Lucy's Rausch Nr. 9

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Mati Klarwein

Chez Sphinx

Öl und Tempera auf Leinwand, 90 x 90 cm, 1974, Privatsammlung Alia Ohana, Paris TEXT

Claudia Müller-Ebeling

Ein rätselhaftes Bild mit Szenen und Schauplätzen diverser Kulturen. Hoch oben, über der Mittelachse der zentralsymmetrischen Komposition, fixieren uns zwei braune Mandelaugen (unter zusammengewachsenen dunklen Augenbrauen) mit hypnotischem Blick. Das frontale weibliche Antlitz zieht uns magisch an. Losgelöst schwebt es in blitzdurchzuckter Himmelsschwärze; umgeben von dickem braunem Haar, durchzogen von feinen Äderungen, die an Farn, Tang oder Korallen erinnern. Unter ihrem Kinn, über einem Horizont mit dunstigen Nebelschwaden, umarmen sich ein schwarzer Mann und eine brünette weiße Frau in einem Tondo mit Spiegelschlieren. Unter dem Dunst breitet sich ein Gehölz nach beiden Seiten aus. In der Mittelachse lodert ein Feuer über Brettern mit spiegelverkehrten Schreibschriftzeilen. Darunter überwölbt baldachinartig ein rotes Tuch den Ausschnitt einer ägyptischen Szenerie mit Palmen und Pyramide an Nilgestaden. Links flankiert eine in weiße Tücher gehüllte Gestalt diesen überraschend freien Ausblick. Neben ihr ein rot gemustertes Tuch über einem simplen Holzgestell. Davor ein hüfthoher schwarzer indischer Stein-Lingam, umgeben von einem weißen Energiefeld, das einen Strahl in immer engeren Windungen bis zum weiblichen Antlitz sendet. Unter der idyllischen Nil-Szenerie klafft ein Grab mit einem menschlichen Gerippe. Rechts davon umarmen sich zwei nackte balinesische Tänzerinnen mit reichem Kopfschmuck mit ihrem männlichen Gefährten. Unter ihnen fließt Milch aus einer Brust als weißes Gerinnsel dem Grabe zu. Die Botschaft des Bildes bleibt dem Betrachter überlassen. Für mich ist es eine Komposition aus den vier Elementen Wasser, Erde, Luft und Feuer, die alle Zonen als knisternde Energie beherrscht: den Himmel und die Luft in Form von Blitzen; den spirituellen Aspekt der geistigen Kultur in Gestalt des indischen Phallus und das von diesem ausgehende Dreieck der Erotik zum Liebespaar oben und zur nackten Dreiergruppe rechts.

Gleichzeitig veranschaulicht Klarweins Sphinx die transformierende erotische Kraft des Lebens, das den Tod mit den Säften der Liebe befruchtet und in schriftlichen Überlieferungen und exemplarischer Architektur – wie der Pyramide, die von den sieben Weltwundern übrig blieb und das genannte Dreieck spiegelt – die Zeiten überdauert. Mati Klarwein malte das Bild 1974. Die vielschichtige interkulturelle Symbolik des Gemäldes reflektiert den damaligen Zeitgeist, die kosmopolitische Biographie des Künstlers und seine unkonventionelle, ironische und provokante Philosophie. Er selbst notierte 1995 diese (ebenso enigmatischen) Zeilen zum Bild: «Nur die Sphinx, dieses perfekt ausgewogene Mischwesen von Mensch und Tier, kann uns entschlüsseln, ob unsere Fragen uns wirklich solide Antworten bescheren oder ob unsere Antworten nicht verkleidete weitere Fragen sind. Aber eine Sphinx heutzutage zu finden ist praktisch unmöglich. Denn rings um uns gibt es entweder nur noch körperlose ‚Hirnis‘ oder hirnlose, allesfressende Biester. Zeig mir eine perfekt ausgewogene Kreatur im Zustand göttlicher Gnade – dann biete ich dir eine Antwort auf all unsere Probleme.» Mati Klarwein (*1932 in Hamburg, † 2002 auf Mallorca), der Sohn des Architekten Ossip Klarwein und der Opernsängerin Elsa Kühne, wanderte 1933 mit seinen jüdischen Eltern nach Palästina aus. Er studierte an der Ecole des Beaux Arts in Paris, reiste viel und verbrachte Jahrzehnte in New York und auf Mallorca. Der Kosmopolit und Rebell Klarwein, ein Schüler von Fernand Légers und von Ernst Fuchs, war durch seine Plattencover für Miles Davis (Bitches Brew), Carlos Santana (Abraxas) und Jon Hassel der «bekannteste unbekannte Künstler». Visionäre Landschaften, die Vorliebe für orientalische Kulturen sowie Erotik, Zeit und Tod bestimmten seine magisch-realistische visionäre Kunst. Dass ihn Erfahrungen mit geistbewegenden Pflanzen und Substanzen inspirierten, ist nicht verwunderlich. www.claudia-mueller-ebeling.de


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