Musikfest Erzgebirge | Programmbuch 2014

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KONZERT

EINFÜHRUNG

gemäß argumentieren, und der Schreibstil seiner Briefe sorgt bis heute unter Theologiestudenten für rauchende Köpfe, wenn sie die Syntax der Briefe zu entschlüsseln suchen. Paulus und das Alte Testament Das Bestechende des Christentums ist u. a., dass es sich trotz radikaler Neuheiten (ein gekreuzigter Menschensohn anstelle unverwundbarer Götterhelden) als Erfüllung des Jahrtausendealten israelitischen Kultes ausgab. Dieser wiederum beruht bekanntlich auf großen Texten, die wir heute als Altes Testament bezeichnen. Paulus verstand es einzigartig, diese Texte auf Christus zu beziehen, sie neu zu interpretieren. Damals war es nicht üblich oder erforderlich, beim Zitieren von Quellen deren Kontext oder Intention zu berücksichtigen. Paulus nutzt und deutet die Schriften seines jüdischen Volkes in einer eigenwilligen, »vorwissenschaftlichen« Weise, die dem Volk Israel alle Rechte belässt und den Christen gleichzeitig alle Rechte zuspricht. Dabei hebelt er seine biografische Identität nicht mit z.B. dem Hinweis auf seine Bekehrung aus, sondern bleibt sich als Jude erstaunlich treu und traut sich gleichzeitig aber weit darüber hinaus … Religionsproduktivitäten zu verschiedenen Zeiten Lebensbedingungen können religionsproduktiv sein. Wir wollen »durchblicken«, Licht um uns haben, um so mehr, wenn das Leben, die Quelle und der Sinn verdunkelt im Schatten liegen. Re-

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MUSIKFEST ERZGEBIRGE 2014

ligionsforscher verweisen z.B. auf den modernen Options-Stress unserer Überflussgesellschaft und die Gleichrangigkeit von Pround Kontra-Argumenten, die die Sehnsucht nach Entlastung und Erleuchtung verstärken, nach erlösender Entscheidung durch eine übergeordnete Instanz, eine Ideologie oder einen »Guru«. Der Erlösungs-Bedarf zur Zeit der ersten Christen, im römischen Weltreich, war anderer Art: damals ging es den Menschen um Erlösung aus dem unentrinnbaren Schicksal der Sklaverei. Paulus verkündigte das Evangelium so, dass sich die Grenzen der gesellschaftlichen Schichten öffneten, dass sich der Sklave und der Herr vor dem christlichen Gott unterschiedslos begegneten, ohne dass er zur Revolution gegen die bestehenden Verhältnisse aufgerufen hätte. Der Nerv der Zeit war die Sehnsucht nach Erlösung (Licht) aus der Hoffnungslosigkeit (Dunkelheit); Jahrhunderte später trat an diese Stelle die Sehnsucht nach Erlösung aus der Verdammnis der Hölle, wieder Jahrhunderte später die Sehnsucht nach Erlösung aus der Sinnlosigkeit. Die gute Nachricht dessen, was Paulus predigte, galt nicht vorrangig den Herrschenden auf der Sonnenseite, sondern vor allem denen im Schatten. Die Christen hielten es mit einem Gott, der in Jesus bis in die Todeserfahrung hinein mitfühlend, ohnmächtig mitleidend auf ihrer Seite stand. Die Teilhabe an der Christengemeinde bedurfte keines »Abiturs«, keines Wissensvorsprungs, keiner Elite- oder sozialen Zugehörigkeit. Es genügte – und das


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