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EINKOMMENSVERTEILUNGFUNKTIONELLE
Die klassischen Ökonomen von Adam Smith (1723–1790) über David Ricardo (1772–1823) bis hin zu Karl Marx (1818–1883) be schäftigten sich mit der Frage, wie Preise und Löhne zustande kamen und wie sich erzielte Gewinne auf die einzelnen Produktionsfaktoren aufteilten. Auch später bei John Maynard Keynes (1883–1946) und Nicholas Kaldor (1908–1986) ging es um die Frage, welcher Teil des Nationaleinkommens auf die einge-
Der vorliegende Aufsatz zeichnet die Bedeutung von Ungleichheit in der ökonomischen Theorie und Forschung im Lauf der Geschichte nach, und zeigt, wie sich ökonomische Ungleichheit im 20. Jahrhundert entwickelt hat. Der zweite Teil geht der Frage nach, wozu Ungleichheitsforschung nützlich ist und wo ihre Grenzen sind.
Verteilungsfragen beschäftigen uns von Kindsbeinen an: Wer hat das grösste Stück Kuchen bekommen? Wer darf wann mit welchem Spielzeug spielen? Wer hat mehr Sticker im PaniniHeft, wer die grössere Sammlung an Spielfiguren? Dabei geht es Kindern nicht einfach darum, mehr zu haben als andere. Kinder, aber auch Tiere, haben einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn.1 Daher erstaunt es nicht, dass Debatten um Verteilung oft eine emotionale Komponente aufweisen.
3 VERTEILUNGUNDGELD
Spätestens wenn wir ins Erwerbsleben eintreten, assoziieren wir Verteilungsfragen mit Geld: Wie sind Löhne und Vermögen verteilt? Wer hat Schulden, wer nicht? Welche Faktoren bestimmen die Verteilung in einem Land und welche Auswirkungen hat Ungleichheit auf den Wachstumsprozess?
Mit solchen und ähnlichen Fragen befasst sich Ungleichheitsforschung, ein Forschungsfeld, das in der Ökonomie in den letzten 20 Jahren enorm an Bedeutung gewonnen hat. Während die Soziologie sich immer mit Ungleichheit in sehr unterschiedlichen Ausprägungen beschäftigt hat, verlor die Ökonomie über längere Zeit das Interesse an diesen Fragen. Dabei stehen die Verteilung und Verwendung von Ressourcen seit jeher im Zen trum der Ökonomie.
6. Die Wachstumsrate der Arbeitsproduktivität und der Gesamtproduktion schwankt zwischen den Ländern erheblich (2 bis 5 Prozent).
3. Die Profitrate auf das Kapital ist in etwa konstant (zumindest in den «entwickelten» kapitalistischen Gesellschaften).
setzte Arbeitskraft entfiel und welcher Teil an die Kapitaleigentümer
4 MARTÍNEZZ.ISABEL
Manfloss.spricht deshalb von funktionaler Einkommensverteilung, weil die Verteilung der Einkommen auf die unterschiedlichen Produktionsfaktoren untersucht wird und diese Faktoren eine jeweils unterschiedliche Rolle in der Produktionsfunktion übernehmen. Diese Betrachtung fusst stark in theoretischen (aber nicht zwingend mathematisch-formalen) makroökonomischen Modellen, die versuchen, die Wirklichkeit akkurat aber möglichst einfach abzubilden, um ökonomische Zusammenhänge und Gesetzmässigkeiten zu verstehen. Weitere Unterteilungen in gelernte und ungelernte Arbeit oder in Land und Maschinen sind möglich, doch im einfachsten Fall unterschei det man schlicht zwischen Arbeit und Kapital.
2. Die Kapitalmenge pro Arbeitnehmer:in steigt kontinuierlich an.
Gesamtproduktion und die Arbeitsproduktivität wachsen mit einer gleichmässigen Rate, d. h., es gibt keine Tendenz zu einem Rückgang der Wachstumsrate der Produktivität.
In seinem einflussreichen Aufsatz von 1961 dokumentierte Kaldor statistische Eigenschaften des langfristigen Wirtschaftswachstums, wie er sie in den «entwickelten» Ökonomien der USA und Grossbritanniens seit Mitte des 19. Jahrhunderts festgestellt hatte. Insbesondere hielt er sechs bemerkenswer te historische Konstanten fest, die als «Kaldor-Fakten» in die Geschichte der Wirtschaftswissenschaften eingehen sollten. Als Ausgangspunkt für die Konstruktion theoretischer Modelle schlug er die folgenden «stilisierten Fakten», wie er sie nannte,
1.vor:Die
4. Das Verhältnis von Kapital zu Output (bzw. Einkommen) ist über längere Zeiträume konstant.
5. Der Anteil der Gewinne und der Löhne am Gesamteinkommen ist relativ konstant.
5 VERTEILUNGUNDGELD
Kaldor behauptete nicht, dass irgendeine dieser Grössen immer konstant wäre; im Gegenteil, die Wachstumsraten und Einkommensanteile schwanken stark über den Konjunkturzyklus. Stattdessen behauptete er, dass diese Grössen tendenziell konstant sind, wenn man die Daten über lange Zeiträume hinweg mit telt. Seine weitreichenden Verallgemeinerungen, die zunächst auf Daten der USA und Grossbritanniens basierten, wurden später auch für viele andere Länder als zutreffend erachtet.
Für die Verteilungsdiskussion sind insbesondere der 4. und 5. Fakt relevant. Wenn sich die Ökonomie im Gleichgewicht befindet – also weder in einer Rezession noch in einer Überhitzung – entfällt gemäss dem 4. Fakt das Nationaleinkommen zu etwa 70 Prozent auf Löhne. Etwa 30 Prozent sind Kapital einkommen in Form von Profiten, Dividenden und anderen Kapitalerträgen. Das bedeutet, dass nicht zu erwarten ist, dass irgendwann der Grossteil der Einkommen an die Klasse der Besitzenden geht und die Löhne einen immer geringeren Anteil an den Gesamteinkommen haben. Das hat indirekt auch Implikationen für die interpersonelle Einkommensverteilung. Es ist und war zu jeder Zeit so, dass Vermögen und damit auch Vermögenserträge sehr viel ungleicher verteilt sind als Einkommen aus eigener Arbeitskraft, auf das die breite Masse angewiesen ist. Auch das Verhältnis von Kapital zu Einkommen inner halb einer Volkswirtschaft sollte demnach relativ konstant bleiben.Neuere Forschungsarbeiten haben jedoch die allgemeine Gültigkeit dieser Gesetzmässigkeiten in Frage gestellt. In prak tisch allen Ländern hat sich das Wachstum ab den 1970er Jahren verlangsamt. Besonders in jüngerer Zeit scheint es auch weitere Abweichungen zu geben. So stellen beispielsweise Herren dorf et al. (2019) fest, dass der Anteil der Arbeitseinkommen in den USA abgenommen hat und in Grossbritannien das Verhältnis von Kapital zum Output gestiegen ist.
VERMÖGEN EINKOMMEN IN EINER GESAMTWIRTSCHAFTLICHEN BETRACHTUNG
Wie lässt sich erklären, dass in der schweizerischen Volkswirtschaft die Bedeutung der Vermögen relativ zum Einkommen in der Mitte des letzten Jahrhunderts nicht wie in anderen Ländern wesentlich gesunken ist, um danach wieder anzustei gen? Im Gegensatz zu den meisten anderen untersuchten europäischen Ländern und den USA war die Schweiz nicht in die militärischen Konflikte involviert, die die Geschichte und die wirtschaftliche Entwicklung der westlichen Welt im 20. Jahrhundert prägten. Infolgedessen blieben Vermögenswerte ver-
Nicht zuletzt dank Kaldor (1961) bestand lange Zeit die Annahme, dass das Verhältnis von Vermögen zu Einkommen in einem Land konstant ist. Die Forschungsarbeiten von Piketty und Zucman (2014) haben diese Annahme widerlegt. Das Verhältnis zwischen Vermögen und Einkommen hat sich in vielen Industrieländern U-förmig entwickelt und ist auf das hohe Ni veau von vor dem Ersten Weltkrieg zurückgekehrt. Piketty und Zucman stellen in den von ihnen untersuchten entwickelten westlichen Ländern einen allmählichen Anstieg des Verhältnis ses zwischen Vermögen und Einkommen in den letzten Jahr zehnten fest, von etwa 200 bis 300 Prozent im Jahr 1970 auf 400 bis 600 Prozent im Jahr 2010. Damit scheinen die heutigen Verhältnisse zu den hohen Werten zurückzukehren, die im Eu ropa des 18. und 19. Jahrhunderts beobachtet wurden (600 bis 700 Prozent). Die Autoren erklären diese Entwicklung mit der langfristigen Erholung der Vermögenswerte, die ihrerseits durch Veränderungen in der Finanz- und Kapitalmarktpolitik in der Nachkriegszeit bedingt ist sowie mit der Verlangsamung des Produktivitäts- und Bevölkerungswachstums. Dies deutet darauf hin, dass das Vermögen im Verhältnis zum Einkommen wichtiger wird als in der Nachkriegszeit, die durch hohes Wachstum und geringe Ungleichheit gekennzeichnet war.
6 MARTÍNEZZ.ISABEL
VS.
Die Schweiz bildet eine Ausnahme zu dieser U-förmigen Entwicklung. Baselgia und Martínez (2021) zeigen, dass die Ent wicklung in der Schweiz sehr stabil war: Das Verhältnis der privaten Nettovermögen zum Nationaleinkommen lag über das gesamte 20. Jahrhundert bis 2010 bei ca. 500 Prozent.
Erst seit 2010 ist in der Schweiz ein ungebrochener, steiler Aufwärtstrend zu beobachten. 2017 lag das Verhältnis von Ver mögen zu Einkommen zum ersten Mal seit 1900 (dem Beginn unserer Aufzeichnungen) bei mehr als 700 Prozent. Die Summe aller Vermögenswerte, die nicht im Besitz des Staates sind, be trägt inzwischen also ungefähr sieben gesamte Jahreseinkom men der schweizerischen Volkswirtschaft. Dieser steile Aufwärtstrend ist der rapiden Wertsteigerung von Immobilien aber auch Wertpapieren geschuldet. Befeuert wurde diese «asset price inflation» durch die Tiefzinspolitik der SNB, die 2014 als erste Zentralbank der Welt negative Zinsen einführte.
7 VERTEILUNGUNDGELD
Was bedeutet dies für die Verteilung? Kaldors Interesse galt der Entwicklung von makroökonomischen Modellen, die den wirtschaftlichen Entwicklungsprozess möglichst adäquat abbildeten. Auch die hier ausgeführten langfristigen Veränderungen des Verhältnisses von Vermögen zu Einkommen liefern noch keine direkten Informationen über die Entwicklung der Einkommens- und Vermögensungleichheit, wie sie spätestens seit der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008 ins Zentrum der öffentlichen Debatte gerückt ist. Dennoch ist die rela tive Bedeutung von Vermögen und Einkommen, von Kapital und Arbeit relevant in der Verteilungsdebatte.
Vermögen ist stets ungleicher verteilt als Einkommen. Ein Grossteil der Einkommen wird durch Arbeit gewonnen, das heisst, die meisten Menschen werden ihr Können und ihre Mus-
gleichsweise unversehrt und die Schweiz erhöhte auch die Steuerprogression in der Zwischen- und Nachkriegszeit nicht wesentlich. Schliesslich war der Bedarf an Steuereinnahmen geringer, als in den kriegführenden Staaten.
Schnell wurde das kleine Land im Herzen Europas ein Steuerparadies für Vermögende. Bereits in den 1920er Jahren gehörte der Finanzplatz Schweiz zu den bedeutendsten der Welt. Insgesamt waren die Wirtschaftspolitik und die Haltung der Schweizerischen Nationalbank (SNB) sehr kapitalfreundlich. So verfügte die Schweiz über deutlich weniger strenge Finanzmarktvorschriften und Kapitalverkehrskontrollen als ihre Nachbarländer. Insbesondere erlaubte die Schweiz sowohl komplett freie Kapitalimporte als auch -exporte, was die meisten euro päischen Länder in der Nachkriegszeit stark einschränkten.
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Die beiden Begriffe, Arbeit und Kapital, bilden eine Dyade, welche die ökonomischen und sozialen Umwälzungen des 19. und 20. Jahrhunderts geprägt hat. Heute sprechen wir nicht mehr von Klassenkampf im marxschen Sinn, doch bei wirt schaftspolitischen Debatten und Entscheidungen stossen wir immer wieder auf die Frage, ob eine Massnahme nun die Arbeitnehmenden und die breite Bevölkerung begünstigt oder die Unternehmen und damit implizit deren Eigentümer:innen. Die Idee einer besitzenden und einer arbeitenden Klasse ist zumindest unterbewusst Teil des kollektiven Bewusstseins geblieben.
INTERPERSONELLE EINKOMMENSVERTEILUNG UND WACHSTUM
kelkraft im Lauf des Lebens in der einen oder anderen Form von Arbeit einbringen. Nur wenige werden gar kein Einkommen haben, und gleichzeitig ist die Zeit, in der wir arbeiten können, beschränkt – letztlich hat der Tag für alle nur 24 Stunden. Anders beim Vermögen: Viele Menschen hatten und haben noch heute kaum nennenswertes Vermögen. Jene, die ein hohes Einkommen haben, können allerdings sparen und so Vermögen anhäufen. Dank Erbschaften wird Vermögen über Generationen hinweg vererbt und kann so weiter vergrössert werden. Zudem generiert Vermögen auch selber wieder Einkommen und besonders hohe Vermögen vermehren sich so von selbst weiter. Steigt nun also das Verhältnis von Vermögen zu Einkommen an, ist dies zumindest ein Indiz dafür, dass sich innerhalb der Ökonomie das Kräfteverhältnis zu Gunsten des Kapitals und damit einer kleinen aber einflussreichen Bevölkerungsschicht verschiebt.
Wenn wir heute von Ungleichheit sprechen, beziehen wir uns in der Regel nicht auf die Gegensätze von Kapital und Arbeit, sondern auf die Verteilung von Einkommen und Vermögen zwischen Individuen innerhalb der Gesellschaft. Auch in der neoklassischen Ökonomie rückte das Individuum in den Mittelpunkt der Analyse. Die von Alfred Marshall (1890) aufgestellte Theorie der Grenzproduktivität der Löhne, ebnete den Weg für künftige Verteilungsanalysen und einflussreiche Wirtschaftstheorien wie die Humankapitaltheorie von Gary Becker (1964).
Aber auch andere, eher induktive oder statistische Ansätze haben wichtige Beiträge zur Untersuchung der wirtschaftli chen Ungleichheit geleistet. Bedeutende Vertreter dieser Tradition sind Vilfredo Pareto (1848–1923), Corrado Gini (1984–1965) und Simon Kuznets (1901–1985).
9 VERTEILUNGUNDGELD
Basierend auf empirischen Schätzungen der Einkommensungleichheit stellte Kuznets (1955) eine Beziehung zwischen wirtschaftlicher Entwicklung und Einkommensungleichheit her. Auf der Grundlage von Daten aus den USA, Deutschland und Grossbritannien fand er eine glockenförmige Beziehung zwischen Pro-Kopf-Einkommen und Einkommensungleichheit. Dieser Zusammenhang ist bis heute als Kuznets-Kurve bekannt. Sie besagt, dass wenn sich eine Volkswirtschaft von einer Agrar- zu einer Industriewirtschaft wandelt, zu Beginn vor allem die Kapitaleigentümer profitieren und die Ungleichheit zunächst ansteigt. Dann aber sinkt die Ungleichheit wieder auf das frühere Niveau, da die Arbeitskräfte vermehrt in ihr Humankapital investieren, das in einer industrialisierten Wirtschaft benötigt wird. Die Löhne steigen und die Ungleichheit geht wieder zurück. Steigende Einkommensungleichheit ist nach dieser Sicht-
Gini (1921) entwickelte ein statistisches Mass der Ungleich heit einer Verteilung. Der Gini-Koeffizient hat sich zur wichtigsten Messgrösse der Einkommens- oder Vermögensungleichheit entwickelt, was nicht zuletzt auf die Einfachheit des Konzepts zurückzuführen ist: Ein Koeffizient von Null würde einer Situation entsprechen, in der alle Personen in einem Land exakt dasselbe Einkommen haben. Ein Wert von 100 entspricht der hypothetischen Situation, in der eine Person alleine über das gesamte Einkommen der Volkswirtschaft verfügt, während alle anderen Mitglieder der Gesellschaft leer ausgehen. In der Realität liegt der Koeffizient irgendwo dazwischen. Abb. 1 zeigt für eine Auswahl europäischer Länder die Gini-Koeffizienten der verfügbaren Äquivalenzeinkommen vor- und nach Steuern2. Die Schweiz liegt etwa im Mittelfeld, doch insbesondere im Pandemie-Jahr 2020 ist die Ungleichheit spürbar angestiegen und hat einen Wert von 37.3 erreicht (Abbildung oben). Dank Steuern und Transfers war der Anstieg in den verfügbaren Einkommen weniger ausgeprägt, doch auch hier resultierte letzt lich ein Anstieg von 30.6 auf 31.2 (Abbildung unten).
Abb.
1: Gini-Koeffizienten vor und nach Steuern und Transfers. Hinweis: Äquivalenzeinkommen, welches für unterschiedliche Haushaltsgrössen korrigiert. Quelle: EU-SILC Befragung, Euro stat; eigene Darstellung. 504540353025 2005 2010 2015 2020 ransfersundSteuernnachGini-KoeffizientT 504540353025ransfersundSteuernvorGini-KoeffizientT 2005 2010 2015 2020 CHEUDEESFRITUK
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WährendTOPEINKOMMENVerzerrungen.UNDSPITZENVERMÖGENdieKuznets-KurvebestimmendwarfürdieForschungüberdieBeziehungzwischenUngleichheitundWachstum,legteKuznetsmitseinemBuch«SharesofUpperIncomeGroupsinIncomeandSavings»(Kuznets,1953)dieGrundlagefürspätereStudienüberSpitzeneinkommen,diesichaufseineMethodenunddievonParetoausdemJahr1896stützen.Pareto(1896)analysiertestatistischeTabellenzurEinkom-mensverteilunginSchweizerKantonenundinanderenLändernundstellteeineinzwischenals«ParetosGesetz»bekannteHypotheseauf.DasGesetzberuhtaufderFeststellung,dassdasDurchschnittseinkommenvonPersonenmiteinemEinkommenübereinemSchwellenwertseinVielfachesvonsist,wo-beidiesesVielfacheeineKonstanteist,dievonderWahldes
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weise also ein vorübergehendes Phänomen. Eine ganze Reihe weiterer Studien begann, die Kuznets-Kurve empirisch zu untersuchen und es fanden sich Belege aus vielen Volkswirtschaften, sodass diese Erkenntnis als robust und gesichert galt.
Zumindest in den sogenannt entwickelten Volkswirtschaf ten wurde daher Einkommensungleichheit in den 1970er und 1980er Jahren nicht als nennenswertes Problem angesehen, auch weil die Ungleichheit nach dem Zweiten Weltkrieg zurückgegangen war und sich in den Industrieländern auf einem langjährigen Tiefstand befand. Aus heutiger Sicht müsste man jedoch erwähnen, dass in jener Zeit die Wohlfahrtstaaten stark ausgebaut worden waren. Dank diversen Sozialversicherungen waren Risiken wie Arbeitslosigkeit, Invalidität, Krankheit und Alter erstmals kollektiv abgesichert, finanziert durch progressive Steuern. Die Wirtschaftswissenschaft konzentrierte sich auf andere wichtige Fragen, insbesondere auf die Faktoren, die das Wirtschaftswachstum bestimmen. Dies führte zu einer Zunahme von Studien über die Beziehung zwischen Besteuerung und Wachstum, die Auswirkungen von Spitzengrenzsteu ersätzen auf Arbeitsanreize und Produktivität sowie die opti male Besteuerung zur Minimierung von Mitnahmeeffekten und anderen steuerbedingten
Doch obwohl die von Pareto und Kuznets vorgeschlagenen allgemeinen Gesetze nach ihrer Veröffentlichung zu lebhaften Diskussionen geführt hatten, fanden ihre Arbeiten und insbesondere die von ihnen verwendeten Methoden in der akademischen Forschung des ausgehenden 20. Jahrhunderts wenig Beachtung. Erst mit der bahnbrechenden Studie von Thomas Piketty (2001) über die Entwicklung der Spitzeneinkommen in Frankreich im Lauf des 20. Jahrhunderts, erlangte die Entwicklung der Topeinkommen, der Spitzenvermögen und überhaupt der Ungleichheit im Lauf der Geschichte erneut grosse Aufmerksamkeit. In der Tradition der deduktiven statistischen Ansätze von Pareto und Kuznets basiert Pikettys Arbeit auf Daten der Einkommenssteuer und der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung und nimmt eine deskriptive Sichtweise ein, um langfristige Entwicklungen aufzudecken. Es folgten ähnliche Studien über den Anteil der Spitzeneinkommen und -vermögen in den USA, Grossbritannien und anderen Industrieländern (Atkinson und Piketty, 2007; Atkinson und Piketty, 2010; Atkinson et al., 2013; Alvaredo et al., 2016). Dabei wurde deutlich, dass sich die Entwicklung der Spitzeneinkommen in den einzelnen Ländern unterscheidet. In den angelsächsischen Ländern, vor allem in den USA, ist der Anteil der Spitzeneinkommen stark gestiegen, während in vielen europäischen Ländern der Anteil der Spitzeneinkommen kaum oder nur geringfügig zugenommen hat. Wie aus Abb. 2 ersichtlich, sind allerdings die ultra-hohen Einkommen im Top-0.01-Prozent (das sind in der Schweiz rund 450 Steuerpflichtige, meist Ehepaare) auch in der Schweiz seit den 1990er Jahren angestiegen. Am obersten Rand der Verteilung hat die Ungleichheit deshalb zugenommen.
Schwellenwerts s unabhängig ist. Mit Hilfe dieser Gesetzmässigkeit lässt sich berechnen, wieviel Prozent der Gesamteinkommen eine bestimmte Gruppe, beispielsweise das Top-1-Prozent der Einkommensverteilung, für sich beansprucht. Diese Eigenschaft der Pareto-Verteilung wird auch heute noch in der empi rischen Forschung über die Anteile der Spitzeneinkommen am Gesamteinkommen verwendet.
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Bei den Vermögen (Abb. 3), war die Ungleichheit zu Beginn des 20. Jahrhunderts extrem hoch. Das reichste Prozent der Bevölkerung besass je nach Land 50 bis 70 Prozent aller Vermö-
1940
4035302520151050%)(inEinkommensanteil1%opT
1980 2000 2020 US FR GB CH
Abb 2: Anteile des Top-1- und Top-0.01-Prozent am gesamten Einkommen. Hinweis: Für alle Länder basieren die Schätzungen auf historischen Steuerstatistiken. Quelle: wid.world; eigene Darstellung.
1900 1920 1940 1960
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1980 2000 2020 US FR GB CH109876543210%)(inEinkommensanteil0.01%opT
1900 1920 1960
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Die bisherigen Ausführungen bezogen sich auf die Ungleichheit innerhalb von Ländern, insbesondere in Ländern des reichen globalen Nordens. Diese weisen in der Regel eine tiefere Ungleichheit auf als einkommensschwache Länder, die im Entwicklungsprozess oftmals noch hinter den grossen Wirtschafts-
Nach der Entdeckung dieser Entwicklungen, begannen Wissenschaftler:innen nach Erklärungen zu suchen. Eine der Theorien, die vorgebracht wurden, besagt, dass sinkende Spit zengrenzsteuersätze zum Anstieg der hohen Einkommen beigetragen und die Akkumulation von hohen Vermögen weiter begünstigt haben. Dies ist einer von mehreren Gründen, warum sich die Literatur der Besteuerung von Spitzenverdienern zu gewandt hat. Hinzu kommt, dass das oberste Prozent der Einkommensverteilung zwar eine kleine Gruppe von Personen ist, diese aber einen erheblichen Teil der Steuereinnahmen generie ren und zur Bereitstellung öffentlicher Güter beitragen. Neben der Untersuchung der langfristigen Entwicklung von Spitzeneinkommen und -vermögen gibt es daher auf dem Gebiet der Volkswirtschaftslehre eine wachsende Zahl von Studien über das Verhalten von Spitzenverdienenden in Bezug auf die Besteuerung. Obwohl die Evidenz sich verdichtet, dass tiefere Steuersätze den Anstieg der Spitzeneinkommen und die Erhöhung der Vermögensungleichheit begünstigt haben, stehen auch alternative Theorien im Raum. Diese sehen andere Entwicklungen wie den technologischen Wandel und den Übergang von Industrie nationen zu Dienstleistungsgesellschaften, die Globalisierung oder erhöhte Marktkonzentration als treibende Kräfte hinter der steigenden Ungleichheit. Solche Theorien haben in empirischen Untersuchungen ebenfalls Bestand.
gen. Bis in die 1980er Jahre sehen wir einen starken Rückgang der Vermögenskonzentration, aber auch hier steigt die Ungleich heit seither wieder vermehrt an, insbesondere in den USA. Noch ausgeprägter ist dieser Anstieg and der obersten Spitze der Verteilung, dem Top-0.01-Prozent. Diese Gruppe besitzt in den USA zehn, in der Schweiz acht Prozent aller Vermögen.
GLOBALE UNGLEICHHEIT
1900 1920 1940 1960 1980 2000 2020 FR GB CH CH, incl. PK
%)(inermögensanteil1%opTV
US
US
20181614121086420
Abb 3: Anteile des Top-1- und des Top-0.01-Prozent am gesam ten Vermögen. Quelle: wid.world, für die Schweiz Föllmi und Martínez (2017); eigene Darstellung.
80706050403020100
%)(inermögensanteil0.01%opTV
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1900 1920 1940 1960 1980 2000 2020 FR GB CH CH, incl. PK
ARMUTbekannt.UND
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UNGLEICHHEIT
An dieser Stelle möchte ich auf eine wichtige Unterscheidung hinweisen: Armut und Ungleichheit sind nicht dasselbe, insbe sondere wenn wir Armut als absolute Armut verstehen. Absolute Armutsdefinitionen legen Schwellenwerte in Franken, Euro oder US-Dollar fest, die notwendig sind, um an einem gegebenen Ort (über)leben zu können. Wer ein Einkommen unter die sem monetären Schwellenwert hat, gilt als arm. Besonders in reichen Ländern wie der Schweiz ist es im Prinzip möglich, dass die Ungleichheit steigt, ohne dass auch nur eine einzige Person in die Armut abrutscht. Dies ist dann der Fall, wenn der gesamte Anstieg der Ungleichheit dem Anstieg der höchsten Einkom-
mächten zurückliegen. Auf die vielfältigen Faktoren des Entwicklungsprozesses in diesen Ländern einzugehen, würde den Rahmen dieses Essays bei weitem sprengen. Festhalten lässt sich aber, dass diese Länder in der Regel geprägt sind von hohem Bevölkerungswachstum und einem beachtlichen Anteil der Bevölkerung, der in Armut lebt. Doch während die Ungleichheit innerhalb der Länder zum Teil beträchtlich zugenommen hat, ist die globale Ungleichheit gesunken, wie Lakner und Milanovic (2015) zeigen. 2008 lag der globale Gini-Koeffizient bei 70,5 Punkten – ca. 2 Gini-Punkte unter dem Wert von 1988. China ist von den untersten Rängen aufgestiegen, wodurch sich die bimodale globale Einkommensverteilung (Abb. 4, 1988) in eine reguläre Verteilung verwan delt hat und wodurch eine wichtige «globale Mittelklasse» entstanden ist (Abb. 4, 2011). Am schnellsten wuchsen die Einkommen in Asien, während fast 90 Prozent der am schlechtes ten abschneidenden Länder aus «reifen», bereits reichen Volkswirtschaften stammen. Ein weiterer Gewinner war das globale Top-1-Prozent. Die globale Wachstumsinzidenzkurve weist also die grössten Zuwächse um den Median und die Spitze auf, weshalb sie eine eigenwillige Form aufweist, eine einem Elefanten mit rundem Rücken und einem nach oben zeigenden Rüssel ähnelnde. Die Kurve wurde deshalb unter dem Namen «Elefanten-Kurve»
17 VERTEILUNGUNDGELD 465$(1.25$ArmutslinieproTag) 100$ 200$ 456$ 2000$ChinaIndienRestl.Asien Afrika Sub-Sahara
Jährliches1000$ Einkommen pro Person (kaufkraftbereinigt 2005er US$; auf logarithmischer Achse)
Quelle: Lakner und Milanovic (2015) «Global Income Distribution: From the Fall of the Berlin Wall to the Great Recession», World Bank Economic Review. Grafik: OurWorldinData.org, Z. Hynek und M. Roser, lizenziert unter CC-BY-SA.
regionalenderGrafikendenunterFlächediedassskaliert,soisty-AchseDie entspricht.BevölkerungderGrösseglobalen)(und 20111988100$ 200$ 456$ 2000$ Afrika465$IndienChinaArmutslinie(1.25$proTag)Restl.AsienSub-Sahara EntwickelteLänder Jährliches1000$ Einkommen pro Person (kaufkraftbereinigt 2005er US$; auf logarithmischer Achse) 5000$ 10’000$ KaribikLateinamerikaNordafrikaMittlererSüdosteuropaZentralasienRussland40’000$Osten Abb. 4: Globale Einkommensverteilung 1988 und 2011
EntwickelteLänder
5000$ 10’000$ KaribikLateinamerikaNordafrikaMittlererSüdosteuropaZentralasienRussland40’000$Osten
Einkommen sind angepasst an Preisveränderungen über die Zeit und an Preisunterschiede zwischen Ländern (kaufkraftbereinigt an 2005er US$)
«Restl. Asien»: Asien ohne Indien, China, Hong Kong, Israel, Japan, Südkorea, Singapur und Taiwan. «Entwickelte Länder»: EU-27, Australien, Bermuda, Kanada, Hong Kong, Island, Israel, Japan, Südkorea, Neuseeland, Norwegen, Singapur, Schweiz, Taiwan und USA. Diese Kategorisierung der Länder ist stabil über den Zeitraum von 1988–2011.
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men zuzuschreiben ist. Umgekehrt ist es möglich, dass viele Menschen in die Armut abrutschen, ohne dass sich die Ungleichheit erhöht, wenn beispielsweise ein ganzes Land von einem Krieg heimgesucht wird und alle Einkommen schlagartig sinken (in der Realität werden die Wohlhabenden dennoch eher in der Lage sein, ihr Einkommen zu sichern).
Dieser kurze Abriss der Geschichte der Ungleichheitsforschung führt uns zur Frage, weshalb sich die Wirtschaftswissenschaf ten heute noch immer – beziehungsweise: wieder – intensiv mit Ungleichheitsfragen beschäftigen und worin der Nutzen dieser Forschung liegt. Ich sehe drei Hauptgründe, weshalb wir uns auch in Zukunft weiterhin diesen Fragen zuwenden sollten. Erstens helfen Untersuchungen zur Ungleichheit, langfristige Entwicklungen überhaupt erst zu erkennen. Dazu sind besonders Messungen über lange Zeithorizonte hilfreich, wie verschiedene Beispiele aus diesem Essay gezeigt haben, denn Ungleichheit verändert sich typischerweise nur langsam. Erst durch die statistische Erfassung der Verteilung und die Messung von Ungleichheit war es Kuznet überhaupt möglich, einen Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher Entwicklung und Ungleichheit zu postulieren, den er auch anhand der Daten glaub-
WOZU DIENT UNGLEICHHEITSFORSCHUNG?
Ungleichheit ist ein relatives Konzept und letztlich einfach eine statistische Masszahl. Sie sagt für sich genommen nichts aus darüber, wie es den Menschen geht. Auch in der Armuts forschung gibt es relative Armutsdefinitionen. Meist gilt nach diesen Definitionen als arm, wer weniger als 60 Prozent des Medianeinkommens (50 Prozent der Menschen verdienen mehr als diesen Wert, 50 Prozent weniger) in einem Land zur Verfü gung hat. Dadurch muss kein arbiträr definierter Geldwert herangezogen werden und Vergleiche zwischen Ländern sind leichter möglich. Diese Definition impliziert aber auch ein ande res Verständnis von Armut. Die Idee ist, dass als arm gilt, wer nicht in gebührendem Mass am Leben in der Gesellschaft teilhaben und sich frei entfalten kann. Es geht in dieser Betrach tungsweise also um mehr als das nackte Überleben.
haft darlegen konnte. Auch wenn seine Gesetzmässigkeiten vielleicht nicht von allgemeiner Gültigkeit sind wie die Gesetze der Schwerkraft, so waren sie doch hilfreich, um Mechanismen im komplexen ökonomischen Räderwerk zu verstehen und die Entwicklung ökonomischer Modelle voranzutreiben.
Drittens erlaubt die Messung von Ungleichheiten der Politik, möglichen Handlungsbedarf überhaupt erst zu erkennen. Ähnlich, wie wir an vielbefahrenen Strassen die Schadstoffbelas tung messen, um feststellen zu können, ob es möglicherweise ein Problem für die Gesundheit gibt. Anders als in Fragen der öffentlichen Gesundheit, bei denen die medizinische Forschung helfen kann, Grenzwerte festzulegen, können Ökonom:innen keine kritische Obergrenze des Gini-Koeffizienten vorgeben, ab welchem die Ungleichheit reduziert werden muss. Mit wieviel Ungleichheit eine Gesellschaft leben will oder kann, muss diese letztlich für sich selbst bestimmen, was in demokratischen Gesellschaften durchaus möglich ist. Die Forschung kann jedoch, wie oben beschrieben, mögliche Zusammenhänge aufdecken und so der Politik verschiedene Handlungsoptionen aufzeigen.
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Zweitens erlaubt uns die konsistente und konsequente Messung von Ungleichheit(en), mögliche Ursachen zu erkennen. So postulieren manche Autor:innen, dass tiefere Steuern die treibenden Kräfte hinter dem Anstieg der Topeinkommen waren. Andere haben weitere mögliche Ursachen identifiziert und sowohl empirisch wie auch theoretisch untersucht. Auch ihre Hypothesen konnten bislang nicht widerlegt werden. Die ser Prozess der Suche nach den Ursachen ist bei weitem nicht abgeschlossen, aber so funktioniert Forschung: Sie formuliert verschiedene Modelle und testet die Hypothesen, die sich daraus ableiten. Diese sind solange sehr wahrscheinlich korrekt, bis sie widerlegt werden und sich als falsch herausstellen. Doch dieser Prozess funktioniert nur, wenn auch die nötigen Daten und Messungen vorhanden sind. Anders als in der Physik und der Chemie, wo im Labor Daten aus Experimenten gewon nen werden, sind die Wirtschaftswissenschaften auf Daten aus der echten Welt angewiesen, um ihre Modelle und letztlich das Verständnis darüber, wie komplexe Volkswirtschaften funktionieren, laufend zu verbessern.
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Die klassische und neoklassische Ökonomie sehen die effiziente Verteilung als die beste. Effizient ist dabei jene Alloka tion, die den grössten gesamtwirtschaftlichen Nutzen stiftet. In perfekten Märkten sind dies typischerweise Allokationen, die die grösste Produktionsmenge und die höchsten verfügbaren Einkommen stiften. Diese Ansicht geht in der Regel einher mit dem Hintergedanken, dass Verlierer:innen einer bestimmten Allokation durch die dadurch erzielten gesamtwirtschaftlichen Gewinne kompensiert werden können, indem nämlich die Gewinner:innen einen Teil ihres Gewinns abgeben – und zwar genau soviel, dass die Benachteiligten nicht mehr schlechter gestellt sind als vor der Einführung einer neuen Massnahme oder vor der Änderung bestimmter wirtschaftspolitischer Parameter. Diese Pareto-Effizienz, auch Paretoprinzip genannt, ist eines der klassischen Argumente der Befürworter:innen eines Abbaus von Handelsbeschränkungen. Die meisten Ökonom:innen dürften dieser Argumentation zumindest im Grund satzSozustimmen.wertfreidiese Ansichten erscheinen mögen, die Aussage von Nobelpreisträger Milton Friedman, die ökonomische Theorie sei «grundsätzlich unabhängig von einer bestimmten ethischen Position» (Friedman, 1953, S. 4), stimmt so nicht. Die
WELCHE VERTEILUNG IST GERECHT?
Ich habe eingangs geschrieben, dass bereits Kinder aber auch Tiere ein Gerechtigkeitsempfinden haben. Auch aus der Verhaltensökonomie wissen wir, dass Menschen nicht nur im Eigen interesse handeln, sondern Verteilungsaspekte mitberücksich tigen (Fehr et al., 2022).
Aber welche Verteilung ist denn nun gerecht? Wissenschaftler:innen tun sich schwer, solche normativen Aussagen zu beantworten. Die Frage nach Gerechtigkeit ist eine philosophische, keine wissenschaftliche. Die ökonomische Theorie hat höchstens eine Vorstellung davon, was eine «gute» Ver teilung ist. Die Kriterien einer guten Verteilung haben sich dabei mit der Zeit geändert. Bei den alten Griechen war das Ziel das gute Leben wie wir es beispielsweise aus der aristotelischen Ethik kennen. Dieser Grundsatz schlug sich auch in den altgrie chischen Texten zur Oikonomia, also zur Ökonomie, nieder.
moderne Ökonomie fusst im Utilitarismus – einer Form der zweckorientierten Ethik wie sie in einer ganzen Reihe bedeu tender philosophischer Schriften zu finden ist.
1 Frans de Waal: Moral behavior in https://www.youtube.com/watch?v=meiU6TxysCganimals.
2 Die Daten stammen aus der EU-SILC Erhebung, die in allen europäischen Ländern nach den gleichen Kriterien erhoben wird. Nur wenn die zugrundeliegenden Konzepte wie insbesondere die Einkommensdefinitionen, aber auch Haushalte oder Äquivalenzskalen dieselben sind, lassen sich tatsächlich Vergleiche über die Länder hinweg zie hen. Aus diesem Grund fehlen in dieser Darstellung beispielsweise die USA.
21 VERTEILUNGUNDGELD
Welche Verteilung nun gerecht ist, bleibt letztlich eine philosophische und gesellschaftliche Frage. Philosop:hinnen gehen dieser Frage seit Jahrtausenden nach. Und in einer Demokratie kann auch die Gesellschaft immer wieder von neuem drüber befinden. Dies gilt insbesondere in einer direkten Demokratie wie der Schweiz, wo wir regelmässig über Steuergesetze, Min destlöhne, Rentenreformen und vieles mehr abstimmen. Wir Ökonom:innen können aber nicht zuletzt dank der empirischen Forschung der letzten 30 Jahre dabei helfen, die Verteilungs wirkungen und Effizienzgewinne oder -verluste verschiedener Vorschläge abzuschätzen.
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Inhaltliche Verantwortung der Reihe: David Iselin (BHM)
©2022
Gesamtverantwortung: Thomas Pauli-Gabi (Direktor BHM)
Bernisches
€$$@¥ ist eine vom BHM herausgegebene Publikationsreihe zum Thema Geld. Sie ist Teil der Kooperation des BHM mit der Schweizerischen Nationalbank. Gemeinsam eröffnen die Partner:innen 2024 einen neuen Erlebnisort zum Thema Geld in Bern.
Martínez
Historisches Museum Helvetiaplatz 5 3005 Text:www.bhm.chBernIsabelZ.
Herausgeber: Bernisches Historisches Museum (BHM)
Korrektorat: Barbara Hirsig
Gestaltung: Ronnie Fueglister mit Yves Graber Druck: Ast & Fischer AG
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€$$@¥ ist eine vom BHM herausgegebene Publikationsreihe zum Thema Geld. Sie ist Teil der Kooperation des BHM mit der Schweizerischen Nationalbank. Gemeinsam eröffnen die Partner:innen 2024 einen neuen Erlebnisort zum Thema Geld in Bern.
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Verteilungsfragen stehen oft im Zentrum von gesellschaftlichen Auseinandersetzungen. Dabei geht es um die Verteilung von Ressourcen und Geld und damit um Fragen der Gleichheit bzw. Ungleichheit dieser Verteilung. Die ökonomische Forschung beschäftigt sich seit einigen Jahren wieder vermehrt mit der Ungleichheitsfrage: Wie sind Einkommen verteilt, wie die Ver mögen? Ist die Welt gleicher oder ungleicher geworden? Wie sieht es in der Schweiz aus? Und was hat Ungleichheit mit Armut und Gerechtigkeit zu tun?
Herausgeber: Bernisches Historisches Museum (BHM)
Korrektorat: Barbara Hirsig
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Isabel Z. Martínez ist Ökonomin und forscht an der ETH Zürich. In ihrer Arbeit beschäftigt sie sich mit Themen rund um die Verteilung von Einkommen und Vermögen sowie mit empirischen Fragen zur Besteuerung.
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