italienischer Sprache, 1781 in MĂŒnchen uraufgefĂŒhrt; Mozart war damals 25 Jahre alt und sein Vater hatte ihn gebeten, beim Komponieren das ZugĂ€ngliche nicht zu vergessen, herabzusteigen aus seinen manchmal zu hohen SphĂ€ren und auch die langen Ohren zu kitzeln. Frau Mani hat versucht, Idomeneo auf ihre instinktive Weise zu fassen zu bekommen. Sie kannte dieses Werk, zumindest stellenweise, vor allem die sanfte Chorarie «Placido Ăš il mar, andiamo» und Elektras Wahnsinnsarie «DâOreste, dâAjace» hat sie dutzende Male gehört, mit unterschiedlicher Besetzung. Nun aber hat sie die Oper in ihrer ganzen LĂ€nge erlebt, in einem Aufzug fast schonâ⊠war da ĂŒberhaupt eine Pause? Frau Mani denkt nach. Sie konnte sich keiner Unterbrechung erinnern, StĂŒck um StĂŒck hat sich alles, was Frau Mani bereits davon kannte, zusammengesetzt zu einem fortwĂ€hrenden Ganzen. Ein wunderschönes Aufleuchten, in seiner Vollkommenheit so sehr wahrhaftig, dass man an der eigenen Erinnerung zu zweifeln beginnt. «Aber wen haben wir denn da?», ertönt es fröhlich in Frau Manis RĂŒcken. «Das ist Frau Mani, die musst du unbedingt kennenlernen.» Als sie sich umdreht, erblickt Frau Mani ihre Freundin, die gute Frau Andermatt, an der Hand ein kleiner Junge, dick eingepackt. «Wir waren eben bei Mozart», sagt Frau Andermatt, «mein Enkelsohn Beat ist hin und weg.» Frau Mani schaut neugierig in das ernste Kindergesicht. «Wie alt bist du, Beat?» «Er ist acht. Und er spielt ausgezeichnet Klavier: Bach, Mozart. Wenn ich ihm zuhöre, kommen mir die TrĂ€nen.» «Bravo», sagt Frau Mani und erblickt aus den Augenwinkeln das einfahrende Tram. Frau Andermatt und ihr Enkel sohn begleiten sie zur Haltestelle. «Es ist nicht so, dass wir Beat unter Druck setzen», sagt Frau Andermatt, «er hat wirklich Spass daran!» «Spass ist wichtig», sagt Frau Mani und lĂ€chelt. «Hast Du denn die Oper auch verstanden?», fragt sie den Jungen. «Nicht ganz, obwohl mir Grossmutter alles erklĂ€rt hat», sagt er ernst. «Aber ich habe die Musik gehört, und die war super.» Frau Andermatt zwinkert Frau Mani zu und geht mit dem kleinen Jungen ab. Noch bevor das Tram hĂ€lt, will Frau Mani etwas notieren. Die Hand mit dem Kugelschreiber auf das Programmheft abgestĂŒtzt, möchte sie ihren Gedanken von vorhin auf dem Stuhl weiterdenken. Sie schliesst die Augen. Dass sie spĂ€ter die Haltestelle verpasst, macht ihr nichts, gar nichts, aus. Dana Grigorcea
Illustration: Anita Allemann
Wie Mozart improvisieren