Radikal jung 2025 - Regisseur*innen im Porträt

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INNEN IM PORTRÄT

RADIKAL JUNG

DAS FESTIVAL FÜR JUNGE REGIE

Im Koalitionsvertrag, den CDU/CSU und SPD Anfang April veröffentlicht haben, stehen aufregende Worte. So lesen wir, dass Kulturpolitik gesellschaftsrelevant ist, dass der kulturelle Reichtum und die Vielfalt gepflegt, weiterentwickelt und verteidigt werden soll, dass Kunst und Kultur frei sind, dass die Förderung dieser eine öffentliche Aufgabe von Bund, Ländern und Kommunen ist und dass die kulturelle Teilhabe aller Menschen gewährleistet werden soll. Niemand weiß, was das für uns bedeutet, ob die Lockerung der Schuldenbremse und die „dringend nötigen Investitionen“ auch die Bühnen und Kultureinrichtungen unseres Landes einschließen werden. Vor 20 Jahren hatten wir die Idee entwickelt, ein Festival für junge Regie zu veranstalten. Eine Idee, die sich ausgezahlt hat, die für unser Haus zu einer wichtigen Lebensader wurde. Es ist das Festival „Radikal Jung“ entstanden, das heute aus der Theaterlandschaft nicht mehr wegzudenken ist. Jedes Jahr macht sich unsere Jury auf den Weg und sucht im ganzen deutschsprachigen Raum nach wichtigen, aufregenden und herausragenden jungen Regisseur*innen. Und es gibt sie! Auch in diesem Jahr möchte ich Sie einladen, sich gemeinsam mit uns auf eine aufregende Festival-Woche zu freuen, mit uns zu staunen und zu diskutieren. In einer Welt, die immer neue Krisen gebiert, in einer Gesellschaft, die tief gespalten scheint, ist das gemeinsame Erleben und Reden zu einem lebenswichtigen Faktor geworden. Im vergangenen Jahr wurde leider fast nur noch über die Förderung der Kulturszene in finanziell schwierigen Zeiten diskutiert. Ich hoffe, dass die Politik unsere wichtige Rolle sieht und uns auch weiterhin fördert und befördert.

Ich freu mich auf eine großartige Festival-Woche.

Ihr Christian Stückl

Intendant

Auch wir, die Juror*innen von „Radikal jung“, freuen uns, dass es endlich losgeht – und wollen an einer schönen Festivaltradition festhalten: Um euch und Ihnen die eingeladenen Regisseur*innen und ihre Produktionen vorzustellen, haben wir wieder Theaterkritiker*innen gebeten, sie zu porträtieren.

Wir wünschen euch und Ihnen ein anregendes Festival und viel Spaß beim Lesen und Schauen!

Leon Frisch, Hannah Mey, C. Bernd Sucher und Christine Wahl

HELDINNEN, DIE KEINER MÄNNLICHEN

NETZHAUT ENTSTAMMEN

„Unser Deutschlandmärchen“ am Theater Aachen

REGIE: ANTIGONE AKGÜN

HINTER DEN SPIEGELN

„rhapsody“ am Theaterhaus Jena

REGIE: AZERET KOUA

„MAN MUSS SICH ANGREIFBAR MACHEN „

„Draußen vor der Tür“ am Düsseldorfer Schauspielhaus

REGIE: ADRIAN FIGUEROA

DIE DEMOKRATIE STIRBT IM SCHATTEN

„Caligula“ am Münchner Volkstheater

REGIE: RAN CHAI BAR-ZVI

KLASSENTREFFEN MIT EINER HYDRA

„Nestbeschmutzung“ vom Institut für Medien, Politik und Theater

REGIE: FELIX HAFNER, JENNIFER WEISS, ANNA WIELANDER

LOB DER LÜCKE

„Er Putzt“ am Staatstheater Wiesbaden

REGIE: MARIE SCHLEEF

WIE MAN DEN PESSIMISMUS AUSHEBELT

„Die Verwandlung“ am Düsseldorfer Schauspielhaus

REGIE: KAMILÈ GUDMONAITÉ

UNTERWEGS ZUM KULT

„Sally – Mein Leben im Drag“ an der Berliner Volksbühne

REGIE: MEO WULF

EINE THEATERBANDE

AUS OSNABRÜCK

„Kohlhaas (Glück der Erde, Rücken der Pferde)“ am Theater Osnabrück

REGIE: LORENZ NOLTING

„WÜRDE MAN HEUTE IN RUSSLAND IN DIE OPPOSITION GEHEN?“

„Gittersee“ am Berliner Ensemble

REGIE: LEONIE REBENTISCH

DOWN IM DAWN-TOWER

„Der Dämon in dir muss Heimat finden“ am Theater Dortmund

REGIE: LOLA FUCHS

DAS GEDÄCHTNIS IST EIN TRÜGERISCHER FREUND

„Rachel und ich“ von Lulu Obermayer mit HochX Theater und Live Art München e. V.

REGIE: LULU OBERMAYER

BOY-BAND MIT KANZLER-GLAMOUR

„Aufstieg und Fall des Herrn René Benko“ am Wiener Volkstheater

REGIE: CALLE FUHR

„ICH WILL DIE LEUTE ERSCHÜTTERN“

„Weiße Witwe“ an der Berliner Volksbühne

REGIE: KURDWIN AYUB

IMPRESSUM: Herausgeber: Münchner Volkstheater GmbH, Christian Stückl (V. i. S. d. P.)

Redaktion: Christine Wahl

Schlussredaktion: Julia Röseler

Druckerei: Kriechbaumer, München

Umschlagfoto: Wolfram Hahn

HELDINNEN, DIE

KEINER MÄNNLICHEN NETZHAUT ENTSTAMMEN

Grandiose historische Nachhilfestunde und „Gastarbeiterinnen“-Hommage: Antigone Akgüns Adaption von Dinçer Güçyeters Roman „Unser Deutschlandmärchen“ am Theater Aachen wirkt auf vielen verschiedenen Bedeutungsebenen

Ein absurd riesiger Pumps erscheint gegen Ende des Abends auf der Bühne, hellblau und luxuriös glänzend. Gleich drei Schauspielerinnen räkeln sich darauf und verkörpern zu dritt Mutter Fatma. Den Reichtum, den dieser Schuh suggeriert, hat sie jedoch nie kennengelernt. Es ist ein kühnes, großes Bild, das die Regisseurin Antigone Akgün in ihrer Bühnenversion von Dinçer Güçyeters autobiografischer Familiengeschichte „Unser Deutschlandmärchen“ setzt. Sie macht aus ihrer Inszenierung auch eine Hommage an jene Einwandererfrauen, die in ihrem Leben eigentlich nur geschuftet haben.

Güçyeters Roman hat 2023 den Leipziger Buchpreis gewonnen, für die Bühne adaptiert wurde er bereits vom Berliner Maxim Gorki Theater und dem Theater Münster. Für Akgün hat er eine „besondere Strahlkraft“. Vor den Proben führte der Autor sie und das Ensemble persönlich durch seine kleine Heimatstadt Nettetal. „Er hat jeden Ort benannt und uns gezeigt, was da passiert ist“, sagt Akgün. Für die melancholische, liebevolle und lustige Inszenierung, die die Regisseurin danach am Schauspiel Aachen inszeniert hat und die nun zu „Radikal jung“ eingeladen ist, haben sie und ihre Dramaturgin Sara Gabor eine Fassung geschrieben, die sich stark auf die Frauenschicksale wie eben dasjenige der Mutter des Autors bezieht.

WAS IST NUR SCHIEFGELAUFEN IN DEUTSCHLAND?

Das Bühnenbild von Sophie Lichtenberg ist – eine Kneipe. Gediegene Holzvertäfelung, hellblaue Vorhänge, auf dem Tresen Rosen, Teegeschirr und Erinnerungsbilder: Hier arbeitet Mutter Fatma – wenn sie nicht auf dem Feld und in der Fabrik schuftet, während der Ehemann Geschäftsideen in den Sand setzt. „Eine Kneipe in dem Land zu eröffnen, in dem man Exil gesucht hat – das ist schon ungewöhnlich für unsere heutige Sicht auf Menschen, die wir als muslimisch lesen“, sagt Akgün. Viele der Arbeitsmigranten von einst seien „viel offener und freier“ gewesen, „als wir es oft denken“. Großartig, wie der Schauspieler Furkan Yaprak als Alter Ego des Autors zu Beginn des Abends durch die Saaltür hereinkommt und erst einmal auf Türkisch das ebenso wunderschöne wie traurige Lied „Gurbet“ („Ausbürgerung“) von Özdemir Erdog˘an über die Wunde des Exils und die Regenfälle singt, die an die Tränen der Geliebten erinnern, bevor er freundlich-lässig das Publikum begrüßt. Wie er – durch den Abend führend – das Arbeiterkind verkörpert, das zum Beobachter und schließlich zum Künstler wird, wirkt absolut wahrhaftig. Mit jugendlicher Unbekümmertheit, Distanz und Liebe zu den Eltern zugleich wandert er durch die Zeitebenen, erzählt sich selbst als Baby, Kleinkind und junger Erwachsener nach. Das Leben der nach Deutschland emigrierten Familie sieht er durch seine Kinderaugen, mit entsprechenden Verzerrungen wie in ebenjenem Bild des riesigen hellblauen Schuhs.

Regisseurin Akgün steht für ein psychologisch sensibles Schauspieler-Theater, das auf vielen Bedeutungsebenen gleichzeitig funktioniert: als historische Nachhilfestunde, als Hommage an die überarbeiteten „Gastarbeiterinnen“, als Spiegel eines paternalistischen Gastlandes, als Ermächtigungserzählung einer allzu oft missachteten Generation – aber eben auch als glänzend gespielte und rasante Komödie über eine Migrantenfamilie, die im Gastland mit manchen Absurditäten konfrontiert wird. Unter ihrer Heiterkeit liegt eine Melancholie, die zutiefst berührt. Was ist nur schiefgelaufen in Deutschland, als die Chance verpasst wurde, die sogenannten Gastarbeiter ernsthaft willkommen zu heißen?

GROSSMÜTTER, DIE ÄRZTE KNUTSCHEN

Akgün – gebürtige Frankfurterin – ist nicht unbedingt eine Expertin in dieser Frage. Denn obwohl ihre Mutter Griechin und ihr Vater türkischer Kurde ist, würde sie sich nicht als typisches Kind einer Einwanderergeneration definieren. „Meine Eltern haben sich als privilegierte Akademiker beim Studium kennengelernt“, erzählt sie in unserem Zoom-Gespräch. „Sie hatten

eine große Abneigung dagegen, mit traditionellen und folkloristischen Elementen aus ihren Heimaten verbunden zu werden. Auch für mich ist Einwanderung eher eine Frage der Klasse als der Herkunft.“ Ihrer Mutter, die heute in Griechenland lebt, würde ein Abend wie „Unser Deutschlandmärchen“ vielleicht eher nicht gefallen, glaubt sie. Und auch Akgün selbst musste sich in viele der Romanthemen erst einmal einarbeiten: „Was etwa das Anwerbeabkommen genau beinhaltet hat, wie die Lebensbedingungen der ‚Gastarbeiter‘ aussahen –das war mir alles nicht so klar.“

Und doch erschafft sie mit sicherem Instinkt eine berührende Bühnenerzählung darüber. Einen wichtigen Beitrag dazu leisten etwa die „Songs of Gastarbeiter“, die Akgün an vielen Stellen eingebaut hat, die Playlist des Abends steht auch auf Spotify: Songs, die wehmütig Schmerz und Sehnsucht der Arbeiterinnen und Arbeiter im Exil besingen, die rassistische Komponenten der „Gastarbeit“ umkreisen und in der deutschen Mehrheitsgesellschaft kaum bekannt sind. Akgün hat sie nicht nur ihrer eigenen Geschichte und einer ARD-Dokumentation entnommen, sondern teilweise wurden die Lieder auch vom Ensemble zusammengetragen. Denn viele Schauspielerinnen und Schauspieler haben selbst einen Migrationshintergrund: etwa die gebürtige Bulgarin Petya Alabozova, die die Großmutter Güçyeter spielt und als strenges, unkonventionelles Energiebündel zeigt, die im hohen Alter noch den Arzt knutscht – jedenfalls in der Vorstellung des Kindes Dinçer. Oder Shehab Fatoum mit syrischen Wurzeln, der den Vater Güçyeter windig und listig, streng und feierwütig anlegt, Schulden und Party macht, aber immer liebevoll ist. Und nebenbei souverän Helmut Kohls Unwort vom „B-b-b-beileidstourismus“ rappt.

BLOSS KEINE FOLKLORE!

„Mir war wichtig, dass ich im Cast möglichst viele Menschen habe, die beim Thema Exil in ihrer Familiengeschichte andocken können“, sagt Akgün. Nur die Schauspielerin Bettina Scheuritzel, die Mutter Fatma so resolut, warmherzig und bodenständig darstellt, hat keinen Migrationshintergrund: „Wir haben bei den Proben im Ensemble viel darüber gesprochen, was diese Repräsentationsfragen für uns bedeuten. Immerhin bringt Bettina im Gegensatz zu allen anderen die Erfahrung einer arbeitenden Mutter mit“, erklärt Akgün. „Ich fände es problematisch, wenn niemand mehr außerhalb seiner Erfahrungen besetzt werden kann. Allerdings wäre auch komisch, wenn wir ihr ein Kopftuch aufsetzen und sie gebrochen Deutsch sprechen lassen würden …“ Bloß keine klischeehaften, folkloristischen Dinge auf der Bühne! Denn letztlich ist „Unser Deutschlandmärchen“ eben nicht nur eine Geschichte über Migration, sondern eben auch über Klasse.

Ob Erfahrungshintergrund oder nicht – allen Schauspielerinnen und Schauspielern gelingt auf jeden Fall eine bemerkenswerte Gratwanderung: die Figuren menschlich zu zeigen und sie zugleich komödiantisch zuzuspitzen. Lächerlich gemacht wird hier niemand. „Mein Ansatz ist, erst über Heiterkeit zu gehen und in dieser Komik sich die schmerzhaften Momente entpuppen zu lassen. Das finde ich viel spannender als eine Anklage loszulassen, bei der das Publikum wegschaltet“, so Akgün.

Dass sie direkt mit ihrer dritten Theater-RegieArbeit zu „Radikal jung“ eingeladen wurde, hat sie eher überrascht. Tatsächlich arbeitet sie eigentlich erst seit zwei Jahren als Regisseurin. „Ich war vorher auf einer langen Reise, aber ich glaube, jetzt bin ich langsam angekommen“, erzählt sie. Zur Bühne kam sie über die Theater-AG in der Schule. Nach dem Abitur studierte sie Schauspiel in Griechenland: „Ich hatte immer die Idee, ich lebe irgendwann dort“, erzählt sie. Doch es ging damals wirtschaftlich bergab, sie kam zurück, studierte in Frankfurt Theaterwissenschaft, arbeitete als Dramaturgin. Sie habe „alle Stationen am Theater einmal durchgemacht“, so Akgün, doch erst als Regisseurin fühle sie sich angekommen.

UNSER DEUTSCHLANDMÄRCHEN

Foto: Thilo Beu

UNSER DEUTSCHLANDMÄRCHEN

nach dem Roman von Dinçer Güçyeter

THEATER AACHEN

Regie Antigone Akgün

Bühne & Kostüme Sophie Lichtenberg

Video David Gerards

Licht Manuel Michels

Dramaturgie Sara Gabor

Besetzung Puah Abdellaoui, Petya Alabozova, Shehab Fatoum, Bettina Scheuritzel, Furkan Yaprak

DIE ZARTHEIT ALLER KÖRPERFORMEN

Für ihre erste Inszenierung – eine Arbeit frei nach Bertolt Brechts Stückfragment „Brotladen“ 2022 in einem dreistöckigen leerstehenden Gebäude in Bremen – sprach sie mit Pastoren oder Maklern über die Funktionsweisen des Immobilienmarktes im Spätkapitalismus, die hundert Jahre zuvor auch Brecht thematisiert hatte: „Es war unglaublich, wie sehr sich die heutigen Aussagen mit denen aus dem Stück deckten“, sagt Akgün. Viele Klagen zur Wohnungsnot seien da zu Gehör gekommen – aber kaum strukturelle Veränderungswünsche.

In ihrer zweiten Arbeit, „FETT“, einer radikalen, intimen, mutigen Lecture Performance an den Münchener Kammerspielen, die mit eigener Erfahrung gesättigt war, trat Akgün gleichermaßen als Autorin und Performerin in Erscheinung. „Auch ich bin keine dünne Person“, sagt sie. „Ich merke immer wieder, dass meine Realität abweicht von der meiner Kolleginnen – etwa bei der Behandlung durch eine Kostümbildnerin“. In „FETT“ geht es ihr etwa um Mehrfachdiskriminierungsformen – als

mehrgewichtige Person und Person of Color – oder um die Frage, wie es eigentlich sein kann, dass im Theater Fatsuits immer noch vorrangig als Zeichen für Dummheit stehen. „Für Heldinnen, die keiner männlichen Netzhaut entstammen“, plädiert sie in ihrem Text, „für die Zartheit aller Körperformen. Für das Mädchen, das sich entschloss, zu sich zu stehen.“

Mit ihrem Talent für Timing, Musik und Rhythmus im Theater, mit ihrem Gespür für Heiterkeit und Melancholie sowie mit ihrer Liebe zu Schauspielerinnen und Schauspielern hat Akgün ganz sicher eine große Karriere als Regisseurin vor sich.

DOROTHEA MARCUS – ist Kulturjournalistin und Theaterkritikerin in Köln und schreibt für „Theater heute“, Deutschlandfunk, WDR, „taz“ und viele andere Medien. Am meisten interessiert sie sich für politisches Theater und internationale Blickverschiebungen. Manchmal ist sie auch Jurymitglied oder Moderatorin von Podiumsdiskussionen.

Nicht nur im Wunderland hat Alice ihre Abenteuer erlebt, sondern auch hinter den Spiegeln. Auf diese weniger populäre Fortsetzung von Lewis Carrolls literarischer Reise in Parallelwelten nahmen einst die Beatles Bezug: Carrolls Gedicht „Das Walroß und der Zimmermann“ gilt als eine der Inspirationsquellen ihrer dadaistischen Hymne „I Am the Walrus“, in der auf Cornflakes geritten wird und Pinguine „Hare Krishna“ singen. Diese verschlungenen popkulturellen Referenzen führen wiederum auf relativ geradem Weg nach Jena. Genauer: zum dortigen Theaterhaus, wo die neue Hausregisseurin und Co-Leiterin Azeret Koua mit einer psychedelischen Coverversion von „I Am the Walrus“ in ihre Inszenierung „rhapsody“ einsteigt. Und mit dem Bild einer schlafenden Frau (Iman Tekle), die von Klauenhänden auf die andere Seite des Vorhangs gezogen wird. Es ist der Auftakt eines surrealen Trips, der auf seine eigene Art hinter die Spiegel führt. In eine nachtfinstere Scherbenwelt, in der so ziemlich alles fragmentiert und zersplittert ist: die Gesetze der Logik, die Linearität einer Erzählung, die Kohärenz eines auf Gewissheiten angewiesenen Subjekts. „Die Bruchstücke fallen ins kalte schwarze Wasser“, heißt es hier einmal. Mit der Bühnenund Videokünstlerin Nicole Marianna Wytyczak und der Kostüm- und Maskenbildnerin Elizaweta Veprinskaja schafft Koua Bildwelten, die an den Fantasien eines René Magritte oder Yves Tanguy geschult sind und einen so beklemmenden wie bestürmenden Sog entfalten.

WER IM ALBTRAUM LEBT

Mutig, so eine Arbeit an den Beginn der ersten Spielzeit als neue Leitung zu setzen – und dann auch wieder nicht. Denn „rhapsody“ ist zwar eine Herausforderung, aber kein hermetisches Rätselstück, an dessen intellektueller Entschlüsselung die Zuschauer*innen scheitern könnten. „Ich habe mich während des Schreibprozesses gefragt: Muss man alles verstehen? Oder reicht es, wenn man es spürt?“, sagt Koua. Eines ihrer Ziele war, „die Möglichkeiten des Mediums Theater auszuschöpfen und eine möglichst sinnliche Erfahrung für die Menschen zu schaffen, die uns in Jena neu kennenlernen“. Entsprechend baut sie mit ihrem künstlerischen Team immer wieder Tableaux, die einerseits ästhetisch andockfähige Schauwerte bieten –und gleichzeitig von einem wiederkehrenden emotionalen Motiv durchzogen sind: einem ohnmächtigen Ausgeliefertsein, dem Gefühl, dass der Atem genommen wurde. In einer Szene etwa senken sich zu den Klängen von Rupert Holmes’ „Escape (The Piña Colada Song)“ metallisch schillernde Vögel aus dem Bühnenhimmel und schweben über einer silbrig verfremdeten Strandszenerie, wo eine Mittelklassefamilie mit zwei Dads (Jonathan Perleth und Florian Thongsap Welsch) den Grusel wegzulächeln versucht, der sich in Gestalt einer blauen Welle aufbaut. Die gesamte Szenerie färbt sich blau. Wer darin eine AfD-Metapher erkennt, liegt richtig. Und dass manche dieses Bild als plakativ empfinden, „damit kann ich gut leben“, sagt Koua. Denn worum es ihr ging, das war, „den Albtraum spürbar zu machen, in dem gerade marginalisierte Menschen sich nicht erst jetzt, sondern seit vielen Jahren befinden – nur wurden sie nicht gehört“. Koua erinnert sich noch, wie sie während ihres Studiums in München zum ersten Mal ein prominent platziertes AfD-Plakat sah, nahe des Geschwister-SchollPlatzes. Ihr wurde mulmig, ihr Umfeld wiegelte ab: Hab dich nicht so. Alles halb so wild. Den Text zu „rhapsody“ – ihr erster eigener Theatertext überhaupt und ein starker poetischer Wurf – schrieb sie im Sommer 2024, als sie zu Besuch bei ihren Eltern war, etwas außerhalb von Detroit, wo sie geboren wurde. Es war die Zeit, als der Trump-Harris-Wahlkampf lief – und in Deutschland unter anderem die thüringischen Landtagswahlen anstanden. Viel Angst, viel Unsicherheit, was die Zukunft bringt, seien in das Stück eingeflossen, erzählt die Regisseurin. „Haben wir ihn verpasst, den Absprung? Die Zeit zu gehen?“, ist eine wiederkehrende Frage an diesem Abend, in der sich Kouas eigene Besorgnis spiegelt: Als Schwarze Person weder in den USA noch in Deutschland einen sicheren Ort zu haben.

RHAPSODY

Foto: Joachim Dette

HINTER DEN SPIEGELN

Surrealistische Ästhetik trifft auf politische Dringlichkeit: Mit ihrem selbst verfassten Albtraumspiel „rhapsody“ hat sich die US-amerikanische Regisseurin Azeret Koua als Teil der neuen Leitung am Theaterhaus Jena eingeführt

VON PATRICK WILDERMANN

MAKABRER HUMOR ALS STILMITTEL

Der Titel, den sie für dieses Albtraumspiel mit realem Grund gewählt hat – „rhapsody“ –, bezieht sich dabei nicht nur auf die naheliegende Gershwin-Komposition „Rhapsody in Blue“, die laut Ankündigungstext auf der Theaterhaus-Homepage im gleichen Jahr entstand, in dem auf der anderen Seite des Atlantiks André Breton sein surrealistisches Manifest verfasste, nicht lange nach dem Ersten Weltkrieg. Rekurriert wird vor allem auf den griechischen Ursprung des Wortes „Rhapsodie“, der etwas Verwobenes, Zusammengenähtes meint. Passend zur Traumnatur der Inszenierung, in der sich die Bild- und Bedeutungsebenen beständig überlagern. Wie in der ersten längeren Szene, in der auf einem silbernen runden Drehbühnentablett ein feiner Tisch gedeckt ist. Hier haben auch drei gesichtslose Schattengestalten mit kronenartig zugespitzten schwarzen Hüten Platz genommen, die in einer Stakkato-Choreografie von Jasmin Avissar die Messer wetzen – und schließlich zum Abendmahl eine Frau verspeisen. Ja, auch makabrer Humor gehört zu Kouas Stilmitteln. Die Passage ist durchzogen vom Ausgrenzungsjargon eines rechten Patriarchats mit Vaterlandsobsession („Freiheit für alle, die hier geboren wurden und hier sein dürfen“) und ebenso – zu „Ave Maria“-Klängen – von einer Gewalt, die im Namen institutionalisierter (und instrumentalisierter) Religion verübt wird. Und die sich hier in

AZERET KOUA

Foto: Oskar Schlechter

zynischen Stoßgebeten äußert („Danke für das Essen, das andere hungern lässt, danke für den Glauben, der andere zittern lässt“).

OFFENHEIT OHNE SERVICEANSPRUCH

Das Religionen-Motiv wird später wieder aufgenommen, wenn Ioana Nitulescu einen ins Nirwana driftenden Witz über einen Rabbi, einen Imam und einen Priester erzählt, die gemeinsam in eine Bar gehen. Aus dieser Pointenverweigerung lässt sich wiederum eine Botschaft ans Jenaer Publikum lesen, die Koua auch in einem ungemütlichen Entertainerinnen-Auftritt von Saba Hosseini im Nahkontakt mit den Zuschauer*innen anklingen lässt. Und ebenso in der kannibalischen Tischszene: „Wir sind nicht hier, um euch zu bedienen.“ Will heißen: Gefälligkeit ist nicht zu erwarten vom neuen Leitungsteam, zu dem neben ihr Céline Karow, Daniele Szeredy, Josef Bäcker und Lukas Pergande zählen. Dafür aber: größtmögliche Offenheit.

Zum Beispiel bekommt das Publikum in Jena jetzt bei öffentlichen Konzeptions- und Hauptproben die Gelegenheit, über die gesamte Produktionsstrecke „Einblicke in den normalerweise sehr verschlossenen Vorgang des Theatermachens zu nehmen“, erzählt die Regisseurin. An welchem anderen Haus gibt es das?

Für diese Offenheit steht auch Koua selbst, die sich nicht hinter einer Künstlerinnen-Attitüde verschanzt, die

RHAPSODY von Azeret Koua

THEATERHAUS JENA

Regie & Text Azeret Koua

Bühne & Video Nicole Marianna Wytyczak Kostüme & Maskenbild Elizaweta Veprinskaja

Choreografie Jasmin Avissar

Musik Lukas Pergande

Dramaturgie Josef Bäcker

Regieassistenz Thomas Schmale

Ausstattungsassistenz Lenni Hofer

Maske Heike Lindemann

Besetzung Saba Hosseini, Ioana Nitulescu, Jonathan Perleth, Iman Tekle, Florian Thongsap Welsch

nur das Kunstwerk sprechen lassen will. Sondern bereitwillig über Inspirationen und Deutungsmöglichkeiten Auskunft gibt. Was angesichts ihrer ästhetischen Stilsicherheit erstaunt: „rhapsody“ ist tatsächlich erst ihre zweite Inszenierung an einem Stadttheater. Die erste war eine popkulturell aufgeladene Version von Sartres „Das Spiel ist aus“ am Theater Dortmund, wo sie zuvor als Regieassistentin arbeitete. Das Vergnügen am Spiel mit Bezügen und Verweisen ist zumindest schon eine Konstante in der jungen Karriere der 1993 geborenen Künstlerin. Ebenso die Tatsache, dass Koua ihre Produktionen vor allen anderen Überlegungen mit einer Playlist beginnt.

MAKE THEATRE GREAT AGAIN

Die „I Am the Walrus“-Version stand als Erstes auf der Liste, als sie sich an „rhapsody“ begab, auch Nirvanas „Smells Like Teen Spirit“ hatte den Platz auf dem Theatersoundtrack sicher. Wenn man die US-Amerikanerin – die als „Third Culture Kid“ auch in Deutschland und in China aufgewachsen ist – nach ihrer popkulturellen und musikalischen Sozialisation fragt, entgegnet sie: „Sehr divers“. Über den Vater, der von der Elfenbeinküste stammt, wurde sie für Afrobeat, Reggae und westliche Klassik entflammt, über die afroamerikanische Mutter für Funk, Motown, Hip-Hop, aber auch 80s-Rock und -Pop. Sie selbst fing schon mit fünf Jahren an, Geige zu lernen und spielte bis zu ihrem 18. Lebensjahr in verschiedenen Orchestern. Eine Profimusikerinnen-Laufbahn strebte sie allerdings nie an, vielmehr ging sie zum Jura-Studium nach München, „um Menschenrechtsanwältin zu werden“, wie sie erzählt. An der Uni vermisste sie allerdings den Aspekt, der sie am meisten interessierte: „Wie Gesetze und Rechtslagen unterschiedliche Lebensrealitäten prägen.“ Wie sie gesellschaftlichen Status schaffen.

Die Fragen nach Recht, Fairness und Privilegien durchziehen dafür ihre Theaterarbeit, auch „rhapsody“. Das Stück, das immer wieder von Donald-Trump- oder Alice-Weidel-Zitaten durchwittert wird („Die politische Korrektheit gehört auf den Müllhaufen der Geschichte“) endet dabei auf einer bitteren Note: „Du kannst alldem nicht entkommen“, lautet der letzte Satz. Zumindest Jena und sein Theaterhaus (dem die AfD in der Vergangenheit auch schon die Mittel streichen lassen wollte) erlebt Koua als Insel im blauen Meer. Als erfreulich linke Stadt mit einem strahlkräftigen Kunstort, an dem die Regisseurin und ihre Kolleg*innen in Zukunft noch mehr Perspektiven Raum geben wollen, „die oft kein Gehör finden“. Gegenwärtig arbeitet sie an ihrer nächsten Produktion, einem Horror-Survival-Drama. Es trägt den Titel „Make Theatre Great Again“.

PATRICK WILDERMANN – geboren 1974, arbeitet als Kulturjournalist in Berlin u. a. für den „Tagesspiegel“, das Interviewmagazin „Galore“ und das Goethe Institut. Zuletzt hat er u. a. die Publikation „Producing Performing Arts“ im Alexander Verlag mitherausgegeben.

„MAN MUSS SICH ANGREIFBAR MACHEN“

Innenansicht eines Traumas:

Adrian Figueroa inszeniert am Schauspiel Düsseldorf

Wolfgang Borcherts Kriegsheimkehrer-Drama „ Draußen vor der Tür“ und lässt es überraschend zeitgenössisch wirken

Es gibt da diesen Moment, ganz am Anfang von „Draußen vor der Tür“: Da steht der Kriegsheimkehrer Beckmann, noch kennen wir seinen Namen nicht, am Fluss – und springt. Regisseur Adrian Figueroa lässt diesen Moment einfrieren, quälend verlängern. In Zeitlupe trudelt der Mann auf der Gaze-Leinwand seinem Ende entgegen. Immer größer wird sein Gesicht, das dem Abgrund entgegenstürzt, eine gefühlte Ewigkeit lang. Die Zeit bleibt quasi stehen in dieser Inszenierung. Alles nun Folgende könnte auch ein Albtraum des Kriegsheimkehrers sein, geboren aus einer posttraumatischen Belastungsstörung. Oder der Augenblick des Todes, in dem das Leben noch einmal als innerer Film vorbeizieht, ein auf knapp zwei Stunden gedehnter letzter Moment. Von Beginn an bleibt hier unklar, ob der Suizid gelingt oder nicht, Zeit- und Raumebenen lösen sich auf.

Auch in Figueroas preisgekröntem Kurzfilm „Letters from Silivri“ steht die Zeit still und rast zugleich. Wir sehen eine Schwarz-Weiß-Landschaft im stark gentrifizierten Istanbuler Stadtteil Esenyurt. Dazu erklingen Tagebucheinträge von Osman Kavala, türkischer Kunstmäzen und Menschenrechtsaktivist, aus dem berüchtigsten Gefängnis der Türkei und der größten Strafanstalt Europas. Traurige, sehnsüchtige Worte, verteilt über viele Jahre.

2017 wurde Kavala im Zuge der Gezi-Proteste verhaftet und saß – ohne Prozess – bereits über vier Jahre, als er 2022 aus fadenscheinigen Gründen zu lebenslanger Isolationshaft verurteilt wurde. Während wir das hören, dreht sich die Kamera in Zeitlupe um sich selbst: Wir sehen eine öde Brache, bedrohlich emporragende Hochhaustürme, Betongerippe, aber auch junge, zarte Bäume. Bei jeder Kamerarunde verändert sich etwas: laufende Kinder. Ein Hochzeitspaar. Ein Mann mit Gewehr. Klagende Vögel. Menschen, die sich drehen, Bagger, die vor-

VON DOROTHEA MARCUS
ADRIAN FIGUEROA
Foto: Graz Diez

DRAUSSEN VOR DER TÜR

Foto: Thomas Rabsch

rücken. Und dazu Kavalas traurige Aufzeichnungen. Es ist ein melancholischer, zarter Film, wie ein Albtraum aus Sehnsucht, der das atemlos schnelle und quälend langsame Vergehen der Zeit zugleich einzufangen scheint.

IN DEN KÖPFEN DER PROTAGONISTEN

„Die Grenze zwischen Realität und Fiktion hat mich schon immer interessiert“, erzählt Figueroa im Zoom-Meeting. Und tatsächlich merkt man seinen Arbeiten an, wie gern er diese Grenze austestet. Man weiß nie ganz genau, was tatsächlich stattfindet und was bloß in den Köpfen der Protagonisten. So war das auch bei seiner Inszenierung „Arbeit und Struktur“ nach Wolfgang Herrndorf, die 2024 zu „Radikal jung“ eingeladen war: Figueroa zeigte den Autor im Zwiegespräch mit seinen eigenen Kunstfiguren, ließ uns an seiner Innenwelt teilnehmen, das Bühnenbild war gleichsam Herrndorfs Kopf. „Wenn ich wählen müsste zwischen Theater und einer Streaming-Produktion, würde ich mich sofort für das Theater entscheiden“, sagt Figueroa. „Aber Filme fürs Kino – da wüsste ich es nicht. Kinos und Theater sind wie Kirchen für mich: Räume von Spiritualität, von Träumen.“

Ursprünglich hatte Figueroa nie etwas mit Theater zu tun, sondern spielte lieber Fußball. Geboren und aufgewachsen ist er in Frankfurt, als Sohn einer deutschen Mutter und eines spanischen Vaters. „Eigentlich bin ich nicht mehr ganz ‚radikal jung‘“, lacht der 41-Jährige. Bis heute besucht er seinen Vater jährlich in Galizien, spricht fließend Spanisch.

Eher zufällig fing er mit 17 Jahren bei der Frankfurter Opernstatisterie an. „Mich hat diese Theaterwelt auf einmal total geflasht“, erinnert er sich. Trotzdem: Dass er Regisseur werden würde, wusste er auch dann noch nicht, als er in London an der „Central School for Speech

and Drama“ Angewandte Theaterwissenschaft studierte. Aber er begann dort, sich für Community-Theater zu interessieren; für Kunst, die sich mit dem echten Leben beschäftigt, mit dem Alltag in oftmals wenig ausgeleuchteten Bereichen. „Ich habe früh über Strategien nachgedacht, wie ich davon erzählen kann“, erklärt Figueroa. Seine ersten Theaterarbeiten waren Projekte in Berliner Justizvollzugsanstalten; auch sein erster Kurzfilm, „Anderswo“, porträtierte Insassen der JVA Tegel. Und „Proll!“, ein preisgekrönter Film, den er mit der Drehbuchautorin Maike Wetzel konzipierte, zeigt ein intimes Bild gestresster Lohnarbeiter: einen Paketfahrer unter Druck, zwei Arbeiter, deren Fabrik schließt, eine Frau, die im Homeoffice vereinsamt.

DIE MANIPULATION OFFENLEGEN

2019 brachte Figueroa am HAU Hebbel am Ufer in Berlin schließlich das Theaterstück „Aurora“ heraus, das auf Interviews mit Drogenabhängigen, deren Familienangehörigen und Therapeuten basierte. Schon damals gelang es ihm, auf der Bühne gleichsam in ihre Köpfe einzusteigen, Innenbilder von Wahn, Delirium und Rausch zu kreieren, fernab jedweder Verurteilung. Zugleich war „Aurora“ eine soziologische Untersuchung: „Wie kommen Menschen in diese Situation? Warum wird Sucht viel öfter kriminalisiert statt als Krankheit anerkannt?“ Das Thema und seine häufigen Begleiterscheinungen – Verelendung und Obdachlosigkeit – treiben ihn nach wie vor um. An der „exponentiellen Zunahme von Armut in einer neoliberalen Gesellschaft, in der die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinandergeht“, könne niemand mehr vorbeisehen, sie werde bei jeder Fahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln offensichtlicher.

DRAUSSEN VOR DER TÜR

von Wolfgang Borchert

DÜSSELDORFER SCHAUSPIELHAUS

Regie Adrian Figueroa

Bühne Irina Schicketanz

Kostüme Malena Modéer

Musik Ketan Bhatti

Video Benjamin Krieg

Mitarbeit Video Elena Tilli

Licht Konstantin Sonneson

Dramaturgie David Benjamin Brückel

Besetzung Sonja Beißwenger, Markus Danzeisen, Raphael Gehrmann, Claudia Hübbecker, Pauline Kästner, Florian Lange, Thiemo Schwarz

Film und Theater betrachtet Figueroa als Methoden, an den Ursachen dafür zu arbeiten. Aus zwei Perspektiven: „Am Film interessiert mich, möglichst viel Realität zu zeigen, wenig zu schneiden, die Manipulation offenzulegen. Am Theater interessiert mich das Gegenteil: zu verzaubern, mit großen, filmischen Bildern Innenwelten zu zeigen.“

Denkbar wären diese Seelenlandschaften nicht ohne die Settings, die die Bühnenbildnerin Irina Schicketanz dazu entwickelt. „Sie ist oft wie eine zweite Regisseurin, während ich wie ein zweiter Bühnenbildner bin, so eng hängt unsere Arbeit zusammen“, sagt er. Das zeigt auch, welche Bedeutung Figueroa dem Bühnenbild zumisst, das oft schon lange im Voraus fertig ist: „Es ist für mich wie eine eigene Figur“, sagt er, „mit eigener Entwicklung und Dramaturgie.“ Bei „Draußen vor der Tür“ sind es dunkle Wohnquader, die zu düsterem Elektrosound aus dem gewaltigen Bühnenraum wachsen, verdoppelt in Videos. Immer neue, atemberaubende Stadtschluchten entstehen da, finstere Labyrinthe und Gassen – bis sich endlich doch mal irgendwo ein warm leuchtender Innenraum öffnet.

LIEBE ZU DEN AUSSENSEITERN

Die Hauptfigur aus „Draußen vor der Tür“, der Kriegsheimkehrer Beckmann, sieht in Figueroas Inszenierung aus wie ein humpelnder Punk. Im Militärmantel zur schwarz gerandeten „Gasmaskenbrille“ zeigt der Schauspieler Raphael Gehrmann ihn als Menschen, der jeden Glauben an das Gute fahren gelassen hat. „Vor dem Lesen dachte ich, ‚Draußen vor der Tür‘ sei verstaubt; ein deutsches Kriegsheimkehrerstück, das man zu oft als Abistoff gemacht hat“, erzählt Figueroa. „Doch dann habe ich diese extreme Energie und Relevanz eines Autors gespürt, der im Sterben lag.“ Fast erinnert ihn der expressive Sprachstil an die kompromisslosen Texte der britischen Dramatikerin Sarah Kane, die 1999 – mit 27 Jahren – Suizid beging. „Man merkt, dass Borchert auch eine Liebe zu den dunklen Gestalten hatte, zur Gosse, zu den Außenseitern, zu den Einbeinigen, Obdachlosen, Prostituierten. Er hatte eine subjektive, direkte Perspektive auf sie.“ Und obwohl Borcherts berühmtes Drama ja fatale Lehrstellen aufweist – hier sind alle Kriegsopfer ausschließlich deutsch –, sieht Figueroa etwas universell Gültiges im Text. „Erst haben wir überlegt, jede Andeutung auf den Zweiten Weltkrieg herauszunehmen, aber uns dann dagegen entschieden“, so Figueroa: „Man muss sich angreifbar machen.“ Dennoch wird während des intensiven Abends hinreichend klar, dass das Drama auch für andere Kriege steht. „Ich habe das Gefühl, wir müssen uns nach einem neuen Planeten umsehen“, sagt Beckmann gleich zweimal.

DOROTHEA MARCUS – ist Kulturjournalistin und Theaterkritikerin in Köln und schreibt für „Theater heute“, Deutschlandfunk, WDR, „taz“ und viele andere Medien. Am meisten interessiert sie sich für politisches Theater und internationale Blickverschiebungen. Manchmal ist sie auch Jurymitglied oder Moderatorin von Podiumsdiskussionen

DIE

DEMOKRATIE STIRBT

IM SCHATTEN

Wie funktioniert politische Verführung? Ran Chai Bar-zvi entdeckt in Albert Camus’ Tyrannen-Stück „Caligula“ am Münchner Volkstheater erschreckende Parallelen zur Gegenwart, entlockt ihm aber auch furioses Entertainment

Ein Teil des Volkes winkt mit großen Caligula-Pappköpfen am Stiel. Ein anderer Teil sitzt offenbar plötzlich im Zuschauerraum. Denn Steffen Links junger Kaiser wendet sich mit seinem Megafon direkt an uns: „Schaut euch das an!“ Seine Beine meint er vielleicht nicht in erster Linie. Aber die sind jedenfalls wow. Am festlichen Venus-Tag als Venus kostümiert, trägt der Tyrann Locken bis zur Hüfte und extrahohe Schuhe. Keine schlechte Uniform, um in ihr die Massen anzufeuern wie die Animierdame der Macht, die mit der Macht identisch ist. Little Richards Stimme singt „She’s got it“ aus dem Off, Caligula demonstriert Volksnähe („Ich lieb’ euch so sehr!“), feuert im Einfach-mal-Danke-sagen-Modus „I love Gaius“-T-Shirts ins Publikum und fordert uns Volk zum Mitsingen und -johlen auf. Und es klappt, obwohl in dieser fragwürdigen Show im Schnelldurchgang Klimakleber überfahren werden, israelische Sportler Olympia 1972 und Schildkröten den Strohhalm in der Nase nicht überleben. Ja, selbst dann noch, als die falsche Venus in ein World Trade Center aus Pappe fliegt, spielen die Zuschauer:innen bereitwillig die Claque. Hat Ran Chai Bar-zvi das vorausgesehen? „Es war das Ziel“, sagt der Regisseur des Abends. „Wir wollten zeigen, wie Populismus als Verführungsmethode funktioniert. Es gibt wohl immer ein, zwei Gesichter im Publikum, denen man ansieht, dass sie sich überwinden müssen. Aber wenn alle lachen, lachen sie mit. Ich kenne das gut aus den letzten Jahren in Israel. Diese Venus-Show ist wie die Politik von Netanjahu und seiner Partei, mit der ich aufgewachsen bin.“

MODERNE MACHTPOLITIK

Der letztgültige Beweis, dass wir alle verführbar sind, wenn nur genug Entertainment-Power investiert wird, ist von einer Theateraufführung natürlich nicht zu erbringen. Das Publikum begreift die ihm zugeteilte Rolle und will vielleicht nur kein Spielverderber sein, womöglich auch den Schauspieler:innen Tribut zollen, die sich hier ins Zeug legen. Dem Applaus hört man seine Motivation nicht an. Auch dann nicht, wenn die realen Diktatoren und Demagogen dieser Welt ihre Shows abziehen. Oft mischt sich dann noch die Angst in die Gefühlsgemengelage. Und – so heißt es im Stück – „in der Angst verschwindet alles“. Neben Rückgrat und Gewissen mitunter auch die Selbstachtung. Und die Macht hat umso leichteres Spiel.

Bar-zvi ist 1989 in Jerusalem geboren, ist mit Krieg und anderen Ausnahmesituationen aufgewachsen und hat unter anderem an Benjamin Netanjahu Maß genommen, als er seinen Willkürherrscher für den Camus-Abend anlegte. „Albert Camus hat das Stück kurz nach dem Zweiten Weltkrieg geschrieben, unsere Quelle aber war die Gegenwart. Wir haben auch nach Argentinien zu Milei geschaut, zu Orban und Putin. Es ist viel bereits Bekanntes auf dieser Bühne, das sich eine Woche später wiederholt hat.“ Denn drei Tage vor der Premiere von „Caligula“ am Münchner Volkstheater war die zweite Amtseinführung von Donald Trump, der seitdem die Nachrichten mit einer durchaus vergleichbaren „Political-Correctness-Schlacht“ dominiert, wie Bar-zvi diese zentrale Szene in seiner Inszenierung nennt. Ganz zu schweigen von Elon Musk. Wenn Caligula den Mond begehrt oder verspricht, die gesamte Volkswirtschaft binnen zwei Tagen umzukrempeln, assoziiert man Trumps DOGE-Vollstrecker.

Dass der Tyrann auch noch in eine SpaceX-Muschel steigt, steht zwar ebenso wenig bei Camus wie Robbie Williams’ Oktoberfest-Hit „Angels“, der die Aktion flankiert. Vieles aber steckt schon in „Caligula“ drin, einem philosophischen Drama nach historischem Vorbild, in dem ein Kaiser zum Tyrannen wird, der sein Volk mit in den Abgrund reißt. Etwa 80 Prozent des Abends sind stark gekürzter Originaltext. Vergrößert hat das Team die Persönlichkeiten im Hofstaat und den Schaucharakter von Caligulas Grausamkeiten, von denen einige im Stück nach hinten rücken, weil die moderne Machtpolitik weniger „in your face“ operiert. „Im Hebräischen sagt man: ‚Die Demokratie stirbt im Schatten‘, merkt

VON SABINE LEUCHT

Bar-zvi an. „Und – auch das kenne ich aus Israel: Viel Politik, vor allem extreme Politik, kommt aus einem Urschmerz, der nicht alles legitimiert, aber vieles erklären kann.“

MORALISCHE KOORDINATEN

Deshalb spielt der Abend auch die Eingangsszene groß, in der Caligula seine Schwester und Geliebte Drusilla zu Grabe trägt und ihr fast in die Grube im Bühnenboden nachstürzt. „Es war mir wichtig, ihn emotional zu beladen, seinen Urschmerz zu zeigen, den man ja verstehen kann. Wenn ich mit Caligula reden würde, würde ich sagen: ‚Ja, das Leben ist schwierig, aber das ist nicht die Lösung.‘ Ihm mit Sympathie begegnen, ohne ihm seine Taten zu verzeihen, seine Emotionen bestätigen und dann argumentieren: Das ist der Dialog, den ich als Regieperson mit Caligula habe.“ Und dass Reden mit Extremisten und Andersdenkenden auch jenseits der Bühne wichtig ist, darauf kommt der junge Regisseur immer wieder zurück und schaut dabei in das zerrissene Land, in dem er noch Familie hat, und in das sich radikalisierende Deutschland, in dem er seine Zukunft sieht: „Wie können wir sonst als Gesellschaft zusammenbleiben?“ Andererseits spricht für ihn aus dem Stück auch eine Warnung: „Wenn wir zu viel Geduld haben, leiden vielleicht die Schwächsten. Das sieht man jetzt in den USA an den Attacken gegen queere Menschen. Es fängt schon an.“

Caligulas Urschmerz verrückt seine moralischen Koordinaten. „Die Dinge scheinen mir so, wie sie sind, nicht zu ertragen“, erkennt er und ändert sie. Sein Rezept: Gleichmacherei durch irrationale Willkür: Morde nach dem Losprinzip, Hungersnöte auf Knopfdruck. Er schwenkt die Fahne der „Freiheit“ und „Wahrheit“ und füllt diese amorphen Begriffe mit neuen Inhalten. Auch das ist uns nur allzu vertraut. Und trotzdem ist man bei Link nie ganz sicher, ob hinter dem Tyrannen, den er spielt, nicht doch ein seltsam verbogener Idealist steckt. Genau deshalb wollte ihn Bar-zvi unbedingt für diese Rolle: „Steffen glaubt man alles, was er sagt. Aber Caligula spielt immer. Er spielt anderen etwas vor, gibt zu, dass es gespielt war, bereut es – und gibt dann zu, dass auch die Reue gespielt war.“ Egal, ob sein Publikum nur ein (ehemaliger) Vertrauter, der Hofstaat auf der Bühne oder der ganze Saal ist.

LOB DER KRUMMEN WEGE

Für die wenigen intimen Eins-zu-eins-Begegnungen hält Ansgar Prüwers mit edlem Holz vertäfelter Bühnenkasten anfangs nur eine Nische bereit. Doch die hintere Wand ist geteilt und kann hälftig nach vorne klappen, sodass in ihrer Mitte unterschiedlich breite Schattenfugen entstehen wie antikisierte hohe Fenster. Jenseits der turbulenten Venus-Feier nutzt die Regie den hellen leeren Raum wie eine Leinwand, auf die sie in monochromen

Tupfen die Schauspieler*innen verteilt. Klein wirken die, selbst in den bodenlangen Unisex-Kostümen von Marilena Büld mit ihrem Augenmerk auf Farben und Texturen. Sie kombinieren üppigen Faltenwurf mit rüstungsartigen Oberteilen, bestehen aus fließender Seide oder schweren Rüschenstoffen mit asymmetrischen Details. Manchmal lässt Bar-zvi das Bild der Gruppe einfrieren und lenkt den Blick auf eine einzige Bewegung, etwa auf eine Hand, die sich hebt oder in einen wehrlosen Mund schiebt. Jeder Schritt, jeder Blick bekommt so Bedeutung. Sein Sinn für das Bild kommt nicht von ungefähr. Der heute 35-Jährige hat in Israel ein künstlerisches Gymnasium besucht und schon als Kind viel Ballett- und Volkstanz-Erfahrung gesammelt. „Dass ich kein Tänzer geworden bin, bereue ich immer noch“, sagt er. Dass aus dem Regiestudium nichts wurde, als er 2012 nach Berlin kam und sich in der „Ernst Busch“-Schule vorstellte, hat er dagegen prima verwunden.

Das Kostüm- und Bühnenbild-Studium an der Kunsthochschule Berlin Weißensee klappte dafür auf Anhieb. „Im Nachhinein weiß ich, dass ich damals noch nicht bereit war, die Visuelle-Kunst-Seite in mir aufzugeben. Es war die richtige Entscheidung.“ Trotzdem hat Bar-zvi es später noch einmal probiert mit dem Regiestudium, wieder vergeblich. Gleich 2019, ein halbes Jahr nach seinem Kunsthochschuldiplom, kam dann seine erste eigene Inszenierung am Schauspiel Hannover heraus. 2024 gewann seine ebenfalls in Hannover entstandene deutsche Erstaufführung von Kim de l’Horizons „Blutbuch“ den Kurt-Hübner-Regiepreis. Im gleichen Jahr war Bar-zvi mit „Das große Heft“, seiner ersten Regie-Arbeit am Münchner Volkstheater, erstmals zu „Radikal jung“ eingeladen. „Ich glaube also, es ist gut gegangen“, lacht er – und denkt laut darüber nach, seine Biografie mit seinen Misserfolgen zu ergänzen: „Ich finde es sehr bestärkend zu sehen, dass nicht alle gerade Wege gehen.“

NÄCHSTE STATION: HAMBURG

Für die krummen aber braucht es Unterstützer*innen wie Sonja Anders, die zu Beginn ihrer Intendanz in Hannover „alle goldenen Regeln über Bord“ geworfen hat, als Bar-zvi mit der Idee für „Dark Room“ auf sie zukam. „Vor einem Regie-Engagement“, so Anders, „sollte zumindest eine Arbeit der Regie-Person gefallen haben. Ran hatte noch nie Regie geführt und auch keinen Text in petto – nur diese Idee. Fern aller konventionellen oder exotisierenden Bilder sollte der Abend mit Emotionen, Begegnungen, Sexualitäten spielen – und mit der Dunkelheit. Es war die Fantasie dieses jungen Bühnenbildners und die Art, wie er von diesem Projekt erzählte, die so bestechend charmant und offenherzig war, dass wir uns spontan dafür entschieden.“ Anders hat ihre Spontanität nicht bereut, sie schwärmt von allen drei an ihrem

CALIGULA von Albert Camus MÜNCHNER VOLKSTHEATER

Regie Ran Chai Bar-zvi

Bühne Ansgar Prüwer

Kostüme Marilena Büld

Musik Evelyn Saylor

Beleuchtung Anton Burgstaller

Dramaturgie Leon Frisch

Regieassistenz Malte Buchloh

Bühnenbildassistenz Matteo Marangoni Kostümassistenz Julie Fritsch

Besetzung Maximiliane Haß, Jan Meeno Jürgens, Nils Karsten, Steffen Link, Jonathan Müller, Anton Nürnberg, Liv Stapelfeldt, Cedric Stern

Haus entstandenen Arbeiten. Und wenn sie ihn in der nächsten Spielzeit mit ans Thalia-Theater nimmt – denn „natürlich kommt er mit nach Hamburg!“ –, wird Barzvi noch seltener die Zeit finden, Bühnen und Kostüme für eigene oder die Regieprojekte anderer zu kreieren. Doch offenbar sucht er sich mit viel Gespür die Kolleg*innen aus, die er dann einfach machen lassen kann: „Ich würde nicht mit jemandem arbeiten, wenn ich das Gefühl hätte, ich muss da viel reinreden. Es interessiert mich auch zu sehr, was der oder die andere einbringt. Mit ihrer Welt konfrontiert zu werden, ist der Sinn der Arbeit mit anderen Leuten, wenn ich das theoretisch auch selbst machen könnte.“ Und auch, wenn nicht, wie es scheint. Wie oft sagt Bar-zvi in unserem Gespräch „wir“, erzählt von politischen Diskussionen im Team und von Ideen, die die Schauspieler*innen eingebracht hätten? Hier weiß einer intuitiv, wie man Menschen ohne jedes populistische Blendwerk mitnimmt und die Spiellust eines Ensembles entfacht.

SABINE LEUCHT ist freie Theater- und Tanzkritikerin und schreibt seit 1998 vornehmlich aus München unter anderem für die „Süddeutsche Zeitung“, die „taz“, „Theater der Zeit“, das „Münchner Feuilleton“ und „nachtkritik.de“. Magistra Artium Publizistik und Theaterwissenschaft an der FU Berlin. Diverse Jurytätigkeiten, u. a. für die Landeshauptstadt München, den Bayerischen Landesverband für zeitgenössischen Tanz (BLZT), das Nationale Performance Netz (NPN), das Berliner Theatertreffen und den Theaterpreis Berlin. Mitherausgeberin und -Autorin (gemeinsam mit Katrin Ullmann und Petra Paterno) von „Status Quote: Theater im Umbruch – Regisseurinnen im Gespräch“ (Henschel Verlag, 2023).

CALIGULA
Foto: Arno Declair

NESTBESCHMUTZUNG

Foto: Bettina Frenzel
Foto: Tobias Pichler

KLASSENTREFFEN MIT EINER HYDRA

Das Institut für Medien, Politik und Theater bringt auf die Bühne, was allzu oft hinter den Kulissen passiert: In seinem neuen Stück „Nestbeschmutzung“ setzt es sich mit Machtmissbrauch in der Kulturbranche auseinander und würzt das Recherchetheater mit feiner Satire

Das Haus darf nicht beschädigt werden.“ Der Satz fällt zu fortgeschrittener Stunde, aber er fällt schwer ins Gewicht, denn es spiegelt sich darin der Umgang einer Branche mit den eigenen Schattenseiten. Ein Missbrauchsvorwurf steht im Raum, und hinter den Theaterkulissen bemüht man sich eifrig, den drohenden Imageschaden abzuwenden. Der Krisenstab ist sich einig, dass Institution und Inszenierung um jeden Preis geschützt werden müssen. Dass man „ihr“ doch sagen müsse, dass sie nie mehr an einem deutschsprachigen Theater arbeiten wird, wenn sie an die Öffentlichkeit geht. Und dass Kunst eben „auch mal wehtun darf“. Die wie durchs Schlüsselloch gefilmt wirkende Szene aus dem Direktionsbüro gelangt per Videoeinspielung an die (Bühnen-)Öffentlichkeit, das verstärkt seine entlarvende Wirkung. Es geht hier um ein strukturelles Problem, genauer gesagt um ein System, das allzu oft die Täter und Täterinnen schützt und so weiteren Fällen von Machtmissbrauch die Tür öffnet. Es geht aber auch um das im Theaterbetrieb so gern bemühte Familienbild und seine mitunter toxischen Züge. „Ich kenne das schon aus der Schauspielschule, dass einem eingetrichtert wird, sich mit dieser Institution zu identifizieren und ihr dankbar zu sein“, sagt Regisseur Felix Hafner über die „Überidentifikation“, die dadurch nicht selten entsteht. Und die es umso schwerer mache, etwas gegen Missstände zu tun. Weil es vielen Betroffenen eben auch umso schwerer falle, öffentlich zu erklären, die Institution habe sie nicht gut genug geschützt, ergänzt Journalistin Anna Wielander. „Viele sagen, sie wollen der Institution nicht Schlechtes, sie wollen sie nicht beschädigen, aber sie wollen auch, dass sich etwas ändert.“

BUSSI-MENTALITÄT UND SCHÖNER SCHEIN

Wielander und Hafner betreiben zusammen mit den Dramaturginnen Emily Richards und Jennifer Weiss das Wiener Institut für Medien, Politik und Theater, das an der Schnittstelle zwischen Theater und Journalismus operiert. Die daraus resultierende Form des Recherchetheaters erlebt seit einiger Zeit generell einen Boom, geeignete Stoffe purzeln ohnehin unablässig aus dem

NESTBESCHMUTZUNG

vom Institut für Medien, Politik und Theater; KOSMOS THEATER WIEN

Regie Felix Hafner, Jennifer Weiss, Anna Wielander Bühne & Kostüme Camilla Hägebarth Lichtgestaltung Dulci Jan Ton Karl Börner

Konzept, Text, Recherche Felix Hafner, Jennifer Weiss und Anna Wielander (Institut für Medien, Politik und Theater) Besetzung Tamara Semzov, Birgit Stöger, Mervan Ürkmeüz

Nachrichtenstrom. Darunter die von Kay Voges für das Berliner Ensemble szenisch eingerichteten Enthüllungen der Rechercheplattform Correctiv über ein Rechtsextrementreffen in Potsdam und die Erkundungen zu „Aufstieg und Fall des Herrn René Benko“ von Calle Fuhr, die dieses Jahr ebenfalls bei „Radikal jung“ zu sehen sind. Oder auch die Verstrickungen zwischen Tiroler Tourismusindustrie und Politik, die das Institut für Medien, Politik und Theater in den 2023 zum Münchner Festival für junge Regie eingeladenen „Gondelgeschichten“ seziert hat.

Das Quartett versteht sich als Kollektiv, das gleichberechtigt an seinen Stückentwicklungen arbeitet. Eineinhalb Jahre Recherche und unzählige Gespräche gingen der 2024 im Wiener Kosmos Theater uraufgeführten „Nestbeschmutzung“ voraus, die dort ansetzt, wo die Heuchelei die buntesten Blüten treibt, nämlich auf einer Theaterpreis-Gala mit unverkennbaren Anklängen an den österreichischen Nestroy-Preis. Beim Klassentreffen der Branche regieren Bussi-Bussi-Mentalität und der schöne Schein, er bekommt aber spätestens bei der AftershowParty hässliche Flecken. Das in grellbunte Anzüge gekleidete, mit Tamara Semzov, Birgit Stöger und Mervan Ürkmez grandios besetzte Darsteller-Trio tanzt sich hemmungslos den Frust darüber vom Leib, dass in der Branche bestens bekannte Täter in den Festreden noch immer nonchalant als „Enfant terrible“ oder „BühnenBerserker“ gepriesen werden dürfen.

DAS LÄSTIGE KEHREN VOR DER EIGENEN TÜR Während der Rauchpausen vor der Tür beginnt die Fassade endgültig zu bröckeln, die neuesten Gerüchte sind schon ausgetauscht, jetzt kotzt man sich auch über die eigenen Erfahrungen mit jahrelangen Demütigungen und sexuellen Übergriffen aus – zum Beispiel über jenen Griff zwischen die Beine, von dem der Regisseur später sagt, er habe doch schließlich das Beste aus der Schauspielerin herausgeholt, also das auf der Bühne erwünschte Ergebnis gebracht.

Auch die zunächst ganz artig an die liebe Theaterfamilie adressierte Danksagung kippt schließlich in eine satirisch gefärbte Abrechnung mit einer Branche, die sich die inhaltliche Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Abgründen und Schieflagen auf die Fahnen schreibt, aber ungern vor der eigenen Tür kehrt, wenn es um miese Bezahlung und noch miesere Arbeitsbedingungen, Misogynie, Gender-Pay-Gap, Grenzüberschreitungen und den über allem stehenden Genie-Kult geht, den Semzov nach furioser Wutrede mitsamt der heiligen elitären Kunstlehre in den hellrosa Bühnenvorhang schmiert. Konkrete Namen werden bewusst nicht genannt, der Wiedererkennungswert ist trotzdem hoch, wenn von brüllenden Regisseuren oder regieführenden Intendanten die Rede ist, über die auch medial berichtet wurde. Nicht Einzelfälle, sondern das System dahinter wollte man beleuchten, sagen Wielander und Hafner, es wird in der „Nestbeschmutzung“ gar mit einer Hydra verglichen: Schlägt man ihr einen Kopf ab, wächst sogleich ein neuer nach.

KEINE BETROFFENHEITSÜBUNG

Zu diesem System gehört auch der exemplarisch durchgespielte Versuch, bei diversen Anlaufstellen Unterstützung zu erhalten. Ernüchternd, was da alles zu hören ist: Man sei zu spät gekommen, habe zu wenig protokolliert, vielleicht aber auch zu viel – Fazit: „Auf den Dreck aufmerksam zu machen ist gefährlicher, als ihn zu verursachen.“ Noch so ein Satz, der im Gedächtnis bleibt und aus der „sehr präzisen und harten Textarbeit“ hervorgegangen sei, in die auch das Ensemble eng eingebunden war, so Hafner. Die Arbeitsweise des Kollektivs beschreibt er als sehr lebendigen Prozess. „Es funktioniert bei jeder Produktion unterschiedlich, aber es ist immer so, dass es eine Recherchephase im Vorhinein gibt. In diesem Fall haben wir einen Open Call veröffentlicht und sehr viele Gespräche mit Betroffenen, aber auch mit Expertinnen und Experten aus unterschiedlichen Fachgebieten geführt. Aus diesen Gesprächen kristallisiert sich dann heraus, welche Themen wir im Stück sehen, und wir fangen an, eine Struktur daraus zu bauen. Mit dieser Struktur von Szenen und Themen beginnt dann die Arbeit mit dem Ensemble.“ Dass die „Nestbeschmutzung“ nicht zur BetroffenheitsÜbung wird, hat auch mit dem feinen Humor zu tun, mit dem die Inszenierung dem an sich schweren Thema zu Leibe rückt. Er schlägt auch dann durch,wenn das Publikum mittels Trinkspiel „Never Have I Ever – Machtmissbrauch Edition“ dazu angeregt wird, über eigene Verhaltensweisen nachzudenken. „Ich habe noch nie einen beruflichen Vorteil aus der Benachteiligung anderer gezogen“ oder: „Ich war noch nie einfach nur heilfroh, dass es nicht mich trifft“, heißt es da zum Beispiel. Trifft zu? Na, dann Prost.

RECHERCHE UND FAKTEN

Die Botschaft: Sich mit der Frage zu beschäftigen, was das Thema mit einem selbst zu tun hat, kann auch ein Anstoß für Veränderungen sein und ist jedenfalls allemal besser, als in Resignation zu verfallen. Wielander, die für die österreichische Tageszeitung „Der Standard“ viel zum Machtmissbrauch in der Kulturbranche geforscht hat, sieht im Recherchetheater auch die Möglichkeit, komplexe Themen eingehender und mit partizipativem Ansatz greifbar zu machen. Von für die Bühne aufbereiteten Investigativ-Recherchen und dem transparenten Umgang mit Informationen könne umgekehrt auch der Journalismus profitieren, der in Zeiten von steigender Medienskepsis und gezielter Desinformation in einer Vertrauenskrise steckt. „Ich denke, Recherchetheater kann eine tolle Ergänzung fürs Publikum sein und dabei helfen, wieder Vertrauen in journalistische Recherche und Fakten herzustellen“, glaubt Wielander. IVONA JELC ˇ IC ´ – geboren 1975 in Innsbruck, studierte Vergleichende Literaturwissenschaft und Romanistik. Sie war Ressortleiterin für Kultur in der „Tiroler Tageszeitung“ und ist seit 2018 als freischaffende Kulturjournalistin und Autorin („14 Tage 1918“) tätig. Schreibt schwerpunktmäßig über bildende Kunst, Theater und gesellschaftspolitische Themen, als freie Kritikerin vornehmlich für die Tageszeitung „Der Standard“.

VON IVONA JEL Č I Ć

Konstantin, der Protagonist aus Marie Schleefs Inszenierung vom Hessischen Staatstheater Wiesbaden, hat eine besondere Leidenschaft: Er putzt. Und dieser Tätigkeit geht er mit einer Gründlichkeit nach, die wirklich ihresgleichen sucht: Er „putzt die Spüle, putzt den Abfluss, nimmt das Abflusssieb heraus und reinigt die Unterseite des Abflusssiebs“, heißt es in der Auftaktsequenz von Valeria Gordeevs Prosatext, auf dem Schleefs Produktion basiert. Und weiter: „Er schraubt das Abflusssieb auseinander, hebt den Gummiring an und entfernt den faulig darunter hervorkriechenden Schmutzrand. Auch den Gummiring reinigt er, indem er ihn mit Essig besprüht und beidseitig mit Zellstofftüchern abtupft …“

Im Grunde muss man sich Gordeevs Text – „Er putzt“ – als eine einzige Beschreibung minuziöser Tiefenreinigungsprozeduren vorstellen. Denn so, wie er beginnt, setzt er sich auch fort: vom Gummiring zu den Abflussschlitzen, von den Abflussschlitzen zum Wasserhahn, vom Wasserhahn zum Mülleimer – elf Seiten lang. „Er putzt“ ist ein extrem interessantes, im besten Sinne eigenwilliges und 2023 mit dem renommierten IngeborgBachmann-Preis ausgezeichnetes Stück Prosa, bei dessen Lektüre einem allein schon deshalb eine Menge Ideen durch den Kopf schießen, weil die Autorin selbst jedwede Erklärung für Konstantins Putzobsession verweigert. Ein Gedanke allerdings dürfte bei den meisten Menschen eher nicht darunter sein: nämlich dass dieser Text nach einer Bühnenadaption schreit.

Der Regisseurin Marie Schleef ging das vollkommen anders. „Ich war schon lange auf der Suche nach einem Text, in dem eine männliche Figur etwas tut, was nicht typisch männlich ist“, erklärt sie. Als sie dann im Zuge der Bachmann-Preis-Berichterstattung vor zwei Jahren auf den besagten Titel aufmerksam wurde, dachte sie: „Wow! ‚Er putzt‘ – das ist ja direkt eine Regiean-

LOB DER LÜCKE

Radikal texttreu: In Wiesbaden hat Marie Schleef Valeria Gordeevs Bachmann-Preis-Gewinner-Text „Er putzt“ komplett ohne Worte für die Bühne adaptiert. Zu hören gibt es trotzdem eine Menge – und zu sehen erst recht

weisung!“ Und zwar eine, die jetzt vom Wiesbadener Ensemble mit Höchstleistungspräzision umgesetzt wird. Schleef hat den Protagonisten in ihrer Inszenierung verdoppelt: Konstantin wird von zwei Schauspielern dargestellt. Und wie sich Adi Hrustemovic´und Jonas Grundner-Culemann, die Gummihandschuhe über den Fingern und die Kehrschaufel oder den Wischmopp in der Hand, über den kompletten Abend hinweg in Slow Motion über die Bühne bewegen – das gehört ohne Zweifel zu den bemerkenswertesten Bühnenereignissen der Saison.

ZIEMLICH RADIKAL

Es wird aber noch konsequenter: Schleef hat den Text vollständig nonverbal auf die Bühne übertragen. Über die gesamte Dauer der Aufführung – 80 Minuten lang –fällt kein einziges Wort. „Mir wurde erst im Nachhinein klar, dass das von vielen als ziemlich radikal empfunden wird“, sagt die Regisseurin und lacht. „Ich selbst finde diesen Ansatz gar nicht so steil, weil die Figuren in Valerias Text ja auch nicht sprechen.“ Dialoge sucht man bei Gordeev in der Tat vergeblich, „Er putzt“ folgt eher den Gesetzen des Bewusstseinsstroms. Und das, so Schleef, nehme sie als Regisseurin erst einmal ernst. Was allerdings nicht heißt, dass es in ihrer Inszenierung nichts zu hören gäbe – im Gegenteil! Wischgeräusche dringen im Laufe des Abends wiederholt ans Zuschauerohr, aber auch Soundelemente, die wie Meeresrauschen klingen oder wie zartes Tröpfeln auf eine empfindliche Oberfläche. Schleef hat „Er putzt“ als „ASMR-Performance“ konzipiert. Die Abkürzung steht für „Autonome sensorische Meridianreaktion“ und bedeutet, dass mit akustischen (wie auch visuellen) Reizen gearbeitet wird, die ein entspannendes Gefühl hervorrufen. Bei besonders empfänglichen Menschen – zu denen sich die Regisseurin selbst zählt – kann es

sich sogar, von der Kopfhaut ausgehend, als wohliges Kribbeln über den gesamten Körper ausbreiten. Gleichzeitig wirkt die Abwesenheit des Wortes aber auch wie ein Wahrnehmungsverstärker; die Augen werden umso nachdrücklicher zur Tätigkeit animiert. Optische Aktivität lohnt sich tatsächlich enorm an diesem Abend. Bühnenbildnerin Lina Oanh Nguyê ˜ n hat einen rosa grundierten Raum mit einer kleinen Fläche gelber Kacheln auf die Wiesbadener Bühne gebaut. Rechts befinden sich eine offene Tür und eine Wanduhr, links steht eine Kommode mit VHS-Kassetten, darüber hängt ein Kalender für das Jahr 1997. Mit der Genauigkeit einer Archäologin hat Nguyê n Gordeevs Text studiert, die Spuren, die mehrheitlich in die 1990er-Jahre führen, minuziös extrahiert und schließlich in den Bühnenraum übersetzt.

WEIBLICHE ENZYKLOPÄDIE

Darüber hinaus gibt es große Momente an diesem Abend, die gänzlich epochenunabhängig funktionieren. Zum Beispiel wenn sich plötzlich die Wohnungsrückwand öffnet und den Blick auf eine gefühlte Unendlichkeit freigibt, in der – wie eine Erlöserfigur – ein überlebensgroßes Wattestäbchen vom Schnürboden einschwebt. Wer Gordeevs Erzählung gelesen hat, weiß, dass selbiges sowohl für Konstantins Wohnungsreinigungsprozedere als auch für die Gesichtshygiene seiner kleinen Schwester Lada eine zentrale Rolle spielt, die in Schleefs Inszenierung ebenfalls auf der Bühne steht. Und wer den Text nicht kennt, hat an der Situation trotzdem (Assoziations-) Freude.

Die ästhetische Konsequenz von Schleefs Wiesbadener Inszenierung erinnert an die Diplomarbeit der Regisseurin, „Die Fahrt zum Leuchtturm“ nach Virginia Woolf, die 2018 zum Körber Studio Junge Regie nach Hamburg eingeladen wurde und anschließend in der Berliner

VON CHRISTINE WAHL
MARIE SCHLEEF Foto: Hendrik Lietmann.

ER PUTZT

von Valeria Gordeev

STAATSTHEATER WIESBADEN

Regie Marie Schleef

Bühne Lina Oanh Nguyên

Kostümbild Eleonore Carrière

Sound Jae A Shin / Richard Janssen

Licht Oliver Porst

Dramaturgie Cosma Corona Hahne

Regieassistenz Paul Ansmann

Vermittlung Luisa Schumacher

Besetzung Victoria Bloss, Jonas GrundnerCulemann, Adi Hrustemović, Ida Rauschnabel

Volksbühne zu sehen war. Schleef – und die zentrale Spielerin der Produktion, Anne Tismer – machten sich dort mit einer Szene unsterblich, in der zwanzig Minuten lang die Bühnenwände neu gestrichen wurden. Zwei Jahre später trat die Regisseurin dann im Berliner Ballhaus Ost mit einer formal völlig anders gelagerten Arbeit in Erscheinung, die ihr eine Einladung zum Berliner Theatertreffen bescherte: „NAME HER. Eine Suche nach den Frauen+“ förderte in einer Long-Durational-Performance über insgesamt sechs Stunden eine Art weibliche Enzyklopädie zutage: Wieder war es Anne Tismer, die – im Alleingang – ein beeindruckendes Lexikon von Blitzableiter-Erfinderinnen und DNA-Entschlüsselerinnen, von U-Boot-Ingenieurinnen, Komponistinnen, Philosophinnen und Autorinnen auf die Bühne performte, das die weitverbreitete These Lügen strafte, der Weg des Homo sapiens aus der Steinzeit bis ins Hightech-Zeitalter sei exklusiv von maskulinem Innovationsgeist gepflastert.

EINE AUFGABE

So konzeptionell vielfältig Schleef unterwegs ist, so deutlich zieht sich die Auseinandersetzung mit Frauen als Motiv durch ihre Arbeit – sei es in Gestalt von Autorinnen oder von Bühnenfiguren. Während viele feministisch gelabelte Produktionen im Theater noch immer mit dem Anprangern des klassischen weiblichen Rollenkanons beschäftigt sind, stehen die Frauen bei Schleef längst in aller Selbstverständlichkeit im Zentrum.

Das hat sicher auch mit ihrer Theatersozialisation in den USA zu tun: Als Schleef – 1990 in Göttingen geboren und in einer kosmopolitisch geprägten, mehrsprachigen Familie aufgewachsen – am Bard College in New York Theater und Performance studierte, gehörten Werke von Autorinnen selbstverständlich zum Ausbildungskanon. „Dort wurde konsequent paritätisch gedacht, der Anteil lag bei fünfzig Prozent“, erzählt sie. Zurück in Deutschland, sattelte Schleef auf ihre New Yorker Theaterausbildung noch ein Regiestudium an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ in Berlin auf. „Als ich das beendet hatte, dachte ich: Jetzt brauche ich meine Spielweise“, erinnert sie sich. „Denn im deutschsprachigen Raum ist das so; da hat jeder ‚seine Spielweise‘. Und wenn du die nicht hast als Regisseurin im Regietheater, existiert du nicht.“

Schleef hatte keine „Spielweise“ – und merkte, dass ihre Inszenierungslust eher durch genuines Textinteresse getriggert wurde als durch formale ÜberbauVorstellungen. „Ich gebe mir selbst gern Aufgaben“, sagt sie, „und damals habe ich mir vorgenommen, Texte von Frauen zu inszenieren – was ich in Zukunft sicher irgendwann auch mal brechen werde.“ Jetzt, als erfolgreich im Beruf angekommene Regisseurin – gerade feierte ihre jüngste Inszenierung „Die Vegeta -

rierin“ am Wiener Akademietheater Premiere – kann sie auch ihre Ästhetik klarer umreißen. „Es ist eine Ästhetik der Lücken“, erklärt sie, also beispielsweise der Leerstellen im Kanon, aber auch der Freiräume in der Interpretation.

BEFREIENDE ERFAHRUNGEN

Enorm prägend war für Schleef dabei die Regisseurin Susanne Kennedy, der sie neben ihrem Studium an der „Ernst Busch“ in der Berliner Volksbühne assistierte. Und zwar nicht nur in ästhetischer Hinsicht, sondern auch, was die konkreten Arbeitsprozesse betrifft. „Bei Susanne ist es immer extrem ruhig auf den Proben“, erzählt sie. „Da wird nicht geschrien, nicht gebrüllt, und es gibt eine Vision, aber auch ungeheuer große Freiräume.“ Durch Kennedy, die ihre Regisseurinnen-Existenz überhaupt nicht darüber definiere, besonders tonangebend in Erscheinung treten zu müssen, habe sie auch erfahren, wie befreiend Teamarbeit sein kann: Aufgaben abgeben, den anderen vertrauen, die Bühnenbildnerin selbstständig ihre Arbeit machen lassen. Das klingt, als sei es unbedingt zur Nachahmung zu empfehlen.

CHRISTINE WAHL ist Theaterkritikerin und Mitglied der „Radikal jung“-Jury. Sie studierte Germanistik, Philosophie und Soziologie in Freiburg und Berlin, arbeitet seit 1995 als freie Autorin u. a. für den „Tagesspiegel“, „Theater heute“ und den „Spiegel“ und ist seit 2022 Mitglied der Redaktion von „nachtkritik.de“. Als Jurorin war sie u. a. für die Mülheimer Theatertage, den Hauptstadtkulturfonds, den Kranichsteiner Literaturpreis und das Festival „Impulse“ tätig und gehört aktuell der Jury des Berliner Theatertreffens an. Autorin und Herausgeberin des Buches „welt proben“ über das Regiekollektiv Rimini Protokoll (Alexander Verlag Berlin, 2021).

ER PUTZT
Foto: Maximilian Borchardt

WIE MAN DEN PESSIMISMUS AUSHEBELT

Update für das 21. Jahrhundert: Kamilè Gudmonaité entwickelt auf der Grundlage von Franz Kafkas Erzählung „Die Verwandlung“ für das Stadt:Kollektiv des Düsseldorfer Schauspielhauses einen aktuellen Abend über Körperpolitik

Kafkas Erzählung „Die Verwandlung“ aus dem Jahr 1912 beginnt so: „Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt.“ Der Witz dieser Eröffnung, die wahrscheinlich zu den zehn berühmtesten Eröffnungen der Literaturgeschichte zählt, liegt darin, dass hier etwas Unerhörtes mitgeteilt wird, dass dieses Unerhörte sich aber gewissermaßen in einem spektakulär glänzenden sprachlichen Panzer verbirgt: zwei Hexameter, gespickt mit drei Alliterationen („unruhig“, „ungeheuer“, „Ungeziefer“); dazu ein Vor- und ein Nachname, die proper ineinanderstecken wie Hand und Handschuh.

Der Satz löst keinen Schock aus, auch kein Unbehagen, er reizt eher zum Lachen. Umso dramatischer entwickelt die Geschichte sich in ihrem Fortgang, hin zu einer Parabel über soziale Kälte in einer Kaufmannsfamilie in Prag in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts. Gregor, der als Meistverdiener und Ernährer seiner vierköpfigen Familie (Eltern und Schwester) ausfällt und zu einem sozial überflüssigen Reptil regrediert, allerdings mit dem vollen Bewusstsein eines intelligenten und fühlenden Erwachsenen, geht elend zugrunde. Erklärungen liefert der Erzähler nicht, er fühlt sich allerdings bemüßigt, ausdrücklich klarzustellen: „Es war kein Traum.“

IS THERE SOMETHING WRONG WITH ME?

Kamilè Gudmonaité, die litauische Theatermacherin, die, unterstützt von den Dramaturginnen Birgit Lengers und Dorle Trachternach, Kafkas Text beim Düsseldorfer Stadt:Kollektiv zum Anlass für einen bewegenden Abend über Körperpolitik nimmt, ist sich des Spagats zwischen Dystopie und Humor offensichtlich bewusst. „Ein menschlicher Käfer zu sein, ist natürlich auch komisch“, sagt sie. Doch der Text der Erzählung ist nur der Ausgangspunkt, die Folie für ganz eigene Geschichten, die sieben Laien über sich selbst erzählen, vornehmlich über ihre Beziehung zu ihrem eigenen Körper. Denn diese Körper werden auf ganz verschiedene Weisen als interessant, als auffällig oder als problematisch empfunden, vor allem in Hinsicht auf das soziale Umfeld der Akteure. Der Blick von außen, der wie bei Gregor Samsa internalisiert wird: „Is there something wrong with me?“ Gabriele Dittmar, die als Erste auftritt, hat sich für die Introduktion, eher scherzhaft, einen Käferpanzer übergestreift. Sie leidet an Osteoporose, einer Knochenkrankheit. Davon erzählt sie mit einem Schuss Selbstironie, als hätte auch sie sich über Nacht in etwas „Ungeheures“ verwandelt. Gudmonaité betrachtet „Die Verwandlung“, wie sie sagt, als „eine exemplarische Geschichte über das Leiden einer Person, die anders ist“. Man nennt es „Othering“, das Fremd-Machen eines anderen, der als nichtzugehörig kategorisiert wird. Letztlich führe das (schlimmstenfalls auch in einer liberalen Gesellschaft) zu einer Bewertung, „wer akzeptiert wird, welchen Wert ein Leben hat“.

Menschen, die durch ihren Körper „besonders herausgefordert“ sind – so drückt die Regisseurin es aus. „Es sind Menschen mit großen Fragen an ihre Körper, wer sie sind in ihren Körpern, und wie sie aufgrund ihrer Körper von der Außenwelt wahrgenommen werden. Ich war überrascht, wie unterschiedlich diese Körperthemen sind: Es geht um Veränderung durch das Altern, geschlechtliche Transition,

Krankheiten.“ Und sie ergänzt: Sie, diese Menschen, „befinden sich metaphorisch gesprochen wie Gregor Samsa in Räumen, die vereinzeln und einschließen“.

WIE DIE ZIVILISATION BEGANN

„Es war kein Traum“, so lautet nicht nur gleich am Anfang ein prägnanter Satz bei Kafka, sondern auch der Refrain eines Songs, den Melek Beril Sargut zu Beginn dieses gut einstündigen Abends mitreißend singt. Die sieben Spieler und Spielerinnen sind meistens auf der Bühne, die Barbora Su¯lniuté gestaltet hat, einem schlichten, mit schlanken Stangen und Hubsystemen ausgestatteten Guckkasten, dessen filigrane Ästhetik auf das menschliche Nervensystem, auf Blutgefäße und Knochen anspielt. Die Ausstatterin zitiert in einem Programmheftbeitrag die Anthropologin Margaret Mead, deren These lautet, menschliche Kultur und Zivilisation habe in dem Moment begonnen, als sich jemand den Oberschenkelknochen brach und sich eine andere Person um ihn kümmerte, einen sicheren Ort fand, ihn mit Nahrung versorgte und ihm so die Chance zur Heilung gab. Dieses Zitat findet auch Eingang in den Abend, und tatsächlich sind es ja die Knochen, die alle Menschen mit ihren Vorfahren und miteinander verbinden und letztlich ein universalistisches Menschenbild begründen. Eine junge Frau, Elena John, fragt uns, das Publikum, ganz unverblümt, was wir denn gedacht hätten, als wir sie auf der Bühne tanzen sahen. Wir haben vielleicht gar nicht gedacht, dass sie auffällig „dünn“ ist und mal ein richtiges Butterbrot bräuchte, wir haben alles Mögliche gedacht; aber offenbar ist dieser Gedanke der, von dem John aufgrund ihrer Erfahrungen glaubt, dass es der Gedanke ist, den die Menschen denken, wenn sie sie sehen: ein auffallend dünnes Mädchen. Hier, wie auch an anderen Stellen, wird deutlich, wie dieses „Othering“ funktioniert, mit reflexartigen Wechselwirkungen zwischen innen und außen.

HÖHEPUNKT DER ENTFREMDUNG

Theodor Pepper Meon Gatzka hat sich von einem Mädchen in einen Jungen verwandelt. In einen hübschen, großgewachsenen, schlanken Jungen mit halblangen Haaren. Auch dieser Prozess hat, wenigstens bei der ersten Eröffnung, Befremden, sogar „Ekel“, wie er sich in seinem Monolog erinnert, bei einigen Angehörigen ausgelöst. Kafkas Protagonist nimmt ja das Befremden, den Ekel seiner „Liebsten“, wie man so schön sagt, permanent vorweg, er rechnet keineswegs mit Empathie, Mitleid oder Fürsorge. Und dann mutiert diese Abscheu in blanke Gewalt, die „Liebsten“ bombardieren Gregors Körper mit kleinen roten Äpfeln, von denen einer „förmlich in Gregors Rücken“ eindringt und „als sichtbares Andenken im Fleische“ sitzenbleibt. Die Entfremdung hat ihren Höhepunkt erreicht, es ist keine Rede mehr davon, dass Gregor sein Leben „neu ordnen“ müsse, wie es im zweiten von drei Kapiteln noch hieß, es ist im Gegenteil nur noch ein kleiner Schritt bis zu seinem Verenden und dem finalen Akt, in dem seine sterblichen Überreste von der Dienstmagd zusammengekehrt und entsorgt werden. „Ich war überrascht“, sagt Gudmonaité, „wie organisch sich der Originaltext mit den Geschichten des Ensembles verbinden ließ.“ Und in der Tat ist es ja eine Eigenschaft großer Erzählungen, sei ihr Gestus auch noch so rätsel-

haft, dass ihr mimetischer Kern sich auch über Epochen hinweg als anschließbar erweist. Allerdings sei es bei der Arbeit darum gegangen, betont Gudmonaité, sensibel mit den authentischen Geschichten umzugehen und die Laien in ihrem Spiel zu unterstützen und zu schützen. So geht denn auch von den berühmten roten (und hier grünen) Äpfeln keine akute Gefahr mehr aus, sie stehen als Chiffren nicht länger für Gewalt, ihre Metaphorik hat sich „verwandelt“, in eine spielerische, empathische, menschenfreundliche Geste. Denn natürlich darf der Abend nicht in kafkaeske Hoffnungslosigkeit münden, allein die Tatsache, dass und wie hier sieben Geschichtenerzähler sich selbst auf die Bühne bringen, erzeugt Energie.

BEFREIENDER HUMOR

Was nicht heißen soll, dass Probleme bei der „Neuordnung“ der Körperpolitik verharmlost würden. Im Gegenteil, sie sind ja das Thema der Inszenierung. Aber ihre Atmosphäre, ihre Grundstimmung ist der befreiende Humor, dafür wird dieser Abend zu Recht gefeiert. Italo Calvino, ein begeisterter Kafka-Leser, hat kurz vor seinem Tod 1985 in sechs „Vorschlägen für das nächste Jahrtausend“ unter anderem folgende ästhetische und lebenspraktische Tugenden benannt: Leichtigkeit, Genauigkeit, Schnelligkeit und Anschaulichkeit. Es ist das nächste Jahrtausend, die Probleme sind die alten in verschärfter Form, und dies sind genau die Qualitäten, die die Düsseldorfer Inszenierung der „Verwandlung“ auszeichnen: die Anschaulichkeit in der physischen Gegenwart der Spielenden mitsamt ihren „Merkmalen“, die Schnelligkeit im Wechsel der Mittelpunktfigur, die Genauigkeit in der Anlehnung an die literarische Vorlage und schließlich die Leichtigkeit in der Art und Weise, wie deren bitterer Pessimismus ausgehebelt wird.

MARTIN KRUMBHOLZ – geboren 1954 in Wuppertal, ist promovierter Germanist. Langjährige Tätigkeit als Literatur- und Theaterkritiker, unter anderem für die „Süddeutsche“ und die „Neue Zürcher Zeitung“, heute vor allem für „nachtkritik.de“. Er veröffentlichte zwei Romane, „Eine kleine Passion“ (2013) und „Alex, Martin und ich“ (2021). Lehrtätigkeit an der Essener Folkwang-Universität der Künste. Er lebt in Düsseldorf.

DIE VERWANDLUNG

nach Franz Kafka

STADT:KOLLEKTIV DES DÜSSELDORFER SCHAUSPIELHAUSES

Autorinnen Dorle Trachternach, Kamile Gudmonaite

Regie Kamile Gudmonaite

Bühne & Kostüme Barbora Sulniu¯te˙

Musik Dominykas Digimas

Choreografie Mantas Stabačinskas

Licht Christian Schmidt

Dramaturgie Birgit Lengers, Dorle Trachternach

Besetzung Gabriele Dittmar, Inga Flamang, Elena John, Len Königs, Theodor Pepper

Meon Gatzka / Leo Milo Matteo Näckel, Melek

Beril Sargut, Adnan Zecevic

DIE VERWANDLUNG

Foto: Sandra Then

UNTERWEGS ZUM KULT

IGelungenes Match von Drag und Theater: Für das Solo „Sally – Mein Leben im Drag“ an der Berliner Volksbühne greift Meo Wulf queerfeindliche Debatten auf, um sie lässig zu verulken und mit Verve ad absurdum zu führen

ch wollte Drag mit Theater verbinden“, sagt Meo Wulf. Also die hohe Schule der queeren Verwandlung, die in Berlin in Clubs wie dem „SchwuZ“ beheimatet ist, mit dem politischen Diskursraum der Bühne. Und wenn man Wulf im Finale des Solos „Sally – Mein Leben im Drag“ in glamourösem Glitzerkleid und gewellter Blondhaar-Mähne bei einer schrillen Kinderbuchlesung erlebt, dann findet man diese Verbindung definitiv geglückt: Show und Politik in frappierender Verschränkung. Aber der Reihe nach. Wulfs Soloabend erzählt auf den ersten Blick eine recht geradlinige Geschichte: Dragqueen Sally soll in wenigen Stunden in der städtischen Bibliothek vor fünfjährigen Kindern auftreten – mit einer Lesung des queeren Kinderbuchs „Raffi und sein pinkes Tutu“ von Riccardo Simonetti. Noch tigert Sally in den super hübschen, super plüschigen heimischen vier Wänden auf und ab (Bühnenbild: Mayan Tuulia Frank). Sally ist nervös oder auch nur leicht überspannt, probt noch mal am Kinderbuch-Vortrag, hat ein Telefonat mit der nervigen Schwester, schaltet dann den Fernseher an, um den US-amerikanischen Showklassiker „RuPaul’s Drag Race“ laufen zu lassen. Und schaltet ab, denn, „Alter Schwede!“, so ganz ist das nicht (mehr) Sallys Ding. All das erleben wir in einem nach außen getragenen inneren Monolog. Sally führt uns im andauernden Selbstgespräch durch die betonte Unerheblichkeit des alltäglichen Lebens und die Nervenbündelei vor der Show (unerheblich, aber doch auch bereits mit Showappeal, denn das heimische Dasein wirft einen Schatten). „Wo ist die Fernbedienung? Ach da!“, murmelt Sally in den nicht vorhandenen Bart und erlaubt sich einige politische Bemerkungen über „Drag Race“ und die dort fehlenden Frauen. Ist diese TV-Show nicht eigentlich misogyn? Ist diese Form von Frausein „kulturelle Aneignung“? Ist Frausein „eine Kultur“? So rätselt Sally. Aber fürs Erste bleibt es bei lockeren Andeutungen, das offensive Diskursfinale steht noch bevor.

VON CHRISTIAN RAKOW
MEO WULF
Foto: Perra Inmunda

SALLY – MEIN LEBEN IM DRAG

LOCKERER BÜHNEN-SLAPSTICK

Der Stoff des Abends hat viel mit Wulf selbst zu tun. Geboren 1992 in Hamburg, stand Wulf bereits mit zwölf Jahren auf der Bühne des Deutschen Schauspielhauses Hamburg, in einer Kinderrolle in „Warten auf Godot“. Später gings zum Fernsehen und für kurze Zeit auch ins Ensemble des Wiener Theaters in der Josefstadt (2016 bis 2018). Anschließend führte der Weg raus aus Theater und Film, hinein in die Drag-Welt. Mit der queeren Performancegruppe Cointreau On Ice tingelte Wulf über Festivals. 2021 war Wulf Teil der fulminanten LGBTQ-Kampagne #ActOut, mit der 185 lesbische, schwule, bisexuelle, transgender, intergeschlechtliche und non-binäre Schauspieler*innen in einem kollektiven Coming-out im Magazin der „Süddeutschen Zeitung“ hervortraten. Ihr Impuls: auf Diskriminierung in den darstellenden Künsten und auf die Tabuisierung queerer Identitäten in anderen gesellschaftlichen Feldern aufmerksam machen.

Das „Leben als Drag“, das Sally an diesem Abend vorführt, ist entsprechend aus einem sehr persönlichen, zugleich aber auch sehr kanonischen queeren Kanon von Musik, Fernsehshows und Literatur komponiert. Der Name der Titelfigur „Sally“ etwa stammt aus einem Lied der Chansonsängerin Milva. Es erzählt die Geschichte des Mädchens Sally, das als graue Maus im Schatten ihrer Schwester kargt. „Riefen Kinder zum Spielen, dann nur nach der Schwester, / Sally blieb meistens alleine zurück / Sie verkroch sich dann traurig in einer Ecke / Wenn einer Pech hat, dann hat er nie Glück“, singt Milva, und Wulf zieht diese Lyrics im Playback auf der Bühne an sich ran. Und wenn die Sally des Stücks anschließend in herrlichstem passiv-aggressiven Ton mit ihrer Schwestern telefoniert, dann begreift man, dass diese Szenen einfach aus einer geschickten Aneignung der Liedvorlagen entstanden. Aus einem melancholischen Song wird lockerer Bühnen-Slapstick. Ein befreiender Akt.

ES MUSS NICHT ALLES SINN MACHEN

„Die Lyp Syncs formen das Stück“, sagt Wulf bei unserem Gespräch in einem Café in Kreuzberg. Es gäbe ein ganzes Repertoire von „Lyp Syncs“, also Liedern zum PlaybackSingen, die Wulf auf dem heimischen Rechner sammele und von denen die Bühnenideen inspiriert seien. Songs von Milva eben oder auch Christina Aguilera oder sogar The Police, die alle in dem Stück vorkommen. „Die Kostümbildnerin Hungry (Johannes J. Jaruraak) hat mich gefragt: ‚Also du machst eigentlich nur Lyp Syncs und baust da eine Geschichte drum?‘ Das ist ziemlich auf den Punkt gebracht“, sagt Wulf. „Eine Story, die Sinn macht.“ Einen Moment überlegt Wulf und schiebt dann hinterher: „Aber es muss auch nicht alles Sinn machen. Hauptsache, es ist interessant und unterhaltsam.“

Unterhaltsam ist es, aber Sinn macht es schon auch. Besonders dann, wenn sich Sally endlich zu der lange angekündigten Buchlesung vor dem Kindergartenpublikum begibt. Diese finale Passage greift deutlich die queerfeindliche Debatte auf, die sich 2023 in Bayern rund um die Literaturreihe „Draglesungen für Kinder“ entspann. In Reaktion auf das Angebot witterten damals CSU und Freie Wähler eine „woke Frühsexualisierung“, „Sexualkunde durch Dragqueens“ oder auch ganz pauschal „Kindeswohlgefährdung“. Von diesen konkreten Wortmeldungen steht nichts im Stück. Aber das politische Klima, das sich in ihnen manifestierte, wird unmissverständlich angezapft und aufs Heftigste verulkt.

Sally ist frisch umgezogen als Prachtexemplar von einer Dragqueen und begibt sich liebevoll an ihre Lesung. Aber diese läuft diskursiv bald völlig aus dem Ruder. Anfangs noch an der tatsächlichen Geschichte des Buchs von Simonetti um die Erlebnisse des Kindes Raffi orientiert, schweift Sally zunehmend ab, macht sich Gedanken über die Rolle queerer Menschen in unserer Gesellschaft, fragt etwa – ganz im Geiste des #ActOut-Manifests – nach Besetzungspolitiken in Film und Schauspiel (und erklärt,

SALLY – MEIN LEBEN IM DRAG von und mit Meo Wulf BERLINER VOLKSBÜHNE

Text & Regie Meo Wulf

Bühne Mayan Tuulia Frank

Kostüme Martha Lange

warum etwa schwule Menschen auch schwule Figuren spielen sollten) oder reflektiert allgemein über sensiblen Sprachgebrauch und seine Funktion in der Ausprägung der Geschlechter: „Wörter formen die Welt!“

HUMORISTISCHES HUSARENSTÜCK

Das könnte in jedem anderen Setting durchaus lehrerhaft dozierend ausfallen, wird hier aber höchst skurril, weil man ja die Fiktion mitdenkt, dass Sally das alles vor Kinderpublikum spricht. Quasi meilenweit an Wortschatz und Verständnishorizont der Zielgruppe vorbei. Noch schräger wird es dann, wenn Sally die Story um „Raffi und sein rosa Tutu“ sukzessive umdichtet und ins Absurde treibt. Die Kindergeschichte gerät zur grellen Pornografie. Irgendwann wähnt man sich näher an der Drastik eines Georges Bataille („Die Geschichte des Auges“) als am Stoff aus der Stadtbibliothek. So verwandelt sich „Sally“ zum humoristischen Husarenstück, zur krassen Aneignung und Karikierung aller Vorwürfe, mit denen Dragqueens politisch konfrontiert sind. Der große, im vergangenen Jahr verstorbene Volksbühnen-Intendant und Dramatiker René Pollesch, der selbst schwul war und unterschiedlichste queere Positionen an seinem Haus ermöglichte, sah Wulfs Soloabend noch bei der Premiere und bot Wulf hernach die große Bühne an. Dort spielt jetzt das Nachfolgestück von „Sally“ mit dem Titel „Conni & Clyde“. Es ist eine wilde Posse: Wulf und Christine Groß geben als Rokoko-Lookalikes ein geschwisterlich anmutendes Liebespärchen, leben abgeschottet, aber wünschen sich „Kontakt zur Außenwelt“. Die drängt nurmehr über die betrübliche weltweite Nachrichtenlage zu ihnen heran. Und durch einen penetranten Maulwurf, der Eifersucht und Missgunst aufkommen lässt.

MÄCHTIGER SCHAUWERT, AKROBATISCHE TANZEINLAGEN

Irgendwann trennt man sich. Wulf alias Conni findet im Keller des Hauses mit scharfen Drag-Tanzsolos zu frischem Glamour und auch – quasi als Selbsttherapie – zum Einverständnis mit den eigenen Exkrementen. Final kommen Conni & Clyde doch wieder zusammen, um das (vom Titel ja nahegelegte) Gangsterpärchen zu bilden und konservative Spitzenpolitiker zu jagen. Ein Vorhaben, das an der Volksbühne kräftigen Szenenapplaus einheimst.

Im Vergleich zu „Sally“ klafft in dieser Revue das Verhältnis von Sinn und Unterhaltung erheblich auseinander. Die „Conni & Clyde“-Show ist gerüttelter Quatsch, allerdings mit mächtigem Schauwert und einer Reihe sensationell akrobatischer Tanzeinlagen. Turnen mittels Trampolin inklusive. Und reichlich Lyp Sync gibt es. Wer fragt da nach dem tieferen Gehalt? Die Leute nicht, sie jubeln. Was nur bezeugt: Wulf ist dabei, Kult zu werden. Kult muss sich nicht erklären. Er steht für sich.

CHRISTIAN RAKOW – geboren 1976 in Rostock, studierte Germanistik und Philosophie in Rostock, Sheffield und Berlin und promovierte in Literaturwissenschaft in Münster. Er ist Co-Leiter der Redaktion von „nachtkritik.de“ und schreibt als Theaterkritiker u. a. für „Theater heute“. Er war Mitglied der Auswahljury des Festivals „Politik im Freien Theater“ der Bundeszentrale für politische Bildung 2011, Mitglied der Preisjury beim Mülheimer Dramatikpreis 2014 und Mitglied der Jury des Berliner Theatertreffens 2017 bis 2019.

Foto: Alessandra Fochesato

Fangen wir mit dem Pferd an. Präsent ist es zwar auch in Heinrich von Kleists Novelle „Michael Kohlhaas“. Doch in Lorenz Noltings Inszenierung für das Theater Osnabrück schafft es das Tier ganz prominent in den Titel – der Abend heißt komplett: „Kohlhaas (Glück der Erde, Rücken der Pferde)“. Außerdem bleibt der Vierbeiner mit dem wunderbaren Namen Hieronymo 85 Minuten lang omnipräsent – und in der Erinnerung noch viel länger. Der Schauspieler Michi Wischniowski ist dieser Super-Gaul. Was hat es mit dem Pferd auf sich? Noltings Erklärung verrät schon sehr viel über des Regisseurs Arbeit mit Schauspielerinnen und Schauspielern: „Ich habe mit Michi gemeinsam Schauspiel studiert, sehr viel über Schauspieltheorie gesprochen und vor allem Unmengen an Bewegungsunterricht gemeinsam absolviert. Das war das Gute an der Folkwang-Schule: dass man dort einen starken Fokus auf Bewegung gelegt hat – nicht Tanz, sondern Bewegung. Deswegen konnten wir bei der Entwicklung des Pferdes gemeinsam eine Sprache finden. Wir konnten zusammen grübelnd durch den Raum gehen: mal hier ein Wieherer, mal da ein Huf in die Wand. Ein bisschen Westernmusik, ein bisschen Commedia. Kurz mit Grotowski nackig und verschwitzt durch die nahen Wälder, dann wieder ganz nachdenklich vom Publikum aus zu zweit auf die leere Bühne schauen. Das ist eh das Schönste: gemeinsam nachdenken und nachts um halb drei Tischtennis spielen, bis jemand eine Idee hat, wie es weitergehen kann im Stück.“

WIE EIN ACTIONFILM

„Bis jemand eine Idee hat“ – an Einfällen mangelt es dieser Inszenierung wirklich nicht. Die Zuschauer erleben einen Parforce-Ritt durch die europäische Geschichte mit allen Gerechtigkeiten und Ungerechtigkeiten. Vom 16. bis ins 21. Jahrhundert. Am Ende resümiert Rebekka Biener als Lisbeth Kohlhaas, angekommen im Jetzt: „10. Jahrhundert: Tod, Krieg und Verwüstung, 11. Jahrhundert: Tod, Krieg, Verwüstung“, und so geht es fort. Längst sind Lisbeth und Michael Kohlhaas Zeitgenossen. Aber sie zählen auch heute – wie im Mittelalter – nicht zu den Erfolgreichen der Gesellschaft, nicht zu den Gewinnern. Sie sehen schäbig aus und reden schäbig. Im Jogging-Outfit auf billigen Campingstühlen sitzend, ähneln Biener und Thomas Kienast in ihren Rollen eher den Menschen, um die die bürgerliche Gesellschaft einen Bogen macht. Diese Verlorenen, Vergessenen sind traumtänzerische Gerechtigkeitssucher. Sie formulieren die Ängste und Hoffnungen eben nicht nur der Untergeher: „Wir haben das Sprechen verlernt“, wissen sie und sind dennoch irgendwie zufrieden, wenngleich nicht glücklich. Zufrieden, weil sie – wie Lisbeth weiß – nicht verloren ist: „Weil ich noch einen Rest Liebe in meinem Herzen trage.“

Warum hat Nolting den „Kohlhaas“-Text gelesen und überschrieben? „Weil der ‚Kohlhaas‘ so alt und rechtefrei ist“, antwortet er, „und weil ihn viele kennen. Und auch, weil er sich beim Lesen wie ein einziger, elendiger Satz anfühlt und beim Darüberreden wie ein Actionfilm. Man kann Kohlhaas außerdem sehr gut zu einem ernsten Schwarz-Weiß-Film machen. Vor allem ist Kohlhaas aber ein guter Name.“

GRELL, WÜST, RADIKAL Schwarz-weiß ist diese Arbeit nun wirklich nicht – im Gegenteil: Kann man bunt steigern? Diese Aufführung ist grell. Sie ist laut. Sie ist kitschig. Sie ist wüst. Sie ist, auch das, anarchisch. Sie ist jung. Sie ist radikal. Und auch wenn man diese Inszenierung für ein improvisiertes Happening halten könnte, ist sie doch sehr genau gearbeitet. Die erste der vielen Videoeinspielungen wird just dann gestartet, nachdem Kohlhaas gebrüllt hat: „Ich werde mir Gerechtigkeit verschaffen. In meinem Herzen sei fortan nichts als Hass!“ Kohlhaas wird zum Revolutionär durch die Zeiten. Ein rücksichtloser Kämpfer, erbarmungslos und brutal. Dann wieder schlurft er erschöpft auf das kleine Podest – die Spielfläche, die eingenebelt werden und sich drehen kann: „Revolution macht so was von hungrig!“ Und anschließend gibts Glückskekse für alle.

Nolting und sein Ensemble, zu dem ganz entscheidend die Dramaturgin Sofie Boiten zählt, spielen miteinander, und sie spielen mit den Zuschauerinnen und Zuschauern. Ich habe es bisher selten erlebt, dass sich ein Publikum freudig zum Mitspielen verführen lässt. In Osnabrück nahmen soignierte Damen und Herren die Glückskekse an, schwenkten Kunstblumen und skandierten: „Ohne Gewalt!“ oder „Gegen Gewalt!“.

„Für mich passiert Theater auf der Probe mit den Menschen, die anwesend sind“, erklärt Nolting. „Diese Menschen sind alle Spielerinnen und Spieler, wenn auch vielleicht in unterschiedlichen Disziplinen. Ob ich jetzt mit meinem Körper oder meinen Kostümentwürfen spiele, das ist erst mal egal. Aber gespielt werden muss im Moment. Und der Text oder der Stoff – das ist das Material, das muss verändert und angepasst werden an die Wirklichkeit der Probe. Deswegen mache ich eigentlich nur Stoffentwicklungen. Gerne aus Materialien heraus, bei denen das Publikum mitspielen kann, weil es den Grundstoff kennt. Ich sitze auf Proben auch selten, sondern renne meistens herum oder grüble irgendwo im Raum. Alle sollen Komplizinnen und Komplizen sein im gemeinsamen Denken – bestenfalls.“

MAN LIEST. MAN TANZT. MAN MACHT DEALS

Das Stadttheater Osnabrück ist zum ersten Mal zum Festival „Radikal jung“ eingeladen; es ist keines jener Häuser, deren Produktionen Pflichttermine für Kritikerinnen und Kritiker sind. Warum arbeitet Nolting hier? „In Osnabrück haben Sofie und ich eine unserer ersten Arbeiten machen können, dort hat man uns vertraut –und in Osnabrück war auch unsere Zusammenarbeit als Regie-Dramaturgie-Duo nie ein Problem. Außerdem gibt es dort mittlerweile eine Art Spielerinnen-Spieler-Bande, die uns ebenfalls vertraut, auch wenn man manchmal parallel an zwei Fassungen gleichzeitig probt und bis zur Generalprobe oder gar 20 Minuten vor der Premiere noch großflächige Änderungen passieren. Darum geht es mir in meiner Arbeit immer: Um eine Gruppe, die aus einem Vertrauen zueinander einer gemeinsamen Intuition folgen kann. Das ist etwas sehr Zartes, das man beschützen muss. Und diese Gruppe, das sind sehr viele – und im Kern Sofie und ich –, wo alles zusammenläuft. Das liegt mir sehr am Herzen!“

Mit Boiten arbeite er zwar „klar als Regie-Dramaturgie-Duo zusammen“, erklärt Nolting. „Aber eigentlich nur auf der Probe. Abseits davon denken wir die ganze Zeit gemeinsam, gehen schwimmen, machen bizarre Sportevents mit und sind eigentlich nonstop in einem langen, großen Gespräch über Theater. Das ist das Tollste, was es gibt: nicht mehr allein zu sein, Leute zu haben, mit denen ein permanentes Gespräch abläuft über Formen und Ideen und darüber, was als Nächstes zu machen ist.“

Im konkreten Fall von „Kohlhaas“, berichtet Nolting über die Arbeitsweise, gab es eine Fassung des KleistTextes und ein Theoriegerüst, das sich – wie häufig in den jüngsten Arbeiten – um Essays der bildenden Künstlerin Hito Steyerl herum aufgebaut habe. „Man liest Hito. Man liest bizarre Texte über Börsenvorgänge und Derivate. Man liest „reddit“-Foren und schaut sexy Mangione-Memes. Man macht Deals. Dann tanzt man ein bisschen zum Soundtrack von „Akira“. Und dann gehen Sofie und ich nach Hause, schreiben weiter, diskutieren. Sofie bringt Texte mit, und ich schaue drei Stunden lang YouTube-Videos nachts. Oder wir schreiben eine komplett neue Fassung, weil die alte langweilig ist. Parallel wird gechattet. Wichtig ist also vor allem, dass man die ganze Zeit alles verändern und umschreiben kann, bis das Ensemble Stopp ruft.“

HEISSE ÜBERSPITZUNG DER GESELLSCHAFTLICHEN VERHÄLTNISSE

In diesem Fall ist eine manchmal auch klamaukige theatrale Auseinandersetzung mit dem Stoff herausgekommen. Die Osnabrücker „Kohlhaas“-Überschreibung ist Perfomance und Kasperletheater, ist heiße Über-

LORENZ NOLTING

Foto: Laura Levin

spitzung der gesellschaftlichen Verhältnisse heute. Nolting und seine Bande haben erreicht, was sie wollten: „Es muss Hitze entstehen, damit Dinge miteinander verschmelzen, die scheinbar nicht zusammengehören!“ Ist dieser „Kohlhaas“ eine Kampfansage an die sich verändernde politische Landschaft nicht nur in Deutschland, sondern in Europa und der Welt? „Es ist eine Auseinandersetzung“, so Nolting. „Wir machen Theater. Man kann Kunst mit politischen Aktionen aufladen, man kann politische Aktionen mit Kunst aufladen. Wir leben in einer Zeit, in der Theaterstücke antifaschistisch sein müssen!“

C. BERND SUCHER – Autor, Theaterkritiker, Hochschullehrer. Dissertation über „Martin Luther und die Juden“; seit 1998 Professor an der Hochschule für Fernsehen und Film in München. Mitglied des PEN und der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste. Jury-Mitglied von „Radikal jung“ seit der Gründung des Festivals.

KOHLHAAS (GLÜCK DER ERDE, RÜCKEN DER PFERDE)

nach Heinrich von Kleist in einer Theaterfassung von Sofie Boiten und Lorenz Nolting THEATER OSNABRÜCK

Inszenierung Lorenz Nolting

Bühne Lorenz Nolting, Sofie Boiten, Lea Jansen

Kostüme Lea Jansen

Dramaturgie Sofie Boiten, Claudia Lowin

Besetzung Rebekka Biener, Thomas Kienast, Michi Wischniowski

KOHLHAAS (GLÜCK DER ERDE, RÜCKEN DER PFERDE)

EINE THEATERBANDE AUS OSNABRÜCK

Regisseur Lorenz Nolting und Dramaturgin Sofie Boiten überschreiben mit ihrem Team Kleists berühmte Novelle „Kohlhaas“ am Theater Osnabrück für heutige Zeitgenossen, verteilen Glückskekse und verführen das Publikum zum Mitspielen

VON C. BERND SUCHER

Foto: Uwe Lewandowski

GITTERSEE

GITTERSEE

von Charlotte Gneuß in einer Fassung von Leonie Rebentisch BERLINER ENSEMBLE

Regie Leonie Rebentisch

Bühne Sabine Mäder

Kostüme Luisa Wandschneider

Musik Fabian Kuss

Licht Frédéric Dautier

Dramaturgie Karolin Trachte

Besetzung Paul Herwig, Kathleen Morgeneyer, Rahel Ohm, Gabriel Schneider, Irina Sulaver, Amelie Willberg

LEONIE REBENTISCH
Foto: Moritz Haase
Foto: Moritz Haase

„WÜRDE MAN HEUTE IN RUSSLAND IN DIE OPPOSITION

GEHEN?“

Konkret erzählen und dabei Allgemeingültiges sagen: So lautet das Credo von Leonie Rebentisch, deren Inszenierung „Gittersee“ vom Berliner Ensemble zwar in den 1970er-Jahren in der DDR spielt, aber universelle Fragen über Manipulierbarkeit, Courage und Widerstand aufwirft

VON CHRISTINE WAHL

Lust auf ein Abenteuer? Die Frage klingt unschuldig, als Paul sie seiner Freundin Karin stellt. Die beiden sind sechzehn, leben – wir schreiben das Jahr 1976 – in einem Ort namens Gittersee in der DDR, und das „Abenteuer“ soll in einer Mopedtour übers Wochenende in die Tschechoslowakei bestehen. Logisch, dass Karin am liebsten alles stehen- und liegenlassen und sofort auf den Rücksitz springen würde. Aber sie weiß, dass sie ihre Eltern gar nicht erst zu fragen braucht: Niemals würden sie es erlauben. Also fährt Paul allein los.

Und dann steht bei Karin zu Hause plötzlich Herr Wickwalz in der Tür, ein geschmeidiger Mann, den sie in Gittersee nur „Lack“ nennen. In einer schwer entschlüsselbaren Stimmlage, die aber auf jeden Fall nichts Gutes verheißt, teilt er ihr und ihrer Familie mit, dass Paul „Republikflucht begangen“ habe. Und beharrt: Sie, Karin, müsse doch etwas gewusst haben?

Es ist ein außergewöhnliches und zu Recht vielfach ausgezeichnetes Romandebüt, das die junge Autorin Charlotte Gneuß vor zwei Jahren mit „Gittersee“ vorgelegt hat. Sicher: Realsozialistische Indoktrination, Staatssicherheit, Fluchtpläne in den Westen – rein thematisch sind das alles Zutaten, die man aus der Literatur über die DDR hinreichend zu kennen glaubt. Aber was die 33-jährige Autorin mit diesen Ingredienzien anstellt, zu welcher Intensität und Vielschichtigkeit sie mit ihnen gelangt – das hat hochgradigen Seltenheitswert.

OPFER UND TÄTERIN

Auch Leonie Rebentisch war von dem Roman sofort begeistert. Nicht nur, weil sie selbst einen biografischen Bezug zur DDR hat: Ihre Familie väterlicherseits flüchtete kurz vor dem Bau der Berliner Mauer 1961 in den Westen. Sondern vor allem, weil Rebentisch eine Regisseurin mit überdurchschnittlichem Interesse an Figurenpsychologie ist. „Das Thema, wie stark zwischenmenschliche Beziehungen durch ein äußeres System beeinflussbar sind, hat mich ungeheuer gereizt“, erzählt sie.

Tatsächlich steuert das „System“ – in Person des Stasifunktionärs Wickwalz – diese Beziehungen in „Gittersee“ ganz nach realsozialistischer Lust und Laune. Und zwar, indem Wickwalz sich für Karin zum verständnisvollen Ansprechpartner macht. Die Teenagerin, die sich nicht nur von ihrer Liebe Paul, sondern überhaupt von aller Welt verlassen fühlt – die Eltern haben mehr als genug mit sich selbst zu tun, und Karins beste Freundin Marie scheint sich neuerdings mehr für ihre Klassenkameradin Marlene zu interessieren –, findet in ihm genau jenen verständnisvollen Zuhörer, den sie braucht. Wickwalz begegnet ihr dort, wo ihr noch nie ein Erwachsener begegnet ist: auf Augenhöhe. Er erkundigt sich nach ihren Problemen, kocht Tee, wenn ihr kalt ist, kann als Musikkenner punkten und sieht dabei auch noch gut aus. „Eine interessante Mischung aus Vaterfigur und coolem Typen, den man anhimmeln kann“, bringt Rebentisch den Charakter des manipulativen Systemträgers auf den Punkt – der aus seinem Opfer gleichzeitig eine Täterin macht, indem er sie schließlich als Informantin anwirbt.

Genau darin liegt eine dieser überdurchschnittlichen Qualitäten von „Gittersee“: dass die Figuren maximal vielschichtig sind und ihre Handlungsmotivationen sich nicht auf Instant-Erklärungsmuster herunterbrechen lassen. Dass die Gemengelage komplex bleibt und niemand einfach nur „gut“ oder „böse“ ist, war auch Rebentisch ein zentrales Anliegen, als sie den Roman am Berliner Ensemble für die Bühne adaptierte. „Mir ist zum Beispiel wichtig, dass man das Verhalten von Wickwalz ein Stück weit nachvollziehen kann – oder dass man ihm zumindest abnimmt, dass er an das, was er macht, glaubt. Das geschieht ja nicht aus einer Bösartigkeit heraus, sondern aus der tiefen Überzeugung, das Richtige zu tun – auch, wenn wir das aus unserer heutigen Perspektive natürlich verurteilen.“

BEMERKENSWERTE BÜHNENPRÄSENZ

Eine solche Komplexität vom Roman auf die Bühne zu transportieren, ist ohnehin eine immense Herausforderung. Im Fall von „Gittersee“ wurde sie aber noch potenziert: Karin, die Hauptfigur, spricht im Buch sehr wenig. Die Geschichte, die Gneuß erzählt, transportiert sich wesentlich über dichte Beschreibungen der Erzählinstanz und lebt zu einem guten Teil auch gerade davon, was nicht gesagt wird. Regisseurinnen und Regisseure, die ähnlich konzipierte Romane auf die Bühne bringen, versuchen oft gar nicht erst, den Erzähltext in Dramatik zu übersetzen, sondern lassen das Ensemble ganze Passagen aus der Vorlage einfach eins zu eins ins Publikum referieren. In Rebentischs Inszenierung ist das anders: „Ich hatte sehr schnell den Impuls, auf die epischen Prosatexte an der Rampe zu verzichten und die Geschichte wirklich nur aus den Figuren heraus zu erzählen“, erinnert sie sich. Aber wie gelingt das, wenn die Hauptakteurin kaum Text hat?

Sie habe lange an der Fassung gearbeitet, erklärt die Regisseurin, gemeinsam mit der Dramaturgin Karolin Trachte auch mal ganze Arbeitsstände verworfen und neu angesetzt. Die Sorgfalt hat sich ausgezahlt: Rebentisch gelingt in ihrer „Gittersee“-Uraufführung das seltene Kunststück, den Gehalt der Romanvorlage tatsächlich nahezu verlustfrei ins darstellende Medium zu übertragen. Einen großen Anteil daran hat auch die Hauptdarstellerin Amelie Willberg, die ihrer vergleichsweise passiven Figur eine Bühnenpräsenz zu verleihen vermag, die man bei der Lektüre wirklich nicht für möglich gehalten hätte –wohlgemerkt ohne die Aura der Roman-Karin preiszugeben oder sie in eine völlig andere Richtung zu lenken als in der Vorlage.

KEINE OST-FOLKLORE

So psychologisch genau Rebentisch in „Gittersee“ arbeitet, so wenig ist sie allerdings an einer bloßen DDR-Retrospektive interessiert. Auf der Bühne: keine Ost-Folklore, nirgends. Sabine Mäder hat einen abstrakten Raum entworfen, in dem lauter weiße Stoffbahnen vom Schnürboden hängen. Hinter denen lässt sich nicht nur – ganz im Sinne der dauerpräsenten Bedrohungslage, der sich Menschen unter Geheimdienstbeobachtung mental ausgesetzt sehen – unerkannt lauern und im entscheidenden Moment effektvoll hervortreten. Sondern hier stellen

sich natürlich auch angemessen kafkaeske, orts- und zeitenübergreifende Labyrinth-Assoziationen ein. „Dass man die Situation, die in ‚Gittersee‘ beschrieben wird, nicht ausschließlich auf die DDR bezieht, ist mir ein großes Anliegen“, sagt Rebentisch. Denn abseits seines historischen Hintergrundes lege Gneuß’ Roman Mechanismen offen und nehme Dynamiken in den Blick, die sie systemübergreifend für aktuell halte. „Ohne es mit der DDR gleichzusetzen, haben wir auf den Proben zum Beispiel viel darüber gesprochen, wie Jugendliche heute auf TikTok ideologisch umworben und manipuliert werden“, so Rebentisch. Ohnehin stelle sich die Frage, „wie beeinflussbar und wie verblendet“ man selbst gegebenenfalls sei, für jede Generation in ihrer eigenen Zeit neu. Beziehungsweise – sofern man die Manipulation durchschauen würde – wie weit die eigene Courage dann ginge, sich ihr auch tatsächlich entgegenzustellen. „Würde man gegenwärtig zum Beispiel in Russland in die Opposition gehen“, denkt die Regisseurin laut nach, „obwohl es lebensgefährlich ist?“

DIE DINGE OFFENHALTEN

Dass eine minuziöse psychologische Figurenführung auf der Bühne nicht zwangsläufig mit Historientreue und Milieu-Realismus einhergehen muss, fiel Rebentisch erstmals auf, als sie der Regisseurin Mateja Koležnik assistierte. Zwar sei sie von den Assistenzen, für die sie nach ihrem Studium der Theater-, Film- und Medienwissenschaft in Frankfurt am Main und einer ersten theaterpraktischen Station in Göttingen ans Berliner Ensemble kam, ohnehin stark geprägt: Rebentisch arbeitete etwa mit Michael Thalheimer, Robert Borgmann, Christina Tscharyiski oder auch mit Oliver Reese zusammen, dem Intendanten des Hauses. „Aber Mateja Koležnik hat mich ganz besonders inspiriert. Wie sie psychologisch ungeheuer fein arbeitet und dann auf der Bühne gleichzeitig so formal wird – das hat mich sofort begeistert!“ Nach kleineren Inszenierungen von Göttingen bis Hanau ist „Gittersee“ Rebentischs „erste wirklich große Produktion“, und zum Abschluss unseres Gesprächs bringt sie noch einmal ihren zentralen Inszenierungsansatz auf den Punkt: „Wenn man den Raum abstrahiert, kann die Geschichte größer werden, allgemeingültiger, vielleicht sogar universell.“ Konkret erzählen, aber die Dinge offenhalten für Übertragbarkeit: Ein Credo, das die Regisseurin weit tragen könnte.

CHRISTINE WAHL ist Theaterkritikerin und Mitglied der „Radikal jung“-Jury. Sie studierte Germanistik, Philosophie und Soziologie in Freiburg und Berlin, arbeitet seit 1995 als freie Autorin u. a. für den „Tagesspiegel“, „Theater heute“ und den „Spiegel“ und ist seit 2022 Mitglied der Redaktion von „nachtkritik.de“. Als Jurorin war sie u. a. für die Mülheimer Theatertage, den Hauptstadtkulturfonds, den Kranichsteiner Literaturpreis und das Festival „Impulse“ tätig und gehört aktuell der Jury des Berliner Theatertreffens an. Autorin und Herausgeberin des Buches „welt proben“ über das Regiekollektiv Rimini Protokoll (Alexander Verlag Berlin, 2021).

Meditations-Apps, Online-Pilateskurse und Entschleunigungstagebücher sind derzeit überall zu finden. Das sogenannte Mental Health Business floriert, Coaches und Influencer*innen umsorgen uns mit Tipps für ein Leben in Schönheit, Gesundheit und Erfolg. „Ich habe mich gefragt, warum wollen sich im Moment alle mit sich selbst beschäftigen und zu ihrem inneren Kind reisen? Und welcher gesellschaftliche Mangel verbirgt sich hinter dieser Sehnsucht nach selbsternannten Gurus?“, so Regisseurin Lola Fuchs. Monatelang hat sie recherchiert, Coaching-Angebote und Achtsamkeitstipps unter die Lupe genommen und am Ende eine „Selbstoptimierungs-Groteske“ auf die Studio-Bühne des Theaters Dortmund gebracht, deren Titel an „Das Kind in Dir muss Heimat finden“ angelehnt ist, den Ratgeber-Bestseller von Psychologin Stefanie Stahl.

In der Hauptrolle Mandy-Galadriel, eine gescheiterte Singer-Songwriterin, die einen Paketshop in ihrer WG betreibt, der viel Arbeit, aber kaum Geld bringt. In blaugrün schimmerndem Paillettenkleid und rosa Plüschjacke versucht sie, ihre Träume von finanzieller Sorglosigkeit und einer niemals endenden Jugend in Parfumflakons zu konservieren. Die steigenden Schulden bei Banken und ihren Freundinnen blendet sie aus, die Ernsthaftigkeit des Lebens kann getrost noch etwas draußen bleiben. Ihre Freundinnen machen sich ernsthafte Sorgen und verkünden am Bühnenrand: Mandy-Galadriel braucht Hilfe. Erwachsen muss sie werden, zu sich selbst finden und dabei am besten glücklich werden. Damit das kurz und schmerzlos gelingt, schenken sie ihr zum 30. Geburtstag einen Aufenthalt im berühmten Dawn-Tower. Dort bieten Guru Veronika von Sonnen und ihr „Seelenbruder“ Markus in langen Gewändern eine bewusstseinserweiternde Begegnung mit dem inneren Kind an, mit der jegliche Form von Negativität und Schwermut für viel Geld geheilt werden soll.

ACHTSAMKEITSLOBBY, GLÜCKSSCHMIEDE, WACHSTUMSLABOR

„Heilung als Businesskonzept, macht das Sinn? Müssen wir von etwas geheilt werden? Das würde ja bedeuten, dass es einen paradiesischen Urzustand gibt, in den man zurückkehren sollte, und das ist eine seltsame Vorstellung, die sich von rechtskonservativer Seite leicht vereinnahmen lässt“, sagt die Regisseurin. Anstatt gegen gesellschaftliche Ursachen wie ökonomische Ausbeutung oder Geschlechterungleichheit und überkommene Rollenbilder vorzugehen, werde psychische Gesundheit in diesem Geschäft zu konsumierbarer Ware degradiert. Das Versprechen: Wer genügend kauft, Kurse bucht oder Coachings absolviert, wird seine Probleme im Handumdrehen lösen.

Mandy-Galadriel trifft im Dawn-Tower auf die neurotische Ex-Karrierefrau Melli im schicken Business-Kostüm, die dieser Idee offenbar anheimgefallen ist und hier ebenfalls ihr Glück sucht. Mit überzeichneter Mimik und extrem lautem Lachen berichtet sie von ihren Ängsten. Im Hintergrund nebeneinander vier große Kuben in Pastellfarben, grell angestrahlt wirken sie steril, wie Behandlungszimmer, und doch verheißungsvoll. „Achtsamkeitslobby“, „Glücksschmiede“ oder „Wachstumslabor“ steht in großen Buchstaben darauf.

„Während der Recherche habe ich die Webseite eines Coaching-Paars entdeckt, das seinen digitalen Bereich mit so ganz blumigen, seltsamen Begriffen gestaltet hat“, erzählt Fuchs. „Die Sprache dieser Industrie wollte ich unbedingt aufgreifen und zeigen, was sich dahinter verbirgt.“ Also erhalten wir eine Innensicht. „Bruder“ Markus verschwindet mit Mandy-Galadriel in der Glücksschmiede, und wir folgen dem Geschehen darin live über eine Kamera, deren Bild auf das Äußere der vier Kuben projiziert wird. Mit verschwörerischer Stimme und weit aufgerissenen Augen prophezeit Markus Mandy-Galadriel, ihre Seele werde hier endlich Frieden finden. „Ich finde

Kamera als Mittel einfach toll“, erklärt Fuchs, „weil sie für mich eine Möglichkeit ist, Räume zu vergrößern und fantasievoller zu gestalten. Außerdem bin ich ein Fan von rätselhaften Räumen, deshalb haben wir die kleinen Innenräume gestaltet, in denen mit der Kamera noch mal eine andere Welt entsteht.“

JOURNEY ZU SICH SELBST

In der Glücksschmiede ist sich Mandy-Galadriel sicher, „jeder vernünftige Mensch würde spätestens jetzt die Biege machen“. Aber: „Ich bin Sternzeichen Fische, und Vernunft war noch nie meine Stärke“, flüstert sie in die Kamera. Guru Veronika schreitet mit atemberaubender Präsenz auf die Bühne und verkündet dem Publikum mit geheimnisvoller Stimme: „Du bist einzigartig, wertvoll und wunderschön.“ Spätestens jetzt sind wir Teil einer größeren Sache, einer Community, die verstanden hat, wie es läuft. Die Augen geschlossen, verbindet Veronika sich mit Mandy-Galadriels innerem Kind, um sie zu heilen und ihr zu einem selbstbestimmten, erfüllten Leben zu verhelfen. Dazu schreit sie wie bei einer Geburt, reißt die Arme in die Luft und atmet tief, sehr tief. Als Markus durch ein schimmerndes rundes Fenster Mandy-Galadriels inneres Kind auf die Bühne zerrt, ist ihre „Journey zu sich selbst“ nicht mehr aufzuhalten. Dank Kameraübertragung aus der Wachstumsschmiede verfolgen wir, wie darin Guru Veronika ihr geldgieriges Spiel mit scheinbar ziemlich gut recherchierten Details über Mandy-Galadriels Kindheitserfahrungen auf die Spitze treibt: über schlechte Noten, den Umzug zum Freund ihrer Mutter oder deren verletzende Worte über ihren Körper. „Das sind alles nur Infos, die man auch auf meiner Facebook-Seite lesen kann“, entlarvt Mandy-Galadriel diese Show schnell, aber wer weiß, vielleicht hilft ein bisschen Konfrontation mit den eigenen Verletzungen ja trotzdem.

DOWN IM DAWN-TOWER

Der einen Unglück ist der anderen Geschäftsidee: Lola Fuchs spürt in ihrer Selbstoptimierungsgroteske „Der Dämon in dir muss Heimat finden“ vom Theater Dortmund dem Mental-Health-Business nach

VON ELISABETH LUFT

DIE VERZWEIFLUNG ABFEDERN

„Ich möchte damit nicht die einzelnen Angebote kritisieren, denn sie können uns wirklich dabei unterstützen, ein gesünderes Leben zu führen“, so Fuchs. „Das Groteske ist aus meiner Sicht, dass es eigentlich nur ein Business ist, mit dem aus dem Unglück der Bevölkerung Gewinn gemacht wird. Und dass so getan wird, als wäre es ganz leicht, glücklich zu sein, man müsse dafür nur genügend Geld ausgeben und ausreichend Disziplin haben.“ Dabei handle es sich im Kern um ein Tool, das die Gegenwart erträglicher machen und die eigene Verzweiflung abfedern soll. „Mein Eindruck ist, dass viele das Gefühl haben, politisch und gesellschaftlich nichts gestalten zu können, dass eine große Einsamkeit herrscht und die Vision für eine andere Welt fehlt.“ Außerdem mangele es unserer säkularisierten Gesellschaft an Spiritualität, auch deshalb fühle man sich von solchen pseudo-religiösen Angeboten angesprochen und gemeint. „Aber würde unsere Verzweiflung nicht, wenn sie anders betrachtet und behandelt würde und wenn wir uns nicht so sehr auf uns selbst fokussieren würden, zu viel mehr gesellschaftlicher Gestaltung und Veränderung führen?“ Das Mental Health Business sei völlig unterkomplex und halte den Wandel auf. „Außerdem lässt mich der Gedanke nicht los, dass all die Selbstoptimierung nur der Wirtschaft dient und das einzige Ziel ist, dass wir produktiv und geschäftig sind.“ Und trotzdem, das Lachen bleibt einem an diesem Abend nicht im Halse stecken, denn Fuchs schaut von außen auf die Gegenwart und entlarvt ihre Absurdität. „Das Genre der Komödie eignet sich am besten, weil man sich dadurch nicht so reinfühlt oder in die psychologische Identifikation geht und auf diese Weise Mechanismen offengelegt und Widersprüche aufgezeigt werden können.“ Genauso wie in ihrem ersten Stück, „Die Not steht ihr gut“, das sie 2023 ebenfalls für das Theater Dortmund schrieb und inszenierte. Zwei Frauen gründen darin eine Coaching-Agentur für erfolglose Frauen, und

alles dreht sich um die Frage, welche irrwitzigen Business-Ideen wir erdenken, um mit anderer Leute Unglück schnell Geld zu machen und uns so vor eigener Armut und vermeintlicher Bedeutungslosigkeit zu bewahren.

DIE NEUE HÄRTE

Nach ihrem Schauspielstudium an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ Berlin begann Fuchs 2018 als freiberufliche Schauspielerin in Theater-, Film- und Fernsehproduktionen. Auch auf der Bühne des Theaters Dortmund war sie bereits mehrfach als Spielerin zu sehen. Die Idee vom Dawn-Tower habe sie schon länger gehabt und inhaltlich und konzeptuell ausgearbeitet, als die Anfrage für eine zweite Inszenierung aus Dortmund kam. „Die Genese des Inhalts war stark mit der des Raums verbunden, denn dadurch, dass ich dieses Haus und die Bühne auch als Schauspielerin gut kenne, weiß ich, was da möglich ist.“ Die Zusammenarbeit mit Ausstatterin Anita Ackva, Musiker Oskar Mayböck, Dramaturg Jasco Viefhues und dem Ensemble sei ebenfalls entscheidend gewesen. „In der künstlerischen Arbeit am Theater geht es für mich darum, im Team eine Fantasie und natürlich auch eine Gegenfantasie zu kreieren, die eine Haltung zeigt zur Welt. Deshalb arbeite ich nicht gern allein in meiner Kammer. Vor allem die Figuren entwickeln sich durch die Zusammenarbeit mit den Spieler*innen weiter, das ist magical.“

Als Autorin ist Fuchs Teil des feministischen Schreibkollektivs DIE ANTAGONIST*INNEN und derzeit mit einer Kleist-Bearbeitung beschäftigt. „Das ist toll, weil ich diesen fertigen Stoff auf meine eigene Art bearbeiten kann. Aber ich werde trotzdem weiterhin eigene Stücke schreiben, weil es nichts Schöneres gibt, als neue Welten zu erdenken.“ Aus linker Perspektive und antikapitalistisch wolle sie sich mit der Gegenwart befassen, ungewöhnliche Lebensläufe und vermeintlich gescheiterte Individuen in den Blick nehmen. „Außerdem interessiert mich

diese neue Härte, mit der man junge Leute behandelt, diese Mentalität, wehrhaft werden zu müssen. Darüber würde ich gern schreiben.“ Ob das in Zukunft noch möglich sein wird, sei aber dahingestellt, meint Fuchs. „Man weiß ja nie, ob überhaupt noch Geld da sein wird, um eigene Stücke zu schreiben. Ich hoffe einfach sehr, dass wir weiterarbeiten und Kunst machen können.“

ELISABETH LUFT – arbeitet in Köln als freie Journalistin u. a. für DLF und WDR. Sie studierte Germanistik, Medienkulturwissenschaften und Theaterwissenschaft in Köln, Rom und München. 2021 bis 2022 war sie Chefredakteurin bei „kritik-gestalten“, einem Kollektiv, das journalistisch über die Freie Szene NRW berichtete. Sie hostet den Podcast „Wozu das Theater?“ und leitet Blogredaktionen bei Theaterfestivals.

DER DÄMON IN DIR MUSS

HEIMAT FINDEN von Lola Fuchs

THEATER DORTMUND

Regie Lola Fuchs

Ausstattung Anita Ackva

Sounddesign Oskar Mayböck

Dramaturgie Jasco Viefhues

Theatervermittlung Sarah Jasinszczak

Licht Markus Fuchs

Ton Robin Lockhart

Livekamera Tobias Hoeft

Regieassistenz Madita Scülfort

Ausstattungsassistenz Constanze Kriester Inspizienz Christoph Öhl

Soufflage Klara Brandi

Besetzung Linus Ebner, Linda Elsner, Marlena Keil, Ekkehard Freye, Nika Mišković

DER DÄMON IN DIR MUSS HEIMAT FINDEN

Foto: Birgit Hupfeld

DAS GEDÄCHTNIS

IST EIN TRÜGERISCHER FREUND

Dramatische Vergangenheitsbewältigung: In ihrer freien Produktion „Rachel und ich“ begibt sich die Performancekünstlerin Lulu Obermayer zusammen mit ihrer jüdisch-amerikanischen Freundin

Rachel Troy ins Spannungsfeld von Geschichte und persönlicher Erinnerung und schafft einen Abend über schmerzhafte Leerstellen und das Theater als Therapie

VON PATRICK WILDERMANN

Für Elke ist Deutschland ein „shithole country“, ein von der Nazizeit verseuchter Ort, wo die Schuld in Bier ertränkt werden soll. Sie will nur weg, am liebsten in die USA, raus aus diesem versifften Club, wo die jungen, noch völlig unbekannten Beatles auftreten – und der von einem ehemaligen Mitglied der Panzerdivision geführt wird. Vielleicht lässt sich die unbewältigte Vergangenheit mit einem Ozean Abstand ertragen. Elke ist eine Figur aus dem Stück „Presence“ des schottischen Dramatikers David Harrower. Und es war die Rolle, mit der sich die 16-jährige Lulu Obermayer 2005 in New York erfolgreich an der Professional Performing Arts School bewarb, wo sie das Fach Drama belegte –und Rachel Troy kennenlernte. Eine Gleichaltrige mit rotblondem Haar und einem dunkelblauen Kleid mit weißen Streifen, bei deren Anblick sie sofort beschloss: Ich will ihre Freundin sein. Es brauchte nicht viel, um ins Gespräch zu kommen, auch eine Verbindung war schnell hergestellt: Hey, du stammst aus München? Meine Mutter ist dort geboren, in einem „Displaced Persons Camp“. In meiner Familie sind mütterlicherseits alle HolocaustÜberlebende. Das sagte Rachel. Und Lulu dachte: „I feel like Germany on two legs“, ich fühle mich wie Deutschland auf zwei Beinen.

Diese Kennenlernszene nebst der thematisch anschlussfähigen „audition“ an der Performing Arts School klingt nach gut ausgedachtem Theater. Sie hat sich aber tatsächlich so ereignet. „Alles, was auf der Bühne stattfindet, hat zwischen Rachel und mir so oder ähnlich stattgefunden“, sagt Obermayer. Sie wird oft gefragt, ob die Performance „Rachel und ich“, in der die beiden Frauen jetzt 20 Jahre später zusammen auf der Bühne stehen und im deutsch-englischen Wechselspiel die Geschichte ihrer Freundschaft erzählen, autobiografisch oder doch eher autofiktional sei. Die meisten unterstellen FantasieNachhilfe und dramatische Überhöhung. Aber so ist es nicht – oder zumindest nur sehr momentweise.

LULU OBERMAYER

Foto: Roeder

Natürlich gibt es Unschärfebereiche beim Abgleich der Erinnerungen. Rachel ist zum Beispiel überzeugt, dass sie ein schwarz-weißes Kleid trug, kein blaues. Obermayer zitiert dazu das englische Sprichwort: „Memory is a tricky friend“ – „Das Gedächtnis ist ein trügerischer Freund“. Aber die Performerin beschreibt differenzierter, was in ihren Augen den Wahrhaftigkeitsbegriff im theatralen Kontext ausmacht: „Alles, worüber wir auf der Bühne sprechen, spüre ich hundertprozentig. Ich erinnere mich an diese Gefühle. Was wir darstellen, ist absolut echt –und gleichzeitig spielen wir.“

MIND THE GAP

„Rachel und ich“ ist ein Abend über das Erinnern, über Erinnerungskultur im historischen und persönlichen Sinne und über das vielfach aufgeladene Spannungsfeld zwischen diesen Polen. „Wie lässt sich Erinnern performen, wie geht man mit der ererbten Geschichte um, auf einem Mikro- und einem Makrolevel?“ Das waren Fragen, die Obermayer während der Arbeit leiteten. Und nicht zuletzt: „Wie können wir mit den Mitteln des Theaters unsere Beziehung darstellen?“ Ein wesentlicher Punkt. Denn „Rachel und ich“ ist auch ein Abend über die Kraft, die aus der radikalen Reduktion und der Konzentration auf die elementaren Bühnenvorgänge erwachsen kann. Ein Theater-Theater-Abend. Klebeband und Stühle spielen dabei tragende Rollen. Mit Ersterem teilen die beiden Performerinnen den Raum in der Mitte, bekleidet mit Oberteilen der Marke Gap, die Anfang der 2000er-Jahre gerade diesseits des Atlantiks ein Must-have für die weltgewandte Jugend waren. „Ich wollte immer so einen Hoodie haben“, sagt Obermayer. „Gap“, das bedeutet übersetzt aber eben auch „Lücke“, „Kluft“. Was wiederum eine Aussage über die Beziehung zwischen den Performerinnen und über ihre Arbeit trifft: „Es gibt Erinnerungslücken, Lücken zwischen Rachel und mir. Zwischen den Sprachen, den Biografien.“

Bei aller Nähe war da immer wieder auch Distanz, nicht zuletzt räumlich. Was in einer schönen Szene über den charakteristischen Einwahl-Sound des VideotelefonieAnbieters Skype vermittelt wird, der nach den New-YorkJahren die Brücke zwischen den USA und Schottland schafft, wo Obermayer in Glasgow Contemporary Performance Practice studiert. Das Klebeband markiert einen Aushandelungsprozess: Wie teilen wir uns einen Raum? Wie überwinden wir eine Lücke, die nicht zuletzt eine symbolische ist? „Für mich ist es ein Wunder“, sagt Obermayer, „dass Rachel und ich uns 60 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs primär in einer Leichtigkeit kennenlernen konnten.“

LEERE STÜHLE

In die Kategorie Wunder fällt für sie auch, dass bei einem Gastspiel dieses Abends in Stuttgart der Enkel des Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höß anwesend war, der Pastor Kai Höß, der sich mit seiner Herkunft auch zu erkennen gab. „Neben ihm saß Jonathan, dessen Großeltern in Auschwitz waren. Ich fand es überwältigend, dass diese Begegnung beim Austausch über ein Theaterstück möglich war“, so Obermayer.

Ein zentrales Symbol für die Erinnerung an die Shoa sind Stühle. In Leipzig existiert ein Holocaust-Denkmal, das aus lauter leeren Stühlen besteht, ein ähnliches gibt es in Krakau. Auch das lässt „Rachel und ich“ anklingen, wobei die Klappstühle, die als geräuschintensive Requisiten zahlreich zum Einsatz kommen, einmal mehr für die Mehrbödigkeit und die sich überlagernden Bedeutungsebenen der Performance stehen.

Zum Beispiel wird „Die Reise nach Jerusalem“ gespielt. Dieses auf den ersten Blick unschuldig-naive Kindergeburtstagsvergnügen, „das einen beim Nachdenken erschrecken lässt, weil es mit Eliminierung arbeitet“, wie Obermayer erklärt – und das überhaupt nur im deutschen Kontext diese Bezüge zum gelobten Land und zum

Exodus aufruft. Im Englischen heißt es „Musical Chairs“. Stühle sind aber auch ein elementares Arbeitsmittel in einem therapeutischen Kontext, der ebenfalls – biografisch und performativ – Einfluss auf Form und Inhalt des Abends nimmt. Troy arbeitet heute in Los Angeles als Therapeutin. „Ich selbst habe vor über zehn Jahren eine systemische Familien- und Paartherapie-Ausbildung gemacht, nach Milton Erickson und Virginia Satir, bei

RACHEL UND ICH von Lulu Obermayer MIT HOCHX THEATER UND LIVE ART MÜNCHEN E. V.

Konzept, Künstlerische Leitung, Text, Choreografie & Performance

Lulu Obermayer

Text, Choreografie & Performance

Rachel Troy

Lichtdesign & Technische Leitung

Michele Piazzi

Ton- & Videoschnitt Oliver Harlan

Kamera Borys Dubian´sky, Andi Szelyes Übertitel und Übersetzung

Caro Seidl, Emily Pollak (Panthea)

Dramaturgie Freundschaft

Helena Eckert, Gábor Thury

der es um Symbolarbeit geht, auch um das Geschichtenerzählen“, so Obermayer. Bei der Gruppentherapie sitzt man im Kreis, „the empty chair“ („der leere Stuhl“) ist eine Übung aus der Gestalttherapie: Wer einen unerledigten Konflikt hat, stellt im therapeutischen Rahmen einen Stuhl auf und führt ein Gespräch mit ihm, um das Unbewältigte in sich zu integrieren.

EINE TECHNIK FÜR ALLE FÄLLE

Last, but not least spielen die Stühle eine große Rolle bei Lee Strasberg. „Es geht immer um den Stuhl, das Objekt, das überall zur Verfügung steht, am Set, auf der Bühne. Du benötigst keine Yogamatte, du nimmst einen Stuhl, machst deine Übungen, und los gehts“, beschreibt Obermayer. Strasberg – und mit ihm das Method Acting – ist eine weitere bedeutsame Referenz, die „Rachel und ich“ eröffnet. Wobei es sich um eine Methode handelt, die vielfach falsch verstanden wurde und wird, wie die Künstlerin betont. Schon in den 1930er-Jahren, während in Deutschland die Nazis die Macht übernahmen, kam es in New York zum Streit zwischen Strasberg und Stella Adler darüber, wer die korrekte Stanislawski-Auslegung für sich in Anspruch nehmen könne.

Hierzulande werde Method Acting vor allem mit einem überpsychologisierenden, obsessiven Verwachsen mit der Rolle assoziiert, meint Obermayer, „aber so stimmt es nicht. Method Acting bedeutet erst einmal nur, sich eine Technik für Fälle anzueignen, in denen man keinen Zugang zur Figur, zur Szene findet. Es ist wie ein Sicherheitsnetz.“

Die beiden Protagonistinnen haben das Method Acting schon in jungen Jahren in New York gelernt. Es hat noch heute Einfluss auf Obermayers künstlerische Praxis, wiewohl sie betont, keine Schauspielerin im klassisch-ausschließlichen Sinn zu sein. In ihrer Arbeit sucht sie die Schnittstellen der Disziplinen, die ihrer Ansicht nach zu wenig im Austausch sind.

Sie besitzt einen Bachelor in Performance und einen Master im Tanz, hat Soloperformances auf Basis der Puccini-Opern „Tosca“, „Manon Lescaut“ und „The Girl(s) of the Golden West“ erarbeitet, in „Death Valley Junction“ mit dem Format eines Travelogues gespielt, für den wiederum der Weg der Broadway-Tänzerin, Choreografin und Malerin Marta Becket Grundlage

war, die 1967 ein verlassenes Theater in Death Valley Junction entdeckte. Es sei ihr wichtig, eine möglichst diverse künstlerische Praxis zu haben, betont Obermayer: „Mein Versuch ist, in der Auseinandersetzung mit den Überschneidungen zwischen den Disziplinen etwas Hybrides zu schaffen.“

AND THE OCAR GOES TO …

Dennoch, das Method Acting ist als Handwerkszeug nicht vergessen. Und es prägt „Rachel und ich“, weil der entscheidende Punkt bei dieser Technik das emotionale und sensorische Erinnern ist. „Theaterspielen in diesem Strasberg’schen Sinne heißt, sich zu erinnern.“ Die Performance rührt auch an Schmerzpunkte, die in einer heftigen Streitszene zwischen den Freundinnen verdichtet sind – eine Art Kulmination der realen Konflikte, die es natürlich gab im Lauf der Jahre während der gemeinsamen Arbeit. Das Stück unternimmt Exkursionen in die Geschichte, die immer auch eine Familiengeschichte ist, was in einer Filmsequenz der Gleichzeitigkeit ins Bild gesetzt wird: Während Rachel in Rumänien den Wurzeln und dem Schicksal ihrer Großeltern nachspürt, sitzt Lulu auf einem Parkplatz nahe der Gedenkstätte Auschwitz, die sie besucht hat, und versucht, die Eindrücke zu bewältigen. Schließlich mündet der Abend in ein Happy End: Troy und Obermayer bei der Oscar-Verleihung, jede auf ihrem eigenen roten Teppich. Das hat sich so nicht ereignet. Aber echt fühlt es sich trotzdem an.

PATRICK WILDERMANN – geboren 1974, arbeitet als Kulturjournalist in Berlin u. a. für den „Tagesspiegel“, das Interviewmagazin „Galore“ und das Goethe Institut. Zuletzt hat er u. a. die Publikation „Producing Performing Arts“ im Alexander Verlag mitherausgegeben.

Das hätte ich nicht gedacht: Verwundert freute ich mich über den „Aufstieg und Fall des Herrn René Benko“! Es ist ein Theaterabend, der mit sehr wenigen theatralen Mitteln – einer Bühne, einem Tisch, einem Stuhl, zwei Projektionswänden – die allergrößte Wirkung erzielt. Ich erinnere mich nicht, je zuvor bei einer Aufführung, die kein geringeres Ziel hat, als über die gesellschaftlichen Missstände im Land aufzuklären, so gebannt zugehört und zugesehen zu haben. Mit wenigen Spielszenen, dafür mit großem Furor, mischt sich Calle Fuhr ein in die Politik – in diesem Fall in die Politik in der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich. Eine Politik, in der Filz herrscht und eine Art akzeptierter Korruption sich breitgemacht hat. Den Titel, der an Brechts „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ erinnert, hat er gewiss bewusst gewählt. Fuhr ist ein amüsanter, kluger und kämpferischer Aufklärer: ein ambitionierter und spielstarker Reality-Erklärer, der ganz allein auf der Bühne die Aufmerksamkeit auf sich lenkt und zugleich auf die gesellschaftlichen Verhältnisse richtet, die nicht nur ihm missbehagen.

Ist diese Arbeit eine Kampfansage an die Politik? Die Aufführung sei vor allem „ein Spiegel politischer Ereignisse“, erklärt Fuhr. „Wenn sich jemand aus der Politik durch den Abend angegriffen fühlt, dann könnte das weniger mit dem Abend als mit der Person René Benko zu tun haben.“ Bestätigt fühlen er und sein Team sich „durch die Anwaltsschreiben, die wir bekommen haben“. Auf sehr elegante und witzige Weise versetzt Fuhr „dem Strategen des Jahres“, wie das „Handelsblatt“ titelte, den Todesstoß. Auf dem Theater – in effigie.

MIT HÜTCHEN-SPIELEN DIE FINANZWELT VERSTEHEN Obwohl die Aufführung ein Soloabend ist, wäre sie ohne Helfer nicht zustande gekommen. Seit vier Jahren arbeitet Fuhr im Wiener Volkstheater mit der öster-

reichischen Investigativ-Rechercheplattform „Dossier“ zusammen. Zuerst knöpften sie sich Red Bull vor, dann die Geschäfte des Erdöl-, Erdgas- und Petrochemiekonzerns OMV Deutschland und schließlich die Transaktionen des österreichischen Ski-Heiligen Toni Sailer. Jetzt also Benko – mit dem sich der „Dossier“-Chefreporter Ashwien Sankholkar bereits seit über einem Jahrzehnt auseinandersetze. „Wir haben gemeinsam über Monate recherchiert“, erzählt Fuhr. „Als Wirtschaftsjournalist konnte er mich durch den Dschungel von Gutachten, Mark-to-market-Berechnungen, Firmenbüchern und Steuererklärungen führen. Ohne ihn und ‚Dossier‘ wäre so ein Abend gar nicht möglich.“

Der „Aufstieg und Fall des Herrn René Benko“ ist also Investigativtheater, gleichzeitig aber auch eine amüsante Show mit Filmeinspielungen und Spielchen. Wer hätte gedacht, dass man nach dem Vorbild eines Hütchen-Spiels mit Blechdosen demonstrieren kann, wie Gelder generiert und verschoben werden und schließlich verschwinden? Fuhr, der Lehrer in einer imaginären Häschen-Schule: Eine Hornbrille auf der Nase, gibt er den Mathepauker Herrn Haucke. Er fragt ab, zeigt mit dem Finger auf einen Zuschauer im Parkett: „Detlev, kurz die Definition von Leitzins bitte!“ Detlev antwortet nicht –und die meisten im Saal bemerken erschrocken, dass sie keine Ahnung haben. Fuhr erwischt seine Zuschauerinnen und Zuschauer sehr oft auf dem falschen Fuß. Wer kommt da jetzt noch mit, wenn die Mietrenditen bei unterschiedlichen Leitzinsvarianten durchgerechnet werden?

GENIALISCHER TRICKSER

Wie kaum ein anderer begeistert Fuhr mit dieser besonderen Kunstform, die man etwas vereinfacht Investigativtheater nennt. Warum aber diesmal ausgerechnet ein Abend über Benko? „Er und sein Umfeld sind ein

wunderbares Beispiel, um gleich mehrere Missstände in Österreich und Deutschland sichtbar zu machen. Da ist vor allem die korrupte Seite: Sehr viele hochrangige (Ex-)Politiker haben durch Benko sehr viel Geld verdient und ihm dann dabei geholfen, dass dieses sehr viele Geld sich möglichst schnell vermehrt.“ Worüber hat sich Fuhr bei diesem Super-Trickser besonders geärgert? „Für den Moment, als wir das kaltblütige Muster im Umgang mit Galeria Kaufhof entdeckt haben, ist Ärger gar kein Ausdruck mehr. Da war einfach nur noch Wut.“

Wut vor allem auf Benkos Signa Holding, die am Ende aus Tausenden von Töchtern und Enkeltöchtern bestand und in die Millionen von Steuereuros gepumpt wurden. Doch Fuhr offenbart neben seiner klaren politischen Forderung nach mehr Transparenz auch eine gewisse Sympathie für diesen genialischen Trickser der Finanzwelt. Er mag die Chuzpe dieses Mannes, der mit Charme und Irrwitz Menschen fängt und für seine Spielchen gefügig macht. Natürlich machen sie nur mit, weil sie auf Gewinn spekulieren. In diesem Sinne findet Fuhr Benkos Vorgehen, seine Machenschaften auch „einfach sehr faszinierend.“ Denn „dieser Typ“, erklärt er, „der mehr oder weniger aus dem Nichts kommt, hat es innerhalb weniger Jahre geschafft, in die oberste Liga aufzusteigen. Das muss man einfach anerkennen!“ Just deshalb führt Fuhr auch die „Benko-Boys“ vor, zu denen unter anderem Joschka Fischer, Alfred Gusenbauer und Sebastian Kurz zählen. Eine Boy-Band mit Kanzler-Glamour.

All die Arbeiten dieses Künstlers entstehen erst einmal aus einer intellektuellen Neugier. Er will etwas verstehen. Es ist, so beschreibt er selber, seine „Sehnsucht, ein komplexes Thema etwas besser begreifen zu können“ und also „erst einmal ein relativ egoistisches Motiv“. Gleichzeitig habe er gemerkt, dass er nicht der Einzige sei, der Komplexes wie die Immobilienbranche auf Anhieb einfach nicht so recht verstehe. „Meine Erkenntnisse dann teilen zu können, beglückt mich sehr.“

VOM GASTRO-JOB INS VOLKSTHEATER Das Volkstheater Wien ist seit den vergangenen fünf Jahren Fuhrs „künstlerischer Heimathafen“ geworden. Was hat den 1994 am Rhein geborenen Düsseldorfer nach Österreich getrieben? „Ich bin gleich nach dem Abi Regieassistent geworden – und blieb das auch für einige Jahre, inklusive eines schnell abgebrochenen Ausflugs an die Humboldt-Universität Berlin“, so Fuhr. „2017 machte ich mich selbstständig und übernahm hier und dort kleinere Arbeiten. Doch das lief dann schnell in eine Sackgasse. Ich konnte die Miete nicht mehr zahlen und fand die wenigen Angebote, die ich bekam, sterbenslangweilig. Deswegen habe ich die Karriere an den Nagel gehängt, bin zurück nach Hause gezogen und suchte mir einen Job in der Gastro. Kaum hatte ich mich dort eingearbeitet, rief mich Kay Voges an mit dem Angebot, in sein Team am Volkstheater Wien zu kommen. Das war der Gamechanger. Voges hat mir sein Vertrauen geschenkt und die Unterstützung gegeben, mich dort weiterzuentwickeln. Dafür bin ich ihm sehr dankbar.“ Fuhr ist bei „Aufstieg und Fall des Herrn René Benko“ gleichzeitig der Regisseur, der Bühnenbildner, der Schauspieler, der Entertainer, der pfiffige Erklärer. Das Einzige, was nicht von ihm stammt, sind die Filmeinspielungen. Ein Fall von Egomanie? „Ich verstehe, wenn der Besetzungszettel erst einmal diesen Eindruck erzeugt“, sagt Fuhr. „Gleichzeitig ist dieser Abend für mich eine Ausnahme, ansonsten arbeite ich fast immer mit Ensemble, mit Ausstatterinnen oder Musikern. Und ohne das ‚Reinreden‘ unseres Dramaturgen Matthias Seier und des gesamten Teams hinter der Bühne – Kostüme, Technik, Assistentinnen, Leitungsteam – wäre dieser Abend niemals der geworden, der er ist. Zudem war es unmöglich, jemanden aus dem Ensemble für einen so langen Vorbereitungszeitraum einzuplanen. Denn wenn du da oben stehst, braucht es ein vollumfängliches Verständnis der Lage. Das ist mit sechs Wochen Proben nicht zu machen.“

CALLE FUHR
Foto: Antoine de Saint Phalle

NEAPEL IST AUCH SEHR SCHÖN

Und warum spielt er das Solo auf der großen Bühne?

„Das war gar nicht so geplant“, erklärt Fuhr. „Wir wollten den Abend eigentlich auf der kleinsten Bühne am Volkstheater herausbringen. Doch der Andrang war so groß, dass wir ihn kurzerhand ins große Haus gehievt haben. Dort füllt er seit über zwanzig Vorstellungen den Laden.“ Fragte ich andere Regisseure nach ihren Zukunftsplänen, nach ihren Wünschen, hatten die meisten bisher sehr konkrete Karriereziele, nannten Orte und Positionen. Nicht so Calle Fuhr! „Wo sehen Sie sich in fünf, wo in zehn Jahren?“ Seine Antwort: „In fünf Jahren sehe ich mich hoffentlich wieder in Florenz, von wo aus ich gerade diese Fragen beantworte. In zehn Jahren dann vielleicht in Rom. Wobei Neapel auch sehr schön ist.“

C. BERND SUCHER – Autor, Theaterkritiker, Hochschullehrer. Dissertation über „Martin Luther und die Juden“; seit 1998 Professor an der Hochschule für Fernsehen und Film in München. Mitglied des PEN und der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste. Jury-Mitglied von „Radikal jung“ seit der Gründung des Festivals.

AUFSTIEG UND FALL

DES HERRN RENÉ BENKO

von Calle Fuhr

WIENER VOLKSTHEATER

Regie & Bühne Calle Fuhr

Kostüme Tina Prichenfried

Videoart Lisa Rodlauer

Dramaturgie Matthias Seier

Besetzung Calle Fuhr

MIT KANZLER-

Kunst, die aus intellektueller Neugier entsteht: Calle Fuhr enthüllt in „Aufstieg und Fall des Herrn René Benko“ vom Wiener Volkstheater die Machenschaften des besagten Ex-Unternehmers und kombiniert das Format des Investigativtheaters mit furiosen Spielideen

VON C. BERND SUCHER
AUFSTIEG UND FALL DES HERRN RENÉ BENKO Foto: Marcel Urlaub

„ICH WILL DIE LEUTE ERSCHÜTTERN“

Große Show und absichtsvoll überzeichnete Dialoge: Die Wiener Regisseurin Kurdwin Ayub, Tochter kurdischer Kriegsflüchtlinge aus dem Irak, zeigt mit ihrem Theaterdebüt „Weiße Witwe“ von der Berliner Volksbühne eine schrille Räuberpistole mit ernstem Hintergrund

VON CHRISTIAN RAKOW

KURDWIN AYUB

Foto: Yasmina Haddad

Die Berliner Volksbühne hat in den vergangenen Jahrzehnten mit schöner Regelmäßigkeit wichtige Filmemacher für die Bühne gewonnen, angefangen mit Christoph Schlingensief über Albert Serra bis hin zum philippinischen Universalkünstler Khavn De La Cruz. Insofern war das Spielfeld schon bereitet für die Landung von Kurdwin Ayub. Die 1990 geborene Wiener Regisseurin, Kind kurdischer Kriegsflüchtlinge aus dem Irak, hat sich mit ihren beiden ersten abendfüllenden Streifen „Sonne“ (2022) und „Mond“ (2024) auf der Berlinale und beim Festival von Locarno einen Namen gemacht: als zupackende Autorenfilmerin mit glasklarem Blick für die Abhängigkeitsverhältnisse von Frauen in muslimisch geprägten Kulturen. „Sonne“ entführt uns mit bestechend unmittelbarem Milieu-Realismus, gemischt mit feiner Instagram-ReelÄsthetik, in die Lebenswelt einer kurdisch-österreichischen Schülerin in Wien. „Mond“ schickt die (auch bei „Radikal jung“ bereits bestens bekannte) Choreografin Florentina Holzinger in ihrer ersten Filmrolle auf einen seltsamen Auslandstrip: Als ausgediente Martial-ArtsKämpferin reist Holzinger nach Jordanien, wo sie drei Töchter aus reichem Hause in Kampfsport trainieren soll, aber bald nurmehr die Gitter eines goldenen Käfigs rund um die Mädchen erblickt und selbst nicht vermag, daran zu rütteln. Beide Filme spielen geschickt mit Genrekonventionen und unerfüllten Ausbruchsfantasien aus dem Patriarchat und sind dabei so erzcool in der Darstellung der Verhältnisse, dass man sich denkt: Bei dieser Regisseurin schmiert das Patriarchat aber mal ordentlich ab.

IM SLANG DES UNGEPUTZTEN HINTERHOFS

Was Ayub bei ihrem Volksbühnen-Debüt mit „Weiße Witwe“ veranstaltet, ist gänzlich anders als der ungeschminkte Close-up-Realismus ihrer Filme. Ästhetisch zumindest. Wir sehen große Show, ein opulentes Bühnenbild mit orientalischer Palastfassade, dazu fliegt

eine kolossale Spinne wie ein düsterer Kronleuchter regelmäßig aus dem Schnürboden herab. Sie lässt sich sogar betreten, „durch den Arsch“, wie es heißt (Ausstattung: Nina von Mechow, unter Nutzung eines Münchner Bühnenbilds von René Polleschs „Passing“). Es gibt Tänzer*innen (Tanzchor SC motion*s) in poppigen Choreografien, viele Songs (aus der „Weeknd“-Serie „Idols) und grell überzeichnete Dialoge voller „Fuck“ und „Fotze“ und was der ungeputzte Hinterhof an Slang so hergibt. Die Stückhandlung wiederum ist eine veritable Räuberpistole mit allerdings sehr ernstem Hintergrund.

Wir schreiben das Jahr 2666. Europa ist nach dem „großen Austausch“ zu einem islamischen Königreich unter Herrschaft der Monarchin Aliah geworden. Die „Neuen Rechten“ sind besiegt, aber Aliahs Regime, nun ja. Wir sehen eine groteske Version des Arabiens aus „1001 Nacht“, eine „Orientalismus“-Fantasie, wie sie der große Postkolonialismus-Theoretiker Edward Said nicht schrecklicher hätte erträumen können: Königin Aliah, mit saftiger Schnoddrigkeit und viel Sex-Appeal von der Neuköllner Rapperin addeN verkörpert, sucht sich jeden Tag einen neuen männlichen Gespielen zum Beischlaf aus, um ihn am Morgen darauf bestialisch massakrieren zu lassen. Ihre Leibgarde (unter Führung der hinreißend komisch devoten Zarah Kofler) duckmäusert um sie herum.

Während wir einen der ausgedienten Geliebten auf der Videoleinwand im blutigen Kochkessel leiden sehen, schüttelt Aliah ihren Edelstein-BH und geriert sich als Bauchtanz-Wunder im Wartestand. Aliahs Tochter Caesaria (im Schlabberlook: Samirah Breuer) will da schon mal wissen, warum die Mutter sich so „auf den Körper reduziert“ und es die ganze Zeit nur um „Ausziehen und Sex“ geht, aber sie wird heftig abgewatscht: „Ach was! Weil hier gefickt wird, Caesaria! Zieh mal die HumanaKlamotten aus, ich will sehen, ob du Titten hast. Jeder hier hat mehr Titten als du! Sogar der Eunuch hat mehr Titten!“ So spricht die wahre Mutterliebe.

WONNIGES WÜHLEN IM WIDERSINNIGEN Unernst hin oder her, unter der Hand kriegt man hier eine recht direkte Verhandlung von weiblichen Rollenbildern vorgeführt: Soll man auf dicke Hose machen und damit gleichsam toxische Männlichkeit kopieren, um sich als Frau für die Herrschaft zu befähigen (Rollenmodell Aliah)? Oder braucht es doch einen anderen, vernünftigeren, kompromissfähigen Ansatz (Rollenmodell Caesaria)? Nur wie weit reicht dieser zweite, diplomatische Weg, wenn die Männer gewissermaßen weiter hinter jeder Ecke lauern und nur auf den Rollback warten?

Tatsächlich wird das blutrünstige Matriarchat bald auf die Probe gestellt. Ein „alter weißer Mann“, in Person des großen Wieners und Volksbühnen-Urgesteins Georg Friedrich, verschafft sich Zugang zu den Gemächern von Aliah und preist seine Manneskraft. Insgeheim will er allerdings seine „Rasse“ vor der Mordlustigen retten. Weshalb er, ähnlich wie Scheherazade, die Erzählerin von „1001 Nacht“, damit anfängt, seinen Tod mit Geschichten hinauszuzögern. Das sind nun keine orientalischen Märchen, sondern eher harte Kost wie etwa der reale Fall der nordirischen Konvertitin Samantha Lewthwaite, die sich zur Dschihadistin ausbildete und heute eine der meistgesuchten Terrorverdächtigen der Welt ist. Sie wird in Boulevardmedien unter dem Namen „Die weiße Witwe“ geführt.

Dieser „alte weiße Mann“ (Friedrich) wird bald die Revolte gegen die Königin anzetteln. Man spoilert nicht zu viel, wenn man es ausplaudert. Denn um eine stringente Handlung mit knisternder Plotspannung geht es dem Stück weniger. Es erzählt sprunghaft, in Bildern und Parallelaktionen. Für launige Intermezzos sorgt ein schräger Eunuch (mit Wonne im Widersinnigen wühlend: der aus seiner Zeit an den Münchner Kammerspielen bestens bekannte Benny Claessens).

EINE GEHÖRIGE PORTION SARKASMUS

In ihrer grellen Pappmaché-Revue schneidet Ayub zwei Totalitarismen gegeneinander: hüben das aus dem Ruder gelaufene Matriarchat, das in Pose und Praxis dem Autoritarismus des Patriarchats in nichts nachsteht; und drüben der rechte Autoritarismus abendländischer Prägung, der wieder Boden unter die Füße kriegen will. Es ist eine ideologische Nähe, wie sie bereits Volker Weiß in „Die autoritäre Revolte“ beschrieben hat: Der radikale Islamismus und der rechtsradikale Autoritarismus sind Brüder im Geiste. Der eine gebiert dschihadistische Märtyrer wie die „Weiße Witwe“, der andere identitäre Prepper. Zwischen den Welten, gleichsam als utopisches Moment, bewegt sich die Prinzessin Caesaria: Breuer spielt sie sagenhaft durchlässig und direkt, in einem InstagramSelfie bricht ihr die Stimme weg: „Meine Mutter … Ihr könnt froh sein, wenn Ihr nicht umgebracht werdet. Die ist eine Mörderin, die ist kriminell …“ Caesaria als Vertreterin der Generation Z will aufbegehren gegen die toxische Herrschaft ihrer Mutter, ist aber zugleich von moralischen Skrupeln geplagt, antriebslos und manipulierbar. Dass diese Repräsentantin einer wiewohl passiven, aber doch antiautoritären, liberalen Weiblichkeit schließlich ziemlich prosaisch unter die Räder kommt, verpasst dem Stück eine gehörige Portion Sarkasmus.

„Ich will die Leute erschüttern“, sagt Ayub. „Ich zeige kein Happy End, das würde im Publikum ja nichts auslösen.“ Wir schalten uns zum Gespräch über das Stück per Zoom zusammen. Die Regisseurin ist gerade auf Tour mit ihrem Streifen „Mond“, der in diesen Tagen in die deutschen Kinos kommt. Sie wollte an der Volksbühne durchaus etwas anderes ausprobieren als in den Filmen, erzählt sie: „Im Theater hat man die ganze Zeit Totalen. Man ist nicht nah dran bei den Leuten.“ Also mussten die Mittel größer werden. „Ich wollte übertreiben und überzeichnen. Wie im Stadtrandtheater. Mit Clowns. Jedes Klischee benutzen. Und die inkorrektesten Witze machen.“

MAXIMALE REBELLION

„Weiße Witwe“ sei „aus einer Wut heraus entstanden“. Aus einer Wut auch auf die „Kultur-Bubble“, in der sich die Regisseurin selbst befindet und die ihr immer wieder Vorgaben machen will, wie sie sich als Künstlerin ihrer eigenen Kultur zu nähern habe. „Rassismus gibt es rechts. Dort ist er eindeutig. Aber es gibt ihn auch links, nur nicht eindeutig“, sagt Ayub. Diese zweite Form Rassismus mündet in Tabus. „Die Ausländer sollen die Fresse halten, weil irgendwelche AfD-Onkels die AfD wählen. Da gibt man lieber der migrantischen Regisseurin die Schuld als hetzerischen Politikern.“

In einer Szene ihres Stückes spricht Ayub diese Bevormundungen sehr gezielt an. Da geht es um die Filmbranche, die festlegen möchte, welche Realitäten von Frauen in der muslimischen Welt man darstellen darf und welche Sujets womöglich den Falschen in die Karten spielen. Womit man gegenüber der „migrantischen Regisseurin“ genau jenen Paternalismus ausübt, den man andernorts kritisiert. „Je mehr man versucht, anderen seine Ideen aufzuzwingen, egal ob rechts oder links, desto fataler. Am Ende werden die Migranten leiden. Am Ende rollen unsere Köpfe“, sagt Ayub im Zoom-Gespräch.

Sie selbst hat sich aus einem patriarchalen Haushalt emanzipiert. Zu ihrem Vater, der in der Kindheit und Jugend ein strenges Regime führte, fand sie über ihre Kunst einen neuen Zugang. Das Malerei- und Animationsfilmstudium sei an sich die maximale Rebellion gewesen, ein echter Schock für die Familie. Aber ein heilsamer. Als ihr Vater sie für Dokumentarfilmarbeiten in den Irak begleitete, lernten sie sich anders kennen, „als Menschen, als Freunde“. Schließlich spielte Omar Ayub auch die Vaterrolle in „Sonne“ und ist dort ein eher weicher, liberaler, lebenshungriger Moslem. „Eine Dramaturgin meinte zu mir, ich hätte in dem Film den Vater erfunden, den ich gern gehabt hätte“, sagt Kurdwin Ayub.

In „Weiße Witwe“ geht es weniger versöhnlich aus. Das Patriarchat kehrt zurück und macht sich breit. Der Chor der Hofschranzen tanzt in queerer, völlig entpolitisierter Fröhlichkeit zu Britney Spears: „I’m a slave for you (like that) / I cannot hold it, I cannot control it.“ Dazu sind die Köpfe der Königin und ihrer Tochter auf Pfählen aufgepflockt. Kein schöner Anblick. Aber schön sollte es ja auch nicht sein. Außer schön schrill.

CHRISTIAN RAKOW – geboren 1976 in Rostock, studierte Germanistik und Philosophie in Rostock, Sheffield und Berlin und promovierte in Literaturwissenschaft in Münster. Er ist Co-Leiter der Redaktion von „nachtkritik. de“ und schreibt als Theaterkritiker u. a. für „Theater heute“. Er war Mitglied der Auswahljury des Festivals „Politik im Freien Theater“ der Bundeszentrale für politische Bildung 2011, Mitglied der Preisjury beim Mülheimer Dramatikpreis 2014 und Mitglied der Jury des Berliner Theatertreffens 2017 bis 2019.

WEISSE WITWE von Kurdwin Ayub

BERLINER VOLKSBÜHNE

Text & Regie Kurdwin Ayub

Bühne & Kostüme Nina von Mechow

Choreografie Camilla Schielin

Licht Denise Potratz

Dramaturgie Leonie Hahn, Anna Heesen

Besetzung addeN, Samirah Breuer, Benny

Claessens, Georg Friedrich, Zarah Kofler

Tanzchor SC motion*s: Felipe Barrera, Luisa Bocksnick, Luna Caric, Fares

Ghamrawy, Matti Goltz, Jonas Hoffmann, Levin Kaufmann, Kilian Löderbusch, Rocio Parraga, Aminata Reuss, Lena Strützke, Christoph Viol

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