32 Der Sandmann
Immer wiederkehrendes Thema in Hoffmanns Erzählung ist die menschliche Wahrnehmung. Welche Bedeutung hat das Augen- und Perspektivmotiv für Dein Ballett? Auch wenn Augen auf der Bühne schon wegen ihrer Grösse nicht einfach in Szene gesetzt werden können, kann man sie – als geradezu omnipräsentes Motiv – nicht ausblenden. Zwei der Hauptfiguren, Coppelius und Coppola, sind schon durch ihre Namen an physiologische Teile des Auges gebunden. Sie erinnern uns nicht nur an coppella, den Schmelztiegel der Alchemie, sondern auch an coppo, die italienische Bezeichnung der Augenhöhle. Coppolas Perspektiv steht für das ganze Psychodrama Nathanaels. Er erkauft sich die Liebe einer Frau, die keine ist, und wird schliesslich mit seinem Verstand und seinem Leben dafür bezahlen. Die vermeintliche Sehhilfe führt zu völligem Realitätsverlust und lässt ihn sein Leben verfehlen. Sie macht ihn fast zum Mörder, auf jeden Fall aber zum Selbstmörder. Auf welchen musikalischen Ebenen bewegt sich der Sandmann? Für die aufgeklärte Clara-Welt und die Biedermeier-Gesellschaft verwenden wir Kammermusik von Robert Schumann, die live auf der Bühne musiziert wird. Eindeutigkeit wird jedoch vermieden: Auch Olimpia tanzt zu einer Schumann- Komposition. Räumlich getrennt von dieser Ebene, spielt das Orchester Werke des deutsch-r ussischen Komponisten Alfred Schnittke. Es ist eine Musik, die das Unheimliche, das Nathanael umtreibt, sehr gut beschreibt. Für das Fantastische stehen die illustrierenden Raumklänge von Martin Donner. Auf einer dritten Ebene treiben sie die Ironie, die bei Schnittke anklingt, noch etwas weiter. Für den Zuschauer wird der Soundtrack zum Sandmann so auch zu einem echten Hörerlebnis. Die Bühnenwirksamkeit der Puppe Olimpia ist schon sehr früh von den Komponisten und Choreografen erkannt worden. Wie gehst Du mit dieser Schlüsselszene um? Olimpia ist die Inkarnation der Künstlichkeit. Jacques Offenbach hat das in Les Contes d’Hoffmann auf genialische Weise in Gesang übersetzt. Das Automatenhafte ist bei ihm mitkomponiert, wenn die von Spalanzani geschaffene Puppe mitten in ihrer Arie in sich zusammensinkt und wieder aufgezogen werden muss. In unserer Ballettproduktion ist Olimpia das Idealbild der perfekten Ballerina. Den Spitzentanz als tänzerisches Ideal treibt sie buchstäblich noch einmal auf die Spitze. Das sieht auf den ersten Blick aus wie klassisches Ballett. Aber der Schein trügt, denn die Koordination von Olimpias drei «klassischen» Variationen entspricht nicht dem fest gelegten Bewegungskanon. Gegen diese erlernte Koordination anzutanzen, ist eine Riesenherausforderung für die Ballerina. Als Zuschauer empfindet man das als unterhaltsam und befremdlich zugleich, denn man realisiert, dass es sich bei Olimpia um einen Automaten handelt, der von einem komplexen Maschinenwerk ange trieben wird. Es erinnert mich an die Biedermeier-Uhrwerke, die man gelegentlich auch in unserer Ballettmusik ticken hört. Der Sandmann ist 2006 in Stuttgart herausgekommen, war im lettischen Riga zu sehen und hat nun in Zürich Premiere. Lässt Dich dieses Stück nicht los? Das stimmt. Der Sandmann beschäftigt mich bis heute. Ein Ballett ist ja mit einer Premiere niemals richtig fertig. Insofern habe ich Lust, hier noch einmal an Details zu arbeiten und verschiedene Aspekte zu schärfen. Dabei erlebt man immer auch eine Begegnung mit sich selbst. Wie hat man sich weiterentwickelt? Findet man andere, bessere Lösungen als vor zehn Jahren? Neben Neuerungen im Bühnenbild wird es auch in der Choreografie und Personenführung eine Vielzahl von Änderungen geben. Es wird der Sandmann für Zürich. Das Gespräch führte Michael Küster
Der Sandmann Ballett von Christian Spuck nach der gleichnamigen Erzählung von E.T.A. Hoffmann Musik von Robert Schumann, Alfred Schnittke und Martin Donner Uraufführung 7. April 2006 Stuttgarter Ballett Schweizerische Erstaufführung Choreografie Christian Spuck Musikalische Leitung Riccardo Minasi Bühnenbild Dirk Becker Kostüme Emma Ryott Lichtgestaltung Martin Gebhardt Einstudierung Birgit Deharde Rolando D’Alesio Dramaturgie Jens Schroth Michael Küster Ballett Zürich Junior Ballett Philharmonia Zürich Premiere 28 Mai 2016 Weitere Vorstellungen 4, 9, 11, 12, 26, 30 Juni 2016 Einführungsmatinee 22 Mai 2016, 11.15 Uhr Bernhard Theater Exklusiver Partner Ballett Zürich
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Unsere Fotos zeigen Viktorina Kapitonova als Olimpia in einer Gästewohnung des Opernhauses