RADIKAL JUNG
REGISSEUR*INNEN IM PORTRÄT
1 19 04 2024
Im Vorfeld dieses Festivals kam – wie schon so oft – die Frage auf, ob Theater, mit dem, was es zeigt, mit dem, was es ist oder sein will, die Welt verändern könne. Wir sind nun seit zwei Jahren Zeugen eines Krieges in der Ukraine, die Ereignisse in Israel und Palästina lassen niemanden von uns kalt, der Antisemitismus wächst wieder an und darüber hinaus hat unser Land im Augenblick auf eigenartige Weise mit sich zu kämpfen. Wohnungen werden knapp, die Inflation treibt uns vor sich her, viele fürchten sich vor sozialer Ungerechtigkeit, und dann gibt es da – so erzählt man es uns – zu viel Einwanderung. Eifrig haben sich fast alle Parteien auf den Weg gemacht, diese schon an den Außengrenzen zu verhindern, und merken dabei gar nicht, wie sehr sie sich von der Politik der AfD treiben lassen. Ach ja, da war ja noch etwas – fast hätte ich den Klimawandel vergessen. Dürrenmatt hat einmal gefragt: „Ist die Welt noch im Theater abbildbar?“ Ich glaube, sie war niemals abbildbar – die Realität ist zu groß, zu grausam, wir können höchstens ein „Stück“ davon abbilden. Theater ändert die Welt nicht, aber es ändert vielleicht unser Verhältnis zu ihr. Was sich darstellen lässt, ist Sinnbild und nicht Abbild, aber auch Poesie – und manchmal gelingt es uns auch, dass unsere Zuschauer*innen (Entschuldigung, Herr Söder) einfach nur lachen.
Wir stehen vor großen Herausforderungen. Wenn ich mir nun, gemeinsam mit Ihnen unsere 14 eingeladen Produktionen anschaue, so bin ich gut gestimmt und bester Dinge. Viele junge Künstler*innen machen sich auf ihren Weg, sie suchen nach Themen, nach dem richtigen Ausdruck, nach ihrer und unserer Identität und Sie, liebes Publikum können mit dabei sein und sich die Ergebnisse mit uns anschauen. Allen beteiligten Künstler*innen, allen Mitarbeiter*innen auf und hinter der Bühne und vor allem Christine Wahl, C. Bernd Sucher, Florian Fischer und dem Leiter der Jury Jens Hillje dafür herzlichen Dank.
Christian Stückl Intendant
Auch wir, die Kurator*innen von „Radikal jung“, freuen uns, dass es endlich losgeht – und wollen an einer schönen Festivaltradition festhalten: Um euch und Ihnen die eingeladenen Regisseur*innen und ihre Produktionen vorzustellen, haben wir wieder Theaterkritiker*innen sowie einen Philosophen und einen Dramaturgen gebeten, sie zu porträtieren. Wir wünschen euch und Ihnen ein anregendes Festival und viel Spaß beim Lesen und Schauen!
Jens Hillje – Florian Fischer – C. Bernd Sucher – Christine Wahl
IST DAS NOCH TRAINING ODER SCHON SADOMASO?
„Fugue Four : Response“ von Olivia Axel Scheucher und Nick Romeo Reimann mit Unterstützung des Volkstheaters Wien
NICHTS IST DEUTSCHER – WEG DAMIT!
„Doktormutter Faust“ von Fatma Aydemir in der Regie von Selen Kara, Schauspiel Essen
VON WURSTIES UND FEINKOSTGEWÖLBEN
„Männerphantasien“ nach Klaus Theweleit mit neuen Texten von Svenja Viola Bungarten, Ivana Sokola und Gerhild Steinbuch in der Regie von Theresa Thomasberger, Deutsches Theater Berlin
THEATER GEGEN DIE GREAT ABOUTNESS
„Spill your Guts“ von Hendrik Quast, Sophiensæle Berlin, Künstler*innenhaus Mousonturm Frankfurt a. M., Kampnagel Hamburg
WIE ES IST, EIN MENSCH ZU SEIN
„Arbeit und Struktur“ von Wolfgang Herrndorf in der Regie von Adrian Figueroa, Düsseldorfer Schauspielhaus
IM KRIEG GIBT ES KEINE ROMANTIK
„Das große Heft“ von Ágota Kristóf in der Regie von Ran Chai Bar-zvi, Münchner Volkstheater
DAS GEGENNETZWERK
„Die Gerächten“ von Murat Dikenci (Text und Regie), Theater Dortmund
DIE SEELE DER LAUSITZ
„Das Kraftwerk“ von Calle Fuhr in der Regie von Aram Tafreshian, Staatstheater Cottbus
KOMPONIERTES DRAMA À LA CARTE
„À la carte“ von Current Resonance, Ku.Be Kopenhagen
KEINE ANGST VOR BUDENZAUBER.
„Blutbuch“ von Kim de l’Horizon in der Regie von Jan Friedrich, Theater Magdeburg
ELEMENTARDRAMA OHNE BEIPACKZETTEL
„Goodbye, Lindita“ von Mario Banushi, Griechisches Nationaltheater Athen
HIER STIRBT NIEMAND AN DER LIEBE
„Pandora’s Heart“ von Anna Schill, Maret Zeino-Mahmalat und Friederike Brendler, SchwuZ Queer Club
DEN STATUS QUO BELEIDIGEN
„Up Your Ass“ von Nona Demey Gallagher und Lieselot Siddiki in der Regie von Nona Demey Gallagher, detheatermaker
I’M NOT IN PEACE
„The Cadela Força Trilogy: Chapter I – The Bride and the Goodnight Cinderella“ von Carolina Bianchi, Festival d’Avignon
IMPRESSUM: Herausgeber: Münchner Volkstheater GmbH, Christian Stückl (V. i. S. d. P.);
Redaktion: Christine Wahl; Schlussredaktion: Julia Röseler; Druckerei: Kriechbaumer, München
Umschlagfoto: Kyle Thompson, Agency VU, Laif
2 INHALT EDITORIAL
4 8 12 16 20 24 28 32 36 40 44 48 52 56
19–27/4/2024 RADIKAL JUNG DAS FESTIVAL FÜR JUNGE REGIE
IST DAS NOCH TRAINING ODER SCHON SADOMASO?
„Fugue Four : Response“ von Olivia Axel Scheucher und Nick Romeo Reimann mit Unterstützung des Volkstheaters Wien
„Fugue Four : Response“ von Olivia Axel Scheucher und Nick Romeo Reimann war vor „Radikal jung“ auch schon zu anderen renommierten Festivals eingeladen, etwa zum Heidelberger Stückemarkt oder zu ImPulsTanz Wien. Die Performance hatten sie ursprünglich für ein Festival geschaffen – und ihre längere Version dann auf Einladung für das Volkstheater Wien, wo sie seit Frühjahr 2022 im Spielplan steht und immer ausverkauft ist. Beim Videotelefonat schauen Olivia Axel Scheucher und Nick Romeo Reimann von einem Sofa aus in die Kamera. Ein großes Gemälde ragt ins Bild. Die gemalten Leiber mehrerer Menschen, die sich aneinander schmiegen, erinnern an die Schlussszene von „Fugue Four : Response“. Doch hat das Bild eine andere Geschichte: Reimann, seit Herbst 2020 Schauspieler im Ensemble des Volkstheaters Wien, kuratierte Ende 2022 eine Spätabend-Lesung in der „Roten Bar“ des Hauses mit neuen Ge-
dichten zu vier ausgewählten Bildern – „Ekphrasis“ –, die eine Wissenschaftlerin im Kontext queeren Begehrens besprochen hatte. Die Gemälde sollten anwesend sein, aber dasjenige von Murat Önen aus Düsseldorf zu transportieren, wäre zu teuer geworden. So half eine auf Leinwand gedruckte Fotografie. Sie wanderte übers Sofa in Wien. Nick Romeo Reimann entwickelt seit Jahren eigene Arbeiten jenseits seines Festengagements. Bereits als Kind spielte er in Kinofilmen mit, auch große Rollen. Als Jugendlicher interessierte er sich dann zunächst für anderes; mit dem Schulabschluss allerdings meldete sich das Gefühl des Schicksalhaften: schauspielen! Er beschloss, das zu studieren – und bewarb sich an der Otto Falckenberg Schule in München, die ihre Studierenden zu einer umfassenden künstlerischen Eigenständigkeit ausbildet, auch im Sinne der Arbeit an eigenen Projekten. Froh, gleich angenommen worden zu sein,
verschob Reimann mit der Zeit den Fokus: Seine abendliche „Theatersozialisation“ geschah in den Kammerspielen, die damals Matthias Lilienthal leitete. „All die unterschiedlichen experimentellen, internationalen Regiehandschriften: Für mich war das damals normal“, erzählt Reimann – bis er feststellte, dass sie es nicht waren.
Vom Volkstheater in Wien hörte er, es sei offen auch für Experimentelles, und strengte sich deshalb an, nach seinem Abschluss 2020 dorthin zum Vorsprechen eingeladen zu werden. Es klappte. Gleich mit der zweiten Produktion, in der er mitwirkte, reiste er zum Theatertreffen nach Berlin: Claudia Bauers „humanistää!“. Er schwärmt vom Arbeiten mit der Regisseurin.
OSCAR-GEWINNER-REDEN OHNE OSCAR
Sofanachbar:in Olivia Axel Scheucher, ebenfalls Mitte Zwanzig, beendet soeben das Studium, das zweite: Regie, am Max Reinhardt Seminar in Wien. Aus keinem Kunsthaushalt
5
TEXT: MELANIE SUCHY / FOTO: DANIEL LICHTERWALDT( OLIVIA AXEL SCHEUCHER), PRIVAT (NICK ROMEO REIMANN)
kommend, ging Scheucher zwar immer gern ins Theater, habe dies aber nie für eine berufliche Option gehalten. So studierte Scheucher BWL, mit Abschluss. Jobbte, arbeitete viel in Büros, in der Gastro, mit Kindern – und einmal auch in einer Galerie, deren Galeristin Scheucher ermutigte, einen künstlerischen Weg einzuschlagen. So bewarb Scheucher sich am Max Reinhardt Seminar – und wurde angenommen.
Nach dem zweiten Studienjahr, erzählt Scheucher, kam der Wunsch, „eine kleine eigene
erarbeiteten. Räume, Technik, Requisiten stellte das Theater.
Die Proben kollidierten mit Reimanns Endproben zu einer Premiere seines Hauptjobs im Schauspielensemble. Also probten sie „Fugue“ mittags und nachts –statt zu schlafen. „So zu arbeiten, ist nicht nachhaltig“, sagt Reimann. Das wünscht er sich künftig anders. Selbst entwickelte Stücke haben es an Stadttheatern – soweit beider Erfahrung –mitunter schwer: Häufig werden bekannte Dramentexte als Inszenierungsgrundlage gewünscht. Für „Fugue Four : Response“ schrieb Scheucher – zusammen mit Reimann – den Text und performt selbst. „Es sollte eine Performance werden zum Thema Sexualität im Spätkapitalismus“, sagt Reimann. „Wir beschäftigen uns mit einem System, das sexuelle Emanzipation zu neoliberalen Slogans verkehrt.“ Sie stellten Fragen in Bezug auf Körper, Sexualität und deren Verwertung durch Social Media, es gehe ihnen um Selbstwahrnehmung, um das ständige Sich-Präsentieren, Gewinnenwollen – kurz: den unentrinnbaren Kapitalismus, der selbst höchst privates Begehren infiltriert beziehungsweise ausnutzt. Und so beginnt das Stück mit furchtbar guter Laune und OscarGewinner-Reden (ohne Oscar) –und integriert „Internetsprache, die für uns einfach alltäglich ist“, so Scheucher.
WIE PINA BAUSCH IN IHREN FRÜHEN STÜCKEN
Arbeit nicht einfach an den Kopf zu knallen“, so Reimann. „Wir bemühen uns eigentlich immer um einen einladenden Gestus; es ist uns wichtig, dass die Leute im Publikum Spaß haben.“ Es geht also darum, nichts vortragsmäßig zu erläutern, sondern die Kritik selbst zu verkörpern: „Wir spielen etwas, was teilweise sehr verführerisch daherkommt oder streckenweise sogar erotisiert ist.“ Ganz ernsthaft, ehrlich. Im Grunde agieren sie da ähnlich wie Pina Bausch in ihren frühen Stücken, die sich nur eben auf andere Medien oder Unterhaltungsformate bezog.
„Sich so auszuliefern“, sagt Reimann, sei für die Darsteller:innen herausfordernd, als Figur, die man eigentlich nicht gutheiße. Dadurch aber entstehe eine Kraft. „Und wir versuchen es immer auf der Kippe zu halten. Sobald sicher erscheint, worum es gerade geht, kommt wieder ein Bruch.“ Ein Fallenlassen, ein Scheitern. Die Szenen geben sich oberflächlich, um dann ins Undurchschaubare zu rutschen.
Regiearbeit“ zu realisieren. Zusammen mit Reimann nahm Scheucher an der Ausschreibung des Porn Film Festivals Vienna (PFFV) teil: Sie schufen den Halbstünder „Fugue Four : Response“ und zeigten ihn zweimal. Luca Bonamore und Thea Ehre waren schon mit von der Partie: ein Tänzer und eine werdende Schauspielerin. Jemand von der Dramaturgie des Wiener Volkstheaters schaute zu und lud sie ein, einen ganzen Abend daraus zu entwickeln. So kam es zur „extended version“, die sie, jenseits der üblichen Förderstrukturen,
Sie spielen das Publikum an, brechen die vierte Wand auf, tragen zwar ihre Namen, aber verkörpern „Figuren“. Wecken Sympathie –ihre Aktionen oder Sprüche laufen jedoch ins Seltsame hinaus, ins Unsympathische, Groteske. So wird beispielsweise eine von einem anderen Kollektiv verfasste Theorie zur kapitalistischen Herrschaft des „jungen Mädchens“ – also zur Weiblich- und Jugendlichkeit – auf die Bühne projiziert, die zunächst mit Plausibilität winkt. Doch im Worthauch entstehen Zweifel, ob sie nicht eine poetische Parodie kapitalismuskritischer Theorien ist. Schöne Irritation.
Den „Fugue Four“-Vieren war es wichtig, „den Leuten die kritischen Elemente in dieser
Die vier Performer:innen tragen Pluderhöschen, Oberkörper frei. Das Publikum übersehe die im ersten Moment schockierende Nacktheit recht bald, stellten sie bei vielen Gesprächen fest. Auf der Bühne ergehen sich die Performer:innen in einer ausführlichen Kopfnick- und Beinspreizgymnastik mit Therabändern: „Diese Passage verbindet viele Elemente aus unserer Recherche“, erklärt Reimann. „Wir arbeiten mit Verschnürungen, die an BondageSadomasochismus erinnern. Gleichzeitig findet durch die repetitiven Trainingsbewegungen eine Form der Selbstdisziplinierung statt.“ Und natürlich erinnere das Wippen, das Zucken und die Dehnungen auch an Sexbewegungen, zumal dieses choreografische Tableau sich zu einem Höhepunkt steigert. Jemand habe einmal geschrieben: Ist das noch Training oder schon Sadomaso? „Das fand ich gut beobachtet“, sagt Reimann.
EINKEHREN
UND INNIGWERDEN
In einer Szene wird ein viel verwendetes „Reel“ auf der Bühne zitiert, bei dem eine Person erst langsam, dann immer schneller
Produktion Olivia Axel Scheucher und Nick Romeo Reimann
Regie Olivia Axel Scheucher und Nick Romeo Reimann Kostüme Felix Schmidt, Alissa Herbig Bühne Nick Romeo Reimann, Olivia Axel Scheucher Musik Nick Romeo Reimann AR-Animation Andreas Palfinger Outside Eye Matthias Seier Produktionsleitung Lisa Anetsmann
Besetzung Luca Bonamore, Pilar Borower, Nick Romeo Reimann, Olivia Axel Scheucher
um sich selbst kreist und drei Sätze endlos wiederholt: ein auf Instagram und TikTok beobachtetes Schleifen-Phänomen mit ScrollingSuchtpotenzial.
Über „Körpersprachen“ hätten sie viel nachgedacht, sagt Scheucher. Die Nachvollziehbarkeit war ihnen wichtig; die „Formate“, die sie in den unterschiedlichen Szenen durchspielen, sollten „formal klar sein, in sich kohärent“. Also bewegen sie sich so, wie sich Preisträger:innen bei einer Oscar-Verleihung geben, erklären die Regisseur:innenPerformer:innen. Oder Luca Bonamore wölbt und biegt sich auf allen Vieren, streicht die Hände über die Haut, preist sich oder seinen Körper mit sattsam bekannten Posen an. Die Texte fügten sich sozusagen nahtlos daran und hinzu, zumal die kleinen Bühnen, auf denen „Fugue Four : Response“ spielt, leises Sprechen ermöglichen. Dass sie nicht schreien oder ihre Stimmen mit Mikros verstärken müssen, schätzen die Macher:innen, von denen ja nur Reimann voll ausgebildeter Schauspieler ist.
Am Ende des Stücks werden die Performer:innen still. Einfaches Gehen und Stehen entwickelt sich – nachdem ihnen schließlich auch noch der Untergrund glitschig wurde – zu Balanceakten. Das Finale ist als Umkehrung des launigen Anfangs lesbar: als Einkehren und Innigwerden. Es wirkt wie eine Zuflucht. Sie flüchten in die warmen Arme von jemandem, in körperliche Zugewandtheit oder Trost, und zwar alle vier gleichzeitig. Sie sprechen von „Skulpturen“, die sie langsam bauen, mit
Kletteraktionen auf Oberschenkel, mit Halten und Stützen. Die Szene, erzählen Scheucher und Reimann, war bereits Teil der ersten Halbstünderversion.
Diese basierte auf Gesprächen darüber, dass es „in der MainstreamPornografie immer scheint, als würde sich alles mühelos ergeben, ohne dass man sich irgendwie absprechen müsste“. Außerdem arbeiten sie mit Sex-Darstellungen und Romanillustrationen aus dem 18. Jahrhundert: Orgien-Gebilden aus lauter Perücken tragenden Leuten. Dieses Material konfrontieren sie auf der Bühne mit dem Gedanken, dass „natürlich alles auf Vorbereitung, Absprache, Kooperation beruht und die Balance schwer zu halten“ ist.
„Nichts ergibt sich einfach so, niemand bewegt sich natürlich einfach so“, sagt Scheucher. Und dadurch, dass sie das eben nicht supergekonnt wie die Artistik- oder Tanzprofis machen, werde es umso sichtbarer. „Es ist alles immer ein Performen.“
MELANIE SUCHY studierte Allgemeine Sprachwissenschaft und arbeitete in Kulturförderinstitutionen, bevor sie ein Masterstudium Musiktheater-, Theater- und Tanzkritik in Frankfurt am Main absolvierte.
Seit 2005 ist sie freischaffend tätig als Kulturjournalistin mit den Schwerpunkten Tanz und Performance für Zeitungen und Magazine. Sie ist Mitgründerin des Vereins zur Förderung des Qualitätsjournalismus in Tanz, Tanz.media e. V.
FOTO: MAIKE HÄUSLING
7
FUGUE FOUR : RESPONSE
FUGUE FOUR : RESPONSE FOTO: © NIKOLAUS OSTERMANN
NICHTS IST DEUTSCHER – WEG DAMIT!
„Doktormutter Faust“ von Fatma Aydemir in der Regie von Selen Kara, Schauspiel Essen
Und wieder eine Überschreibung. Noch eine mehr zu den vielen, die wir schon lesen und sehen durften. Allein, Fatma Aydemirs Aneignung des ersten Teils von Goethes „Faust“Drama unterscheidet sich von vielen anderen durch ihre Radikalität und den Mut der Autorin, auf Goethe zwar zu rekurrieren – sie zitiert manchmal sogar wörtlich und übernimmt im Vorspiel auf dem Theater die Personenkonstellation –, aber dennoch eine ganz andere Geschichte zu erzählen. Eine heutige.
Nachdem die Zuschauer lange ein Video gesehen haben – ein nacktes Wesen schwimmt oder taumelt in einer Fruchtblase oder nur in einem übergroßen mit Wasser gefüllten Bassin? –, verschwindet die Wand, auf die diese Bilder geworfen wurden. Jetzt werden die Beobachter von acht blauen Lichtröhren am Boden geblendet. Nebel wabert, Wesen bewegen sich in den Schwaden, und endlich sind sie da: die Personen des Vorspiels. Wie im Original diskutieren auch bei Fatma Aydemir drei kreative Köpfe. Aber bei ihr sind es eine Frau und zwei Männer. Der Theaterdirektor, die Theaterdichterin und eine lustige Person streiten darüber, was die Aufgaben des Theaters heute sein müssen, sie streiten über Goethe und den „Faust“.
Was bleibt davon? – Die Freude über die Missachtung des Textes durch die drei. Klar: „Nichts ist deutscher als der ‚Faust‘. Stimmt: „‚Faust‘ ist so frauenfeindlich!“
Und die Dichterin denkt und redet klar, was sie so gar nicht mag: „Gretchen ist kein Mensch, den ich retten muss, Gretchen ist eine Figur, die ich abschaffen muss, damit wir alle frei sind.“
Gesagt, getan! In dieser „Faust“Version gibt es keine GretchenFigur. Thema ist Begehren und Gewalt, hier versucht eine Frau einen Mann zu erobern. Rasch einigt man sich auf der Bühne, dass „Verführung immer eine Grenzüberschreitung“ ist. Dieses Vorspiel bleibt neblig, wolkig –und ein wenig wolkig, hingetupft sind auch die Dialoge von Fatma Aydemir. Das ändert sich abrupt nach dem Ruf: „Vorhang auf!“
KEIN FAUST, SONDERN
EINE FÄUSTIN
„Doktormutter Faust“ war ein Stückauftrag an Fatma Aydemir. „Wir haben lange überlegt, mit welchem Stoff wir die Intendanz eröffnen können“, erklärt Selen Kara, die jetzt zusammen mit Christina Zintl das Schauspiel Essen leitet. „Da ich durch meine Inszenierungen von ‚Ellbogen‘
und ‚Dschinns‘ in Mannheim mit Fatma eng im Austausch war, fragte ich sie, ob sie Lust habe, für die Intendanzeröffnung in Essen ein Theaterstück zu schreiben oder einen Klassiker zu überschreiben – passend zum Motto: ‚Neues deutsches Theater – under construction‘. Ich schlug ihr zwei Titel vor, mit denen Fatma nichts anfangen konnte. Dann kam sie mit Goethes ‚Faust‘ um die Ecke, was mich erst mal total abschreckte. Wir beendeten das Gespräch mit: ‚Wir denken noch mal über mögliche Klassiker nach.‘ Der Prolog in ‚Doktormutter Faust‘ gibt einen kleinen Einblick in unser Telefonat. Zwei Wochen später rief Fatma an und sagte, dass sie gedanklich immer wieder auf ‚Faust‘ zurückkäme. Sie beschrieb, was sie an dem Stoff interessiert und wie man dieses urdeutsche Werk und die Figuren neu denken kann.“ Schließlich fand Selen Kara die Überlegungen und die feministische Grundidee der Überschreibung „sehr inspirierend und schlau. Also haben wir uns doch auf Faust geeinigt. Also Doktormutter Faust“. Statt Faust eine Fäustin, kinderlos, kämpferisch. Entschlossen, ihren Studentinnen zu helfen, wenn diese fürchten, dass ein Kind ihr Studium und ihre Karriere
8
TEXT: C. BERND SUCHER / FOTO: HAKKI TOPCU
Regie Selen Kara
Bühne Lydia Merkel
Kostüme Anna Maria Schories
Musik Torsten Kindermann, Ruben Philipp
Video Florian Schaumberger
Dramaturgie Margrit Sengebusch
Besetzung Bettina Engelhardt (Margarete Faust), Nicolas Fethi Türksever (Mephisto, lustige Person), Eren Kavukog˘lu (Karim), Silvia Weiskopf (Hexe, Johannes, Theaterdirektorin), Beritan Balcı (Valeria, Hexe, Paul, Dichterin)
gefährden könnte. Just deshalb wird sie von der Universitätsleitung geschasst. Eine Frau, die begehrt und sich von Mephisto – den gibt es, und er ist eher sympathischhilflos als dämonisch-dominierend – einen jungen Mann zuspielen lässt. Er heißt Karim, ist hübsch, will bei dieser Professorin seine Doktorarbeit schreiben – und er ist schwul. Was das Begehren der Frau Professor nicht mindert, im Gegenteil. Ihre Sehnsucht treibt sie ins Verderben. Eine Promotion bei ihr ist ausgeschlossen. Um ihn zu halten, hilft nur die Lüge. Halten heißt aber nicht, ihn zu besitzen. Sie missbraucht ihre Macht – und gelangt dennoch nicht ans Ziel ihrer Wünsche.
UNI-BÜRO ODER HEXENKÜCHE
Der feministische Ansatz macht diese Goethe-Überschreibung so besonders – und nicht zuletzt auch Fatma Aydemirs konsequentes Beharren, dass auch ihr Stück ein Text-Kunstwerk sein soll und eben nicht ein kitschiger Actionkrimi für das Theater. Selen Kara schwärmt, wenn sie erklärt, dass in dieser Fassung die Anteile des Gretchens „auf die anderen Figuren in dem Stück“ verteilt würden: „Am Beispiel der Figur Margarete Faust, einer angesehenen Professorin, die Ruhm und Status genießt, sehen wir, wie es zu Machtmissbrauch kommen kann. Die Machtkritik wird hier beispielhaft herausgearbeitet. Hinzu kommen die Motive aus Goethes ‚Faust‘ wie Gretchens Kindsmord, die Fatma mit dem Abtreibungsverbot aus der heutigen Sicht verbindet und in diese Welt setzt. Die Gretchenfrage ist hier eine Konsensfrage.“
Ein Satz aus dem Vorspiel habe sie erst neugierig gemacht, dann gefesselt: „Ich muss Gretchen abschaffen, damit wir alle frei sind.“ Und die Uraufführungsregisseurin stört dabei die Nähe zu Goethes Text keineswegs. Im Gegenteil, sie mag sie „absolut!“. Egal wie gut oder schlecht man Goethes Text kenne, es mache einfach „Spaß, in diesem zeitgenössischen Text plötzlich Zitate oder Motive aus Goethes ‚Faust‘ zu entdecken oder bestimmte Figuren und Passagen hier in einem neuen Kontext wiederzufinden“.
Reduktion ist auch das Konzept der Regisseurin – sieht man einmal ab von dem runden Screen über der Bühne, auf dem nackte Körper und Granatapfelkerne erscheinen: Symbol für Fruchtbarkeit? Diese Videos von Florian Schaumberger behaupten Sinnlichkeit. Braucht man diese Bilder? Es scheint, als habe Selen Kara der leere Raum mit der Drehbühne, auf der sich eine weitere kleinere Platte dreht, nicht genügt. Obwohl sie zusammen mit der Bühnenbildnerin Lydia Merkel viele Assoziationsräume schafft: Uni-Büro oder Hexenküche.
MAL MACHO, MAL SENSIBELCHEN
Mit Lydia Merkel arbeitet Selen Kara seit zehn Jahren zusammen. „Wir sprechen über den Text, sammeln Ideen, Assoziationen, versuchen eine Atmosphäre für die Welt zu finden, in der die Geschichte spielt. Dazu zählt das gesamte Team – Kostüm, Musik, Video. Wir begeben uns gemeinsam auf die Suche. Lydia entwickelt aus dem Besprochenen einen Entwurf.
In diesem besonderen Falle, der Eröffnung, wollten wir auch die Grillo-Bühne mitspielen lassen, weil sie einfach toll ist. Sie hat Versenkungen in der Drehscheibe, die man während der Fahrt öffnen und senken kann. Und in Kombination mit dem Text war uns sofort klar, dass es ein reduziertes Bühnenbild sein muss.“ Sie wollte, dass auf der „Grillo-Bühne der Text und das Ensemble im Fokus stehen“. (Und doch gibt es die Videos?! Florian Schaumbergers Arbeit beschreibt Selen Kara als Bilder, die die „inneren Gefühlszustände und Traumsequenzen“ sichtbar machten.)
Wie viel wichtiger ihr bei der Arbeit die Schauspielerinnen und Schauspieler sind, auch dies zeigt diese sehr schlichte und stringente Inszenierung. Neben Beritan Balcı und Silvia Weiskopf, Hexen in weißen Lackmänteln, sind es zwei Schauspieler und eine Schauspielerin, die den Abend zu einem Ereignis machen: Fethi Türksever, Eren Kavukog˘lu und vor allen anderen Bettina Engelhardt als Professorin Faust. Türksevers Mephisto ist ein witziger, schlauer Kerl, der sich nicht so recht entscheiden mag, ob er Frauen spannender findet als Männer. Mal Macho, mal Sensibelchen. Nicht androgyn, aber auf wundersame und völlig unpeinliche Weise sexuell uneindeutig. Kurz: genderfluid.
Auch Eren Kavukog˘lu vermeidet in seinen Bewegungen und in seiner Sprechweise alles Schwule. Ein Junge, der hinters Licht geführt, verführt wird – und Opfer der Professorin ist. Bettina Engelhardt schafft es, das Publikum zu verunsichern. Eigentlich müsste man diese Karrieristin, diese Lügnerin, die ihre Macht missbraucht, verachten, doch man erwischt sich dabei, sie zu mögen, sie zu bedauern. Fatma Aydemir und Selen Karen liefern keine der Figuren dem Spott oder gar der Verachtung aus.
IN DER SCHUBLADE DER „POSTMIGRANTISCHEN“ REGIE
Das Grillo-Theater ist der rechte Ort für dieses Kammerspiel. Selen Kara liebt dieses Haus aber nicht nur wegen seiner Größe und seiner technischen Möglichkeiten:
„Ich bin in der Nähe von Essen aufgewachsen. Dieses Theater verbinde ich mit meiner Schulzeit. Ich war oft mit dem Deutschkurs im Grillo-Theater und später auch als Studentin, obwohl ich in Bochum studiert habe. Vor genau 14 Jahren hat für mich alles im Grillo-Theater begonnen. Deshalb habe ich eine emotionale Bindung zum Haus und auch zu der Stadt.“ Und was war danach? Wie ging es los mit der Theaterarbeit? Sie habe am Theater zunächst als Dolmetscherin in Essen gearbeitet, erklärt sie. Wie das? „Ich besuchte nach meinem Abitur in Istanbul eine Theaterschule, habe dann Theater- und Medienwissenschaft in Bochum studiert und an der Uni in einer Theatergruppe mitgewirkt. Durch einen Zufall lernte ich das Team um Anselm Weber 2010 in Essen kennen, als Weber und die anderen sich auf die Intendanz in Bochum vorbereiteten. Damals brauchten sie eine Dolmetscherin für eine deutsch-türkische Produktion. Es war ironischerweise ‚Faust I und II‘! Ich sprang damals als Dolmetscherin ein, weil der
Regisseur kein Deutsch sprach. Im Anschluss daran fing ich am Schauspielhaus Bochum als Regieassistentin an. Nach zwei Jahren durfte ich mein Regiedebüt „Blaubart – Hoffnung der Frauen“ von Dea Loher zeigen, und dann ging es weiter in Bremen. Dort habe ich gemeinsam mit Torsten Kindermann den musikalischen Abend ‚Istanbul‘ entwickelt und inszeniert. Das war meine zweite Regiearbeit, und sie wurde ein Publikumserfolg. In den ersten Jahren realisierte ich viele musikalische Projekte, die für mich sehr wichtig und bedeutend waren und auch sehr erfolgreich angelaufen sind. In der Theaterlandschaft oder in der öffentlichen Wahrnehmung werden aber musikalische Abende leider oft zweitrangig behandelt. Auch aus der Schublade der ‚postmigrantischen‘ Regie bin ich lange nicht rausgekommen. Es war schon ein längerer Prozess, sich durch- und einzusetzen für Stoffe, die mich interessieren und nicht von mir erwartet werden.“
Was danach kam, wissen alle: Arbeiten in Bochum, Bremen,
Mannheim, Nürnberg, Düsseldorf und Bern – und eine erste Einladung zum Festival „Radikal jung“. Natürlich freut sich Selen Kara über die neuerliche Einladung nach München. Doch sie fragt sich, ob sie überhaupt noch zu den jungen Regisseurinnen und Regisseuren zählt. Karriereplanung? Karrierewunsch? „Über meine Zukunft denke ich nicht nach. Die Dinge kommen immer anders als geplant. Ich wollte auch nie Regisseurin werden, schon gar nicht Intendantin. Ich versuche, alles zu genießen, und bin dankbar für den Weg bis hierhin.“
C. BERND SUCHER
Autor, Theaterkritiker, Hochschullehrer.
Dissertation über „Martin Luther und die Juden“; seit 1998 Professor an der Hochschule für Fernsehen und Film in München. Mitglied des PEN und der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste. Jury-Mitglied von „Radikal jung“ seit der Gründung des Festivals.
FOTO: THOMAS DASHUBER
11
Schauspiel Essen
DOKTORMUTTER FAUST
DOKTORMUTTER FAUST FOTO: © BIRGIT HUPFELD
VON WURSTIES UND FEINKOSTGEWÖLBEN
„Männerphantasien“ nach Klaus Theweleit mit neuen Texten von Svenja Viola Bungarten, Ivana Sokola und Gerhild Steinbuch in der Regie von Theresa Thomasberger, Deutsches Theater Berlin
Als Klaus Theweleit 1977 seine Doktorarbeit „Männerphantasien“ vorlegte, hatten die 68er mit ihren Nazi-Vätern abgerechnet, aber aufgearbeitet war der deutsche Faschismus-Komplex nicht. Da brachte der Kulturwissenschaftler und APO-Aktivist eine neue Deutung ins Spiel, in aufregend anti-akademischer Sprache: Der Faschismus sei keine Ideologie, sondern ein Konglomerat von Körperzuständen. Aus Angst vor der Ich-Auflösung ergehe sich der „soldatische Mann“, frauenfeindlich, aggressiv und emotional gepanzert, in Gewalt. Die Frau erscheine diesem Typus als eine bedrohliche „rote Flut“, ein Sumpf, Brei, Schleim, der ihn zu verschlingen drohe. Voll Panik vor den „Vermischungszuständen der Körperränder“ fühle sich der Faschist gedrängt, das andere zu töten.
Das saß. Damals wie heute: Theweleits psychoanalytisch grundierte „Männerphantasien“ beschreiben nicht nur die spezifische historische Situation, die der Autor anhand von Freikorps-Literatur der 1920er Jahre analysierte, sondern eine sozialemotionale Konstellation und einen Habitus, der sich bis heute hält. Stichwort: „toxische Männlichkeit“. Für diesen Themenkomplex
interessiert sich die Regisseurin Theresa Thomasberger schon seit ihrem Philosophiestudium. Damals las sie feministische Literatur und forschte zur Kultur des Patriarchats. Tauchte ab in die „Manosphere“, in der online der Frauenhass und die Selbstüberhöhung grassieren, recherchierte zu Incel-Gruppen, in denen junge Männer über ihr unfreiwillig zölibatäres Dasein klagen.
Diese Gruppen Gleichgesinnter im virtuellen Raum zeitigen ziemlich reale Wirkungen: Ein Influencer wie Andrew Tate, der wegen des Verdachts auf Menschenhandel und Vergewaltigung eben erneut festgenommen wurde, ist als „König der toxischen Männlichkeit“ reich geworden.
„Die Verbindung von Hustle Culture und Manosphere ist perverser geworden. Tate zahlt seinen Followern Geld, damit sie diesen Hass und Selbsthass verbreiten“, so Theresa Thomasberger. Und immer wieder radikalisieren sich Männer in diesen mentalen und medialen Kontexten. Rechtsextremismus und Verschwörungstheorien wuchern in den Chatgruppen; Attentäter wie Anders Breivik oder Stephan B., der 2020 in Hanau mordete, standen dem misogynen Milieu nahe.
BIER TRINKEN IN DER KANTINE – UND SPRECHEN
All diese Recherchen zu heutigen faschistoiden Männlichkeiten flossen ein in Theresa Thomasbergers Bühnenversion von Theweleits „Männerphantasien“ fürs Deutsche Theater Berlin. In der Box, der kleinsten der drei DTSpielstätten, wird die 1200-seitige Faschismus-Studie zum Material für einen 90-Minüter, mit eigens verfassten Texten der Autorinnen Svenja Viola Bungarten, Ivana Sokola und Gerhild Steinbuch, „um einen starken Zugriff aus dem Jetzt zu finden“, wie Theresa Thomasberger sagt. Die Inszenierung schleust einen bedrängenden Wortstrom durch vier Schauspieler:innen-Körper. Als „Bros“ ergehen sich Svenja Liesau, Daria von Loewenich, Abak Safaei-Rad und Caner Sunar in Männlichkeitsritualen, begleitet von entsprechenden Geräuschen. Grölen, Johlen, Abklatschen. Saufen, Rülpsen, Pissen. Und dann schwadronieren sie in IncelManier (und mit Text von Klaus Theweleit) über die verlockenden Leiber der Frauen: „Meere von unbewegtem Fleisch und jungfräulicher Haut, Haarströme und Augenseen, ein unendliches unbetretenes Wunschterritorium“.
13
TEXT: ELENA PHILIPP / FOTO: IVEN YORICK FENKER
Was der Kulturtheoretiker
Theweleit an Freikorps-Texten versammelt, überschreitet oft die Grenze des Erträglichen. Lachende Täter erfreuen sich an der Zerstörung von Frauenkörpern. Abgründe des Menschseins tun sich in diesen Passagen auf. „Es gab viele Momente, in denen wir Triggerndem nahegekommen sind“, sagt denn auch Theresa Thomasberger, die genau weiß, was sie sich und ihrem Team zumutet. „Ich habe einen konfrontativen
Ansatz mit Themen, die mich umtreiben, und schaue lieber in den Abgrund, statt mich fernzuhalten. Aber das ist ein teils auch riskantes Spiel, und wir haben uns das auch bei ‚Männerphantasien‘ gefragt: Kann man das machen, so viel Gewaltsprache? Manches muss nicht sein – mit der Beschreibung von Tötungsakten und sexualisierter Gewalt umzugehen, habe ich nicht für notwendig erachtet.“
ihrer Produktion. Deshalb hat sich Theresa Thomasberger genau überlegt, wie sie die möglichen psychischen Effekte der Lektüre mindern kann – wie ja ohnehin die Theatermacher:innen ihrer Generation (sie ist 1992 geboren) sensibilisierter sind für das Toxische am Theater. „Was ich immer mache, ist, dass wir in der ersten Probe ein ‚Safe Word‘ festlegen, mit dem jede:r in jedem Moment die Probe abbrechen kann, wenn etwas zu nahegeht. Alle, auch die Hospitantinnen“, erklärt Theresa Thomasberger. „Das ist ein Tool, das ich wichtig finde und das viel verhindern kann. Es ist auch schon passiert, dass wir Proben abbrechen und sprechen.“ Klassischer ist der Kantinentreff, eine Form von Vergemeinschaftung, die gegen die Beschäftigung mit den dunklen Seiten der Kollektivität wirkt: „Bier trinken in der Kantine – das ist ein altes Mittel, das ich nach wie vor für bewährt halte. Und sprechen, sprechen, sprechen. Ich glaube ans Sprechen.“
SELBSTBEWUSST IN BOXERMONTUR
Kickbox-Champion. Und die ultrakompetenteste Person auf diesem Planeten, was „malefemale interactions“ anbelangt, prahlt die Witzfigur, die ein nur leicht verfremdetes Abziehbild der Realität ist. Während er versichert, kein Vergewaltiger zu sein, muss er sich gegen den Deckel der Pappbox stemmen, damit diese nicht zuklappt. Ein Narzisst, der mit Nichtigem zu ringen hat – das ergibt eine Szene voll chaplinesker Körperkomik.
Passagen, wie überhaupt im ganzen Stück der chorische Sound der österreichischen Literaturnobelpreisträgerin nicht zu verkennen ist.
Regie Theresa Thomasberger
Bühne und Kostüme Mirjam Schaal
Musik Oskar Mayböck
Licht Peter Grahn
Dramaturgie Lilly Busch
Besetzung Svenja Liesau, Daria von Loewenich, Abak Safaei-Rad, Caner Sunar, Edu Rojas
Als Regisseurin trägt sie die Verantwortung für das Wohlergehen der Mitarbeiter:innen
Viel gesprochen wird auch in der Bühnenversion von „Männerphantasien“. Thomasberger hat, gemeinsam mit der Dramaturgin Lilly Busch, aus Theweleits Text ausgewählt, hat zugespitzt und verdichtet. „Wir sind bald zu einem Montageprinzip gekommen, mit Bildern und Songs in einer Art Collage, weil auch die ‚Männerphantasien‘ eine Collage sind, Theweleit arbeitet nicht mit der stringenten Führung eines Gedankens, sondern folgt assoziativen Verbindungen.“ Neben der Verdichtung, die zentrale Motive von Theweleits Studie aufgreift, haben Thomasberger und Team den Stoff inszenatorisch ins Komische verschoben –eine Entlastungsstrategie oder: Verführung der Zuschauer:innen. Zitiert Caner Sunak krude Hass-Suaden von Andrew Tate, ist er zum Ausgleich in einen gigantischen Pizzakarton eingeklemmt. „A real man eats Pizza all day“, adressiert er sein Publikum in bestem Denglish. Megaselbstbewusst präsentiert er sich in Boxermontur, Tate ist schließlich mehrfacher
In Comedy-Höhen schwingt sich auch Svenja Liesau auf. Ihr Jens trägt Brille und strohiges Haar, unter einer Camp-David-Jacke und dem Karohemd rundet sich ein Bauch – sein „Feinkostgewölbe“, wie Liesau kalauert. Am Tag der Premiere hat Jens im Adventskalender einen Riesengrill gefunden, und auf dem werden auch gleich ein paar „Wursties“ gebraten. Vegan natürlich, denn dass Jens Tiere brutzelt, „das sind alles Vorurteile“. Brüderlich genderqueer teilt der deutscheste aller Grillmeister seine Speise mit dem Countertenor Steve Katona, der wie eine Engelserscheinung durch die Aufführung wandelt und, stimmlich intensiv, immer wieder vom „swamp“ und der „tide“ kündet. Theweleit’sche Motive in täuschend verführerischem Klang.
LOCKENDE AMBIVALENZ VON VERPACKUNG UND INHALT
„Wursties“ sind im von Svenja Viola Bungarten geschriebenen Monolog Penisse. Radikalfeministinnen lehnen das ab. Daria von Loewenich, brav-blond und im blau-weißen Sommerkleid, gibt die Influencerin, die ihre Follower:innen mit Einsichten in (un)zeitgemäße Varianten des Feminismus beglückt. „Von Femcel zu Trad Wife“, heißt das Buch ihrer Rebecca von Lost, als die sich von Loewenich am Schluss Mutterkreuz-verdächtig in ihre Gebärkraft hineinsteigert, nachdem zwei Studienabschlüsse, „Femcel“Engagement und „Catmaxxing“ auf TikTok ihr keine Befriedigung verschafft haben.
Männer kommen bei Ivana Sokola zu Wort: Als Chor, der seinen Platz verteidigt, zwischen Freiwilliger Feuerwehr, Hobbykeller und Partei. Der Sound ihres Lamentos schmiegt sich teils eng an Theweleit – Sokola legt eine bisweilen etwas spröde Aktualisierung des soldatischen Habitus vor, dessen Vertreter sich gegen ihre Marginalisierung stemmen und über immer größer werdende Aufmärsche jubeln.
Krude ist die daran anschließende Fascho-Farblogik der schwarz-weiß-roten Reichsflagge, die Jens, akademische Texte berlinernd, am Grill verbreitet. Schwarz – die verbotene Liebe unter Männern als Totentanz in der Umnachtung des Rausches. Weiß – das Anti-Vermischte, der Glanz der Kälte, das Laken der Entlebendigung. Rot – das weibliche Fleisch liegt in seinem Blut. Schauder. Und Respekt: für Theweleits Sprache, die Heiner Müller in die Kulturwissenschaften getragen hat.
FOTO: RUTH HUNDSDOERFER MÄNNERPHANTASIEN
Fast verdaulich wird der Stoff, und man muss sich immer wieder selbst erinnern, was einem da eigentlich gerade in die Gehörgänge geträufelt wird. Auch die Auftragstexte von Svenja Viola Bungarten, Ivana Sokola und Gerhild Steinbuch spielen mit der lockenden Ambivalenz von Verpackung und Inhalt. Den „Tätermüttern“ widmet sich Gerhild Steinbuch. „Best Mom Ever“ steht auf der pinkfarbenen Schärpe, die Abak Safaei-Rad so stolz trägt wie das strassumrandete Foto-T-Shirt der Tate Brothers. Mit ins Gesicht geklebtem Grinsen geht diese Mutterstatuette über die Vergewaltigungsvorwürfe gegen ihre zwei Söhne hinweg, kippt dann aber doch aus der Rolle: „Schnür mir meinen ziemlich teilzerstörten Körper fester wie so ein kaputtes Panzerding, das nichts hat außer meiner Wut.“ Es jelinekt sehr in diesen
ANTIDOT ZUM MÄNNERDOMINIERTEN BETRIEB Noch einmal nachgefragt, denn der Gegensatz zwischen der teamorientierten, fürsorglichen Zusammenarbeit und dieser „Vollkonfrontation mit patriarchaler Gewalt“ bleibt krass: Wieso die „Männerphantasien“ jetzt, Theresa Thomasberger? Rollt nicht mit #MeToo gerade eine entgiftende Welle durch das Theater? „Wir profitieren gerade von den progressiven Kämpfen der letzten Jahre, das stimmt“, pflichtet die Regisseurin bei, die trotz der am Abend anstehenden Premiere mit Steffen Links Stück „Der Verein“ am Schauspielhaus Wien geduldig auf alle doppelt gestellten Fragen antwortet. „Zugleich gibt es einen Backlash, und die weltpolitische Lage ist zum Fürchten. Ich glaube, wir sind gerade in einer Umbruchzeit, und in der versucht man, Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen. Ich versuche mich an Texten und Gedanken aus der Geschichte, um besser mit der Gegenwart umgehen zu können.“
Als Thema lässt dieser Theresa Thomasberger nicht los. Schon an der „Ernst Busch“ hatte sie sich mit den „Männerphantasien“ beschäftigt. „Eigentlich wäre das meine Drittjahresarbeit im Studium gewesen, mein Vordiplom.“ Als Regieklasse waren sie an die Volksbühne eingeladen, hatten dort ein Vordiplomfestival bis zur Generalprobe vorbereitet, als sie der erste Lockdown überrumpelte. „Der damalige Intendant Klaus Dörr hat uns zu sich beordert und gesagt: Das war’s“, erzählt Theresa Thomasberger sehr faktisch, setzt dann aber nach: „Ich war sehr unglücklich. Das war eine wilde und schöne Arbeit – und dann hat niemand sie gesehen.“
Dieser Zugriff reizte auch die neue Intendantin des Deutschen Theaters Berlin, Iris Laufenberg, die, ihrem bisherigen Programm nach zu schließen, auf der Suche nach Diskursstoffen in einem jungen Zugriff ist. Von Theresa Thomasberger hatte sie über Christian Römer erfahren, den Leiter der DT-Kontext-Schiene am Haus. Kennengelernt hatte er Thomasberger bei seinem berufsbegleitenden Studium an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch. Dort war sie, in der Frühphase von #MeToo, Teil einer rein weiblichen Regieklasse, die sich selbst zu einer solidarischen Arbeitsweise verpflichtete und unter dem Namen „hfs Ultras“ öffentlich als kämpferisches Kollektiv auftrat. „Dass wir uns in diesem so von Konkurrenz, Gossip und Stress durchsetzten Betrieb nicht haben aufspalten lassen, ist eine der schönsten Erfahrungen überhaupt. In den besten Zeiten hat es sich angefühlt, als wären wir verwandt.“ Die hfs Ultras – als „Schwesternschaft“ ein Antidot zum männerdominierten Betrieb.
Nun hat es geklappt, mit neuem Konzept und einer anderen Umsetzung, denn Theresa Thomasbergers Arbeiten entstehen stets im Austausch mit ihrem Team und dem Ensemble. Ihre Auseinandersetzung mit dem Stoff – keine Abrechnung, sondern eine deutungsoffene Befragung – ist bei „Radikal jung“ genau richtig aufgehoben.
ELENA PHILIPP studierte in Freiburg Politik und Soziologie, dann Theater-, Film- und Literaturwissenschaft in Berlin. Seit 2006 schreibt sie für Tageszeitungen und Fachmedien über Theater und Tanz, ist seit 2017 Redakteurin bei „nachtkritik.de“ und war außerdem Mitjurorin für den Brüder-Grimm-Preis des Landes Berlin, Mitglied der Landesjury für den Tanzpakt Stadt-Land-Bund und sowie Mitglied der Jury für die Residenzen am K3 – Zentrum für Choreographie auf Kampnagel Hamburg. 2020 Gastdozentin an der Universität Göttingen.
15
FOTO: © SCHULLER AMA MÄNNERPHANTASIEN Deutsches Theater Berlin
GEGEN DIE GREAT ABOUTNESS
„Spill your Guts“ von Hendrik Quast, Sophiensæle Berlin, Künstler*innenhaus Mousonturm Frankfurt a. M., Kampnagel Hamburg
„Dies ist eine wahre Geschichte. Sie hat kein Happy End.“ Mit diesem gleich zweifach illusionsraubenden Einstieg schickt Hendrik Quast das Publikum in seinen Abend „Spill your Guts“. Wobei sich bezüglich des Endes noch präzisieren ließe: Es gibt nicht nur kein glückliches, sondern streng genommen gar keins. Denn das zentrale Thema dieser Performance ist eine Krankheit, die sich den handelsüblichen dramaturgischen Bögen – von Anfang bis Ende, also entweder: Heilung oder Tod – aufgrund einiger tückischer Eigenschaften entzieht. Sie kommt in Schüben und verläuft chronisch. Sie ist, in ihren eigenen Worten, „unberechenbar, unkontrollierbar und autoimmun“.
Ganz recht, sie spricht. Die entzündliche Darmkrankheit Colitis ulcerosa, an der Hendrik Quast seit 2013 leidet (und ja, man darf hier getrost von „leiden“ sprechen), nimmt in „Spill your Guts“ Gestalt an. Diejenige einer Klappmaul-Puppe nämlich, die mit zugenähtem Auge, fehlender Nase und einem überhaupt sehr totenschädeligen Gesamtlook das Bild einer Nemesis
verkörpert (allerdings weniger der griechischen Mythologie als dem Gaming-Kosmos von „Resident Evil“ entstiegen). Es ist eine Bauchredner-Puppe, gestaltet von Christina Neuss, mit der Quast über 90 bis 120 Minuten in den Dialog geht. Die Länge des Abends variiert wegen einiger Improvisationspassagen, wobei – in der Logik des Stücks – die Puppe den Ton angibt. Sie kommentiert und dirigiert, wertet ab und treibt an, schmettert Hymnen aus DisneyMusicals und drängt unentwegt ins Rampenlicht. Willkommen zur großen Colitis-ulcerosa-Show. Die Krankheit ist der Star.
FETISCH DER
LEISTUNGSFÄHIGKEIT
Gelernt hat Quast das Bauchreden – das aus kultursnobistischer Sicht in den Kloaken einer tristen Alleinunterhaltungsindustrie, aber sicher nicht in den freien darstellenden Künsten seinen Platz hat – bei einem Workshop, die Grundzüge der Technik beherrschte er nach drei Tagen. Die viel größere Herausforderung bestand für den Künstler darin, in ein dramatisches Verhältnis mit der Puppe zu treten
und mehr oder weniger klassische Dialoge zu entwickeln: „Ich habe in Gießen studiert und bin postdramatisch gebrainfucked bis zum Gehtnichtmehr“, beschreibt Quast pointiert das Ringen mit der eigenen performativen Prägung. Wohl auch als Bewältigungsstrategie, in einem Akt von Subversion durch Affirmation, stürmen Puppe und Performer die Kanon-Gipfel mit Shakespeares „Hamlet“: „Behindert sein oder nicht behindert sein, das ist hier die Frage.“
Die Antwort lautet: Ersteres. Quast hat durch seine Colitis ulcerosa, die in akuten Phasen mit Krämpfen und blutigen Durchfällen kommt, einen Behinderungsgrad von 50 Prozent und gilt damit als schwerbehindert. Der Punkt ist: Das bleibt unsichtbar im Vergleich zu anderen Einschränkungen. Quasts Körper existiert in zwei Versionen: mal gesund, mal krank, je nach Schub.
„Tatsächlich habe ich bereits mit dem Einstieg in mein professionelles Berufsleben darüber nachgedacht, die Krankheit zum Thema zu machen“, erzählt er. „Weil ich den Fetisch des
16 17 THEATER
TEXT: PATRICK WILDERMANN / FOTO: MAYRA WALLRAFF
gesunden und leistungsfähigen Körpers auf der Bühne schon immer kritisch gesehen habe.“ Allein, es fehlte die Form. Eine pur biografische Performance sollte es nicht werden. Erst als Quast durch die Beschäftigung mit dem Therapiepuppenspiel in einem anderen Zusammenhang auf das Bauchreden kam, öffnete sich ein Raum von Metaphorik. Die Möglichkeit, in mehrfacher Hinsicht „mit dem Bauch zu sprechen“.
Wobei der Terminus „Bauch“, wo doch eigentlich Darm gemeint ist, einer familiären
SPILL YOUR GUTS
Sophiensæle Berlin, Künstler*innenhaus Mousonturm Frankfurt a.M., Kampnagel Hamburg
Regie Hendrik Quast
Text / Performance / Konzept Hendrik Quast
Dramaturgie Alex Hennig
Künstlerische Mitarbeit Michel Wagenschütz
Puppe / Kostüm / Maske Christina Neuss
Bühne Jonas Maria Droste
Lichtdesign Maika Knoblich
Sounddesign Toben Piel
Beratung Video Rodrik Biersteker
Dramaturgische Beratung Marcus Dross
Coach Bauchreden Marcus Geuss
Tontechnik Tobias Klette
Technische Leitung Hendrik Borowski
Produktionsleitung Lisa Gehring
Besetzung Hendrik Quast
Tabuisierung entstammt: „Ich komme aus einem ländlichen Arbeiter*innen-Milieu, in dem über Körper nicht gesprochen wird“, erzählt Quast. „Körper haben zu funktionieren, und Organe werden verklausuliert.“
WER GESEHEN WERDEN WILL, MUSS LEIDEN
Was den Umgang mit Krankheit – jedenfalls mit chronischer Krankheit – betrifft, ist der Theaterbetrieb nach Quasts Erfahrung allerdings nicht progressiver aufgestellt als sein Herkunftsmilieu, sprich: „nicht verständnisvoll, wenn es darum geht, bestimmte Vulnerabilitäten zuzulassen“. Weswegen die Thematisierung von Krankheitsattributen („unberechenbar, unkontrollierbar
und autoimmun“), die mit seiner Arbeitsrealität als Performer in institutionellen Kontexten immer wieder in Konflikt geraten können, durchaus auch angstbesetzt war. Der andere Aspekt, den „Spill your Guts“ fortlaufend mitreflektiert und dem offensiv entgegengewirkt wird, ist ein möglicher Voyeurismus inklusive Betroffenheitsbonus auf Publikumsseite. Selbst wenn die Performance das Autobiografische immer wieder ins Überindividuelle weitet.
Entsprechend lautete eine der zentralen Fragen während des Probenprozesses: „Wie viel Selbsterzählung braucht es, wie viel Ausstellen des eigenen Körpers – und wie viel Fiktion oder künstlerische Überformung dieser Erfahrung setzt man dazu ins Verhältnis?“ In einer zentralen Szene bringt die Puppe diese Ambivalenz mit dem Satz auf den Punkt: „Wer gesehen werden will, muss leiden.“ Sie sagt auch: „Scham verkauft sich gut.“ Es ist ein schmerzhafter und schmerzhaft anzuschauender Moment, in dem sich Quast – auf dem Boden liegend, die Puppe über ihm –selbst einen Einlauf verpasst. Eine Referenz an die Selbstentblößungsund Selbstverletzungsbereitschaft der Body-Art, die besonders dann zur Grenzerfahrung werden kann, wenn Quast das Stück an mehreren aufeinanderfolgenden Abenden spielt. Dennoch betont er im Gespräch: „Es braucht diese Szene. Weil sie der Puppe, die die Krankheit verkörpert, die größte Macht über meinen Körper gibt.“
INFLUCANCER UND MAUSVERWANDLER
Quasts Theater ist immer wieder auch ein Theater der Zumutungen. Auf Zuschauer*innen wie auf Performerseite. Oder positiver formuliert: Quast scheut die Konfrontation mit Themen und Vorgängen nicht, die bei vielen Berührungsangst auslösen. Wie Krebs zum Beispiel. Im Kontext der Performance „Dancer with Cancer“ trat er 2020 als „InfluCancer“ auf, der Pantomimekurse für akute und angehende Krebskranke veranstaltete – mit eigenem Instagram-Kanal und Volkshochschulangebot. Es war
eine Arbeit, die Mitleids- und Heilserzählungen ins Groteske wendete und neue Sprechweisen zu etablieren versuchte, um die Krankheit in den aktiven Wortschatz zu holen. Das „K“ spielte dabei eine zentrale Rolle. „Dancer with Cancer“ entstand im engen Austausch mit Krebskranken, die – im Gegensatz zu einigen nicht betroffenen Kulturjournalist*innen – überhaupt keine Bedenken wegen einer möglichen Grenzverletzung durch schambefreiten Humor hatten.
Denn, das sollte nicht unterschlagen werden: Quasts Arbeiten sind oft von einer gnadenlos pointierten Komik durchzogen. Wie „Spill your Guts“ – und wie schon „Mohrle“, 2014 in den Berliner Sophiensælen zur Premiere gekommen. Als gleichnamiger Kater trat Quast im Fellkostüm auf, die Hits aus Andrew Lloyd Webbers „Cats“ auf den Lippen, während er über anderthalb Stunden eine tote Maus präparierte, die in Rolle und Kostüm der Glamour-Katze Grizabella schlüpfen sollte und zärtliche Regieanweisungen zugeflüstert bekam: „Du bist die Ausgestoßene, die ein Zuhause sucht.“ Eine blutige Live-Unternehmung mit Skalpell, die grausam-komisch von den Schrecken eines Einfühlungstheaters erzählte, das vom Schauspielenden verlangt, ihr Innerstes nach außen zu kehren.
SEELENVERWANDT
MIT DER EISKÖNIGIN
Nicht zuletzt ging und geht es Quast auch darum, „eine Zeitlichkeit von Arbeit und Handwerk abzubilden, die normalerweise im Theater nicht repräsentiert wird“. Für „Mohrle“, zusammen mit seiner langjährigen künstlerischen Partnerin Maika Knoblich entstanden, hat Quast eigens Taxidermie gelernt. So, wie er sich für die frühe Arbeit „Trauer tragen“ (2011) das Handwerk der Floristik aneignete (was auch der Beruf seiner Mutter ist) und für „Nagelneu“ (2016) ein Abschlusszertifikat als „Nagelkünstler“ erwarb. Dahinter steckt weniger ein nach Virtuosität strebender Method-
Acting-Furor als vielmehr der Anspruch, „diese Techniken durch das Erlernen so ernst wie möglich zu nehmen“ und das Material seiner Performances „aus dem Machen heraus zu durchdringen“. Dabei stehen Blumenbinden oder Fingernageldesign für Quast im Rang eben nicht unter Kunstpraktiken, die „bildungsbürgerlich oder hochkulturell traditionell legitimiert sind“.
In Stockholm, wo der Künstler gegenwärtig halbjährig lebt und einen Artistic PhD an der University of the Arts erwirbt, werde gern von der „great aboutness“ gesprochen. Damit gemeint: das beständige Verhandeln über etwas, wie es beispielsweise die dokumentarischen Theaterunternehmungen seit den 1990er Jahren auszeichne, siehe Rimini Protokoll, die Quast durchaus schätzt. Dennoch setze dieses recherchierende Hineinleuchten in Milieus und Sujets einen ungebrochen distanzierten Blick voraus. „Und diese Distanz ist für mich ein Problem.“
Quast betont, er sei kein Freund davon, alle Interpretation biografisch herzuleiten – aber das Wissen um bestimmte Prägungen seiner Sozialisation hilft, sein Bühnenvokabular besser zu verstehen, zum Beispiel das wiederkehrende Rekurrieren auf Musical-Gesang und die große Show-Geste. In „Spill your Guts“ stimmen Performer und Puppe einmal den Song „Let it go“ aus dem Disney-Film „Die Eiskönigin“ an, im Original „Frozen“. Mit einer Colitisulcerosa-konformen Textvariante. „Lass es raus“, „Ich muss groß“, das Familienunterhaltungslied als lustvoll geschmetterte Fäkal-Extravaganza. Allerdings versichert Quast, dass die Intention dahinter keine ironische ist. „Musicals waren das einzige künstlerische Angebot, mit dem ich aufgewachsen bin, das auch eine besondere Aufladung hatte, weil man es sich leisten können musste.“ Erst durch Bildung und Studium sei eine Ambivalenz gegenüber diesen Stoffen entstanden, die er in jungen Jahren vorbehaltlos affirmiert habe.
Quasts Zugang zur „Eiskönigin“ im Speziellen erklärt sich darüber, dass die Hauptfigur Elsa die Kraft besitzt, alles in Eis zu verwandeln, ohne diese Superpower anfangs kontrollieren zu können. Während sein eigener Körper alles in Blut verwandele. Deswegen: „Eine Seelenverwandtschaft.“
FEIER DES UNPERFEKTEN Nach Gießen zum Studium kam Quast, ohne einen wirklichen Begriff von Performance zu haben. Die Erfahrungen mit Theater beschränkten sich auf Besuche im Schlosstheater Celle über ein Abonnement des Posaunenchors und eine Hospitanz am Schauspiel Hannover; mit performativen Formaten war er zuvor vor allem auf MTV in Kontakt gekommen, wo ihn Christoph Schlingensiefs in der U-Bahn gefilmte Trash-TalkSerie „U3000“ entzündete: „Weil darin etwas Widerständiges war, das ich nicht einordnen konnte, eine andere Art von Präsenz und Umgang mit Text.“
Das klassische Einfühlungstheater ist ihm fremd geblieben, obwohl er einräumt, „dass mein Körper, wenn er auf die Bühne tritt, in der Tradition von anderen Schauspielkörpern steht, die dort vorher gestanden haben“. Auch da formuliert sich eine Ambivalenz, die prägend ist für Quasts Arbeit: „Weil meine Erfahrung stark von Mehrdeutigkeiten geprägt ist.“ Weil er – aufgrund von nichtakademischer Herkunft, Klasse, Queerness – in vielen Kontexten nicht normativ funktioniere, nicht funktionieren könne.
In „Spill your Guts“ erzählt Quast auch viel von den Konventionen eines Theaterbetriebs, in dem die freie Szene und das Stadt- und Staatstheater sich oft gar nicht so sehr unterscheiden, wie es gern behauptet wird. Zumindest gibt es hier wie dort die Brezeln und den Sekt, die der Performer auf der Bühne im Standmixer zu jenem unansehnlichen Brei verquirlt, zu dem sie sonst erst im Magen würden. Und es gibt hier wie dort eine Erwartung an das Funktionieren von Dramaturgie, mit der Quast im Stück immer
wieder bricht. Indem er ins Leere laufende Wartezimmersituationen produziert oder bei seinem bewusst anti-virtuosen „Crip-Bauchreden“ auch Pointen verweigert. „Raum lassen für das Unperfekte“, formuliert Hendrik Quast den Anspruch, das Gesunde als Konstruktion zeigen. Um so in Einklang zu kommen „mit einer Körperlichkeit, wie ich sie erlebe“.
Interessanter- und konsequenterweise hat „Spill your Guts“ auch eine begeisterte Rezension in einem Fachblatt bekommen, das normalerweise keine Kulturkritiken veröffentlicht. Es ist das Patientenmagazin der Deutschen Morbus Crohn/Colitis ulcerosa Vereinigung (DCCV). Sein Titel: „Bauchredner“.
PATRICK
WILDERMANN geboren 1974, arbeitet als Kulturjournalist in Berlin u. a. für den „Tagesspiegel“, das Interviewmagazin „Galore“ und das Goethe Institut. Zuletzt hat er u. a. die Publikation „Producing Performing Arts“ im Alexander Verlag mitherausgegeben. FOTO: PRIVAT
18 19
SPILL YOUR GUTS FOTO: © KRAUSS PRINT
WIE ES IST, EIN MENSCH ZU SEIN
„Arbeit und Struktur“ von Wolfgang Herrndorf in der Regie von Adrian Figueroa, Düsseldorfer Schauspielhaus
Sind es Sterne? Sind es Meteoriten? Sind es Monde? Oder sind es bloß Lichter, die auf einem Wasser tanzen? Eines dieser vielen schimmernden Geheimnisse wächst und nimmt endlich den ganzen Bildschirm ein, der die Bühne zum Publikum abschließt. Riesig. Kaum ist der gleißende Ball fort, sehen wir ein Gesicht. Wir sehen in das Gesicht eines Mannes – nicht mehr jung, noch nicht alt. Er starrt uns an. Wir können seinem Blick nur ausweichen, wenn wir wegsehen. Keiner tut es. Die wachen blauen Augen fordern das Hinsehen. Sein Antlitz füllt den riesigen Screen, bevor die Kamera langsam von ihm ablässt und sich entfernt. Dann bemerken wir sein kragenloses Hemd und den schütteren Dreitagebart; dann sehen wir in einem kargen Raum hinter ihm auf einem Kleiderständer grüne Trainingsjacken hängen, hellgrüne Adidas-Trainingsjacken. Jacken, wie sie der Autor Wolfgang Herrndorf gern trug. Der Schauspieler sucht nach Worten, fängt an zu sprechen: „Es begann alles im Februar 2010.“ Wir ahnen: Der Mann, der da spricht, ist der Autor
Herrndorf. Zu diesem Zeitpunkt 44 Jahre alt. Wir erkennen, verstört schon jetzt, dass diesen Menschen sein Bericht anstrengt, Schweißperlen auf der Stirn und den Wangen. Er liefert den Bericht erschreckend emotionslos ab. Dieses Wesen, so lässt der Sprecher uns wissen, wacht eines Tages, nach einem Abend mit fünf Bier, auf. Er hat einen Kater und schluckt Schmerzmittel. Die Kopfschmerzen lassen nicht nach. Sie werden höllisch. Ein kurzes Lächeln huscht über das Gesicht des Schauspielers Florian Lange. Die Schmerzen hätten nicht nachgelassen, wie viele Tabletten er auch schluckte. Er sei dann zu einem Arzt gegangen. Der habe von „Raumforderung“ gesprochen und den Krebstumor im Kopf des Kranken gemeint. Was für eine Umschreibung des Fürchterlichsten.
RHETORISCHE AUSLÖSCHUNG
Florian Lange stellt in dieser berührenden und zutiefst traurigen Inszenierung des letzten Textes von Wolfgang Herrndorf den Autor dar.
Dessen „Arbeit und Struktur“ war erst einmal ein digitales Tagebuch, Herrndorfs Blog. Geschrieben zunächst allein für die Freunde und Bekannten des Autors – und zwar von dem Tag an, an dem er von seiner Krankheit erfuhr, bis zu dem Tag, an dem er entschied, sich vom Leben zu verabschieden und sich am Ufer des Berlin-Spandauer Schifffahrtskanals, der früher Hohenzollernkanal hieß, erschoss. Noch konnte er eine Pistole halten; noch konnte er denken. Funkelten damals auf dem Wasser Lichtlein? Täglich notierte Herrndorf, schon bald für viele Follower, seine mentalen und körperlichen Zustände. Wir Zuschauer werden Zeugen eines Wechselbades der Gefühle, wir hoffen, wir bangen, wir verzweifeln mit dem Sprechenden. Gebannt und verstört sehen und hören wir, wie ein Mensch dem Tode entgegenlebt und sich aufbäumt gegen ein unabwendbares Schicksal. Wir erleben eine rhetorische Auslöschung.
Laut sinniert dieser Mann über die Zukunft, über die Tage, die ihm (vielleicht) noch bleiben
20 21
TEXT: C. BERND SUCHER / FOTO: GRAZ DIEZ
mögen. Vieles, was ihm jetzt noch Freude bereitet, wird es nie wieder geben, das weiß er. Nie wieder – danach. Und mit einem tristen Galgenhumor überlegt er, ob sein früher Tod womöglich auch Vorteile zu bieten haben könnte. Ja! Nie wieder zum Zahnarzt! Nicht die Eltern zu Grabe tragen! Herrndorf beginnt zu arbeiten und gibt der Arbeit Struktur. Er schreibt, beendet vor allem „Tschick“. Er wird berühmt und wohlhabend, immer den Tod vor Augen. Euphorisch, zu Tode betrübt, aber ohne jede Larmoyanz, ohne Pathos bedenkt er Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
NÜCHTERNES PROTOKOLL
EINES STERBENDEN
Robert Koall, der Chefdramaturg des Düsseldorfer Schauspielhauses, hat dieses gewaltige Tagebuch für die Bühne bearbeitet – wobei „bearbeitet“ ein viel zu schwaches Wort für Koalls Tätigkeit ist. Er gibt diesem 90-minütigen Abend Struktur. Die Idee zur Dramatisierung hatte die Familie Herrndorf, also nicht allein die Witwe Carola Wimmer, die Herrndorf erst in seinem Todesjahr geheiratet hatte. „Sie rief mich vor ungefähr drei Jahren an“, erzählt Robert Koall, „und fragte mich, ob ich mir vorstellen könnte,
zum 10. Todestag von Herrndorf eine Theaterversion zu machen. Ohne die Initiative der Familie hätte ich mich nicht herangetraut, weil ich nicht das Gefühl hatte, dass ‚Arbeit und Struktur‘ auf die Bühne drängt.“ Darum habe er sich zunächst solch eine theatrale Umarbeitung gar nicht vorstellen können. Eines wollte er auf keinen Fall machen: „den Monolog eines Erkrankten“ bühnentauglich zu verkleinern oder, noch schlimmer, zu vergrößern. Dann hatte er die Idee, Herrndorf mit seinen eigenen poetischen Erfindungen zu konfrontieren. „So konnte er, Herrndorf, in einen Dialog treten mit sich selbst und seinen Figuren.“ Diese Dialoge gibt es jetzt in der Düsseldorfer Inszenierung. In einer nüchternen, niemals pathosgeladenen, zuweilen sogar witzigen Sprache.
Gleichwohl gelingt es dem Regisseur Adrian Figueroa und der Bühnenbildnerin Irina Schicketanz, diesem nüchternen Protokoll eines Sterbenden die Melodie und die Bilder eines Requiems zu verleihen. Es wird wohl nur wenige Zuschauerinnen und Zuschauer geben, die nicht aufgewühlt werden von dieser Inszenierung. Adrian Figueroa dringt vor in den Herrndorf’schen Kosmos, weil er – und darum hatte Robert Koall ihm diesen
wichtigste künstlerische Partnerin. Mit ihr verbindet mich eine langjährige Zusammenarbeit. Unsere Stücke kennzeichnet eine ausgiebige Vorplanung und eine intensive Phase der Konzeptfindung, lange bevor wir in den Probenprozess gehen. Meistens erstellen wir vorab ein Storyboard, das uns dabei hilft, einzelne Szenen für die spätere Umsetzung zu visualisieren. Durch diesen Prozess trage auch ich immer mit Ideen zur Raumgestaltung bei, während Irina mir gleichzeitig bei der späteren szenischen Umsetzung hilft. Durch das Erstellen von Storyboards – die man normalerweise beim Film nutzt – starte ich meistens mit konkreten Bildern, die ich dann während des Probenprozesses mit der Realität abgleiche.“
Stoff vorgeschlagen – „mehrere Geschichten übereinanderlegen kann“, wie es der Dramaturg formuliert, „bildliche, textliche, musikalische“. Diese Schichten transportieren die Emotionen, denen sich Zuschauer nicht zu entziehen vermögen. Es dauert sehr lange, bis am Ende applaudiert wird.
Irina Schicketanz hat zehn Würfel auf die Bühne bauen lassen, zweigeschossig. In diesen Würfeln wird gespielt – gewohnt, geschlafen, gearbeitet –, und eine frei drehbare Kamera beobachtet, was in den Räumen geschieht. Diese Einsichten werden wiederum auf die Würfel projiziert. Herrndorf-Darsteller Florian Lange wird so aus verschiedenen Blickwinkeln beobachtet und gezeigt. Er ist nicht immer allein auf der Bühne, er hat Mitspieler: Caroline Cousin und Moritz Klaus. Sie sind Figuren aus Herrndorfs Œuvre: Maik und Tschick und die Isa aus „Bilder deiner großen Liebe“ melden sich mit Einwürfen und auch mit Passagen aus „Arbeit und Struktur“.
GRENZVERWISCHUNG
ZWISCHEN FIKTION UND REALITÄT
Das Bühnenkonzept war für Adrian Figueroa zentral für die Umsetzung der Bühnenadaption: „Irina Schicketanz ist meine
Adrian Figueroa, 1984 in Frankfurt am Main geboren, studierte in England Angewandte Theaterwissenschaft und Literatur. Seine ersten Regiearbeiten realisierte er anschließend in Justizvollzugsanstalten mit Inhaftierten. Warum? „Das Verwischen der Grenzen zwischen Fiktion und Realität hat mich dabei besonders interessiert. Gleichzeitig habe ich auch immer nach Formsprachen gesucht, die es meinen Spielerinnen und Spielern erlaubten, geschützt und authentisch auf der Bühne zu agieren. Durch meinen dokufiktionalen Zugriff fing ich dann an, meine Produktionen filmisch zu dokumentieren, kam durch diese Arbeit schließlich zum Film und habe mir das Filmemachen selber beigebracht.“
Seitdem ist Adrian Figueroa im Theater ebenso erfolgreich wie bei Film- und Videoformaten. Den Herrndorf-Text hatte ihm Robert Koall angetragen. Er fand ihn schwierig. Doch er mochte ihn. „Herrndorfs Bericht“, so erklärt der Regisseur, „erzählt mehr über das Leben als über das Sterben. Kleine alltägliche Momente prallen auf große existenzielle Sinnfragen über das Leben und den Tod. Die Tagebuchstruktur ermöglicht diese Setzung, und diese Kontraste fand ich extrem poetisch.“ Zugleich war ihm von Anfang an klar, dass er neben dem Text „auf andere theatrale und ästhetische Mittel wie
STRUKTUR von Wolfgang Herrndorf in einer Fassung von Robert Koall, Düsseldorfer Schauspielhaus
Regie Adrian Figueroa
Bühne Irina Schicketanz
Kostüme Malena Modéer
Musik Ketan Bhatti
Video Benjamin Krieg
Licht Thomas Krammer
Dramaturgie Robert Koall
Besetzung Caroline Cousin, Moritz Klaus, Florian Lange
Bühnenraum, Video und Musik zurückgreifen musste, um die Texte in einem Theaterraum sinnlich erfahrbar zu machen“.
KEINE HERRNDORF-MESSE
Adrian Figueroa betont, dass er eines ganz bestimmt nicht im Sinn hatte mit diesem Abend: „Ich wollte keine Herrndorf-Messe inszenieren. Mein Anliegen war es immer, einen Theaterabend zu gestalten, der es Theaterbesuchern, die vielleicht nichts über Herrndorf wissen, ermöglicht, einen Zugang zu den Texten zu bekommen. Am liebsten einen emotionalen oder spirituellen und weniger einen intellektuellen Zugang. Reaktionen wie Weinen oder Lachen gehören dazu. Das ist meiner Meinung nach der Sinn und Zweck des Theaters, der Sinn jeder Kunst: einen Raum zu schaffen, in dem wir eine Zeit lang darüber nachdenken können, wie es ist, ein Mensch zu sein.“
Interessieren Adrian Figueroa prinzipiell solche elementaren, existenziellen Stoffe, vor allen anderen? „Meine ersten Regiearbeiten habe ich mit nichtprofessionellen Darstellerinnen und Darstellern in unterschiedlichen Community-Settings realisiert. Daran sieht man, dass in der Vergangenheit mein Fokus mehr auf den Menschen lag, mit denen ich arbeitete, und nicht auf den Stoffen. Die Stoffauswahl war zweitrangig und musste immer zu meinem Ensemble passen. Oftmals habe ich die Themen und Stoffe zusammen mit den Spielerinnen und Spielern gesucht. Diese Suche war stets verbunden mit Überlegungen über Formsprache und Darstellungsstrategien. Mittlerweile hat sich das geändert. Themen und Stoffe sind Ausgangspunkt für meine Arbeiten.
Meistens suche ich nach Stoffen, die mir helfen, das Alltägliche und Gewohnte aus der Ferne und mit anderen Augen zu betrachten. Dabei interessieren mich kleine Geschichten mit alltäglichen Figuren, die häufig nicht erkennen, wer oder was sie sind, und trotzdem unermüdlich weitermachen. Klasse, Identität und Auswirkungen des Kapitalismus sind wiederkehrende Motive in meinen Arbeiten.“ Dabei – und das betont Adrian Figueroa – spielten Musik und Rhythmus bei der Stofffindung eine ebenso wichtige Rolle wie der Inhalt. „Alles, was ich über Theater weiß, habe ich von der Musik gelernt. Wenn ich zu einem Text kein Rhythmusgefühl entwickeln kann, dann kann ich ihn auch nicht bearbeiten.“
Dieser junge Regisseur hat schon eine beachtliche Karriere hinter sich, hat er Ziele? – „Ich möchte mich nicht zwischen Theater und Kino entscheiden und hoffe, dass ich mich in beiden Kunstformen weiterhin ausdrücken darf. Im Kino interessieren mich Geschichten, die uns etwas über den Tod erzählen. Im Theater interessieren mich Geschichten, die uns etwas über das Leben erzählen.“
C. BERND
SUCHER
Autor, Theaterkritiker, Hochschullehrer.
Dissertation über
„Martin Luther und die Juden“; seit 1998 Professor an der Hochschule für Fernsehen und Film in München. Mitglied des PEN und der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste. Jury-Mitglied von „Radikal jung“ seit der Gründung des Festivals.
FOTO: THOMAS DASHUBER
22 23
ARBEIT UND STRUKTUR FOTO: © MELANIE ZANIN
UND
ARBEIT
IM KRIEG GIBT ES KEINE ROMANTIK
„Das große Heft“ von Ágota Kristóf in der Regie von Ran Chai Bar-zvi, Münchner Volkstheater
Übertriebene Sentimentalität kann man der Großmutter, bei der die Zwillinge aus Ágota Kristófs Roman „Das große Heft“ die Kriegsjahre überdauern, wahrlich nicht vorwerfen. Die Alte – im Ort schlicht „die Hexe“ genannt – pflegt grausame Lebenseinsichten grundsätzlich unter genüsslichem Hohngelächter zu äußern, je nach Anlass gern auch mit begleitendem Schenkelklopfen. Dass sie zudem als pragmatischschamfreie Stehpinklerin alternativ zum Toilettengang einfach überall ihre schmutzigen Röcke hebt, die Enkel standardmäßig als „Hundesöhne“ anspricht, sie wahlweise mit dem Besen oder mit nassen Lappen schlägt und jedes Care-Paket, das ihnen die Mutter schickt, kurzerhand auf dem Schwarzmarkt veräußert, bevor die Kinder der Gaben überhaupt ansichtig werden, rundet das finstere Bild ab.
Ágota Kristófs Roman-Trilogie – auf „Das große Heft“ folgen noch „Der Beweis“ und „Die dritte Lüge“ – erzählt, in vielerlei Hinsicht, auf eine derart außergewöhnliche Weise vom Krieg, dass es sich lohnt, noch eine Weile bei ihr selbst zu verweilen, bevor Ran Chai Bar-zvis kluge Inszenierung des Stoffs vom Münchner Volkstheater ins Spiel kommt.
Denn dessen konzeptionelle Grundentscheidung tritt vor diesem Hintergrund umso markanter hervor.
Statt vordergründig zu moralisieren, zeigt Ágota Kristóf schonungslos, wie die brutale Kriegsrealität die braven minderjährigen Hemd- und Lackschuhträger, die zu Beginn bei der Großmutter ankommen, zu lumpig-abgeklärten Überlebenskämpfern formt. Ursprünglich von der liebenden Mutter nur deshalb bei der empathiefreien Alten auf dem Lande abgeliefert, weil sich zu Hause, in der dauerbombardierten Großstadt, die Überlebenschancen drastisch minimiert haben, scheinen die Zwillinge – Kristófs Buch ist strikt aus ihrer Perspektive verfasst –große Teile des neuen Umfelds schon bald nach ihrem Gusto zu dominieren. Verantwortlich dafür ist ein selbstverordnetes HardcoreProgramm, das die Zwillinge sowohl zwecks physischer Abhärtung als auch psychischer Komplett-Entsentimentalisierung in geradezu besorgniserregender Effizienz an sich vollstrecken. Mehrtägiges Hungern und/oder Frieren gehört da noch zu den leichtesten Übungen. In den fortgeschritteneren Lektionen
schlagen die Kinder ihre nackten Körper gegenseitig mit Gürteln blutig, verbrennen sich absichtlich die Haut oder schneiden sich mit Messern in Brust und Schenkel, um die Wunden anschließend mit Alkohol zu begießen. So lange, bis sie – so geht die Logik des Überlebens – nichts mehr spüren und selbst tötungsfähig sind: „Man muss töten können, wenn es darauf ankommt“, lautet das Eigenexistenzsicherungscredo unter Kriegsbedingungen.
UNIVERSELLE
VERROHUNGSPARABEL
Dass das Theater den 1986 erschienenen Roman, der auf eine explizite Verortung bewusst verzichtet, als Flucht-, Diktatur-, Kriegs- und Verrohungsparabel zurzeit verstärkt wiederentdeckt, verwundert nicht: Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine und der Krieg in Nahost rücken die Lebenswelt der Roman-Zwillinge konkreter an unsere Lebenswirklichkeit heran, als wir uns das bis vor Kurzem hätten vorstellen können.
Gerade dadurch wächst aber auch die Gefahr, den Stoff zu verengen – das Große, Universelle zugunsten einer plakativ-konkre-
24 25
TEXT: CHRISTINE WAHL / FOTO: VOLKSTHEATER
ten Bebilderung zu verkleinern. Dabei hat die in Ungarn geborene und während des Volksaufstands 1956 geflüchtete Ágota Kristóf den Zwillingen – und damit sich selbst als Autorin – auch unter stilistischen Gesichtspunkten ein ausdrücklich rührseligkeitsfreies Programm verordnet, das bei der Lektüre umso zielsicherer in Herz und Hirn trifft: Wenn die Kinder alles, was sie erleben, ins titelgebende „Große Heft“ schreiben, folgen sie einer zentralen Regel – die da lautet: „Die Wörter, die die Gefühle definieren, sind sehr unbestimmt. Es ist besser, man vermeidet sie und hält sich an die […] getreue Beschreibung der Tatsachen.“ Gerade diese sich bewusst jedweder Bewertung entziehende Präzisionsschilderung von Tötungen, Vergewaltigungen und (Selbst-)Erniedrigungen lässt die brutale Kriegslogik umso deutlicher hervortreten: Um überhaupt eine Chance aufs (Über-)Leben zu haben, muss man notgedrungen zum Täter werden.
„Ágota Kristófs Buch beschreibt, wie der Krieg in die Psyche der Menschen einsickert, wie er ihr Mindset umformt, also nicht nur die äußere, sondern auch die innere Realität verändert“, bringt es der Regisseur Ran Chai Bar-zvi auf den Punkt – weshalb seine Inszenierung jeden Verdachtsmoment von „Kriegsporno“ oder von „Kriegsromantik für Europäer“, wie er es formuliert, in wirklich bemerkenswerter Konsequenz vermeidet. „Aus diesem Grund war es mir auch wichtig, nicht nur beim ersten Buch zu bleiben, sondern alle drei Romane in den Abend einzubeziehen“, erklärt er und schwärmt, wie klug Kristófs Trilogie gebaut sei. Spiele „Das große Heft“ noch bewusst mit Heldenmotiven, trete in den folgenden Büchern die unendliche Brutalität
des Krieges gerade in seiner Banalität und Tristesse immer deutlicher zutage.
GEFÜHLT EXPLODIERTE
JEDEN TAG EIN BUS
„Es gibt einfach keine Romantik im Krieg“, stellt der in Jerusalem aufgewachsene Ran Chai Bar-zvi klar: „Ich habe die zweite Intifada als Teenager erlebt, da explodierte auf dem Weg zur Schule gefühlt jeden Tag ein Bus.“ Die Jugendlichen hätten es damals „fast wie ein Spiel betrachtet“, ob man es lebend zum Unterricht schafft, erzählt er: ein kindlicher Mechanismus, mit dem Schrecken umzugehen. Und eine Art der Traumaverarbeitung, die ihm erst viel später, im Erwachsenenalter, als solche bewusst geworden sei. Wichtig ist Ran Chai Bar-zvi in diesem Zusammenhang zu betonen, „dass Kinder auf der palästinensischen Seite noch viel schlimmere Begegnungen mit dem Krieg haben und hatten“ als er damals in Jerusalem.
Das „Spiel“-Motiv beobachtet der Regisseur jetzt bei den Kindern seiner Schwester wieder, wenn er – Ran Chai Bar-zvi lebt inzwischen seit vielen Jahren in Berlin – in Israel zu Besuch ist. So entstand auch die Idee für seine Ágota-Kristóf-Inszenierung – in der es keine klar zugewiesenen Rollen gibt, sondern stattdessen eine fünfköpfige Gruppe junger Schauspielerinnen und Schauspieler auf der Bühne steht, die sämtliche Figuren, Handlungsstränge und Situationen tatsächlich wie aus einem Spiel heraus entwickelt oder, um es mit den Worten des Regisseurs zu sagen, den Stoff „quasi auf einer Performer-Ebene rekapituliert“ und so verarbeitet.
In Alltagsklamotten stehen sie auf der Bühne: eine zeit- und ortlose Clique mit hohem Identifikationspotenzial, und zu der sich
kaum etwas Spezifisches sagen lässt außer, dass man wegen ihres hohen Sympathiefaktors durchaus gern dazugehörte. Auch ansonsten vermeidet Ran Chai Bar-zvis Abend jedwede plakative Konkretion: Die lyrisch-eingehende Musik von Evelyn Saylor hat ebenso universellen Charakter wie Ansgar Prüwers bewusst minimalistisches Szenario. Das einzige Bühnenbildelement besteht in der Reproduktion eines sogenannten Tschechenigels: einer einfachen militärischen Panzersperre aus kreuzweise miteinander verbundenen Stahlpfosten, die mancherorts auch als „Panzerigel“ oder „Stahlspinne“ bekannt ist und die hier so flexibel eingesetzt wird, dass sie nicht nur GrenzzaunAssoziationen weckt, sondern manchmal auch wirkt wie ein Klettergerüst auf einem Abenteuerspielplatz, an dem die Akteurinnen und Akteure in aller Unschuld herumturnen.
DAS GROSSE HEFT von Ágota Kristófs, Münchner Volkstheater
Regie Ran Chai Bar-zvi
Bühne & Kostüme Ansgar Prüwer
Musik Evelyn Saylor
Licht Carina Premer
Dramaturgie Leon Frisch
Regieassistenz Camilo Störmann
Ausstattungsassistenz Veronika Müller Hauszer, Sofie Scheuer
Besetzung Ruth Bohsung, Julian Gutmann, Jonathan Müller, Max Poerting, Nina Steils
NACH BERLIN! NACH BERLIN! Allerdings ist diese eindrucksvolle Bühne nicht nur an sich bemerkenswert, sondern auch deshalb, weil der Regisseur sie nicht selbst entworfen hat – was insofern der Erwähnung bedarf, als er bis dato tatsächlich vorrangig als Bühnenund Kostümbildner tätig war. „Das große Heft“ ist Ran Chai Bar-zvis dritte Regiearbeit – und seine erste am Münchner Volkstheater, wo er zuvor bereits in mehreren Produktionen für die Ausstattung verantwortlich zeichnete. Dass er als Regisseur des Ágota-Kristóf-Stoffs darauf verzichtete, zusätzlich auch noch die Bühne und die Kostüme zu entwerfen, hat nicht nur Workload-Gründe: „Abgesehen davon, dass ich wenig Zeit hatte, sah ich es auch als große Chance an, mit Ansgar zusammenzuarbeiten“, erklärt Ran Chai Bar-zvi – den mit Ansgar Prüwer bereits eine enge Arbeitsbeziehung verbindet: Er war der erste Bühnenbildner, dem er als Berufseinsteiger assistierte. „Ich schätze ihn sehr“, sagt der Regisseur, „gerade auch deshalb, weil er eine komplett andere Bildsprache hat als ich.“ Während er selbst eher der visuell opulente Typus sei, der ausstattungstechnisch aus dem Vollen schöpfe, arbeite Prüwer extrem reduziert: gerade beim „Großen Heft“, so Ran Chai Bar-zvi, „ein absoluter Glücksfall.“
Anschließend berichtet der Regisseur, wie er überhaupt zum Theater kam: eine lange Geschichte, die in einem „Gymnasium für Künste“ in Jerusalem beginnt. „Das ist in Israel sehr verbreitet“, erklärt Ran Chai Bar-zvi; künstlerische Bildung werde dort stark gefördert. „Man muss sich mein Gymnasium tatsächlich ein bisschen vorstellen wie die High School of Music and Art in ‚Fame‘“, lacht er, Bezug nehmend auf Alan Parkers US-amerikanischem Kultfilm aus dem Jahr 1980: „Überall nervige Theaterkinder in Ballettklamotten – und jede Woche Drama!“ Ran Chai Bar-zvi konzentrierte sich zunächst auf die Malerei, bevor er zur darstellenden Kunst wechselte.
Irgendwann begleitete er seinen älteren Bruder auf eine Reise nach Berlin – und besuchte, weil er im Gymnasium als Abschlussarbeit den „Sommernachtstraum“ inszeniert hatte und das Shakespeare-Stück deshalb derart gut kannte, dass er der Handlung auch ohne Deutschkenntnisse perfekt würde folgen können, eine Aufführung im Deutschen Theater. „Das war zufällig die ‚Sommernachtstraum‘-Inszenierung von Jürgen Gosch“, erinnert sich Ran Chai Bar-zvi: eine Art von Theater, die er noch nie gesehen hatte. „Ich saß im obersten Rang, letzte Reihe, mit der billigsten Karte – und war derart geflasht, dass ich sofort wusste: Ich muss nach Berlin, um Theater zu studieren!“
WAS DER MENSCH BRAUCHT Gesagt, getan: Nach dem dreijährigen Armeedienst in Israel ging Ran Chai Bar-zvi nach Berlin, um Regie zu studieren –„kapierte aber schnell, dass das ohne Deutsch schlecht geht“, lacht er. Also bewarb er sich für den Bühnenbildstudiengang an der Ost-Berliner Kunsthochschule Weißensee, wurde auf Anhieb aufgenommen und kam später über die Berufspraxis am Theater zur Regie. Gleich sein Debüt „Darkroom“ am Schauspiel Hannover – ein recherchebasierter Abend über eben jene Darkrooms für Sexkontakte, die mit vielen weit verbreiteten Vorurteilen zu diesem Thema aufräumte –wurde ein Bestseller. „Ich bin der Intendantin Sonja Anders extrem dankbar, dass sie mir diese Chance gegeben hat“, sagt Ran Chai Bar-zvi.
„Das große Heft“ am Münchner Volkstheater kam am 1. Oktober 2023 heraus, sechs Tage vor dem terroristischen Überfall der Hamas auf Israel; die zweite Vorstellung fand bereits danach statt. Hat diese brutale Zäsur die Sicht auf den Abend verändert? „Ich war am 7. Oktober in Aachen, wo ich gerade eine Oper inszeniere“, berichtet der Regisseur. „Ich befand mich mitten in einem Vorsingen des Chores. Vor mir standen dreißig Leute, die ‚Die Gedanken sind frei‘ intonierten, während in
meiner Hosentasche unablässig das Handy vibrierte“, erinnert er sich. „Ich habe denSchauspielerinnen und Schau-spielern vor der zweiten Vorstel-lung einen Brief geschrieben: dass es gut sei, dass wir diesen Stoff inszeniert hätten. Und dass er universell sei – weil es bei uns um Sympathie und um Empathie ginge. Also um das, was der Mensch braucht, um Mensch zu bleiben.“
CHRISTINE
WAHL ist Theaterkritikerin und Mitglied des „Radikal jung“Auswahlgremiums. Sie studierte Germanistik, Philosophie und Soziologie in Freiburg und Berlin und arbeitet seit 1995 als freie Autorin u. a. für den „Tagesspiegel“, „Theater heute“ und den „Spiegel“. Von 2020 bis 2021 war sie Redakteurin bei „Theater der Zeit“, seit 2022 ist sie Mitglied der Redaktion von „nachtkritik.de“. Als Jurorin war sie u. a. für das Berliner Theatertreffen, den Hauptstadtkulturfonds, den Kranichsteiner Literaturpreis, den Berliner Senat und das Festival „Impulse“ tätig und gehört aktuell dem Auswahlgremium der Mülheimer Theatertage „Stücke“ an. Autorin und Herausgeberin des Buches „welt proben“ über das Regiekollektiv Rimini Protokoll (Alexander Verlag Berlin, 2021).
FOTO: PRIVAT
26 27
DAS GROSSE HEFT FOTO: © GABRIELA NEEB
DAS
GEGENNETZWERK
„Die Gerächten“ von Murat Dikenci (Text und Regie), Theater Dortmund
Nebel wabert, Elektro-Bässe wummern. Einen düsteren Gang entlang gehen die Zuschauer, mehr wie zum Technoclub als zur Theaterbühne, die Triggerwarnung vor dem Stück rotiert noch im Kopf. Drinnen warten schon Sol, Fistik und Pitbull (Akasha Daley, Viet Anh Alexander Tran und Tamer Arslan) auf uns: eine schwarze Frau, ein Türke, ein queerer Nachfahre vietnamesischer Flüchtlinge. Gut sehen sie aus, tragen Lederklamotten und Abendkleid, zischen wie Schlangen, tanzen uns rhythmisch an, drehen sich ekstatisch oder posen in coolen Raubtier-Moves, laden die Zuschauer zum Mitmachen ein. Immer mehr wippen, tanzen mit. Sitzplätze gibt es keine im Raum, hier kann sich niemand entspannt zurücklehnen, wir sind alle auf der gleichen Party. Doch wozu sind wir überhaupt eingeladen? „Sag mal ‚Hass‘“, raunt die Schauspielerin Akasha Daley im Laufe des Abends einem Mann im Publikum zu. Viet Anh Alexander Tran fordert uns auf mitzurufen: „Bullen. Schweine. Mörder.“ Wird hier „in spalterischem Gestus gegen Deutschland gewettert“, wie eine Kritikerin schrieb? Oder ist es nicht vielmehr ein Abend, der über Hass und Rache als Mittel und Methode reflektiert?
Und dann treten die drei hinter die Mikros und erklären, wie sie sich fühlen in einem Deutschland, das marginalisierte Personen nicht ausreichend schützt. In dem bis heute Polizeigewalt existiert, rassistische Morde geschehen,
rechtsextreme Netzwerke in die Exekutive reichen: wie Nutzlose. Wie Geächtete. Wie Ameisen, die in deutschen Lebensraum eingedrungen sind. Doch mit dem Opfergestus ist es vorbei: Stolz, stark und wütend stehen sie vor uns, es muss etwas getan werden: „Die Zeit ist vorbei. Die Gerächten sind da.“ Richten werden sie die, „die das Gleichgewicht aus den Fugen gebracht haben“, die neuen Nazis – aber auch jene, die nach 1945 „nie wieder“ gerufen haben und zulassen, dass dies nur Worthülse geblieben ist. Und das geht natürlich nur in Solidarität: „Ihr Süßen, schön, dass ihr so zahlreich erschienen seid“, begrüßt Tran das Publikum.
ZUSAMMEN ATMEN, LACHEN, EMPFINDEN „Die Gerächten“ von Murat Dikenci beginnt aufwühlend und unbequem, fühlt sich an wie Zuckerbrot und Peitsche. Einerseits werden die Zuschauer in die Gründung der „Gerächten“ klar mit einbezogen, andererseits werden sie, wenn sie Teil der weißen Mehrheitsgesellschaft sind, indirekt zu Schuldigen gemacht und beschimpft, vor allen Dingen, wenn sie – so wie die Autorin – Teil einer westdeutschen, in die Jahre gekommenen Linken sind. Die, so heißt es im Stück, ziemlich muffig riecht, weil sie, vermeintlich politisch und ökologisch korrekt, zur Reinigung der Kleidung „Waschnüsse“ benutzt – genau jene, die sich dann für die lokale Bevölkerung in den Ursprungsländern massiv
verteuern. Ein wohlmeinender, aber auch irgendwie ignorant fehlgeleiteter Gestus aus dem Geist des Postkolonialismus. Man hat im Stück nicht das Gefühl, dass es als migrantische Person klug sei, sich mit ihnen zu solidarisieren.
Als „Terrorgruppe“ wurden die „Gerächten“, die hier gegründet werden, in den Rezensionen des Abends manchmal beschrieben. Doch um Rechtfertigung von „Terror“ gegen rechts geht es Dikenci nicht. Sondern eher darum zu überlegen, wie sich Opfer rechtsextremer Gewalt wehren können, wenn sie der Staat nicht beschützt: „Ich habe das Stück geschrieben, weil mich das politische Klima in Deutschland an diesen Punkt geführt hat: Wie wäre es, wenn es eine Gruppierung aus marginalisierten Menschen gäbe, die den Widerstand gegen Rechtsextremismus gewaltsam durchführt, weil es dem Staat nicht ausreichend gelingt? Wollen wir das – und können wir das assoziativ im Theaterraum verhandeln, damit es nicht so weit kommen muss?,“ erklärt er viele Monate nach der Premiere von „Die Gerächten“ in seinem Büro am Maxim Gorki Theater in Berlin. Er trägt Schnurrbart, Piercing, Wollpullover.
Seit der Spielzeit 2023/24 leitet Dikenci hier das Studio . Ihm ist es wichtig, dass die Spielstätte ein Begegnungs- und Diskursraum ist, der Leute empowert: „Wir versuchen hier, einen Ort zu schaffen, wo man unter Gleichgesinnten ist, wo man nach mehr Verbündeten suchen kann. Wo man merken kann: Wir atmen, lachen, emp-
29
TEXT: DOROTHEA MARCUS / FOTO: KERSTIN SCHOMBURG
Emily Richards, Felix Hafner, Anna Wielander
DIE GERÄCHTEN
FOTOS: © FLORIAN DUERKOPP
finden zusammen. Wir versuchen, einer jener Orte zu sein, die sehr rar geworden sind“, sagt er.
UNSICHTBARE FALLEN
Bewusst hat Dikenci als Vorlage für „Die Gerächten“ Albert Camus’ Stück „Die Gerechten“ gewählt und nur einen Buchstaben verändert, sodass das Wort „Rache“ darin mitgedacht wird. Allerdings vor allem passiv: Wie würde es sich für Opfer rechtsextremer Gewalt anfühlen, wenn rechtsextreme Morde ernsthaft „gerächt“ würden in Deutschland?
Der Algerienfranzose Camus untersuchte 1949, während der algerischen Revolten gegen das kolonialistische Frankreich, seinen eigenen Gewissenskonflikt. Ab wann wird Gewalt zum legitimen Widerstand, und wo ist die Abgrenzung zum Wort „Terror“? „Wer gegen Nazis kämpft, kann sich auf den Staat nicht verlassen“, sagte die Auschwitz-Überlebende Esther Bejarano im Jahr 2015. Im Stück erscheint ihr Gesicht auf einem Vorhang, erklingt ihre Originalstimme, wie eine Mahnung und Erinnerung an ein Versprechen, mit dem die Bundesrepublik eigentlich gegründet wurde: dass es nie wieder geschehen dürfe. Im Angesicht der in den letzten Jahren aufgedeckten rechtsextremen Netzwerke bei
Polizei und Verfassungsschutz hat ihr Ausspruch eine düstere Wahrheit erhalten. Doch was bedeutet so ein Satz angesichts dessen, dass sich die Polizei 1992 komplett zurückzog, während ein rechtsradikaler Mob in RostockLichtenhagen das Wohnhaus vietnamesischer Arbeiter anzündete – und 3000 Menschen applaudierten?
„Auf unserer Seite stand niemand, als 1992 das Sonnenblumenhaus angegriffen wurde. Wir schreien mit unseren entwürdigten Körpern, wir schreien die Armut heraus und verwandeln sie in Arbeitskraft für die Gesellschaft“, ruft Tal, während er durch die Zuschauer hindurchgeht, man kann ihn anfassen und atmen hören. Doch die tiefste, anrührendste Szene hat Pitbull, als er mit nacktem Oberkörper über die Bühne stolpert, immer wieder fällt: Unsichtbare Fallen und Hindernisse ziehen ihn herunter, verzweifelt versucht er, sich aufzurichten, zum Licht am Bühnenende zu kriechen. Gepeinigt ist er von Erinnerungen an seine Tochter, die bei einem Nazi-Brandanschlag ums Leben kam. Auf dem Tisch sitzend, erzählt er von seinem SuizidVersuch, der Sehnsucht, im Meer zu verschwinden, der Sinnlosigkeit zu entgehen.
DIE GERÄCHTEN
Theater Dortmund
Regie Murat Dikenci
Konzept und Text Murat Dikenci
Bühne & Kostüm Marilena Büld
Sounddesign Lukas Grundmann
Dramaturgie Negar Foroughanfar
Licht Stefan Gimbel
Ton Robin Lockhard
Regieassistenz Ruven Bircks, Franka Zanjac Ausstattunsassistenz Slynrya Kongyoo
Inspizienz Monika Gies-Hasmann
Soufflage Violetta Ziegler, Britta Kalitzki
Besetzung Akasha Daley (Sol), Alexander Tran (Fistik Viet Anh), Tamer Arslan (Pitbull)
TRAUMATISIERTE, DIE NICHT
MEHR SCHWEIGEN WOLLEN
Akribisch recherchiert hat Dikenci für sein Stück, mit Überlebenden rechtsextremer Gewalt gesprochen. Vor allem aber hat er in Dortmund, dem Ort der Uraufführung, geforscht. Hier wurde im August 2022 der junge Senegalese Mouhamed Dramé von Polizisten erschossen, 16 Jahre alt, mit Maschinengewehren – während er ein Küchenmesser gegen sich selbst richtete. Sol steht am Mikro, in einem prächtigen weinroten Gewand, und erzählt, wie sehr Mouhamed Fußball liebte, deshalb unbedingt nach Dortmund wollte, lebensfroh und beliebt war. Dikenci hat mit Freunden von Mouhamed gesprochen, mit dem Dortmunder Solidaritätskreis für ihn, hat sich sogar an ihre Ratschläge gehalten: an dieser Stelle den Tod Dramés nicht zu sehr zu fiktionalisieren, da er noch zu frisch, zu schmerzhaft sei. Sol nennt die Polizisten an dieser Stelle nur „pigs“, Schweine: „Die, die uns eigentlich beschützen sollten, erschießen uns und sperren uns ein.“
Ist es wichtig anzumerken, dass das Stück vor den Hamas-Terroranschlägen in Israel am 7. Oktober geschrieben und inszeniert wurde, bevor die Worte Terror, Widerstand und Postkolonialismus in Deutschland weitere, zurzeit hochemotio-
nal aufgeladene Bedeutungsebenen erhielten? „Ich habe das Stück nicht mit Blick auf den Nahost-Diskurs geschrieben – aber seitdem ist die Linke eher noch stärker gespalten“, sagt Dikenci. Er hat das Stück aber vor allem auf eine Situation in Deutschland bezogen, „in der rechte Gewalt anders verfolgt und verurteilt wird als solche von links. Ich kann und will in diesem Stück vor allem für die Opfer von rechter Gewalt hierzulande sprechen.“ Die drei Figuren im Stück, sagt er, seien Traumatisierte – die beschlossen haben, nicht zu schweigen, sondern etwas zu tun. Sich zusammenzuschließen, zu kämpfen – und über die erlaubten Mittel zu reflektieren.
Aber es gibt auch einen direkten biografischen Bezug zu seinem Stück. Denn er, aufgewachsen in Hannover als Kind türkischer, „klassischer“, wie er sagt, Gastarbeiter, wurde einst selbst Opfer rechtsradikaler Gewalt. Bereits im Alter von neun Jahren sang er im Knabenchor Hannover, wirkte bei preisgekrönten CD-Einspielungen mit, ging auf Konzertreisen, unter anderem auch nach Tschechien. Im Dorf Osek landete er aus Versehen in einer Nazikneipe, wurde verprügelt, Springerstiefel trampelten auf seinen Kopf. Doch die Polizei ließ ihn abblitzen: „Bei einer Polizeistruktur, die rechts ist, konnte ich keine Anzeige erstatten – sie wurde schlicht nicht angenommen“, erzählte er. Für ein paar Tage lag Dikenci mit Gehirnerschütterung im Bett. „In den ersten Tagen hatte ich den Impuls: Ich will Rache. Wieder hinfahren. Danach entstand der Wunsch, mit den
Tätern zu sprechen.“ Und später das Bedürfnis, das Thema rechter Staatsgewalt künstlerisch zu bearbeiten: „Damals wusste ich noch nichts vom Theater. Dass man so ein Erlebnis auch in Geschichten reflektieren kann.“ Was ihn im Übrigen nicht daran hindert, auch realen Aktivismus zu betreiben. Etwa, als vor drei Jahren im gleichen Dorf der Roma Stanislav Tomáš von Polizisten ermordet wurde – brutal knieten sie auf ihm, wie 2020 US-Polizisten auf George Floyd. Dikenci setzte sich auf Instagram für die Sinti*zze-&Rom*nja-Gemeinschaft ein, beteiligte sich mit ihnen an Demos in Berlin.
ZUSAMMENSCHLUSS
MIT DER WESTDEUTSCHEN
WASCHNUSS-LINKEN Vom Theater infiziert wurde Dikenci erst nach seiner Mitwirkung im Knabenchor. Am Schauspiel Hannover war ein Casting zu „Romeo und Julia“ ausgeschrieben. Dikenci erhielt die Rolle des Romeo, die Inszenierung von Marc Prätsch wurde ein riesiger Erfolg – Casting-Agenturen besetzten ihn weiter als Schauspieler. Doch Dikenci studierte lieber erst einmal „Angewandte Kulturwissenschaften“ in Lüneburg, zog anschließend nach Berlin, war Regie- und Dramaturgieassistent am Ballhaus Naunynstraße unter Shermin Langhoff.
Später – da hatte er längst erste eigene Regiearbeiten inszeniert und in manchen Stücken und Filmen gespielt – ging er aber doch noch zurück nach Hannover, um eine „solidarische Bühne“ zu leiten,
das Studiobühnenprogramm des Hannoveraner Schauspielhauses unter Sonja Anders. Einem ähnlichen Prinzip folgt nun auch das Studio am Maxim Gorki Theater: Einen Ort zwischen „Diskurs und Disco“ hat Dikenci hier geschaffen, geöffnet für alle, auch zum Abhängen. Hier wird auch das kurdische Neujahrsfest gefeiert, Livemusik gespielt, hier lädt die Journalistin Mely Kiyak Gäste ein. Michel Friedmans Buch „Fremd“ feierte Premiere oder aber es erklingen wütende Gedichte des jungen staatenlosen Palästinensers Yahya Hassan mit dänischem Pass – seine Inszenierung des gefeierten Gedichtbands hat Murat Dikenci aus Hannover mitgebracht. Kurz: Das Studio ist ein Ort geworden, an dem Gegensätze hart aufeinandertreffen, aber eben auch zusammenkommen.
So, wie letztlich auch das Publikum mit den drei „Gerächten“. Mit „No justice, no peace“-Rufen heizen sie uns auf, verteilen Flugblätter, bereiten schon mal die Autobombe vor. Um dann – das geplante Attentat abzubrechen. Denn: „Sei dir bewusst, dass wenn wir auch nur ein Kind töten, unser ganzes Vorhaben hin ist“, spricht Sol. Am Ende steht ein Plädoyer für die Empathie, für ein Mitfühlen, welchen speziellen Bedrohungen marginalisierte Menschen in Deutschland ausgesetzt sind – und für einen solidarischen Zusammenschluss auch mit westdeutschen WaschnussLinken. „Bleibt stark und lasst euch das nicht gefallen!“, spricht uns die Holocaust-Überlebende Zilli Schmidt am Ende von der Leinwand Mut zu, gemeinsam für eine bessere Gesellschaft zu kämpfen.
DOROTHEA MARCUS ist Kulturjournalistin und Theaterkritikerin in Köln und schreibt für „Theater heute“, Deutschlandfunk, WDR, „taz“ und viele andere Medien. Am meisten interessiert sie sich für politisches Theater und internationale Blickver-schiebungen. Manchmal ist sie auch Jurymitglied oder Moderatorin von Podiumsdiskussionen.
FOTO: PRIVAT
30 31
DIE SEELE DER LAUSITZ
„Das Kraftwerk“ von Calle Fuhr in der Regie von Aram Tafreshian, Staatstheater Cottbus
Es passiert nicht oft, dass die Theaterkunst weit über den Bühnenraum hinausragt und mitten in gesellschaftliche Prozesse hineingreift. Anfang dieses Jahres war das so, als das Recherchenetzwerk Correctiv von einem Geheimtreffen von Rechtsextremisten in Potsdam berichtete, wo Pläne für die künftige Abschiebung von Millionen Deutschen geschmiedet wurden. Der Stoff kam zeitnah zur journalistischen Veröffentlichung als szenische Lesung auf die Bühne des Berliner Ensembles und erreichte via Livestream rund 360 000 Menschen. Tage später versammelten sich vielerorts Hunderttausende Demokrat*innen zu Großdemonstrationen gegen die Drohungen von rechts.
Kaum weniger relevant und brisant ist das Recherchestück „Das Kraftwerk“, das der Autor Calle Fuhr ebenfalls mit Unterstützung von Correctiv verfasst hat und das im September 2023 in der Regie von Aram Tafreshian am Staatstheater Cottbus uraufgeführt wurde. Das Stück folgt einer veritablen Fernsehspieldramaturgie: Wir reisen mit einer Berliner Journalistin namens Carla ins brandenburgische Cottbus. Carla hat von ihrem Opa dort ein Haus geerbt. Bei der Liquidierung stößt sie auf einen namentlich für sie bestimmten Ordner mit umfangreichen Informationen zur „Wassermafia“. Es handelt sich um Dokumente über den ortsansässigen
Braunkohlekonzern LEAG und dessen Methoden, seine Umweltsünden zu verschleiern.
Der umfangreiche Gebrauch von Fußnoten und Quellenangaben in Fuhrs Dramentext signalisiert, dass hier nicht munter ins Blaue fabuliert wird, sondern belegbare Fakten zur Sprache kommen.
Fuhr literarisiert, was die echten Journalist*innen von Correctiv über die Verstrickungen der LEAG herausgefunden haben: Wir er-fahren viel über Kaskaden von Gutachten, in denen einige der LEAG eng verbundene Prüfer dem Konzern Unbedenklichkeitsstudien für die tatsächlich hoch problematische Wassernutzung in der Spree-Region ausstellen. Mit ihnen wird unter anderem die Renaturierung des „Ostsees“ vorangetrieben (eines riesigen Baggersees, der einmal zum neuen Tourismusmagneten werden soll).
Zur Sprache kommen auch Vereinbarungen mit der Kommunalpolitik, durch die die LEAG Schadenersatzansprüche unterbindet: gegen – gemessen am möglichen Streitwert – geringfügige Geldzahlungen und durch Schweigeklauseln abgesichert. Der Oberbürgermeister von Frankfurt (Oder) erwog nach der Premiere, gegen die Darstellung letzterer Praxis im Stück gerichtlich vorzugehen, ließ es dann aber bleiben. Klar ist: Recherchetheater wie „Das Kraftwerk“ stellt sich der Überprüfung und potenziell harten juristischen Auseinandersetzungen.
GEMENGELAGE VON PERSPEKTIVEN
Dabei kommt „Das Kraftwerk“ anders als viele andere Dokumentartheaterabende gar nicht mit einem offen anklagenden Gestus daher. Fuhr hat sich bewusst für die klassische, figurenbasierte Dramenform entschieden, um das Publikum mit seinen unterschiedlichen Emotionen und Haltungen abzuholen. „Die Kohle hat viel Gutes für die Region getan“, sagt Fuhr beim Gespräch über seine Arbeit. Diese Dimension arbeitet er über diverse Nebenfiguren heraus: Da gibt es Harrndorff, den alten Ingenieur, der mit dem Stolz des Tagebauveteranen gegen das Zerbröckeln des Lebenswerks anargumentiert; an seiner Seite diskutiert der Jungingenieur Navid, der aus der LEAG heraus den Transformationsprozess hin zu erneuerbaren Energien anstoßen möchte. Navids Lebensgefährte Julius ist Investmentbanker und akzentuiert klar die ökonomische Dimension des Konzerns, während die Mutter des Bankers sich von der Politik in Berlin abgehängt und ungehört fühlt. Es ist eine Gemengelage von Perspektiven, auf die Fuhr in der Region gestoßen ist und die in seinem Stück entsprechend eingespeichert wurden.
„Mein Wunsch ist es, im Theater Fronten abzubauen, nicht Fronten zu verhärten. Ich will gucken, wie wir zusammenkommen“, sagt Fuhr. Ich spreche den gebürtigen
32
TEXT: CHRISTIAN RAKOW / FOTO: BIRNBAUM UND FRAME
Düsseldorfer (Jahrgang 1994) per Zoom kurz vor der Premiere seines neuen Stücks „Aufstieg und Fall des Herrn René Benko“ am Volkstheater Wien. Fuhr steht dort als Soloperformer selbst auf der Bühne und referiert über den Pleitier Benko und seine Signa Holding. Am Volkstheater unter der Intendanz von Kay Voges verantwortete Fuhr bis Sommer 2023 den Spielplan für die Außenbezirke – ein Programm in alter sozialdemokratischer Tradition für theaterfernes Publikum. Auch dort machte er sich für Recherchetheater stark und kooperierte eng mit „Dossier“, dem österreichischen Pendant zu Correctiv. Und er hat zugleich gelernt, was es heißt, faktenbasierte Stoffe populär einzurichten.
DOKUMENTARTHEATER MIT
CRIME TOUCH
Dem Dokumentartheater haftet ja ein „gewisser Protestantismus“ an, sagt Fuhr, „das klingt erst einmal nicht nach Spaß und einem netten Abend“. Auch daher hat er
DAS KRAFTWERK
sich für einen „Crime Touch“ im Handlungsaufbau entschieden. Und er ist froh, in Aram Tafreshian einen Regisseur gefunden zu haben, der eher „fantasiewütig“ ist. Tafreshian, geboren 1990 bei Stuttgart, ist von Haus aus Schauspieler und war lange ein Protagonist im Ensemble des Berliner Maxim Gorki Theaters. Auf der Bühne verströmt er eine sehr eigene Mischung aus spielerischer Verausgabungsfreude und intellektueller Konzentriertheit. Er arbeitete zuletzt regelmäßig mit dem eher popkulturell geprägten, fröhlich assoziierenden Regisseur Christian Weise und dem kantigen, kompromisslosen Polittheatermacher Oliver Frljic´. Wie passt das zusammen: diese Radikalität, die er aus dem Gorki Theater mitbringt, und der eher nach Harmonie suchende Ansatz, den Fuhr formuliert? Ich treffe Tafreshian auf einen Kaffee in Berlin-Mitte. Er sagt: „Ich hatte nie das Gefühl, dass es am Gorki darum geht, jemanden vor den Kopf zu stoßen, sondern darum,
diejenigen mitzudenken, für die diese Theaterräume mit ihren (un)ausgesprochenen Codes, Referenzen, Wissensvoraussetzungen bisher verschlossen waren. Dafür muss man diese Codes natürlich kritisch befragen.“ Die reflexive Haltung, die sich in diesen Worten ausdrückt, hat er auch nach Cottbus mitgenommen: „Für uns war es wichtig, unsere Positionen erst einmal kritisch zu befragen: Warum denken die Andersdenkenden anders? Was sind deren Ängste, Hoffnungen, Sehnsüchte? Damit es, überspitzt gesagt, eben nicht weiter so funktioniert, dass sich die Aktivistin und der Bergarbeiter anbrüllen, während anderswo so viel Geld wie möglich in die Taschen Weniger fließt.“
EWIGKEIT – ENDLICHKEIT –ENDLICH ZEIT
Tatsächlich ist die Inszenierung von einer großen Ruhe und Empathie getragen. Tafreshian lässt sie in einer prähistorischen Choreografie ähnlich dem Anfang
von Stanley Kubricks „2001: Odyssee im Weltraum“ beginnen: Wie Äffchen kommen die fünf Akteure des Abends herein, umtänzeln sich und lassen sich bald an einem Lagerfeuer nieder, um erste Worte auszutauschen: „Ewigkeit – Endlichkeit – endlich Zeit“. Die Bühne (von Mara-Madeleine Pieler) gleicht einer Mondlandschaft, Kohleklumpen auf dem Boden, Gesteinsbrocken liegen umher, drüber rotiert ein Licht aus gleißend hellen Neonröhren. Das genutzte Granulat auf dem Boden entstammt alten, geschredderten Bühnenbildern aus Cottbus, erzählt Tafreshian. Das Team wollte sich die Frage nach nachhaltiger Wirtschaft nicht nur thematisch vornehmen, sondern auch in der eigenen Praxis entsprechend ressourcenschonend arbeiten.
FOTO: © BERND SCHÖNBERGER DAS
Vom Lagerfeuer aus zoomt der Abend dann in die Szenen des Crime-Kammerspiels, das Fuhr vorgelegt hat. Nathalie Schörken stellt die Journalistin Carla mit erfrischender Offenheit und ohne jede Überlegenheitsattitüde vor. Beruflich steht ihre Figur gerade an der Wegscheide: Mit dem Journalismus wollte Carla eigentlich abschließen, da in Zeiten schrumpfender Zeitungen kaum mehr Geld damit zu verdienen ist – bis sie auf Opas Ordner zur „Wassermafia“ stößt, der ihre Neugier weckt. Ein Ensemble markanter Typen umspielt Carla bei ihrer Recherche: Der alte Ingenieur Harrndorff (Kai Börner) als Mann vom Schlage „ehrliche Haut“ liefert sich packende Diskussionen mit dem optimistischen Jungingenieur Navid (Gunnar Golkowski) über den künftigen Weg der LEAG. Mit Carlas Recherche sickert das Gift des Selbstzweifels in das Duo ein. Einen kühlen, unsentimentalen Außenblick auf die Verhältnisse spielt Navids Partner Julius ein (Torben Appel), der als Investmentbanker die abgeklärte Perspektive des Kapitals zelebriert und zum Höhepunkt des Abends höchst instruktiv das Finanzkalkül des LEAG-Eigners Daniel Krˇetínský erläutert. In der Brust von Julius’ Mutter Sonja (Susann Thiede) wiederum schlägt noch leise das Herz der altlinken Revolutionärin. Es kitzelt sie, Carla auf ihrem Feldzug gegen die Mächtigen zu unterstützen.
Ein Recherche-Stück von Calle Fuhr in Kooperation mit Correctiv, Staatstheater Cottbus
Regie Aram Tafreshian
Bühne & Lichtdesign Mara-Madeleine Pieler Kostüme Clarissa Freiberg Mitarbeit Kostüme Lisa Rüger Musikalische Leitung & Arrangements Tom Gatza Vokalarrangements & Einstudierung Tom Gatza, Hans Petith Dramaturgie Franziska Benack Besetzung Torben Appel (Julius & Notar), Kai Börner (Harrndorf & Bero), Gunnar Golkowski (Navid), Nathalie Schörken (Carla), Susann Thiede (Sonja), Ensemble (Fischerin-Chor)
TRANSFORMATIONSLANDSCHAFT UNTERM BRENNGLAS
Fuhr/Tafreshian skizzieren die Beziehungen in kurzen, prägnanten Szenen. In Carlas Gesprächen mit den LEAG-Experten werden die komplexen Sachzusammenhänge zwanglos fürs Publikum aufbe-reitet. Um potenzielle Reizthemen wie Homosexualität (in der Partnerschaft von Julius und Navid) macht der Abend ebenso wenig Aufhebens wie um die Vision der grünen, nachhaltigen Wirtschaft. Die Diskurse wie die Lebenswirklichkeit der Figuren werden mit großer Selbstverständlichkeit präsentiert. Calle Fuhr erzählt bei unserem Interview, dass ihn in diesem Punkt das Sachbuch „Erzählende Affen“ von Samira El Ouassil und Friedemann Karig inspiriert habe. Es hat ihn angeregt, abseits der vordergründig verhandelten Themen mit kleinen beiläufigen Setzungen die Sehgewohnheiten zu verändern. Da es am Theater an Bühnenrollen für Frauen über vierzig mangelt, ist mit Julius’ Mutter Sonja eine entsprechend reife Figur platziert worden.
Tafreshian unterlegt das Geschehen mit einer leise dräuenden Geräuschkulisse (Musik und Sound: Tom Gatza), als würde die Geschichte in einem sphärisch entrückten Nirgendwo spielen. Der Geist des prähistorischen Intros, das die Spur der Kohle aus grauer Vorzeit bis womöglich in eine apokalyptische Zukunft weiterverfolgt, weht in diesem Sounddesign. Zugleich gehen Tafreshian und sein Musiker Gatza mit ihrer Songauswahl sehr konkret auf die Bergbauhistorie und ihr Sentiment
ein. Immer wieder stimmen die Spieler*innen Lieder der Kumpel an: „Glück auf, Victoria!“
Im Finale singt Nathalie Schörken still und auf wunderbar gebrochene Weise einfühlsam das alte DDRPionierlied „Unsere Heimat“. Und spätestens dort weiß man, dass es diesem Abend nicht nur um das Freilegen eines ökologischen Problemzusammenhangs geht, nicht nur um nüchterne Fakten, sondern dass man hier eine ganze, exemplarische Transformationslandschaft unters Brennglas bekommen hat. Mit ihrem Ringen um Selbstverständnis und Selbstwert, im Spannungsfeld von Gestern und Morgen. Wir lauschen in die Seele der Lausitz hinein, an der Schwelle zu einer neuen Industrieepoche, an der sich entscheiden wird, ob der Mensch die im Lied besungenen „Bäume im Wald“ und das „Gras auf der Wiese“ und die „Fische im Fluss“ bewahren kann. Nicht als Umwelt, sondern als Mitwelt. Als Lebewesen unter Lebewesen.
CHRISTIAN RAKOW
geboren 1976 in Rostock, studierte Germanistik und Philosophie in Rostock, Sheffield und Berlin und promovierte in Literaturwissenschaft in Münster. Er ist Co-Leiter der Redaktion von „nacht-kritik.de“ und schreibt als Theaterkritiker u. a. für „Theater heute“. Er war Mitglied der Auswahljury des Festivals „Politik im Freien Theater“ der Bundeszentrale für politische Bildung 2011, Mitglied der Preisjury beim Mülheimer Dramatikpreis 2014 und Mitglied der Jury des Berliner Theatertreffens 2017 bis 2019.
FOTO: THOMAS AURIN
34 35
KRAFTWERK
Der Auftritt des KomponistenKollektivs Current Resonance beim Theaterfestival „Radikal jung“ 2024 stellt ein Novum dar. Wann auch hätten Komponisten, die weder ausgebildete Regisseure, Schauspieler, Autoren, Dramaturgen oder Bühnenbildner sind, einen ganzen Abend lang eine Theaterbühne bespielt? Noch vor wenigen Jahren wäre so ein Auftritt nicht nur undenkbar, sondern geradezu unmöglich gewesen, da die zeitgenössische Kunstmusik, die sich „Neue Musik“ nannte, im Medium der Notenschrift komponiert und mit akustischen Instrumenten wie Violine, Flügel oder Flöte auf einschlägigen Musikfestivals uraufgeführt wurde. Man komponierte, mit anderen Worten, reine, absolute Instrumentalmusik, für die ein Theaterfestival einfach der falsche Aufführungsort gewesen wäre. Erst infolge der digitalen Revolution, die in den 2010er Jahren die Kunstmusik revolutionierte, veränderte sich das Verhältnis zwischen Kunstmusik und Theater in einer grundsätzlichen Weise. Der Computer avancierte für eine junge Generation von Komponisten, die sich „Digital Natives“ nannten, zu einer Universalschnittstelle, an der man nicht nur mit Noten, sondern auch mit Geräuschen, Filmen, Fotos, Sprache, Emotionen und eben auch mit theatralischen Handlungen und
DRAMA À LA CARTE
„À la carte“ von Current Resonance, Ku.Be Kopenhagen
Gesten im ursprünglichen Sinne des Wortes komponieren konnte. Damit entstand ein vollkommen anderer Typus von Kunstmusik, die nicht länger „absolut“ auf den reinen Klang konzentriert war, sondern in der auch die Relationen zu dem, was man bisher immer als das „Außermusikalische“ betrachtet hatte, zum kompositorischen Material wurden. Diese „relationale Musik“ lässt sich auch auf einer Theaterbühne aufführen. Genau hierin liegt das innovative Moment, das die Aufführung von Current Resonance in das Festival einbringt. Gegründet wurde das vierköpfige Ensemble 2019 von den Komponisten Michael Hope, Dylan Richards, Joss Smith und Matthew Grouse während ihres Studiums an der Königlichen Musikhochschule Aarhus in Dänemark. Es handelt sich bereits um die zweite Generation der Digital Natives, deren Vorbilder Simon Steen-Andersen, Johannes Kreidler und Patrick Frank waren, die in den 2010er Jahren auf den einschlägigen Festivals der Neuen Musik mit ihren relationalen Musikprojekten bekannt wurden und bei denen die Mitglieder von Current Resonance zum Teil auch studiert haben.
I. DAS VERPASSTE ABENDMAHL
Das bei „Radikal jung“ gezeigte Programm „À la carte“ besteht aus fünf Einzelkompositionen,
die zu einem Bühnenstück aus fünf Akten zusammengestellt wurden. Gleich das erste Stück, „The Lost Supper“ (2020) von Fraz Ireland, zeigt, welche besondere ästhetische Dimension diese Art von relationaler Musik in eine Theateraufführung einbringen kann. Anstelle einer ausnotierten Partitur liegt dem Stück ein ausformuliertes Konzept des Komponisten zugrunde, das in Auszügen lautet: „Ein langer Tisch quer durch den Aufführungsraum. Mit Stühlen an einer Seite. […]
Ein Mikrofon vor jedem Stuhl […] Treten Sie ein und nehmen Sie einen Platz am Tisch ein. Sehen Sie sich die Speisekarte an und entscheiden Sie, was Sie essen möchten. Bestellen Sie Ihr Gericht. […] Stellen Sie sich vor, wie Sie es essen. Genießen Sie jeden Bissen.“
Vor den vier Performern auf der Bühne liegt jeweils eine umfangreiche Speisekarte, aus der diese in freier Improvisation ihr Essen bestellen. Was man als Zuschauer sieht, ist das Reenactment eines Restaurantbesuchs, aber was eigentlich inszeniert wird, sind jene Sekundärgeräusche, die man ansonsten nicht hört – das Rascheln der Papierseiten, die beim Umblättern der Menükarte entstehen, das Atmen der Besucher und ihre Essgeräusche.
36 37 KOMPONIERTES
TEXT: HARRY LEHMANN / FOTO: CURRENT RESONANCE
Regie Current Resonance
Musik Michael Hope, Fraz Ireland, Neo Hülcker, Henry Wilde, Caitlin Rowley, Alexandra Hallén Besetzung Michael Hope, Dylan Richards, Joss Smith, Matthew Grouse
Das Theater, das man hier zu sehen bekommt, ist ein Hörtheater, das seine ästhetische Prägnanz steigert, indem es von vielen visuellen Aspekten eines Restaurantbesuchs – wie Geschirr, Besteck, einem Kellner und realen Gerichten – abstrahiert. Das Publikum bekommt nicht „the last“, sondern „the lost supper“, also nicht „das letzte“, sondern ein „verpasstes Abendmahl“ serviert, das heißt eines, das man bislang wahrzunehmen versäumt hat.
II. MUSIK FÜR TOTE TIERE
Auch Neo Hülckers und Henry Wildes „Musik für tote Tiere“ (2023) liegt ein Konzept zugrunde, das Current Resonance mit einem ausgestopften Wildschwein realisiert hat. Bei dem Tier soll es sich um ein ominöses Geburtstagsgeschenk für das Kopenhagener Opernfestival handeln, das seit einiger Zeit in dessen Festivalbüro wohnt. Zwei Ensemblemitglieder haben das Wildschwein vor Ort besucht und jenes Video hergestellt, das im zweiten Teil zu sehen ist. Hierbei haben sie sich streng an die konzeptuellen Vorgaben gehalten: „Finde ein totes Tier, zu dem du dich hingezogen fühlst und das physisch existiert. […] Erforsche, wie das Tier zu Lebzeiten gehört hat! […] Welche Klänge oder Vibrationen gab es in seinem Alltag? Welche Klänge oder Vibrationen könnten dem Tier Freude bereitet haben? Versuche, diese Klänge mit deiner Stimme oder anderen Instrumenten aller Art zu imitieren. Übe, bis du alle Imitationen gut beherrschst!
[…] Das Konzert ist nur für das Tier und nicht für menschliches Publikum […].“
Current Resonance hat dieses Konzept hyperaffirmativ ernst genommen, sodass man eine grandios groteske Musik für tote Tiere erlebt.
III. TORTEN-STÜCK
Caitlin Rowleys „Cake Piece“ (2014) besteht aus einer Anweisung für zwei Performer, die eigenhändig einen roten Samtkuchen – eine geschichtete Schokoladen-Sahne-Torte aus den USA – backen sollen. Die Aufführung beginnt, wenn der erste Darsteller die Torte anschneidet, und sie endet, wenn die Torte vollständig aufgeschnitten, ans Publikum verteilt und von diesem aufgegessen wurde. Die Idee dieses Konzeptstücks liegt nun darin, die Torte zu anthropomorphisieren, sprich mit einem menschlichen Empfindungsvermögen auszustatten, und die Empfindungen der Torte durch den zweiten Darsteller wiedergeben zu lassen. Im Aufführungskonzept von Rowley heißt es konkret:
„Der erste Darsteller wird den Kuchen in Stücke schneiden. Wenn das Messer in die Torte eindringt – und bei jedem folgenden einzelnen Schnitt –, schreit der zweite Darsteller auf, brüllt, keucht, stöhnt, röchelt oder macht sonstige Schmerzenslaute. Die Reaktionen der Torte sollten zu Beginn des Stücks stoisch sein und beim Anschneiden des letzten Stücks in unkontrolliertes Schreien übergehen.“
Das Stück reiht sich in die FluxusBewegung der 1960er Jahre ein, aber der Grund, warum gerade Komponisten auf derart absurde Performancekonzepte kommen, hat weniger mit einer pantheistischen Weltanschauung zu tun, in der das Wasser und die Steine belebt sind und auch der Kuchen eine Seele besitzt, sondern für sie ist vor allem die Zeitstruktur interessant, die ein Vorgang wie das Aufschneiden einer Torte impliziert. Anfang und Ende des Prozesses lassen sich klar definieren, es gibt eine natürliche Gliederung der zeitlichen Abläufe mit jedem Tortenschnitt und ein schönes
Crescendo der schreienden Torte. Wer diese Art von relationaler Musik komponiert, hat auch eine besondere Freude daran, ihre Urformen im banalen Alltag zu entdecken.
IV. TORTE ESSEN
Alexandra Halléns „Torte essen“ („Ät Tårta“, 2023) besitzt zwei Handlungsstränge: Zum einen essen drei Performer live auf der Bühne jeweils eine Torte von einem Tortenteller, zum anderen läuft synchron ein Videofilm, der den Herstellungsprozess der Backzutaten, die Zubereitung und das Verspeisen der Torte sowie ihren Zersetzungsprozess im menschlichen Verdauungstrakt einschließlich Darmentleerung zeigt. Der Witz dieses Stücks besteht darin, dass das Video rückwärts abgespielt wird: Es startet mit einem Kothaufen, der in einem Anus verschwindet.
Im gleichen Moment setzen die drei Performer ein und singen im Chorus „Hoi, hoi, hoi …“ – was an Komik schwer zu überbieten ist.
Während man anschließend, den Anus aufwärts, einer Darmspiegelung folgt, sitzen die „Hoi, hoi, hoi“-singenden Performer vor ihrer Torte und drehen und ruckeln synchron an den großen Tellern, deren Geräusche wieder mit Mikros aufgenommen und verstärkt werden. Beide gegenläufigen Handlungsstränge, die des Videos und die der Performance, überkreuzen sich in der Mitte des Stücks:
Genau in dem Moment, in dem der Löffel auf dem Video mit einem ungegessenem Stück Torte den Mund verlässt, beginnen die Darsteller auf der Bühne ihre Torten zu essen.
Neben der akustischen und der konzeptuellen Dimension einer solchen Performance gibt es noch das besondere Vermögen von Komponisten, Zeit zu strukturieren, das sie – weil es in der Musik in Reinform ausgebildet wird – hochkonzentriert ins Theater einbringen können. Sie sind Spezialisten dafür, Erwartungen beim Publikum aufzubauen, zu enttäuschen, in andere Bahnen zu lenken und überraschend einzulösen. Diese Qualität wird in „Torte essen“ mit seinen beiden gegenläufigen Prozessen besonders deutlich. Die Zuschauer werden
herausgefordert, die zeitlichen Abläufe, die sie wahrnehmen, nicht nur zu erleben, sondern auch zu interpretieren.
Man fragt sich zum Beispiel, warum die Protagonisten ihre Torte am Anfang nicht essen und die Tortenreste am Ende auf dem Hintern eines Performers verschmieren. Wenn man davon ausgeht, dass zwei symmetrische Handlungsstränge in diesem Stück komponiert wurden, die einmal vorwärts und einmal rückwärts abgespielt werden, dann kann man solche Rätsel wie ein Puzzle lösen: Am Ende des Videos sieht man eine Weide in der Abenddämmerung, den schlafenden Zustand der Natur, aus der die Milchprodukte für die Torte hergestellt werden. Wenn in den ersten Minuten der Liveperformance die Torten nicht gegessen, sondern auf den Tellern gedreht werden, dann müsste man es hier, aus Symmetriegründen, ebenfalls mit einer „Vorzeit“ zu tun haben – einer Zeit, bevor die Prozesse starten. Unter dieser Prämisse ist es dann naheliegend, die ersten Minuten der Liveperformance mit der Vorstellung einer Torte zu assoziieren, bevor sie gegessen wird. Beschmieren sich hingegen die Akteure am Ende der Performance mit Torte, dann kann man darin eine Analogie zu den Zersetzungsprozessen im Darm sehen, die zu Beginn des Videos gezeigt werden – bis auch das makabre Schlussbild der Performance sich mit dem spektakulären Anfangsbild des Videos kurzschließt.
V. À LA CARTE
Michael Hopes „À la carte“ (2023) bildet den Schlusspunkt der fünfteiligen Aufführung, die nicht nur von dem Komponisten zusammengestellt und kuratiert wurde, sondern auch den Titel für das ganze Programm liefert. Von seiner Wirkung her handelt es sich um das theatralischste Stück des ganzen Abends. Die vier Akteure sind stark kostümiert und spielen mit viel Gestik und Mimik. Genau genommen handelt es sich aber um kein Theaterstück im traditionellen Sinne, sondern um ein Stück, das aus theatralischen Handlungen komponiert worden ist. So liegt „À la carte“ eine Partitur zugrunde, die sich in acht Einzelszenen gliedert, in denen wiederum die Aktionen der einzelnen Performer und die Zeitdauern präzise ausnotiert sind. Hierbei kommen wieder genuin musikalische Kompositionsprinzipien zum Einsatz, wie man sie auf einer Theaterbühne kaum sieht. Die zweite Szene „Schreiben“, in der die vier Akteure an einem langen Tisch sitzen, Briefe schreiben und diese an ihre Nachbarn jeweils weiterreichen, ist wie ein Streichquartett komponiert, in dem vier verschiedene Stimmen nacheinander einsetzen und dann jeweils unterschiedliche Duos und Trios bilden oder eben als Einzelstimme oder Quartett auftreten. Die dritte Szene von „À la carte“ wurde ebenfalls nicht aus Tönen und Rhythmen, sondern aus „maskulinen“ und „femininen“ Gesten komponiert,
die in ihren Grundformen festgelegt und ansonsten zur Improvisation freigegeben sind. Current Resonance sucht nach porösen Räumen für die Musik in anderen Künsten, in denen sich alltägliche oder künstlerische Prozesse in Musik verwandeln oder sich in ihrer musikalischen Struktur freilegen lassen. „Radikal jung“ ist ein solcher poröser Raum für die Musik. Mehr als dies im Theater gewöhnlich der Fall ist, werden bei dem Auftritt des Ensembles Mikroereignisse hörbar, Konzepte sichtbar und theatralische Handlungen als Kompositionen erkennbar – man erlebt, mit anderen Worten, eine Theaterperformance aus dem Geiste der Musik.
HARRY LEHMANN
studierte Physik und Philosophie, promovierte 2003 an der Universität Potsdam mit „Die flüchtige Wahrheit der Kunst. Ästhetik nach Luhmann“, W. Fink (2006). Lehrt an der Universität Luxemburg Kunstphilosophie, Musikphilosophie und KI-Ästhetik. Zu seinen wichtigsten Publikationen gehören „Musik und Wirklichkeit. Modelle der Musikphilosophie“, Schott Music (2023), „Gehaltsästhetik. Eine Kunstphilosophie“, W. Fink (2016) und „Ästhetische Erfahrung. Eine Diskursanalyse“, W. Fink (2016), „Die digitale Revolution der Musik. Eine Musikphilosophie“, Schott Music (2012). FOTO: UNIVERSITÄT LUXEMBURG
38 39
À LA CARTE Ku.Be, Kopenhagen, Dänemark
FOTO: © CURRENT RESONANCE
KEINE ANGST VOR BUDENZAUBER
„Blutbuch“ von Kim de l’Horizon in der Regie von Jan Friedrich, Theater Magdeburg
Shakespeare, Molière, Büchner, Tschechow, Bernhard, Horváth, Brecht, Ibsen, Schiller, Kafka, Kane, Wedekind – Jan Friedrich hat mit seinen gerade mal 32 Jahren schon den halben Kanon inszeniert. Kim de l’Horizons „Blutbuch“ wirkt in dieser Reihe auf den ersten Blick wie ein Fremdkörper. Auf den zweiten passt der Stoff perfekt zu diesem Regisseur. „Klassiker ästhetisch gut zu machen“, sagt er, „war mein Sprungbrett. ‚Blutbuch‘ war im Vergleich dazu eine große Erleichterung, weil man für dieses Buch keine moderne Lesart suchen muss. Hier ist der Text der Text.“
Seine Magdeburger Inszenierung zeigt eindrucksvoll, was er damit meint. Jan Friedrich hatte sich den Stoff gewünscht, gerade für eine Stadt wie Magdeburg, gerade für den Osten, wohl wissend, dass ein „Blutbuch“ hier Neuland wäre. Es macht ihm offenbar Spaß, gegen die Klischees vom rückständigen Osten zu arbeiten und queere Interessen zu bedienen an einem Ort, an dem viele noch nicht mal eine Nachfrage vermutet hätten. Dass es geklappt hat, ist dem Mut der dreiköpfigen Schauspielleitung (Clara Weyde, Clemens Leander, Bastian Lomsché) zu verdanken, die Magdeburg seit 2022 mit coolem, modernem Theater nach vorne gebracht hat. Und dem Erfolg
von Jan Friedrichs „Woyzeck“Inszenierung, natürlich, die 2023 ebenfalls zu „Radikal jung“ eingeladen war. Darin ging es um Gewaltbereitschaft und Perspektivlosigkeit, die es zwar überall gibt, die aber hier, in Sachsen-Anhalts Hauptstadt, besonders aufmerksam zur Kenntnis genommen wird.
KUNST ALS BEFREIUNG
Jan Friedrich trägt keine ausgesprochene Ost-Agenda vor sich her. Aber Erfahrungen, die hat er, und die lässt er sich entlocken. Er ist in Eisleben aufgewachsen, im Mansfelder Land, lebte bis zum Abitur in der „GeradesoMittelstadt“, in der Luther begraben liegt, es aber kein Kino gibt und ein Theater nur deshalb noch, weil die Mansfelder Dickköpfe alle Versuche der Landespolitiker, es zu schließen, erfolgreich abwehren konnten. „Dort groß zu werden“, sagt Jan Friedrich, „war ein hartes Pflaster. Da dominierten die kleinen Ziele, die bescheidenen Wünsche. Was Sicheres, eine Lehre bei der Sparkasse. Viel hatte man an einem Ort wie diesem nicht zu erhoffen. Erst recht nicht, wenn man schwul ist.“
Der Weg aus der Provinz in die Stadt, der Weg in die Kunst als Befreiung, darin ist er Kim de l’Horizon (ebenfalls Jahrgang 1992) gar nicht so unähnlich. Vielleicht ist es das, was diese
Inszenierung so organisch wirken lässt, und vielleicht ist es genau das, was in den ersten Minuten auf der Bühne zu erleben ist, bevor der wilde, freche, vulgäre und doch nie „strebermäßige oder rechthaberische“ (Jan Friedrich) Tanz mit der Selbstfindung beginnt: die bedrückende Ruhe der Provinz, die Trostlosigkeit einer Kindheit. Die Großmutter steht bewegungslos in der Bühnenmitte, leicht gebeugt, zwei Einkaufsbeutel in den Händen. Auf einem Podest hinter ihr erscheinen nacheinander ein, zwei, drei, vier Personen und beginnen Kim de l’Horizons Texte zu sprechen. Ruhig, die Worte abwägend. Die Großmutter vorne – wie eingefroren. Schon ist zu befürchten, sie könne einen Krampf bekommen. Kim de l’Horizons Texte werden von mehreren, signalhaft und identisch in Kims „Buchpreis-Kostüm“ gekleideten Schauspielerinnen und Schauspielern vorgetragen. Dazu ein bisschen Livevideo, das ausgewählte Buchszenen illustriert – so könnte eine Prosa-Bühnenfassung aussehen. Nicht bei Jan Friedrich. „Budenzauber kann ich“, sagt er, und die Magdeburger Inszenierung beweist, dass er das zugleich ironisch und ernst meint.
EHER PUNKIG ALS BELEHREND
Denn was dann auf der Bühne geschieht, geschieht nicht oft im
40 41
TEXT: MATTHIAS SCHMIDT / FOTO: KATHARINA FRIEDRICH
Theater. Mit der zweiten Szene wird die Inszenierung zu einem regelrechten Rausch. Wie Jan Friedrich diesen bewegenden, wundersamen, vielschichtigen Text umsetzt, ist umwerfend. Bilder und Worte verschmelzen kongenial zu einem Sog, dem man sich nicht entziehen kann. Obwohl keine Bühnenhandlung stattfindet, obwohl im Grunde doch nur Prosatexte frontal ins Publikum (und in Kameras) gesprochen werden, obwohl Kim und die Großmeer (Großmutter) nie miteinander sprechen, sondern aneinander vorbei, wird Kims Suche nach Identität, nach einer Sprache für die eigene Geschichte, den eigenen Körper, die eigene Lust intensiv erlebbar.
Ein Schlüssel dafür sind die Videos, die hauptsächlich aus Nahaufnahmen bestehen. Sie zeigen Momente aus der Kindheit, die Hände Kims, die Räume der Kindheit, die Küche der Großmutter, ihren Mund, so nah, dass es beinahe wehtut. Es sind Kims Erinnerungen, vergrößert auf Trauma-Großformat. „Natürlich habe ich darüber nachgedacht, ob das ein Zuviel an Videoeinsatz ist, aber alles wird live gespielt und quasi als zweite Zeitebene eingeblendet. Im Grunde versuche
ich immer, alle Kunstformen zu vereinen, Schauspiel und bildende Kunst, Musik, Literatur und Film.“
Das Ergebnis ist beeindruckend: Man wird so sehr in diese Welt hineingezogen, dass man nach den zwei Stunden kaum fassen kann, wieder in das Leben vor dem Theater zurückzukehren. Vergessen die Frage, ob das Thema nicht binäre Personen gesamtgesellschaftlich wirklich so relevant ist und der Roman wirklich so buchpreiswürdig. Im Gegenteil, nach der Inszenierung versteht man noch besser, warum er es ist. Vernachlässigbar die gelegentlichen Wort-Purzelbäume, die, alles Männliche löschen wollend, von „verschwestern“ sprechen oder gar „niemensch“ statt „niemand“ sagen. Überhörbar die rhetorische Zuspitzung, mit der Kim de l’Horizon diese Identität zum Standard erhebt und damit alles Binäre (ausdrücklich zum Beispiel schwule Männer) abwertet. Jan Friedrich widerspricht: „Kim versucht überhaupt nicht, mit einem aggressiven Gestus etwas zu verändern, da wird nicht mit politischer Agenda durchgegendert, sozusagen aus Prinzip, sondern es wird einfach mal ausprobiert, was passiert, wenn man etwas ändert. Wenn man Sprache ändert
nun – immer noch mit den beiden Einkaufsbeuteln – auf einem Pflegebett steht. Als Kim sie immer wieder nach dem schicksalhaften Verlust ihrer Schwester in der Kindheit fragt – einer Schwester, die vom Urgroßvater missbraucht und in ein Frauengefängnis „entsorgt“ wurde –, bleibt sie eingefroren, vor allem ihr Gesicht ist versteinert. Wir wissen jetzt, warum. Ihre Maximen werden links und rechts auf Leinwände projiziert: Frauen weinen nicht. Frauen sind stark. Das ist formal und auch emotional schlicht atemberaubend.
oder die Kleidung. Für mich ist das eher punkig als belehrend, und überhaupt ist der ganze Text extrem vermittelnd.“
ALLES GREIFT PERFEKT INEINANDER
Dieses Buch ist ein emanzipatorischer Befreiungsschlag, den man spätestens nach dieser Inszenierung genau so lieben muss, wie er ist. Einfach alles an ihr stimmt. Die Bühne, nach hinten begrenzt von einem riesigen Fadenvorhang, der sich öffnen lässt und Blicke freigibt in eine andere Welt (worin unter anderem Blutbuchen stehen).
Der immer wieder als Leinwand für die Videos dient, die hinter dem Vorhang entstehen. Deren Nahaufnahmen prägen das Bild und sorgen dafür, dass man den Figuren tatsächlich nahekommt. Das klingt zugegebenermaßen banal, ist aber ungeheuer wirkungsvoll. Da ist der kleine Kim, der sich in der Welt der Großmutter mit all ihren Regeln, ihrer Duldsamkeit, mit ihren Tabus, den blinden Flecken der Familiengeschichte ebenso unwohl fühlt wie in seinem Körper. Die Bilder sind oft statisch, aber sie brennen sich ein: die Großmutter, die wegen beginnender Demenz in ein Heim ziehen muss und
Da ist die Mutter, das Bindeglied dreier Generationen, die sich entfremdet haben und doch im Grunde abgrundtief lieben. Grandios das Farbkonzept mit vielen grellen Tönen, darunter immer wieder dem Blutrot der Buche. Ebenso die Blutbuche selbst, thematisch und bildlich ein Zentrum der Inszenierung: ein Baum-Mensch, der die Grenzen zwischen Fantasie und Wirklichkeit verschwimmen lässt. Nicht zuletzt der Soundtrack, der nicht nur, aber über lange Strecken Kavinskys „Nightcall“ variiert, den Song aus dem Film „Drive“, den Kim de l’Horizon bei der Verleihung des Deutschen Buchpreises anstimmte. All das greift perfekt ineinander und sorgt dafür, dass ideologische Fragen um die Figur Kim – oder die Frage, wie viel Kim de l’Horizon in dieser Figur steckt –, keine Rolle spielen.
ÜBER GOETHE DARF
GELACHT WERDEN
Dieser Figur zu folgen, ist eine emotionale Achterbahnfahrt: zutiefst berührend, wenn es um die Hassliebe zur Mutter und zur Großmutter geht. Mit ziemlich expliziten Loopings, wenn Kims sexuelle Erlebnisse beschrieben werden. Sogar ein paar fröhliche Abfahrten sind eingebaut, wenn Kim mit der alten Welt und deren Werten und Sprache abrechnet. Über Goethe darf gelacht werden, während bei Heinrich Wiepking (den Kim bei Recherchen über Blutbuchen entdeckt) das Lachen im Halse stecken bleibt. Der Mann war bei den Nazis „Reichskommissar für die Festigung des Deutschen Volkstums“ und wurde nach dem Krieg unter anderem mit der
BLUTBUCH
von Kim de l’Horizon in einer Fassung von Jan Friedrich, Theater Magdeburg
Regie & Kostüme Jan Friedrich Bühne Alexandre Corazzola Video Nico Parisius Musik Friedrich Byusa Blam
Dramaturgie Katrin Enders Besetzung Iris Albrecht, Anton Andreew, Julia Buchmann, Marcel Jacqueline Gisdol, Oktay Önder, Michael Ruchter, Carmen Steinert
landschaftlichen Gestaltung des ehemaligen Konzentrationslagers Bergen-Belsen beauftragt und mit dem Bundesverdienstkreuz geehrt. Traurige Pointen treffen auf provokante Thesen, Politisches auf Privates. Sogar Selbstironie hat Platz in diesem Theatererlebnis: wenn Kim sich eingesteht, mit Wissen und Bildung letztlich ebenso zu protzen, wie es andere mit dicken Autos oder Muckis tun.
„Das steckt alles bereits in diesem klugen, mutigen Text drin“, sagt Friedrich, „der ist ein Befreiungsschlag auf so vielen Ebenen, der schafft Empathie für Dinge, die viele vielleicht zunächst befremden. Kim bricht mit Tabus der intellektuellen Welt, bekennt sich zu aggressivem Sex, zur SexApp Grindr, die wirklich jeder hat, die aber öffentlich kaum erwähnt wird.“
IN ALLE RICHTUNGEN
EMPATHISCH BLEIBEN Nichts davon wirkt aufgesetzt, sogar eine explizite Szene aus einem Schwulen-Porno geht darin auf, ohne wie eine Provokation zu wirken. All das, sogar das Thesenhafte mancher Textpassagen, passt bruchlos in die Welt, zu der die Bühne für zwei Stunden wird. Die es schafft, alles andere für diese Zeit auszublenden. Ein Abend voller Glücksmomente. Zu denen auch zählt, dass Schauspielerin Julia Buchmann Schwyzerdütsch spricht und am Ende nacheinander jeder einzeln einen Absatz des englischen Schlusstextes. Dass ein noch so junger Roman, und ausgerechnet auch noch dieser, zu einem so fulminanten Theatererlebnis wird – wie gesagt: So etwas geschieht nicht oft. Als Regisseur kann Jan Friedrich offenbar nicht nur Klassiker „ästhetisch gut machen“.
Seine nächste Magdeburger Arbeit ist bereits in Vorbereitung: „Onkel Werner“, eine TschechowÜberschreibung des Autors Jan Friedrich. Bleibt er jetzt in der Gegenwart? „Manchmal ist es nicht leicht, aber ich möchte versuchen, in alle Richtungen empathisch zu bleiben und alle mir fremden Ansichten erst mal zu verstehen. Hinter jedem Lebensentwurf steckt eine Biografie, und wenn wir etwa auf die Coronazeit zurückschauen, müssen wir auch die Schreckerfahrungen reflektieren, die wir gemacht haben, beispielsweise im Umgang mit Impfgegnern. Bei ‚Blutbuch‘ erleben wir, dass das Thema eben nicht nur bei ‚Betroffenen‘ ankommt, sondern dass die Leute davon berührt sind, dass sie nach der Inszenierung im Theater bleiben und miteinander reden.“
Das Theater als gemeinsamer öffentlicher Debattenraum: wie wunderbar!
MATTHIAS SCHMIDT geboren 1965 an der Ostsee. Autor und Regisseur. Kritiker aus Leidenschaft und als solcher regelmäßig im Lande unterwegs für „nachtkritik.de“, MDR Kultur sowie verschiedene Tageszeitungen. Zahlreiche Dokumentationen für ARD, ZDF, arte, 3Sat, WDR und MDR. AdolfGrimme-Preis 2004 für „Die Bühnenrepublik. Theater in der DDR“(gemeinsam mit Thomas Irmer, ZDF/3Sat).
Aktuelle Produktionen: „Tolkien und die wahren Kriege der Ringe“ (arte/ ZDF, 90 min, 2024), „Unter Deutschen. Zwangsarbeit im Dritten Reich“ (arte, ORF, C ˇ eská Televize, MDR, 3 mal 52 min, 2023) und „Lukas Rietzschel. Der Grenzgänger“ (MDR, 45 min, 2023).
FOTO: PRIVAT
42 43
©
BLUTBUCH
FOTO:
KERSTIN SCHOMBURG
ELEMENTARDRAMA OHNE BEIPACKZETTEL
Am Anfang läuft der Fernseher. Davor: eine Frau und ein Mann, vermutlich ein Ehepaar. Die Frau legt Kleidungsstücke zusammen. Sie kommt dabei nur langsam voran. Innig betrachtet sie jedes Teil, bevor sie es faltet und neben sich auf dem Tisch platziert. Einmal vergräbt sie ihr Gesicht in einem Pullover, eine gefühlte Ewigkeit lang. Der Mann – auf der anderen Seite des Tisches –sitzt einfach nur da. Wie erstarrt verfolgt er das Geschehen im Röhrenfernseher: regungslos, stoisch.
Bei alledem fällt kein einziges Wort. Und so wird es bleiben an diesem Abend, den der Regisseur und Schauspieler Mario Banushi am Griechischen Nationaltheater in Athen inszeniert hat. Die elegische Musik, mit der Emmanouel Rovithis das Geschehen unterlegt, ist – neben den punktuellen Fernsehgeräuschen – das Einzige, was das Publikum zu hören bekommt.
Wir beobachten hier eine stille kleine Gemeinschaft, offenbar eine Familie, bei der Trauerarbeit; siebzig intensive Minuten lang. Der Mensch, um den getrauert wird, ist dabei höchst anwesend.
Nicht nur – wie man sich das gemeinhin vorstellt – im übertragenen Sinn, also ideell, in den vom Verlust gezeichneten Gesichtern und Handlungen der Hinterbliebenen, sondern tatsächlich konkret physisch. Kurz nach der Eingangsszene wird in dem Wohnzimmer, in dem der Abend spielt, eine Kommode in die Bühnenmitte geschoben und aufgeklappt. Zum Vorschein kommt ein Totenbett. Darauf: eine Frau, nackt, ungepanzert, elementar – und deutlich zu jung fürs Sterben. Weitere Trauernde treten ins Zimmer, umarmen einander an ihrem Bett. Einer hält, in sich versunken, Totenwache neben der Verstorbenen, eine stimmt ein Lied für sie an.
OHNE INTERPRETATORISCHEN
BEIPACKZETTEL
Tod und Trauer sind ja durchaus keine seltenen Themen auf Theaterbühnen. Aber so, wie Mario Banushi sich dem Sujet in seinem Abend „Goodbye, Lindita“ nähert, hat man es tatsächlich noch nie gesehen. Der Regisseur, der selbst in der Aufführung mitwirkt, ist nicht an Erklärungen
und Einordnungen, geschweige denn an Beurteilungen des Geschehens interessiert. Er bewegt sich ästhetisch konsequent auf der Ebene der Phänomene – und entfaltet damit eine ungeheure künstlerische Kraft.
Mario Banushi bewertet es nicht, wenn der Mann, der anfangs erstarrt vorm Fernseher saß – mutmaßlich der Vater der Verstorbenen –, irgendwann einen Anruf am Handy entgegennimmt und dabei etwas tut, was jedes gängige Trauerregelwerk als oberstes No-Go bezeichnen würde: Er lacht. Und Mario Banushi liefert auch keinen DecodierungsBeipackzettel für so wunderbar interpretationsoffene Szenen wie diejenige, in der, ganz unvermittelt, eine junge schwarze Frau mit einem Reisigbündel das Zimmer betritt und sich vor dem goldenen Madonnenbild bekreuzigt, das den ganzen Abend über zentral an der hinteren Bühnenwand prangt –um es anschließend abzuhängen und in einer dahinter liegenden Ausbuchtung Platz zu nehmen, bis ein Mitglied der staunenden Trauergemeinde nach einer langen, andächtigen Weile schließlich zu
45
„Goodbye, Lindita“ von Mario Banushi, Griechisches Nationaltheater Athen
TEXT: CHRISTINE WAHL / FOTO: THEOFILOS TSIMAS
ihr tritt, sich ebenfalls bekreuzigt und das Madonnenbild mit ihrem stummen Einverständnis behutsam wieder aufhängt: Ein Vorgang, der am buchstäblich wunderbaren Ende des Abends noch einmal eine zentrale Rolle spielt – die hier natürlich nicht verraten werden soll.
„Für mich war von Anfang an klar, dass an dem Abend nicht gesprochen werden würde“, erklärt Mario Banushi im Zoom-Interview. Und das hängt nicht nur mit dem Thema und dem Fakt zusammen, dass seine eigene Art zu trauern „keine laute, sondern eine sehr intime“, eher körperlich-affektive als sprachlich vermittelte sei.
Sondern „Goodbye, Lindita“ ist Teil einer ganzen nonverbalen (Familien-)Trilogie über die elementaren Dinge des Lebens:
GOODBYE, LINDITA
Griechisches Nationaltheater Athen
Regie Mario Banushi
Konzept Mario Banushi
Bühne & Kostüm Sotiris Melanos
Musik Emmanouel Rovithis
Licht Tasos Palaioroutas
Dramaturgie Sophia Eftychiadou
Hausdramaturgie Aspasia-Maria Alexiou
Regieassistenz Afroditi Kapokaki, Theodora Patiti
er es, wenn die Zuschauerinnen und Zuschauer seine Arbeiten betrachten, als säßen sie im Kino oder blätterten durch ein Fotoalbum.
Es hat etwas zutiefst Kathartisches, den Akteurinnen und Akteuren auf der Bühne dabei zuzusehen, wie sie die Verstorbene gemeinsam waschen, wie sie ihr in diesem Moment noch einmal besonders nahe sind und wie sie sie anschließend in ein Totengewand kleiden, das wie eine ethnische Tracht ausschaut und in seiner offensiv lebensbejahenden Feierlichkeit eher Hochzeitskleidals Totenhemd-Assoziationen weckt. Die letzte Reise nicht als Ab-, sondern als Aufbruch, in eine wie auch immer geartete neue Daseinsform: So kann man das,
Festival für junge europäische Regie in Dresden, tourte zudem von Deutschland über die Niederlande bis nach Australien und gewann beim „Bitef“-Festival in Belgrad sowohl den Sonderpreis „Jovan Cirilov“ für herausragende Theaterkunst als auch den „Politika“-Preis der gleichnamigen serbischen Tageszeitung für die beste Regie.
JENSEITS DER PATHOSSCHWERE
Zu dem gleichermaßen emotional aufwühlenden wie in letzter Instanz zutiefst tröstlichen –indes, um Missverständnissen vorzubeugen, niemals pathetischen oder den Verlustgedanken in irgendeiner Weise übertünchen wollenden – Charakter von „Goodbye, Lindita“ passt es hervorragend, dass Marion Banushi viel Platz lässt für Surreales, mitunter sogar Humoristisches. Da schiebt sich durch ein Loch in einer Seitenwand zum Beispiel plötzlich ein Arm auf die Bühne, um behutsam nach dem Kopf einer der Trauernden zu greifen, ihm Halt zu geben und ihn in einer formvollendeten Choreografie zu streicheln.
Besetzung Mario Banushi, Babis Galiatsatos, Alexandra Hasani, Erifyli Kitzoglou, Katerina Kristo, Helene Habia Nzanga, Eftychia Stefanou, Chryssi Vidalaki
Das Vorgängerstück „Schwangerschaftsstreifen“ – eine Auseinandersetzung des Regisseurs mit seiner Mutter, einer Krankenschwester in der Gynäkologie – beschäftigt sich mit der Geburt, sprich: mit der Ankunft eines Menschen.
„Goodbye, Lindita“ thematisiert den Abschied, auch Bezug nehmend auf die verstorbene Stiefmutter des Regisseurs. Und im dritten Teil –„Taverne der Freundlichkeit“ – geht es ums Thema der anwesenden Abwesenheit, namentlich seines Vaters.
HOCHZEITSKLEID STATT
TOTENHEMD
Er sei grundsätzlich ein eher visueller Typ, sagt Mario Banushi: „Wenn ich meine Theaterabende konzipiere, schreibe ich meine Gedanken nicht auf, sondern ich zeichne sie.“ Selbst eher von der bildenden Kunst und vom Film beeinflusst als vom Theater, möge
ohne jeden Kitschverdacht, lesen. „Ich bin bis zum meinem sechsten Lebensjahr in Albanien aufgewachsen“, sagt Mario Banushi. Viele Momente und Details, die in „Goodbye, Lindita“ auftauchen, seien von dieser Kultur inspiriert – speziell von der Familie des Regisseurs und dem Dorf, in dem er lebte. Gleichwohl sei es ihm wichtig, dass alle Zuschauenden an der theatralen Trauerarbeit in „Goodbye, Lindita“ teilhaben können – ganz unabhängig davon, in welchem Land der Abend gespielt werde und wie wenig das Publikum mit den spezifischen Ritualen auf der Bühne kulturell vertraut sei, sagt der Regisseur. Wie überzeugend das gelingt, zeigt sich an den weltweiten Einladungen, die Mario Banushi für die Produktion bereits erhalten hat. Vor „Radikal jung“ gastierte sie schon auf anderen renommierten Festivals wie „Fast Forward“, dem
„Humor ist mir in der Arbeit sehr wichtig“, bestätigt der Regisseur. „Schließlich bin ich ein Mensch, der auch im Leben viel Spaß hat“ – in den Proben mit dem Team würde prinzipiell häufig gelacht. Im Falle von „Goodbye, Lindita“ sei das freilich eine Gratwanderung gewesen, räumt er ein: „Ich habe vieles, was wir während des Arbeitsprozesses in dieser Richtung ausprobiert haben, am Ende wieder gestrichen, damit nicht der komplette Abend in eine komödiantische Richtung kippt.“
Dieser Balanceakt ist perfekt geglückt – in geradezu exemplarischer Manier am dramatischen Höhepunkt des Abends, an dem scheinbar die Seele der Verstorbenen (oder wie immer man das nennen mag, was mit dem Tod eines Menschen unwiderruflich geht) das Haus verlässt und die Grenzen zwischen den Toten und Lebenden porös werden. So elementar und nackt wie die Verstorbene vor der rituellen Wasch- und Ankleidezeremonie sind nun plötzlich die Hinterbliebenen. Eine
sitzt in der Wanne, im Badewasser der Toten, eine zweite taucht aus dem Unterboden auf, eine dritte tanzt ausdauernd in ekstatischrhythmischen Zuckungen über die Bühne, immer wieder fallend und sich aufbäumend, ganz so, als wäre temporär etwas Jenseitiges in sie gefahren, etwas – ganz buchstäblich – von außerhalb dieser Welt. Wie es hier gelingt, jedweden Anflug von Pathos zu vermeiden, ohne gleichzeitig unernst zu werden – das hat tatsächlich Ausnahmecharakter.
IM BESTEN SINNE AUSGEFALLEN
Auf die Frage, wo er sich selbst ästhetisch verorte im griechischen Theater der Gegenwart – als wie außergewöhnlich seine Arbeit, die in einem hiesigen Kontext tatsächlich eine sehr eigene künstlerische Position markiert, dort wahrgenommen werde –, präsentiert sich Mario Banushi als zutiefst bescheidener Zeitgenosse: Das sei natürlich ein geradezu unmögliches Unterfangen für einen Künstler, sein eigenes Schaffen einzuordnen, gibt er zu Protokoll und lässt sich erst auf
hartnäckiges Nachhaken entlocken, dass sein Ansatz auch in der heimischen Theaterkultur im besten Sinne als ausgefallen gelte, als „experimentell“.
Mario Banushi kommt ursprünglich vom Schauspiel. Allerdings zog es ihn schon während der Ausbildung zusätzlich ins Regiefach. Mittlerweile hat er keine Zeit mehr, in anderen Produktionen aufzutreten; nur in seinen eigenen Regiearbeiten spielt er regelmäßig mit. Er habe schnell gemerkt, dass er – wenn er darüber hinaus nichts Weiteres tue – vom Grundprinzip des Schauspielens schnell ein wenig gelangweilt sei. Denn das bestehe ja nun einmal darin, die Dinge wieder und wieder zu reproduzieren, lacht er und schiebt, um Missverständnissen vorzubeugen, schnell nach, dass er es selbstredend hochgradig inspirierend und erfüllend finde, als Künstler auf der Bühne zu stehen. Aber er möge eigentlich alles am Theater. Das Licht, der Bühnenaufbau, die Technik –alles interessiere ihn, er wolle am liebsten überall involviert sein. Eine echte Win-Win-Situation,
denn Mario Banushis umfassende Neugier ist auch fürs Publikum ein echter Glücksfall!
CHRISTINE WAHL ist Theaterkritikerin und Mitglied des „Radikal jung“-Auswahlgremiums. Sie studierte Germanistik, Philosophie und Soziologie in Freiburg und Berlin und arbeitet seit 1995 als freie Autorin u. a. für den „Tagesspiegel“, „Theater heute“ und den „Spiegel“. Von 2020 bis 2021 war sie Redakteurin bei „Theater der Zeit“, seit 2022 ist sie Mitglied der Redaktion von „nachtkritik.de“. Als Jurorin war sie u. a. für das Berliner Theatertreffen, den Hauptstadtkulturfonds, den Kranichsteiner Literaturpreis, den Berliner Senat und das Festival „Impulse“ tätig und gehört aktuell dem Auswahlgremium der Mülheimer Theatertage „Stücke“ an. Sie ist Autorin und Herausgeberin des Buches „welt proben“ über das Regiekollektiv Rimini Protokoll (Alexander Verlag Berlin, 2021).
46 47
FOTO: PRIVAT GOODBYE, LINDITA FOTO: ©THEOFILOS TSIMAS
HIER STIRBT
NIEMAND AN DER LIEBE
„Pandora’s Heart“ von Anna Schill, Maret Zeino-Mahmalat und Friederike Brendler, SchwuZ Queer Club
Fotos: Privat
Knallrote Lippen in einer Videoprojektion. Ein großer, glänzender Mund, der die Zuschauer:innen durch die Story führt, berichtet von ihm: dem einen Moment. Wenn man nicht ganz genau weiß: Ist man nun ein bisschen verknallt, hat vielleicht den berühmten „Crush“ auf das Gegenüber oder – oder! – möchte man nur genauso sein wie die angeschmachtete Person? Wobei: Was heißt in dem Zusammenhang schon das Wörtchen „nur“ –schließlich gibt es ja kaum ein größeres Kompliment, als einem Menschen zu sagen: Ich will so sein wie du.
Da ist für Sandy, dieses „girl sweet as candy“ nur die Sache mit ihrer Identität. Mit ihr hat die Protagonistin in der wilden, Popverschmolzenen, queeren LiebesOdyssee „Pandora’s Heart“ eine große Backstory. Irgendwie dachten immer alle um Sandy herum – eine der großen Fallen der Girl-Existenz –, dass die schöne, tätowierte Blondine weiß, was sie will. Denn schließlich schien sie von Anfang an alles zu haben. Und so kam
niemand je auf die Idee nachzufragen, ob all das, was Sandy hat, wirklich das ist, was sie im Leben will. Was zur Folge hat, dass Sandy auf der wunderschön trashigen Theaterbühne (Bühnenbild: Rosanna Rotach) in malerischer Graphic-Novel-Wald-Ästhetik selbst erst sehr spät auf diese alles entscheidende Frage kommt. Aus sozialpsychologischer Sicht könnte man auch vom diabolischen SandyKreislauf sprechen.
Sandy, auf der Bühne von der Dragqueen „Uschi vom Späti“ verkörpert, verläuft sich also – mehr oder weniger bewusst – im Dickicht ihrer eigenen Identitätsbegehrlichkeiten. Oder auch, auf erster Ebene: im Wald. In diesem Wald begegnet das Girl im rosafarbenen Satinkleidchen mit weißer Tüllschleife im Haar einem Wesen, das so genau weiß, was es ist, dass es kaum auszuhalten ist: Pandora. Pandora ist im Wesenskern das große, mystischdiffundierende „Alles“: weder tot noch lebendig; über den irdischen Kategorien schwebend wie ein leuchtender, nichtbinärer Diamant.
Die Dunkelheit erlaubt Pandora, alles Mögliche gleichzeitig zu sein. Vor allem, und auch das soll ein Schicksalsverhängnis für die gute Sandy werden: ziemlich sexy.
MYTHEN-MASH-UP UND MAINSTREAM-KULTUR
„Wir wollten eine queere Liebesgeschichte erzählen, die als solche ganz selbstverständlich passiert“, sagt Maret Zeino-Mahmalat. Im Kollektiv mit Anna Schill und Friederike Brendler hat Maret Zeino-Mahmalat Regie bei „Pandora’s Heart“ geführt. Zu dritt erdachten sie auch das Konzept der Performance. Vierzehn Menschen waren an der Arbeit beteiligt, alle studierten während des Produktionszeitraums zusammen in Gießen am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft. Maret ZeinoMahmalat und Friederike Brendler haben jüngst ihre Bachelor-Arbeit abgegeben, Anna Schill wird sie demnächst schreiben. Maret Zeino-Mahmalat ist 21, Friederike Brendler 24 und Anna Schill 25 Jahre alt. „Radikal jung“ seien sie, sagt Maret Zeino-Mahmalat
PANDORA’S HEART
MARET ZEINO-MAHMALAT
48
TEXT: STEPHANIE DREES
FOTO: © DSHAMILJA LIESS
ANNA SCHILL FRIEDERIKE BRENDLER
und lacht. „Pandora’s Heart“ haben sie gänzlich frei entwickelt. Die Lust, gemeinsam eine Produktion auf die Beine zu stellen, war dabei die Initialzündung.
Das Institut in Gießen hat ein Theaterlabor, dort kam „Pandora’s Heart“ im Mai 2023 zur Premiere. Im Theaterlabor konnte das künstlerische Team die Probebühne nutzen und bekam technischen Support. Die Performance ist neben dem Studium in der Freizeit der Beteiligten entstanden. „Das Studium in Gießen bietet einem ein besonderes Netzwerk“, sagt Friederike Brendler im Interview, während sie mit den Kolleg:innen auf der Probebühne des Theaterlabors sitzt. Es stehen gerade Wiederaufnahmeproben für die Produktion an. „Wenn man eine Idee hat, findet man hier Menschen, mit denen man sie umsetzen kann.“ Die praktischen Fähigkeiten, um (freie) Theaterarbeit zu machen, erwirbt man in Gießen bei Projekten wie diesen – mit möglichst viel Eigeninitiative im künstlerischen Bereich.
„Pandora’s Heart“ ist ein queeres Lip-sync-Musical. Die „sprechenden“ Figuren Sandy (aka Dragqueen Uschi vom Späti) und der Counterpart Pandora, verkörpert von Maret Zeino-Mahmalat, werden synchronisiert vom Regieteam. Und dann sind da natürlich die Songs, die eine riesige Rolle spielen: Pop- und Musicalnummern über Herzschmerz und Selbstbehauptung, Verführung, Leid und das Gefühl, wenn einem der Atem wegbleibt.
Die Bandbreite der Künstler:innen, von der die eingespielten Songs kommen, reicht von Britney Spears über die nichtbinäre und bereits verstorbene Sophie; von Olivia Newton-John bis hin zur Dragqueen Violet Chachki – um nur einige zu nennen. Es ist ein wilder, musikalischer Ritt durch Pop- und Queerkultur, ein MythenMash-up und ein Spiel mit den Regeln der dramatischen Erzählung. Vor allem ist der Abend eine Hommage an das Musical –dessen Einflusskraft auf das, was sich vielleicht am ehesten mit dem Begriff „Mainstream-Kultur“ zusammenfassen lässt, immer noch zu wenig Beachtung bekommt.
DIE SACHE MIT DER BÜCHSE Gefeiert wird hier aber auch seine Kraft, die Mainstream-Kultur in etwas einzigartig Queeres umzuwandeln. „Wir hatten Lust, uns mit dieser etwas ‚insanen‘ Geschichte auseinanderzusetzen“, sagt Anna Schill und lacht. Pandora hat in der Performance mit der sagenumwobenen Gestalt aus dem griechischen Ursprungsmythos wenig zu tun. Wir erinnern uns: Da war die Sache mit der Büchse. Der erste Mythos dreht sich um eine Frau, die wie die biblische Eva eine Art Vertreibung aus dem Paradies verschuldet. Es breiten sich nach der Öffnung des verhängnisvollen Gefäßes Übel auf Erden aus: die Entstehung der menschlichen Kultur. Pandora ist mächtig, keine Frage. Doch konträr zu der ihr zugeschriebenen Macht tritt sie in der mythischen
Überlieferung vorrangig als Instrument männlicher Kämpfe um Hegemonie auf: Sie ist ein Werkzeug der Götter, die ihre Vormachtstellung bedroht sehen, und wird vom göttlichen Schmied Hephaistos auf Befehl des Zeus erschaffen, der damit den Feuerraub des Prometheus rächen will. Die Frau kann in dieser Geschichte die Büchse nicht lange zuhalten – und alles geht den Bach runter. Einzig die Hoffnung bleibt unterm Rand des Gefäßes hängen.
„Eine Geschichte, die den mythologischen Ursprung der Misogynie mitbegründet“, sagt Anna Schill. Von Anna Schill stammt auch der Text zur Produktion. Der griechische Ursprungsmythos sei schlussendlich aber für die Entstehung von „Pandora’s Heart“ von untergeordneter Wichtigkeit gewesen. Was die Künstler:innen mehr interessierte, war, die Geschichte – von der es zig Varianten gibt – zu dekonstruieren. Sie haben für „Pandora’s Heart“ eine neue geschrieben. In ihr wird die Figur Pandora – wie der Counterpart Sandy – zu einem personifizierten Vexierspiel mit Zuschreibungen und (Geschlechter-)Stereotypen.
„Wir haben uns viel mit der Idee des Monströsen beschäftigt“, erzählt das Regieteam. Auch in diesem Referenzraum bewegt sich die Inszenierung. Sie zeigt eine „Kreatur“ – und wie sich in ihr Vorstellungen von Gut und Böse wiederfinden. Pandora ist ein Wesen, das zwar auch mit Kräften vielerlei Art ausgestattet ist. „Aber es hat eben auch einen starken Familienbezug“, sagt Anna Schill und lacht.
In „Pandora’s Heart“ öffnen diese Familienmitglieder den Deckel zu einer großen, viereckigen Büchse. Es ist ein Schlund, der in Pandoras (Unter-) Welt führt. Aus diesem Gefäß, das nach und nach abgebaut wird, kriecht die sagenhafte Kreatur. Weiße Rüschen und schillernder Stoff umspielen den Körper (Kostümbild: Miriam Sand Kutzleben), an manchen Stellen sieht der Fummel aus wie die Überbleibsel eines Hochzeitskleides, das kurzerhand zu einem körperbetonten Einteiler umfunktioniert wurde. Im Gesicht eine Farbmaske, die sowohl an Natalie Portman in „Black Swan“
PANDORA‘S HEART
A lip-sync-musical in which no one dies from love, SchwuZ Queer Club
Regie Anna Schill, Maret Zeino-Mahmalat , Friederike Brendler
Text Anna Schill
Choreografie Lillian Joachim Sounddesign Marie Engert
Bühnenbild Rosanna Rotach
Kostümbild Miriam Sand Kutzleben
Licht- und Videodesign Ariana Battaglia, Ruth Süpple
Scheinwerferlicht Elisabeth Dimigen, Rosanna Rotach
Besetzung Uschi vom Späti, Maret Zeino-Mahmalat
Alexandra Reis, Anik Todtenhaupt, Lillian Joachim
Miss Milli Klit, Anna Schill
erinnert als auch an die StageBemalung der Rockband „Kiss“: ein dunkel-funkelndes Schwanenwesen, das in der Inszenierung umtanzt und umrundet wird von anderen, bunten Wesen aus der Schattenwelt.
GEKONNTES SPIEL
MIT PATHOS-MOMENTEN
Die „Wesen“ aus Pandoras Welt sind koboldhafte Gestalten zwischen Waldbewohner:innen und Pandora-Cheerleader:innen (Alexandra Reis, Anik Todtenhaupt, Lillian Joachim und Miss Milli Klit). Manchmal bilden sie mit ihren Körpern für Pandora einen Thron, manchmal werden sie zu einem sich schlangenhaft vorwärts bewegenden Organismus. Gelegentlich liegen sie übereinander und wiegen synchron die Köpfe wie Sidekicks in einem Disney-Musical. Die Choreografien stammen von Lillian Joachim. Lillian Joachim verkörpert auch eines der Wesen. Es sei dem Regieteam auch darum gegangen, fluide zu arbeiten und zu zeigen, wie Körper veränderbar sind, wie sie erweitert und verlängert werden können, berichten die drei Künstler:innen.
„Auch erzählerisch sind wir stark von der Form ausgegangen“, sagt Friederike Brendler. „Pandora’s Heart“ ist ebenso ein Musical, das – ganz in der Tradition des Drag – mit den erzählerischen Konventionen des eigenen Genres spielt. So wird an einem bestimmten Punkt zurückgespult und ein zweites, alternatives Ende gefunden. Es lauern auch bei einer queeren Lip-sync-Lovestory die Gefahren des kapitalistischen
Reality-Show, in der Dragqueens gegeneinander antreten. Das passt gut, geht es in „Pandora’s Heart“ doch in gewisser Weise um ein Battle der Queens.
Tatsächlich ermöglichen die Lip-sync-Momente des Abends eine eigene Form der Einfühlung. Figuren, deren Körper mit geliehener Stimme sprechen, lassen sich wunderbar überzeichnen – und auch in „Pandora’s Heart“ gelingt das als humoristisches, oft filmisch anmutendes Element gut. Aber es geht um mehr als Komödie.
Systems: Der Blick auf die schier unendliche Macht kann korrumpieren. Glücklicherweise haben Pandora und Sandy noch eine zweite Chance, denn wie die schwedische Sängerin Tove Lo singt: „No One Dies From Love“ (Sounddesign: Marie Engert).
Seitenweise Links zu inspirierenden Artefakten hat das Team gesammelt. Eindrücke aus Filmen wie Tim Burtons „Corpse Bride“, „La La Land“ oder „Flashdance“ flossen in die Ästhetik ein. Die Videoprojektionen des knallroten Mundes, der durch die Story führt – hier mit goldenen Grills über den Zähnen – verweist direkt zu Anfang auf die „Rocky Horror Picture Show“. In einer Weiterentwicklung der Performance werden die Lippen durch Anna Schill verkörpert: Als Showmasterin hält sie eine Tafel für die Projektionen der Lips hoch (Licht- und Videodesign: Ariana Battaglia und Ruth Süpple). Auch die Tour der Sängerin und Songwriterin Rosalía war Inspirationsquelle für die Inszenierung. „Und natürlich das Musical ‚Grease‘!“, erzählt das Team. Die Performance spielt gekonnt mit diesen Details und Verweisen – und mit den PathosMomenten, die Lip sync zwischen großem Kitsch und humoristischer Verfremdung evozieren kann.
BATTLE DER QUEENS
Die Idee der Lippensynchronisation als Format für dramatische DragMomente ist auch das Herzstück eines jeden „Lip sync for Your Life“-Showdowns in allen Episoden von „RuPaul’s Drag Race“ – der legendären US-amerikanischen
Manchmal ergibt sich auch eine besondere Art des GefühlsRemixes. Lip-sync-Künstler:innen finden dann eigene Wahrheiten und drücken sie in den Songs aus. Man könnte sagen: Gute Lipsync-Künstler:innen mischen die Emotionen eines Liedes neu.
Und so bietet die Inszenierung nicht nur erzählerisch, sondern auch mit ihren musikalischen Mitteln den Rahmen für diverse (Teilzeit-)Metamorphosen ihrer Figuren. „Wir wollen die Affekte des Publikums adressieren“, sagt Maret Zeino-Mahmalat. Die Zuschauer:innen dürfen körperlich mitgehen. So bricht die Performance auch mit der Theaterkonvention des Stillsitzens im Zuschauer:innenraum. Es soll und darf während der Show laut werden. Nicht zuletzt deswegen waren Geschichten aus der Unterhaltungskultur eine so wichtige Inspirationsquelle für das Team.
„Always remember: you are allowed clap, sleep, gasp, laugh, shout, sing, cry or even yawn during the show“, ermutigen die erzählenden Lips direkt zu Anfang. Was für eine Einladung.
STEPHANIE DREES geboren 1982 in Münster, Westfalen, ist (Kultur-) Journalistin. Sie hat in Hildesheim „Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus“ studiert und ist Diplom-Kulturwissenschaftlerin. Von Berlin aus arbeitet sie für verschiedene Print- und Onlinemedien mit den Themenschwerpunkten Theater, Literatur, freie Szene(n), politische Kultur und Leben in Brandenburg.
FOTO: GEORG KIEFHABER
50 51
FOTO: © DSHAMILJA
PANDORA’S HEART
LIESS
DEN STATUS QUO BELEIDIGEN
„Up Your Ass“ von Nona Demey Gallagher und Lieselot Siddiki in der Regie von Nona Demey Gallagher, detheatermaker
Es ist beeindruckend: Wenn man Valerie Solanas’ Stück „Up Your Ass“ (auf Deutsch: „In deinen Arsch“) von 1965 liest, springt einem sofort die Atmosphäre der New Yorker Sechzigerjahre entgegen: exzentrische Straßenheld*innen, eine pulsierende Kunstszene und das letzte Aufbäumen der sexuellen Revolution mit ihrer Gegenkultur. Der Text, der sich mit Themen wie Queerness, Gender und Ungleichheit beschäftigt, ist heute noch genauso aktuell wie damals.
Die Inszenierung von Lieselot Siddiki und Nona Demey Gallagher begibt sich tief in dieses Gefühl der Heutigkeit hinein und betont außerdem die Wichtigkeit des Humors im Umgang mit diesen Themen. Es lohnt sich zunächst, diese drei unerschütterlichen Frauen – Solanas, Siddiki und Demey Gallagher – sowie den ebenso kämpferischen Text näher zu betrachten, bevor wir uns ein paar Gedanken über die Inszenierung selbst machen.
Lieselot Siddiki und Nona Demey Gallagher lernten sich während ihres Studiums an der KASK – School of Arts in Gent in Belgien kennen und teilen eine große Leidenschaft für Musik und Theater. „Up Your Ass“ ist ihr selbsterklärtes „Baby“ – und für
beide Künstler*innen ein derart besonderes Projekt, dass sie bewusst so nah wie möglich am Originaltext geblieben sind. Sie wollten, wie sie selbst sagen, eine Ode an das Stück schaffen.
Lieselot Siddiki ist eine multidisziplinäre Künstlerin. Sie studierte Mode, Design und Schauspiel an der KASK und entwickelte im Rahmen ihrer Ausbildung zusammen mit Jarne Van Loon das Stück „Night Swimming“, eine ausgelassene, überdrehte Party-Performance mit dreizehn Darsteller*innen. Darin entluden sich alle Sehnsüchte, die sich während des Corona-Lockdowns aufgestaut hatten. Gleichzeitig machte sich die Produktion die unbändige Energie des queeren Nachtlebens zunutze. Weit über die Schauspielschule hinaus erfolgreich, tourte „Night Swimming“ bis nach Italien.
Lieselot Siddiki ist außerdem Mitglied zweier in Gent ansässiger Kollektive: Camping Sunset und Zuidpark.
Nona Demey Gallagher schloss 2019 ihr Studium an der KASK ab. Wie Lieselot Siddiki ist auch sie Mitglied bei Zuidpark und gründete außerdem zusammen mit Mats Vandroogenbroeck und Timo Sterckx das Theaterkollektiv KRAPP. Ihr neuestes Stück, „The Devils“, ist eine feministische
Annäherung an den Prozess von Loudun, der 1632 in Frankreich stattfand und in dem mehrere Nonnen behaupteten, sie stünden unter dem Bann eines vom Teufel besessenen Priesters. Zusammen mit Imke Mol schuf Nona Demey Gallagher außerdem „E R O T I C A“, ein Stück in Gebärdensprache, unter anderen mit Gedichten von Anaïs Nin.
„DAS IST MEINE DIENSTMARKE“ Valerie Solanas (1936–1988) schließlich war eine radikale Feministin, die 1968 durch ihren Mordversuch an Andy Warhol bekannt wurde. Warhol hatte versprochen, ihr Stück „Up Your Ass“ zu inszenieren, aber die Produktion kam nie zustande, da er behauptete, das Manuskript verloren zu haben, was letztendlich zu Solanas’ gewalttätigem Ausflug in die „Factory“ führte.
Solanas’ Leben war alles andere als rosig. Inzest, eine Schwangerschaft im Teenageralter, Prostitution und eine zerrüttete Familie hinterließen ihre Spuren – auch in ihrem Werk. Sie wurde eine anarchistische und antikapitalistische Feministin. In den späten 1950er-Jahren begann sie, an ihrem Buch „S.C.U.M. Manifesto“ zu arbeiten, in dem sie dafür plädiert, „die Regierung
53
TEXT: KRISTOF VAN BAARLE / FOTO: HELENA VERHEY
zu stürzen, das Geldsystem abzuschaffen, die umfassende Automation einzuführen und das männliche Geschlecht zu vernichten“.
Es ist anzunehmen, dass Solanas hochintelligent war und einen genialen Sinn für Humor besaß, dieser aber – genau wie ihre Klugheit – damals nicht erkannt oder als zu herb empfunden wurde. Immer wieder lebte und arbeitete sie auf der Straße, während sie versuchte, ihre Werke zu verbreiten
und in konventionellere Räume zu bringen (ja, Solanas’ Radikalität ließ selbst Warhols „Factory“ konventionell aussehen). Als sie in den 1960er-Jahren nach New York zog, machte die TransgenderSchauspielerin Candy Darling sie mit Andy Warhol bekannt. Solanas gab ihm „Up Your Ass“ zu lesen, aber Gerüchten zufolge hielt er das Stück für so obszön, dass er ihr unterstellte, sie sei eine CIA-Agentin, die ihn in eine Falle locken wolle. „Klar bin ich ein
Cop“, antwortete sie, zog die Hose runter und entblößte sich: „Und das ist meine Dienstmarke.“
Warhol versprach, das Stück zu inszenieren, stoppte die Produktion aber später mit der Begründung, er habe ihren Text verloren. Als ihr Verleger dann die Rechte an ihrem Buch „S.C.U.M. Manifesto“ kaufte, wurde Solanas paranoid und beschuldigte beide Männer, ihre Ideen zu stehlen. Wütend stürmte sie in die „Factory“, wo sie auf Warhol schoss und sich anschließend der Polizei stellte. Nach einem dreijährigen Aufenthalt im Gefängnis und einer psychiatrischen Anstalt arbeitete sie als Redakteurin und schrieb an einem weiteren Buch, bis sie schließlich mittellos in Phoenix und später dann in San Francisco landete.
WIE EIN KINNHAKEN
zeugen der Kritik an der Kommodifizierung des weiblichen Körpers.
Nichts ist heilig – in diesem rasanten, vulgären Text wird alles zur Blasphemie. Schon beim Lesen fühlt man den Puls und die Energie all dessen, was man später auf der Bühne sehen wird: ein Kinnhaken, der schneller kommt, als man ihm ausweichen kann. Den Charakteren ist alles egal. Ihr geringer Selbstwert und das allgegenwärtige Gefühl, von der Gesellschaft zurückgelassen zu werden, machen sie gefährlich, denn sie haben nichts mehr zu verlieren.
Regie Nona Demey Gallagher
Szenografie Lieselot Siddiki, Eva Demulder
Text Valerie Solanas
Textadaption Nona Demey Gallagher
Übersetzung Benjamin De Roover
Musik Bart Demey, Tania Gallagher (Nid & Sancy)
Jailbait Nona Demey Gallagher, Lieselot Siddiki
Technik Kato Stevens, Margy Regniers, Geeraard Respeel, Tim Thielemans
Beleuchtung Kato Stevens
Bühnenbild Margy Regniers
Kostüme Lieselot Siddiki
Praktikum Kostüme Feiran Zhang
Outside Eye Rodrigo Batista
Perücken Tibau Beirnaert
Besetzung Sophia Bauer, Bavo Buys, Lucie Plasschaert, Lucas van der Vegt
Ironischerweise verhalf ihr das Attentat auf Warhol zu so großer Bekanntheit, dass ihr „S.C.U.M. Manifesto“ offiziell veröffentlicht wurde (von einem der Männer, die sie beschuldigt hatte, ihre Ideen zu stehlen). Das Werk sorgte sowohl in radikalen als auch in moderaten feministischen Gruppen für reichlich Diskussionsstoff. Trotzdem blieb Solanas weiterhin eine Außenseiterin. Als „Up Your Ass“ 2000 in San Francisco zum ersten Mal aufgeführt wurde, löste es in der LGBTQ-Szene große Aufregung aus, und selbst in der freizügigeren Drag- und VogueSzene waren die Meinungen geteilt. Was also ist so furchterregend an „Up Your Ass“, dass selbst Andy Warhol sich nicht traute, das Stück zu inszenieren und es mehr als 30 Jahre dauerte, bis es in den USA aufgeführt wurde (ganz zu schweigen von Europa, wo es erst 2023 auf die Bühne kam)?
Der Text wendet sich ganz offensichtlich und sehr vehement gegen die Werte und Verhaltensweisen des Patriarchats, aber auch gegen die Frauen, die Teil dieses männerorientierten Systems sind.
Ebenso wird in „Up Your Ass“ –wie auch im „S.C.U.M. Manifesto“ –der Kapitalismus als eine Krankheit dargestellt, die auszumerzen ist. Die Rolle der Frau wird also mit wirtschaftlicher Unterdrückung gleichgesetzt, Diebstahl und Prostitution mutieren zu Werk-
Gleichzeitig ist der Text hoch theatralisch, eine Art Pop-ArtDrama, das versucht, die Vulgarität des Alltags in die dramaturgische Struktur eines bürgerlichen Theaterstücks zu gießen. Dieser Widerspruch macht die Inszenierung zu einer Herausforderung: Den Text mit Parodie und Lächerlichkeit freizulegen wäre verlockend, würde aber die sozialkritische Komponente des Stücks völlig vernachlässigen und seine Ambiguität ungerechterweise zu sehr vereinfachen.
SPRACHE OHNE VORSICHT
Das Werk präsentiert die Archetypen des Straßenlebens, allerdings ohne den Wunsch, diese zu besseren Bürger*innen zu machen. Was bleibt, ist eine Eskalation der Charaktere, eine Reise zu einer überzüchteten, radikalen Feministin, die die Mittelklasse, ob Frau oder Mann, in den Abgrund reißen will. Im Stück sind sich die Charaktere ihres Umfelds sehr bewusst: Die Straße wird zur gefährlichen Bühne, auf der man nur mit kompromissloser Aggressivität überlebt. Sie wissen zu jeder Zeit, dass sie sich auf eben jener Bühne befinden und nichts mehr sind als kleine Häufchen Mensch mit Sextrieben und hin und wieder einer cleveren Idee. Verglichen mit „Up Your Ass“ ist der aktuelle „Barbie“-Film nicht mehr als ein extralanger, geschlechtskonformer Werbeclip (was er ja irgendwie eh ist …).
In der heutigen Zeit, in der Queerness zu einer Art ästhetischem Alibi-Symbol progressiver (Kunst-)Politik geworden ist, schafft es Solanas’ schlauer, exzentrischer, „echter“ Aktivismus, unsere Vorstellungskraft neu
herauszufordern. „Up Your Ass“ erinnert uns daran, dass sich hinter dem Konflikt eine reale Härte verbirgt – gepaart mit einer Attitüde, die auch Humor zulässt. Für eine Generation von Millennials (mich eingeschlossen) und Gen Z, die versucht, Geschlechterrollen und -identitäten neu zu definieren, kann Solanas’ Text eine inspirierende und aufrüttelnde Quelle sein: ihre Brutalität und Bauernschläue, ihre Bereitwilligkeit, Sprache jeglicher Vorsicht zu berauben, ihr Bestreben, sich in keiner Weise selbst zu zensieren, egal wie komplex die Themen sein mögen. Solanas’ Humor und ihre eigenen gelebten Erfahrungen, die die Komik des Stücks in einer rauen Realität verankern, sind dabei der Schlüssel zum Erfolg. Anstatt beleidigt zu sein, beleidigt sie den Status quo.
Die Ära und die künstlerische Szene, in der Solanas sich bewegte, war geprägt von Figuren wie Valie Export, die mit ihrer Performance „Action Pants: Genital Panic“ 1968 für Aufsehen sorgte: Auf einem Barhocker sitzend, entblößte sie ihre Vagina, in ihren Händen eine Maschinenpistole. Vier Jahre zuvor war Carolee Schneemanns „Meat Joy“ entstanden (erst kürzlich die Inspiration für Michiel Vandeveldes „Joy 2022“ an den Münchner Kammerspielen), in dem nackte Körper in einem transgressiven Akt der sexuellen Freiheit und des Anti-Kriegs-Protests übereinander krabbelten.
DEM SYSTEM INS GESICHT LACHEN
Humor, Radikalität und der Ansatz, Sex- und Genderpolitik im Zusammenhang breiter systemischer Strukturen – sprich: Kapitalismus und Imperialismus – zu betrachten: Das sind die Punkte, die Siddiki und Demey Gallagher nun mit ihrer Inszenierung wieder aufgreifen. Sie arbeiten mit vier Schauspieler*innen (oder besser Performer*innen, da sie auf der Bühne reale Situationen schaffen und nicht nur schauspielern). Sie alle besitzen ein Talent für Komik und Trash – und vor allem: sexuelle Gier. Die Darsteller*innen Lucas van der Vegt, Lucia Plasschaert, Sophia Bauer und Bavo Buys haben sich ebenfalls im Rahmen des KASK-Schauspielprogramms
kennengelernt und bevorzugen Performances, die von einer starken Körperlichkeit geprägt sind. Diese Nähe zum Körper verträgt sich gut mit Solanas’ Rauheit, sie „verkörpert“ sozusagen ihre Radikalität und ihre offenkundige
Begierde: Man muss den Körper, mit dem man in den Kampf zieht, lieben, um ihn als Waffe einsetzen zu können.
Charaktere wie die Hauptfigur des Stücks – die unabhängige, intelligente, selbstbewusste Sexarbeiterin Bongi Perez – verlangen nach einer kühnen und kompromisslosen schauspielerischen Interpretation. Anstatt sie zu parodieren und dadurch abzuschwächen, muss man sie mit Drastik aufladen. „Up Your Ass“ erfordert auch heute noch echte, ungefilterte Rauheit. Hier ist kein Platz für Angst oder Kompromisse. Und um Solanas treu zu bleiben, kann die Konfrontation nicht von einer überlegenen Machtposition aus erfolgen, sondern funktioniert nur – im wahrsten Sinne – „bottom up“, also von unten nach oben. Wenn eine der Figuren im Stück in aller Aufrichtigkeit den Bürgersteig nach einem Scheißhaufen absucht, kann das nur überzeugend gespielt werden, wenn man (so tut, als ob man) Scheiße wirklich liebt. Sich 2024 „in den Arsch“ ficken zu lassen, heißt, das System, das eben dies tut, zu akzeptieren, es fast schon lieben zu lernen – nur um ihm dann ausgelassen ins Gesicht zu lachen.
KRISTOF VAN BAARLE
ist Vorsitzender des Schauspielprogramms an der KASK – School of Arts (Gent, Belgien) und Dramaturg. Als solcher arbeitet er seit Jahren mit Kris Verdonck/A Two Dogs Company, Michiel Vandevelde und Thomas Ryckewaert zusammen. Seine Forschungen und dramaturgischen Arbeiten erschienen in zahlreichen Zeitschriften und Büchern, darunter „Performance Research“, „Arts“ und „Global Performance Studies“. Von 2015 bis 2020 war er Teil der Redaktionsleitung der Zeitschrift „Etcetera“. Seit 2021 ist er Mitherausgeber der Zeitschrift „Performance Research“. FOTO: AP SCHOOL OF ARTS
55
YOUR ASS FOTOS: © HELENA VERHEY
UP
UP
YOUR
ASS von Nona Demey Gallagher & Lieselot Siddiki, detheatermaker
I’M NOT IN PEACE
„The Cadela Força Trilogy: Chapter I – The Bride and the Goodnight Cinderella“ von Carolina Bianchi, Festival d’Avignon
TEXT: ELISABETH NEHRING / FOTO: FESTIVAL D‘AVIGNON
Immer schwerer und schwerer wird ihre Zunge. Die Artikulation der Performerin, noch vor wenigen Minuten klar und deutlich, verwischt sich zunehmend. Worte ziehen sich in die Länge, Sätze wandern wie Wellen auf und ab, werden abgebrochen, neu angesetzt. Carolina Bianchi, weiß gekleidet, das lange, dunkle Haar glänzend gekämmt, die Fingernägel dunkelrot lackiert, sitzt an der Längsseite eines schmalen Tisches auf der ansonsten noch leeren Bühne – vor sich eine altmodische Tischdecke, ein Mikrofon, eine Kerze, mehrere halbvolle Gläser und Flaschen mit verschiedenen Flüssigkeiten. Vor etwa 40 Minuten hat sie einen Wodka zu sich genommen, vermischt mit einer zerstampften Tablette, deren Wirkung K.-o.-Tropfen gleicht und die in Brasilien „Goodnight Cinderella“ genannt wird. Nun versucht sie sich gerade zu halten, das Zur-Seite-kippen zu beherrschen, der Ohnmacht, die sie – im wahrsten Sinne des Wortes – zu übermannen droht, zu entgehen. Die 40-jährige Performerin ist auch die Autorin des Stücks, nicht aber – wie sie uns zu Beginn der zweieinhalbstündigen Performance offenlegt – dessen Protagonistin. Denn die sei tot, und deswegen versuche sie,
Carolina, sich in diesem Stück an allen Formen von Wiederbelebung.
Kurz bevor Carolina Bianchi endgültig das Bewusstsein verliert und erst am Ende der Show wieder erwacht, ist bereits eine knappe Stunde vergangen, und das Publikum hat die ersten Runden eines vielschichtigen Schreckensparcours schon hinter sich, der ins Herz patriarchaler Finsternis vorstößt. Denn in „The Bride and the Goodnight Cinderella“ – dem ersten Teil der Trilogie „Cadela Força“ (frei übersetzt in etwa: „Schlampenpower“) – geht es um nichts weniger als um alle möglichen Formen der Gewalttätigkeit an Frauen und deren Folgen: um Vergewaltigungen und Femizide, um das Überleben von Mordversuchen, um Entmenschlichung und unüberwindbare Traumata. Und darum, wie das Theater darauf reagieren kann.
WIE EINE BOMBE
Nach Beispielen musste Carolina Bianchi während ihrer Recherche nicht lange suchen, im Gegenteil – sie ist schnell und überall fündig geworden: in der realen Welt und den Nachrichten genauso wie in der Kunstgeschichte und der Sphäre der Performance. Dabei sind „Wiederbelebung“ und „Erinnerung“ für Carolina Bianchi
zentrale Momente der Inszenierungspraxis. Sie habe auf der Bühne nicht nur über Gewalt sprechen wollen, sagt sie später im Interview – und tatsächlich findet die Gewalt vor allem in der Sprache, den Erzählungen und Geschichten statt –, sondern entschieden, sich als Performerin auch körperlich auszusetzen. Sich selbst in eine maximal verletzliche Position und Wirklichkeit im theatralen Kontext bringen, dem Ganzen ein reales Gewicht geben, „wie eine Bombe“, so sagt sie es. Ihre freiwillig erzeugte Betäubung ist also kein Dornröschenschlaf – im Gegenteil: „In dem Moment, in dem ich bewusstlos werden, lasse ich das Publikum allein – mit dem Text und der Performance, die wir vorbereitet haben, mit allen Spuren der Recherche. Niemand wird hinterher wissen, wo ich gewesen bin, nicht die Zuschauer:innen und auch ich nicht. Ich werde keine Erinnerung haben.“
Und so teilt sich der Abend in zwei Hälften: die erste, die Carolina Bianchi mit ihrer LectureDemonstration allein bestreitet, und die zweite, in der wir ihre Stimme aus dem Off weiterhören, aber das Kollektiv Cara de Cavalo auf der Bühne übernimmt. Der Körper der Autorin und Performe-
56 57
rin bleibt anwesend – und wird inmitten des zweiten ausladenden Performanceteils zum Objekt. Acht Performer:innen bauen den Bühnenraum um, legen den Boden mit Plastik aus, häufen Sand zu Grabhügeln, enthüllen ein Auto, in dem später unheimliche Dinge vor sich gehen, tanzen ekstatisch, übergießen sich mit Alkohol. Kleiden ihre bewusstlose Direktorin in ein dünnes Hemd, betten sie zärtlich auf eine Matratze und heben sie später auf die Kühlerhaube des Autos, um mit einer Kamera in ihre Vagina einzutauchen. Was bei der Premiere in Avignon im letzten Sommer und bei allen nachfolgenden Aufführungen als „radikalster Moment“ beschrieben wird, ist die körperlich-theatrale Andeutung jener Gewalttaten, die ansonsten in der Sprache stattfinden, in ausschnitthaften Geschichten, imaginierten Bildern und angerissenen Szenen. Es sind Erzählungen weiblicher Gewalterfahrungen aus verschiedenen Zeiten und Räumen, die zweieinhalb Stunden lang nur so durch die Luft fliegen – und direkt in die Herzen und Hirne des Publikums.
DIE KNOCHEN DER PERFORMANCE
Für Carolina Bianchi sind die vielfältigen Referenzen, die in „The Bride and the Goodnight Cinderella“ aufgerufen werden, die „Knochen“ der Performance: Sie passten nur auf den ersten Blick nicht zusammen, schafften aber die Struktur der Show. Vielleicht seien
THE CADELA FORÇA TRILOGY
sie auch Ausdruck der Obsession, die sie angesichts des Themas ergriffen habe. „Rape makes us obsessed“, gibt sie im Gespräch zu. So, wie im Stück alles aufeinandertrifft, ergibt sich auf jeden Fall ein sehr passendes Bild jener Widersprüchlichkeit, mit der Gewalt an Frauen wahrgenommen und rezipiert wird. Von Boccaccios Geschichte des „Nastagio Degli Onesti“, in der der junge Edelmann seiner Angebeteten die Einwilligung in seine Liebe nur mit der Aussicht auf Verfolgung und Mord abpressen kann, über den Renaissance-Maler Sandro Botticelli, der einige Szenen dieser Decamerone-Erzählung in vier berühmten Gemälden verewigte, bis hin zu Dante Alighieris Höllenkreisen – die Kunst- und Literaturgeschichte lebt von virilen Machtfantasien, die an Frauen gewaltvoll ausagiert werden.
Daneben kommen auch reale Fälle vor, die Brasilien in den vergangenen Jahrzehnten erschütterten: zum Beispiel der einer Schauspielerin, die 1992 nach dem Dreh der 146. Folge einer brasilianischen Soap Opera vom Serienstar erstochen wurde. Oder der von Eliza Samudio, einer der vielen Geliebten des brasilianischen Nationalspielers Bruno Fernandes de Souza, die 2010 entführt, gefoltert und getötet wurde – auf Befehl ihres Ex-Freundes, der anschließend Teile ihres Körpers an seine drei Dobermänner verfütterte und sich, als er frühzeitig das Gefängnis verlassen durfte, als Held feiern ließ.
Konzept / Regie / Text / Dramaturgie Carolina Bianchi Englischsprachige Übersetzung und Bearbeitung Larissa Ballarotti, Luisa Dalgalarrondo, Joana Ferraz, Marina Matheus Deutschsprachige Übersetzung Niki Graça
Dramaturgie Carolina Mendonça
Technische Direktion / Sounddesign / Originalmusik Miguel Caldas Bühnenbild / Kunst- und Graphikdesign Luisa Callegari
Beleuchtung Jo Rios
Video Montserrat Fonseca Llach
Karaokevideo Thany Sanches
Kostüme Carolina Bianchi, Tomás Decina, Luisa Callegari
Künstlerische Assistenz und Mitarbeit Tomás Decina Mitarbeit Körper- und Stimmbildung Pat Fudyda, Yantó Besetzung Alita, Carolina Bianchi, Chico Lima, Fernanda Libman, Joana Ferraz
José Artur, Larissa Ballarotti, Marina Matheus, Rafael Limongelli
SELBSTGESPRÄCHE UND ZWEIFEL
Am intensivsten beschäftigt sich Carolina Bianchi mit Pippa Bacca, die während ihrer Performance „The Bride“ ermordet wurde. Die damals 34-jährige italienische Aktionskünstlerin reiste 2008 mit ihrer Kollegin Silvia Moro per Anhalter von Italien Richtung Jerusalem – über Slowenien, Kroatien, Bosnien, Serbien und Bulgarien. Beide im weißen Brautkleid, beide auf „Friedensreise“, erfüllt von der Vorstellung, dass es reiche, der Welt zu vertrauen, um sicher in ihr zu sein. In der Türkei trennen sich ihre Wege, Pippa steigt in ein Auto, Silvia weigert sich. Sie wird überleben, während Pippa verschwindet und Wochen später vergewaltigt und ermordet aufgefunden wird.
Carolina Bianchis Reflexionen auf Pippa Bacca sind das Zentrum der Inszenierung, ihr Entsetzen angesichts der Tat, aber auch die Reaktionen darauf: der Vorwurf ihrer vermeintlichen „Naivität“ angesichts einer gewalttätigen Welt; die Fragen, ob sie wirklich eine Künstlerin gewesen sei oder nicht eher eine exzentrische Idealistin mit völlig verrückten Ideen. Oder die unübersehbare Tatsache, dass männliche Künstler Applaus bekommen, wenn sie die „Safe Spaces“ von Theatern und Galerien verlassen und in die „echte Welt“ gehen, während weibliche Künstlerinnen als fahrlässig, gutgläubig oder eben naiv gelten.
Auch an ihren eigenen ambivalenten Reaktionen lässt Carolina Bianchi das Publikum teilhaben. Sie spricht über ihre sich in Selbstgesprächen artikulierenden Zweifel („Hast du wirklich gedacht, das weiße Hochzeitskleid könne den Horror der Welt zunichte machen, die Fragilität deiner Erscheinung würde dich beschützen?“), über ihr Unverständnis („Ich verstehe ihre hoffnungsvolle, fast kindische Rede nicht, ihr Vertrauen in die Menschlichkeit“), ihre Wut („Pippa Baccas Inszenierung von Weiblichkeit macht mich krank! Ich bin angewidert von ihrem Hochzeitskleid, ihren ästhetischen Entscheidungen, ihrem schlechten Geschmack,
THE CADELA FORÇA TRILOGY:
ihrem naiven Kunstverständnis und ihrer unerträglichen weißen Zerbrechlichkeit!“) und ihren Fragen („War nicht bereits die Erschaffung der Figur Pippa Baccas als treue Braut eine Inszenierung? Und würde ich auch über ihre Performance sprechen, wenn es nicht dieses Ende gegeben hätte?“).
MEINE SHOWS BIETEN
KEINEN FRIEDEN
Das ist vor allem eines: ehrlich. Und es ist Teil jener „resurrection“, jener „Auferstehung“, um die es Carolina Bianchi geht. Ihr Theater zielt nicht auf die Rekonstruktion von Ereignissen, ist keine Wahrheitssuche, sondern versucht sich an der Wiederbelebung des Menschlichen im performativen Erzählen – mit allen Facetten. „Ich arbeite mit den Schatten. Meine Stücke bieten keinerlei Lösungen an – überhaupt keine! Ich stelle mich nicht vor das Publikum, zeige mit dem Finger auf Gewalttaten und sage: ‚Schaut mal, was für schreckliche Sachen mit Frauen passieren!‘ Das wissen wir doch seit Ewigkeiten – und nichts hat sich geändert.“
Stattdessen taucht Carolina Bianchi tief in die Fragen nach der Rolle und dem Potenzial der Kunst ein, sucht in der Literatur
(„2666“ von Roberto Bolano) und dem Theater nach Wegen, sich zu verbinden und einen eigenen Ausdruck zu finden. Sie ruft die Namen berühmter Künstlerinnen auf – Tania Bruguera, Ana Mendieta, Regina José Galindo, Susana Pilar, Marina Abramovic´, Luisa Callegari, Letícia Parente, Berna Reale, Jill Orr, Valie Export, Rocío Boliver, Coco Fusco, Pilar Albarracín. Performerinnen, die, wie Carolina Bianchi auf der Bühne sagt, die „Safe Spaces“ verlassen hätten, die derzeit in intellektuellen Zirkeln so trendy seien.
Sich selbst stellt Carolina Bianchi nicht in diese Reihe, eher empfindet sie eine fast familiäre Verbundenheit zu diesen Künstlerinnen, die mit den Grenzen spielen und spielten, ihre Körper in den Kampf warfen. In der Anrufung ihrer Personen sucht sie Stärkung für das, was sie mit der Trilogie „Cadela Força“ vorhat: durch das Theater jene Gewalt sichtbar zu machen, die sonst aus der Wahrnehmung ausgeschlossen wird. Und auszuhalten, dass im Akt des Herausholens und Erinnerns immer auch die Gefahr der Wiederholung liegt. Nur das Theater kann mit dieser Art von Erinnerung umgehen, sagt sie auf der Bühne. Und im Interview zum
Schluss: „Ich möchte mit einer Performancepraxis brechen, die den Zuschauer:innen ein gutes Gefühl gibt. Das Gefühl, was wir für tolle Menschen sind. Meine Shows werden niemanden dazu bringen, sich besser zu fühlen. Sie bieten keinen Frieden, denn ich bin nicht im Frieden.“ Kein Frieden, sondern ein großer Schmerz, aber auch Respekt, Liebe und eine tiefe Humanität – all das spricht aus dem Theater Carolina Bianchis und ihres Kollektivs Cara de Cavalo.
ELISABETH NEHRING arbeitet seit 1999 als freie Journalistin und Kritikerin für diverse Rundfunkanstalten (u. a. Deutschlandfunk, Deutschland-funk Kultur, WDR) sowie (über)regionale Print- und Onlinemedien, berichtet über wichtige Uraufführungen in Deutschland sowie über internationale Festivals und produziert Radiofeatures zu kulturellen und politischen Themen. Außerdem hat sie die Fachstelle „Tanz MV“ in Mecklenburg-Vorpommern inne, moderiert öffentliche Gespräche und ist/ war Mitglied mehrerer Jurys.
58 59
FOTO: DIRK ROSE
I – THE BRIDE AND THE GOODNIGHT CINDERELLA FOTO: © CHRISTOPHE RAYNAUD DE LAGE
CHAPTER
CHAPTER I – THE BRIDE AND THE GOODNIGHT CINDERELLA Festival d’Avignon
60