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„WAS GIBT ES NEUES IN DER WELT DER PARO?“
Bei der EuroPerio10 in Kopenhagen (15.-18.6.2022) wurden die lang erwarteten S3 Leitlinien zu Therapie der Parodontitis Stadium IV präsentiert (an der deutschen Übersetzung wird bereits gearbeitet) [1]. Diese stellen die Fortsetzung der 2020 vorgestellten Leitlinien zur Therapie der Stadien I-III dar.
Was ist leitliniengemäße Behandlung?
Parodontitis ist eine „stille Erkrankung“ und wird als „Parodontose“ häufig nach wie vor mit intensivierter „Mundhygiene“ und CHX-Mundspülungen behandelt. „Da kann man nichts machen, das ist erblich. Sie müssen halt öfter zur Mundhygiene kommen…“ sind Aussagen, die schwer betroffene Patient*innen über Jahre zu hören bekommen. Ursachengerichtete Therapie findet oft genug nicht statt.
Die „neue“ Klassifikation aus 2017 [2] gibt die Kriterien für die Einteilung in Stadium und Grad genau an. Entsprechend stellt die S3 Leitlinie zur Therapie der Stadien I-III [3] die evidenzbasierte schrittweise Anleitung (Abb. 1) dar, wann welche Verfahren angezeigt sind und welche nicht zu befürworten sind. Auf diese Weise durchgeführt ist der Therapieverlauf gut einschätzbar und die Langzeitergebnisse sind bei regelmäßiger UPT stabil.
Was ist Parodontitis Stadium IV?
Parodontitis im Stadium IV ähnelt in Schweregrad derjenigen des Stadiums III, zusätzlich leiden die Patient*innen als Folge der Erkrankung aber entweder unter multiplen Zahnverlusten (≥ 5 Zähne) oder anderen weiteren Komplexitätsfaktoren: Verlust der vertikalen Dimension durch eine fehlende posteriore Abstützung, pathologische Zahnwanderungen mit Auffächerung der Frontzähne, Elongation von Zähnen, stark erhöhte Mobilität oder eingeschränkte mastikatorische Funktion.
Ohne adäquate Behandlung droht der Verlust weiterer Zähne oder sogar der gesamten Dentition. Aufgrund der Komplexität reicht daher die alleinige schrittweise systematische Parodontitistherapie nicht aus, um die Dentition zu rehabilitieren. Es ist eine umfassende multidisziplinäre Behandlung notwendig, die kieferorthopädische Zahnbewegungen und/oder restaurative Zahnbehandlungen/ Implantationen umfassen kann, um Funktion, Ästhetik und Lebensqualität der Betroffenen zu stabilisieren beziehungsweise wiederherzustellen.


Stadium IV: Falltypen 1-4

Es werden vier typische Szenarien einer Stadium-IV-Parodontitis unterschieden und die jeweils erforderliche spezifische interdisziplinäre Behandlung mit entsprechenden
Empfehlungen in den therapeutischen Stufenplan der Parodontitistherapie eingebettet:
Falltyp 1
Patient*innen mit erhöhter Zahnbeweglichkeit durch sekundäres okklusales Trauma (= okklusales Trauma im reduzierten Parodont), das ohne Zahnersatz korrigiert werden kann. Temporäre Schienung und initiale okklusale Anpassungen können in Schritt 1 der Therapie (Abb. 1) eingesetzt werden, um die Auswirkungen der Zahnhypermobilität auf den Kaukomfort zu mindern. Die Notwendigkeit bzw. Durchführung einer längerfristigen Schienung muss nach Abschluss der Schritte 2 und 3 der Parodontaltherapie überprüft werden.
Falltyp 2
Diese Patient*innen sind gekennzeichnet durch pathologische Zahnwanderungen (Elongationen und Auffächerungen der Zähne): Hier kann kieferorthopädische Therapie bereits in der Stufe 2 der Behandlung geplant werden, sollte aber nicht vor Erreichen der Therapieziele (entzündungsfreie Verhältnisse, seichte Taschen) begonnen werden (Abb. 2).
Falltyp 3
Teilbezahnte Patient*innen, die ohne eine vollständige Rehabilitation des Zahnbogens prothetisch versorgt werden können. Das Timing von ev. erforderlichen Zwischenversorgungen, sollte individuell sorgfältig geprüft werden. Idealerweise sollten Interimsversorgungen oder Zahnimplantate nicht vor Abschluss der subgingivalen Therapie eingesetzt und, wenn möglich, aufgeschoben werden, bis die Ziele der Parodontalbehandlung erreicht sind.
Die endgültige restaurative Behandlung oder das Einsetzen von Zahnimplantaten soll erst nach erfolgreichem Abschluss der Parodontalbehandlung und einer eventuellen zusätzlichen konservierenden Behandlung der Pfeilerzähne erfolgen.
Falltyp 4
Teilbezahnte Patient*innen, die nur durch eine komplette Rehabilitation des gesamten Zahnbogens, zahn- oder implantatgestützt, wiederhergestellt werden können. Das Einsetzen einer definitiven zahngetragenen Restauration (oder eines Langzeitprovisoriums) erfolgt nach erfolgreichem Abschluss der Parodontaltherapie. Bei implantatgetragenen Fällen, die eine Extraktion der hoffnungslosen Zähne in einem oder beiden Zahnbögen erfordern, werden die Zähne extrahiert und die Implantate nach erfolgreichem Abschluss von Schritt 1 der Parodontalbehandlung eingesetzt, sofern noch natürliche Zähne vorhanden sind.
Allen klinischen Falltypen gemeinsam ist die Notwendigkeit einer sorgfältigen Diagnostik und Planung, die sowohl die Parodontal- als auch die Rehabilitationsphase einschließt.
Fazit
Die Leitlinien für das Stadium I-III gelten auch für die Patient*innen im Stadium IV. Die Reevaluation nach den Be- handlungsschritten 2 und 3 erfordert jedoch eine zusätzliche Planung über die reine Parodontaltherapie hinaus: Restaurative Faktoren müssen adäquat bewertet werden, z.B. die Beurteilung eines Pfeilerzahnes muss im Hinblick auf das Restattachment sowie ausreichende Zahnsubstanz erfolgen. Zahnimplantate, die zur Unterstützung der Restauration inseriert wurden, sollten gesunde, erhaltungsfähige Weich- und Hartgewebsschnittstellen aufweisen.
Darüber hinaus muß eine adäquate häusliche Mundhygiene erreicht und regelmäßige Kontrolle der Risikofaktoren sowie der parodontalen Behandlungsergebnisse sichergestellt sein, bevor eine anschließende orale Rehabilitation erfolgen kann. Bei der Gestaltung der Restraurationen ist auf gute Putzbarkeit zu achten.
Ausgangspunkt für die Behandlung der Parodontitis im Stadium IV ist zunächst, alle parodontal gefährdeten Zähne zu erhalten, die als sinnvoll zu behandeln gelten. Von einer frühzeitigen Extraktion von Zähnen mit fraglicher (im Gegensatz zu einer hoffnungslosen) Prognose wird dringend abgeraten und ein solches Vorgehen wird von den aktuellen Erkenntnissen nicht unterstützt.
Zur Erinnerung: Leitlinien sind zwar keine rechtlich verbindlichen Richtlinien, aber ein Abweichen davon müsste im Schadens-/Klagsfall gut begründet werden.
Literatur
[1| Herrera, Sanz, Kebschull, Jepsen, Sculean, Berglundh, N. Papapanou, Chapple, Tonetti. Treatment of stage IV periodontitis –The EFP S3 level clinical practice guideline. J Clin Periodontol. 2022. doi:10.1111/jcpe.13639
[2] https://www.oegp.at/aerztinnen/die-neue-klassifikation/
[3] Sanz, Herrera, Kebschull, Chapple, Jepsen, Berglundh, Sculean, Tonetti. Treatment of stage I-III periodontitis –The EFP S3 level clinical practice guideline. J Clin Periodontol. 2020;47(Suppl 22):4–60. doi:10.1111/jcpe.13290. – Deutsche Version
Screening: PGU 3/4
Diagnostik Diagnose
Fallplanung
Schritt 1
Patientenmotivation
• Kontrolle von lokalen und systemischen Risikofaktoren (RF) Kontrolle von supragingivalem Biofilm: prof. Zahnreinigung (PZR)
Schritt 2
• Subgingivale Instrumentation ev. zusätzliche Maßnahmen (lokale Antiseptika, lok./system. AB)
• Reevaluation nach 6-8 Wo
Schritt 4
ST ≤4mm, kein BoP
Schritt 3
• resektive oder regenerative Chirurgie
• Reevaluation
ST ≥6mm
Kontrolle der RF (Muhy, Rauchen, DM)
• Unterstützende Parodontaltherapie (UPT)
• Kontrolle von lok./system RF
• PZR
• „Parodontitis bleibt Parodontitis!“