Licht und Schatten

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LICHT & SCHATTEN Die Sonne und die Kunst



Licht

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JOHANN WOLFGANG VON GOETHE (1749–1832)

Wanderlied

Bleibe nicht am Boden heften, Frisch gewagt und frisch hinaus! Kopf und Arm mit heiteren Kräften, Überall sind sie zu Haus; Wo wir uns der Sonne freuen, Sind wir jede Sorge los; Daß wir uns in ihr zerstreuen, Darum ist die Welt so groß.

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„Heute beim Aufstehen kam mir der Gedanke, wie es doch recht merkwürdig ist, daß gerade die Völker, denen die Sonne besonders heiß auf den Schädel brennt, sie als Gott verehren. Alle Sonnenund Feueranbeter wohnten im heißen Süden, wie die Assyrer, Phönizier, Perser. Den Völkern des Nordens ist dieser Kult nicht in den Sinn gekommen, und doch hat man in unserem Klima gewiß mehr Grund zur Dankbarkeit und Freude, wenn die seltene Sonne am Himmel sich zeigt, als da, wo sie sengende Glut und oft Gefahr und Verderben bringt. Aber die alten Germanen verehrten nicht die Sonne, sondern den Blitz und den Donner. Auch hierin zeigt sich die Hundenatur der Menschen. Sie lieben und verehren den, vor dem sie sich fürchten.“

—OTTO EDUARD LEOPOLD FÜRST VON BISMARCK (1815–1898)

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ANNA SIESELBST

Sonne in einem Café

Das Kleid verknittert im Wind, als sie draußen, vor dem Café, gut versteckt darauf wartet, dass er bezahlt und die Zigarette ausdrückt. Sie weiß, was er tun wird, wenn - in dem Moment, als er die Hand auf den Tisch legt und sich aufstützen will, tritt sie ein. Er lässt sich langsam, fast unmerklich, wieder auf den Stuhl zurücksinken. Sie setzt sich an den Nebentisch, lächelt, er beobachtet sie. „Was darf ’s sein?“, fragt die Bedienung. „Einen Kaffee, bitte.“ Die Tischplatte ist warm, auch wenn Wolken aufgezogen sind. Sie legt ihre bloßen Arme auf den grauen Kunststoff. Der Kaffee kommt. Er hat den Kopf zu ihr gewandt, blickt sie an. Sie hat sich für das blaue Kleid entschieden, weil das Wetter warm ist, findet sie, und es ist Mittwoch. Nur der Mittwoch, der schöne Mittwoch, bringt Abwechslung in ihr Leben und ihm fiebert sie entgegen, mit der festen Hoffnung auf etwas Neues, – denn am Mittwoch sitzt er im Café, als wäre er immer dort gewesen und wenn sie ihn begrüßt und sich an den Nebentisch setzt, fügt sie sich so klar und eindeutig in das Bild ein, als wäre auch sie immer dort gewesen. Er zündet sich eine neue Zigarette an, beobachtet sie. Sie zieht die Tasse zu sich, streckt die Hand aus und greift ins Leere. Es steht kein Zucker auf dem Tisch. Sonst steht immer Zucker auf dem Tisch.

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Die Wolken haben sich verzogen, das Licht blendet sie, und sie senkt den Blick, ihre Finger werfen zitternde Schatten. Er kneift die Augen zusammen, vielleicht wegen der Sonne, vielleicht auch nicht. Ihre Finger erschlaffen. Ist das der so ersehnte Ausbruch aus dem Alltag, kein Zucker, ist es das? Hat sie so lange gehofft, nur um festzustellen, dass das alles ist? Hat sie nicht mehr verdient? Draußen ist es kalt, kalt für die Jahreszeit. Vielleicht wird sie frieren in ihrem dünnen Kleid, aber das ist ihr gleichgültig. Sie will gehen, denn sie kann noch so lange sitzenbleiben, es wird nichts geschehen, da ist sie sicher. Sie rückt den Kaffee von sich, der Löffel reflektiert das Sonnenlicht und wirft es direkt in ihre Augen. Er ist neben ihr, stellt den Zuckerspender auf ihren Tisch und bleibt bei ihr stehen, zögerlich... Sie blickt auf den Tisch, auf den Zuckerspender und mit einem Ruck reißt sie sich los. Der Wind fährt durch die Tür, die Frau hat sie nicht zugemacht. Die Bedienung schließt die Tür, seufzt. „Tja“, sagt die Bedienung und nimmt den Zuckerspender von dem Tisch, schüttelt ihn, hält ihn gegen das Licht, „– der ist leer.“ Und leise schlurft die Bedienung davon, den leeren Zuckerspender in der Hand.

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AIREN (*1981)

Reality

Es ist ein seltsames Zeitloch, in das ich gefallen bin. Die Tage vergehen in Mexiko in einer anderen Geschwindigkeit. Der Augenblick wird stärker, Sonne, man nimmt sich Zeit, sich hinzusetzen, die Straße entlangzusehen, dann auch eine zu rauchen. Und wenn man abends zurückblickt, gibt es kaum ein Ereignis, an dem man den Tag aufhängen könnte. Irgendwie hat mich diese ganze Liebessache von Anfang an ans Kiffen erinnert.

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VINCENT WILLEM VAN GOGH (1853–1890)

Der Sämann

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„Die Sonne ist das Gold der Armen.“

—SPRICHWORT

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THEODOR FONTANE (1819–1898)

Ikarus

Immer wieder dieselbe Geschichte: Siege, Triumphe, Gottesgerichte. Wem jeder Sprung, auch der kühnste, geglückt, Der fühlt sich dem Gesetz entrückt, Er ist heraus aus dem Alltagstrott, Fliegen will er, er ist ein Gott; Er fällt dem Sonnengespann in die Zügel, – Da schmelzen dem Ikarus die Flügel, Er flog zu hoch, er stürzt, er fällt, Ein neu Spektakelstück hat die Welt, Eben noch zum Himmel getragen… Apollo, zürnend, hat ihn erschlagen.

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HEINRICH HEINE (1797–1856)

Am fernen Horizonte

Am fernen Horizonte Erscheint, wie ein Nebelbild, Die Stadt mit ihren Türmen In Abenddämm‘rung gehüllt. Ein feuchter Windzug kräuselt Die graue Wasserbahn; Mit traurigem Takte rudert Der Schiffer in meinem Kahn. Die Sonne hebt sich noch einmal Leuchtend vom Boden empor, Und zeigt mir jene Stelle, Wo ich das Liebste verlor.

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ELMAR KUPKE (*1942)

Wintersonne

Noch ist der Morgen mehr Gefangener der Nacht als Bote des nahenden Tages. Schweigen umhüllt die Landschaft tief und ruhig im Grau. Um die träumenden Bäume und ihr Gezweige, die letzten Trotzschatten der Nacht ein seidener Schleier aus Lila… Da erhebt die Sonne, selbstverzaubert flimmerndes Orange, Anfangs noch blutleer im Meer der Nebel, sucht sie dennoch am Himmel ihre Macht über den Tag und wärmt sich langsam an den Bäumen empor. Aus dem Reif der Wiesen funkeln Silberfäden überwältigt zu ihr hinauf. Ihre immer stärker glutende Kraft trägt den Morgen in die Welt und verklärt ihn in einem neuen Licht…

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„Die Sonne ist die Universalarznei aus der Himmelsapotheke.“

—AUGUST VON KOTZEBUE (1761–1819)

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MAX DAUTHENDEY (1867–1918)

Gleich den Frauen lebt die Sonne...

Gleich den Frauen lebt die Sonne vom Bewundern und Vertrauen. Sie kann Wetter einreißen, die sich drohend aufbauen. Auf die regendunkle Erde scheint heute die Sonne, Hält die Luft am Boden still und am Himmel der Wolken Herde, Weil sie sich lagern will wie ein sanftes Weib, Das hineintritt mitten in einen Streit Leib an Leib. Und die Eichen rauschen nicht mehr und stehen gebändigt umher. Weiße Wolken hinter den Wipfeln hängen wie silberne Helme dort, Als legten die Männer die Rüstungen fort. Da darf kein wütender Schatten mehr über die Gräser jagen; Alles atmet des Weibes Behagen. Die Sonne geht warm herum Und sieht sich nur nach den Herbstspinnen um, Die ihre Netze zwischen den Ästen aufschlagen.

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JOAN MIRÓ (1893–1983)

Figur gegen rote Sonne II

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„Je nachdem, wie wir Licht anschauen, ist Licht eine Welle, oder ein Teilchen. Licht ist eines der großen magischen Geheimnisse unseres Universums. Ohne Licht, meine Damen und Herren, gäbe es uns nicht. Ohne Licht gäbe es keine Kunst, ohne Licht gäbe es überhaupt keine Lebewesen.“

—HARALD LESCH (*1960)

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PAUL VERLAINE (1844–1896)

Sonnenuntergang

Ein Nebel verschleiert die Felder und winkt, voll Wehmut feiert die Sonne und sinkt. Voll Wehmut feiert mein Herz mit und klingt vergessenumschleiert, nun die Sonne sinkt. Von seltsamen Träumen, wie Sonnen glühn in den himmlischen Räumen, flammend und kühn, siehst du noch schäumen die Lüfte und sprühn, wie Sonnen verglühn in den himmlischen Räumen.

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Schatten

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IRENE BEDDIES

Dunkel und Schweigen

Dunkel ringsum. Dunkelstes Dunkel, tiefste Schwärze. Nein, nicht Nachtdunkel, da sieht man immer noch einen schwachen grauen Fleck irgendwo. Finsternis, totale Finsternis. Und Stille. Kein Laut, kein Echo eines Lautes. Schweigen absolut. Nein nicht absolut. Allmählich höre ich das Rauschen meines Blutes in den Ohren. Ich höre das Klopfen des Herzens gegen meine Rippen. Dennoch äußerste Stille im Raum. Im Raum? Bin ich in einem Raum? Draußen wohl nicht, denn es geht kein kleinster Windhauch. Unbeweglich steht die Luft. Was für ein Raum? Vorsichtig setze ich einen Fuß ein kleines Stück voraus. Wohin geht Voraus? In welche Richtung führt Voraus? Wie weit ist es sicher? Ich bleibe lieber stehen. Ich strecke die Arme aus. Nichts. Kein Gegenstand. Keine Mauer oder Wand. Nur Schwärze und Schweigen. Wo bin ich? Allmählich bekomme ich Panik. Plötzlich grelle Helle. Nicht Tageshelle, nicht Sonnenschein. Grelles Licht genau über mir. Genau über mir. Ich werfe keinen Schatten. Auch wenn ich den Arm ausstrecke: kein Schatten. Wände sehe ich nicht. Ich sehe rein gar nichts außer meiner Kleidung, wenn ich an mir herunterblicke. Kein realer Ort wird erkennbar. Licht und ein weißer Boden ist alles. Auf ihm stehen meine

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Schuhe, Beine. Über ihm schwebt mein Rock. Die Haut an meinem ausgestreckten Arm leuchtet weiß. Keine Spur von belebendem Blut. Ich will dem Licht entgehen. Ich mache nun einen großen Schritt. Kein Schatten folgt mir. Wieder ist das grelle weiße Licht genau über mir. Ich wage noch einige Schritte. Keine Veränderung. Dann stürze ich nieder. Ich liege seitlich auf dem hellen Boden. Ganz langsam erkenne ich einen größer werdenden Schatten unter meiner Hand. Ich bewege die Augen ein wenig in die Richtung meiner Knie. An der ganzen Körperlinie entlang wachsen vorsichtig Schatten. Das Licht wird schwächer. Es nimmt einen wärmeren Ton an. Mir wird warm. Jetzt erst kommt mir zu Bewusstsein, dass ich gefroren habe. „Sie ist über den Berg! Sie ist aufgewacht“, höre ich entfernt eine weibliche Stimme.

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KARL FRIEDRICH MAY (1842–1912)

Mehr Licht!

„Mehr Licht. mehr Licht!“ Die Finsternis läßt mich nur zagend vorwärts gehn; ich schreite langsam, ungewiß und bleib oft ängstlich tastend stehn. „Mehr Licht, mehr Licht!“ Zwar leuchtet mir die Weisheit dieser klugen Weit, doch so, daß sie den Weg zu dir verdunkelt, aber nicht erhellt. „Mehr Licht, mehr Licht?“ Am Glauben nur, an ihm allein, allein gebrichts; ihn scheut die irdische Natur und mit ihm dich, den Quell des Lichts.

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KARIN OBENDORFER (*1945)

Angst

In Angst umhüllt gestaltet sich mein Leben – abends schließe ich meine Augen, und die Dunkelheit gibt mir Wärme und Sicherheit. Öffne ich morgens meine Augen, reißt die Angst mich in die harte Wirklichkeit zurück. Mein Gefühl der Liebe wird mit Füßen getreten – mein Kampfgeist mit Worten zertrümmert, mein suchender Blick nach Zärtlichkeit, einem lieben Wort mit kalten Augen geblendet. Mein Körper schmerzt, mein Herz zittert, mutlos sinkt mein Sein in sich zusammen. Das Ziel – es hat sich in die Unendlichkeit abgewendet.

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RAINER MARIA RILKE (1875–1926)

Die Welt, die monden ist

Vergiß, vergiß, und laß uns jetzt nur dies erleben, wie die Sterne durch geklärten Nachthimmel dringen, wie der Mond die Gärten voll übersteigt. Wir fühlten längst schon, wie‘s spiegelnder wird im Dunkeln; wie ein Schein entsteht, ein weißer Schatten in dem Glanz der Dunkelheit. Nun aber laß uns ganz hinübertreten in die Welt hinein die monden ist.

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PAUL KLEE (1879–1940)

Der schreckliche Traum

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„Ich verstehe nicht, weshalb alle Angst vor dem Dunkel haben. Die Nacht bringt doch so vieles ans Licht. Vielleicht deshalb?“

—JANINE WEGER (*1985)

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ZHUANGZI (365 V. CHR.–290 V. CHR.)

Der Schatten

Da war ein Mann, den der Anblick seines eigenen Schattens derart irritierte und dem seine eigene Fußspur ein solches Ärgernis war, dass er beschloss, sich beider zu entledigen. Als Lösung fiel ihm ein, vor ihnen davon zulaufen. Also stand er auf und lief los. Aber jedes Mal, wenn er seinen Fuß aufsetzte, war da eine weitere Fußspur und sein Schatten hielt mühelos Schritt mit ihm. Er führte sein versagen darauf zurück, dass er nicht schnell genug lief. Also lief er immer schneller, ohne anzuhalten, bis er schließlich tot zu Boden sank. Hätte er einfach nur ein schattiges Plätzchen aufgesucht, dann wäre sein Schatten verschwunden, und hätte er sich hingesetzt und reglos verweilt, dann hätte es keine Fußspur gegeben. Doch eben dies fiel ihm nicht ein.

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Notizen

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Notizen

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Notizen

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Die Sonne ist mehr als ein Symbol, sie gibt dem Menschen Kraft, Energie. Es ist wenig überraschend, dass sie damit auch immer wieder im Mittelpunkt lyrischer Werke steht. Meist stellt die Sonne und das Licht das absolut Gute dar, sie steht für heroische und besonders reine Charaktereigenschaften. Sie steht für die Hoffnung. Auf der anderen Seite steht der Schatten; das Böse, das Bedrückende, die Verzweiflung und die Resignation. Dies ist eine Auswahl der Literatur – Gedichte, Erzählungen, Liedtexte, Zitate – die mir während der Bearbeitung meiner Masterarbeit „Sun, City & Architecture“ über den Weg gelaufen ist.


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