MFG - Das Magazin / Ausgabe 41

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MFG EDITORIAL

St. Pölten - eine Griechische Tragödie, Teil II JOHANNES REICHL

Bei der diesjährigen Oscar-Gegenveranstaltung „Goldene Himbeere“ für die schlechteste Leistung des Jahres ging Gerüchten zufolge auch ein Beitrag aus St. Pölten an den Start, der sich mit den von der Stadt getätigten Derivativgeschäften, der damit zusammenhängenden Klage gegen die Raiffeisen Landesbank sowie mögliche Millionenverluste befasst (siehe auch S. 8-11). Während der schon abgedrehte 1. Teil (über die Jahre 2003-2007) noch unter dem Titel „Die fetten Jahre“ viel Frohsinn verbreitete, hat sich die Handlung im nun präsentierten Teil 2 „Das böse Erwachen“ (ab 2010) zu einer kapitalen griechischen Tragödie (und dies nicht nur wegen der Analogie Griechenland und Bankrott) ausgewachsen. Als besonderer Kunstkniff wird „Das böse Erwachen“ übrigens gleich mittels zwei Genres umgesetzt: Die 1. Hälfte (aktuell zu sehen) kommt als Stummfilm daher – die Protagonisten zelebrieren das große Schweigen. Die Spannung und Nervosität wird dadurch beim zum Zuschauen verurteilten Bürger (der die Chose finanziert) fast ins Unermessliche gesteigert. In der 2. Hälfte soll die Geschichte dann in ein spannendes Gerichtsdrama übergehen, im Zuge dessen die Zuschauer möglicherweise sogar mehr zu hören bekommen, als ihnen lieb ist. Auch der Plot überzeugt: So hat man den aktuellen Stoff in die biblischen Anfänge transferiert, um die Zeitlosigkeit des ewigen Grundkonflikts um Schuld und Sühne herauszuarbeiten. Adam (in der Hauptrolle die Stadt St. Pölten), bezeichnenderweise als der erste Mensch bezeichnet, kann in seiner Naivität nicht vom frohlockenden Apfel lassen, den ihm die Schlange (grandios gespielt von der Bank) anbietet. Dieser verspricht aber auch zu wundersame Dinge, etwa dass einmal eingegangene Schulden durch einen kleinen Biss (als Metapher für Wette) weniger werden können. Und die schönen bunten Charts, ständig steigenden Kurven sowie Aussichten aufs Paradies (als wär Adam nicht schon in diesem, der verblendete dumme Junge) lenken vom Kleingedruckten ab. Aus dieser Grundkonstellation entwickelt sich auch

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die thematisierte Grundfrage: Ist der Verführer, der – seiner Art entsprechend – frohlockt, tatsächlich für den Fortgang der Geschichte verantwortlich, oder nicht doch eher Adam selbst, der seine Triebe, insbesondere jenen der Gier, nicht zügeln kann und die Risken missachtet? Denn vom Apfel zu essen hat ihm ja niemand angeschafft. Andererseits, wenn der Apfel nicht hält, was versprochen wurde? In einer Nebenrolle wird noch Eva eingeführt, die Adam im Unterschied zur biblischen Vorlage nicht anstiftet, sondern im Gegenteil davor warnt, von der verlockenden Frucht zu naschen, weil er sich daran den Magen verderben könnte. („Wir wollten in einer Männerwelt die Schuldfrage nicht auf die Frau abwälzen“, so die Macher über ihre Neuinterpretation). Adam bezeichnet Eva daraufhin verächtlich als Feigling, Bremser, Ewiggestrige, die die schöne Neue Welt nicht versteht. Und Gott? Es ist noch offen, ob er in Form eines Richters als der rettende deus ex machina vom Himmel steigt und Adam erlöst, oder ob er – frei nach Nietzsches Wort „Gott ist tot“ – absent bleibt, und Adam die Suppe selbst auslöffeln muss. Auch ein völlig überraschender Ausgang ist möglich. Obwohl manch Kritiker von einem düsteren Film noir spricht, handelt es sich um eine klassische Tragödie im Sinne Aristoteles. So sind die Hauptprotagonisten von hohem Stande (Politiker, Banker), und sie verfügen über die dementsprechende „Fallhöhe“. Das heißt im schlimmsten Fall wird nicht nur das eingesetzte Kapital, sondern werden sie selbst, ja die ganze Stadt in den Abgrund gerissen. Allen voran gehe es aber bei diesem Lehrstück um „Katharsis“, also die läuternde Wirkung mittels Mitleid und Furcht. Dies dürfte schon jetzt gelungen sein: So schnell wird Adam (die Stadt), selbst wenn er vor Gericht „siegen“ sollte, nicht mehr von derlei Früchten kosten. Und das Publikum? Bei diesem hält sich das Mitleid derweil noch in Grenzen, die Furcht hingegen ist groß. Übrigens wird bereits an eine Fortsetzung gedacht. Ihr Arbeitstitel: „Die fetten Jahre sind vorbei. Geschichte eines Lernprozesses.“

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