ExtraBLAtt Nr. 2, September 2012

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Nr. 2wei Gratis · 10‘000 Exemplare

September 2012

Extra BLAtt Initiativzeitung für Luzern · Herausgegeben von der Initiative «Ja zu einer lebendigen Industriestrasse» Information und Diskussion zur Abstimmung am 23. September 2012: www.luzerngewinnt.ch

Nach Luzern blicken Stadtmarketing einmal anders … «So ist Luzern, und es kommt ja doch so, wie es kommt», mögen sich viele beim Industriestrassen-Thema denken. Falsch, denn hier wird mehr als Stadtgeschichte geschrieben, wie auch immer die Abstimmung verlaufen mag.

Luzerner Perspektiven: Die Häuser Nr. 15 und 17 auf dem Bauareal.

Foto: Gabriel Ammon

Kaspar Surber · Jede Stadt hat ihren eigenen Streit. In St. Gallen, wo ich wohne, ist es der Streit über Parkplätze: Die Linken sind dagegen, dass neue Parkplätze gebaut werden, die Bürgerlichen dafür. Letztes Jahr kam es zum grossen ideologischen Showdown: Es ging um die Sanierung des Marktplatzes: mit Parkgarage. Die Vorlage wurde von einer knappen Mehrheit abgelehnt. Wie eine später vom Stadtrat in Auftrag gegebene Telefonumfrage herausfand: wegen der Parkgarage. Ich glaube, in St. Gallen werden die Bewohner noch so lange über Parkplätze streiten, bis wegen dem begrenzten Erdöl kein einziges Auto mehr fährt. Nur dürfte diese Diskussion ausserhalb der Stadt kaum jemand interessieren. Auch bei der Abstimmung über die Industriestrasse in Luzern könnte man meinen, es ginge hier bloss um einen lo-

kalen Streit: Um die Rettung von Künstlerateliers, Gewerbebetriebe und einer grossen Wohngemeinschaft. Verständlich nur für Eingeweihte, nicht weiter von Interesse über die Stadtgrenzen hinaus. Doch es verhält sich umgekehrt: Die Abstimmung ist in der Schweiz beispielhaft. Es geht um die Frage, wem der Boden gehört. Und was eine Gesellschaft damit macht: Ob sie ihn nur für den Profit eines einzelnen Investors zur Verfügung stellt oder für Wohnungen auch für Menschen mit weniger Geld. Letztlich geht es um das Bild einer Stadt: Ist sie bloss Standort für Unternehmen oder ein Lebensraum für Familien, Gewerbler, Künstler? Der Luzerner Stadtrat behauptet, die Leute von der Industriestrasse wollten nur ihre Räume retten. Das stimmt nicht: Es geht nicht um Blockierung, es geht um ein andere, demokratische, genossenschaftliche Entwicklung der Industriestrasse. Es geht nicht um die Bewahrung, sondern um die Veränderung des Blickwinkels. Deshalb lohnt es sich, am 23. September auch von St. Gallen und anderswo nach Luzern zu blicken. Kaspar Surber arbeitet als Journalist bei der Wochenzeitung WOZ in Zürich.

Tendenziöse Abstimmungsunterlagen

Geld her – oder Leben?

Die Stadt erzeugt eine Informationsverwirrung. Absicht oder Unsicherheit?

Vogelperspektive aus der Nachbarschaft

Mit falschen und manipulativen Abstimmungserläuterungen macht die Stadt Stimmung gegen die Industriestrassen-Initiative. Gegen dieses unfaire Vorgehen wehren sich nun drei Stimmberechtigte mit einer Stimmrechtsbeschwerde. Die Schweizer Bundesverfassung garantiert mit dem Stimmrecht auch die freie Meinungsbildung. Deshalb steht eine Behörde, welche zu einer Sachabstimmung amtliche Erläuterungen verfasst, in der Pflicht, objektiv und korrekt zu informieren. Das gilt auch für die Abstimmungserläuterungen zur Industriestrasse-Initiative – oder würde zumindest gelten.

Tendenziös uminterpetiert Denn auf Seite 7 der Broschüre wird die Initiative nicht bloss kurz vorgestellt, sondern auch ziemlich tendenziös uminterpretiert. Mit aus dem Zusammenhang gerissenen und obendrein noch falsch zitierten Auszügen aus dem Begleittext auf der Rückseite des Initiativbogens wird der Eindruck erweckt, dass sich die IG Industriestrasse für den Erhalt sämtlicher Gebäude auf dem Areal einsetzen würde. Davon steht aber im Initiativtext nichts : «Das Areal Industriestrasse (Parzellen 1323–1325, 1574, 2191, 2147) ist gemeinnützigen Wohnbauträgern im Baurecht abzugeben.» Nur über diese Forderung wird abgestimmt, nicht über allfällige Begleittexte. Letztere werden nur dann zur Interpretation herangezogen, wenn ein Initiativtext unklar formuliert ist. Die Industriestrassen-Initiative lässt hier aber keinen Interpretationsspielraum offen. Zudem impliziert ja schon der Begriff «Baurecht», dass dann auch etwas gebaut werden soll.

Begleittext falsch zitiert Wenn die Stadt schon den Begleittext zitiert, dann bitte richtig. In einem allgemein gehaltenen Abschnitt wird von «geschichtsträchtigen Gebäuden und

Ensembles» gesprochen, und eben nicht von allen Gebäuden. Gemeint ist hier das alte Käselager an der Industriestrasse 9, welches von verschiedenen Seiten als schützenswert bezeichnet wurde. Die Stadt sollte zumindest einmal prüfen, ob das Gebäude nicht unter Schutz gestellt werden müsste. Wie sorglos in Luzern mit wertvoller Bausubstanz umgegangen wird, zeigt das Beispiel der ZHB im Vögeligärtli. Auch hier blieb der Denkmalschutz zu lange untätig. Davon liest man in den Abstimmungserläuterungen leider nichts. Eben sowenig von den Hauptanliegen der Initiative: günstiger Wohn- und Gewerberaum, demokratische Kontrolle über den Boden und nachhaltige Einnahmen dank dem Baurechtszins. Vielleicht würde dann beim Lesen ja der eine oder die andere Stimmbürgerin ja die Vorzüge der Initiative erkennen. Diese Annahme wird bestärkt durch den Umstand, dass in den Abstimmungsunterlagen tunlichst vermieden wird, den vollständigen Titel «Ja zu einer lebendigen Industriestrasse – für KMU, bezahlbares Wohnen und Kulturraum für alle» zu erwähnen.

Gegenvorschlag will Gegenteil Ebenfalls nur mit Abstimmungstaktik lässt es sich erklären, warum die ursprüngliche Absicht der Stadtrates, das Areal zu verkaufen, nun plötzlich als Gegenvorschlag zur viel später eingereichten Initiative angepriesen wird. Üblicherweise wird mit einem Gegenvorschlag eine etwas moderatere Alternative zu einem als zu extrem empfundenen Initiativbegehren formuliert. Was nun aber als Gegenvorschlag daherkommt, ist nichts anderes als das genaue Gegenteil der Initiative. Weder die Forderung nach Abgabe im Baurecht noch an gemeinnützige Wohnbauträger wird auch nur ansatzweise erfüllt, wenn das Land an eine börsenkotierte Aktiengesellschaft verkauft wird. Dass der Landverkauf als Gegenvorschlag angepriesen wird, birgt aber auch juristische Probleme. Der Grosse Stadtrat hat entschieden, dass die Initi-

ative und der Landverkauf als zwei Vorlagen mit Stichfrage zur Abstimmung kommen. Die Abstimmungsunterlagen entsprechen also nicht mehr dem Beschluss des Parlaments. Es hat gar nie einen Gegenvorschlag zur Initiative gegeben. Die Stadt darf nicht eigenmächtig aus taktischen Gründen eine Abstimmungsvorlage abändern.

Richtigstellung der Stadt verlangt Diese groben Schnitzer müssen korrigiert werden. Deshalb reichten am 3. September drei Stimmberechtigte der Stadt eine Stimmrechtsbeschwerde beim Luzerner Regierungsrat ein. Die IG Industriestrasse unterstützt die Beschwerde gegen Abstimmungsunterlagen. Diese verlangt, dass die Stadt umgehend über den korrekten Inhalt der Initiative informiert, dass nämlich über Verkauf oder Abgabe im Baurecht abgestimmt wird und nicht über den Abriss Ja oder Nein. Zudem muss allen Stimmberechtigten ein korrekter Stimmzettel mit vollständigem Initiativtitel sowie ohne die irreführende Bezeichnung Gegenvorschlag für den Landverkauf zustellt werden. Nur so ist die freie Meinungsbildung in dieser wichtigen Frage garantiert. Marcel Budmiger ist SP-Grossstadtrat und einer der drei Beschwerdeführer.

Eine Stadt ist immer nur so gut wie das Leben ihrer Bevölkerung. Zur Lebensqualität gehört etwas mehr als eine glänzende Fassade und ein einwandfreies Shopping. Zur Zeit wird das Gemeinwohl verkauft und privatisiert. Gibt es noch Hoffnung? Patrizia Schobinger · Es scheint einer Art Verzweiflungstat gleichzukommen, wenn die letzten Landreserven Luzerns, die Brach- und Grünflächen, «Biotope» und Industriegebiete dieser Stadt verscherbelt werden müssen, um das gierige und sehr hungrige Monster Wirtschaftlichkeit zu füttern. Solange unser Wirtschaftssystem auf unbeschränktem Wachstum (ohne Rücksicht auf Verluste) beruht und sich nicht die Erkenntnis durchsetzt, dass dies weder nachhaltig noch sozial gerecht ist, wird das Resultat nur ein kurzfristig geldbringendes Zwischenhoch suggerieren. Eine solche Politik, welche die Bedürfnisse und Befindlichkeiten der Erdenbürger ignoriert, welche den Lebens- und Wohnraum des Menschen nicht vor Zerstörung bewahrt sowie den Zustand der Natur nicht wahrhaben will, ist letztlich nicht mehr glaubwürdig und wird, da sie den Menschen nicht länger ins Zentrum ihrer Aufmerksamkeit stellt, mittelfristig zum Scheitern verurteilt sein. Der Schweizer Bestsellerautor Pedro Lenz bemerkte mal in eine seiner Lesungen, dass in einer Zeit des Konsums als Religion fast nur noch Konsumenten, Klienten, Kunden, «User» und Leistungsbezüger wahrgenommen würden. Er fand es unglaublich, dass das Gemeinwesen, das Gemeinsame, das Gemeinwohl verkauft, privatisiert, abgelöst und ersetzt werde durch die absolute Gleichgültigkeit gegenüber dem Mitmenschen. In diesem Sinne frage ich die Entscheidungsträger und Steuerzahler dieser Stadt, ob es nicht endlich an der Zeit wäre, das Ruder umzuschwenken zu einer verantwortungsvollen Politik, die den Menschen und sein Wohl wieder ins Zentrum des Geschehens rückt. Unsere Lebenswelt ist keine Maschine, die nur aus materiellen Grundbau-

steinen besteht, sondern vielmehr ein komplexes Netzwerk von untrennbaren Beziehungen. Ein Lebensraum, wie wir ihn an der Industriestrasse vorfinden, ist leider eines der letzten solchen «Biotope» dieser Stadt. Es kann nicht sein, dass eine Stadt wie Luzern nicht erkennt, wie aus einer solchen Vielfältigkeit – gepaart mit einer hohen Eigenverantwortlichkeit und Autonomie, wie diese an der Industriestrasse während Jahren praktiziert und gelebt wird – ein hoher Nutzen für unsere Gesellschaft entstehen kann. Um sich optimal zu entwickeln, braucht das menschliche Wesen entsprechenden Freiraum, der es ihm ermöglicht, seine Persönlichkeit zu entfalten und für gesellschaftliche Prozesse und seine eigene Existenz Verantwortung zu übernehmen. Unsere globalisierte Welt gefährdet immer mehr die Eigenständigkeit solcher lokalen Kulturen, die lebensfördernden Umstände sowie die autonomen Wirtschaftskreisläufe. Stärken wir das genossenschaftliche Wirken, den gemeinnützigen Wohnungsbau, und unterstützen wir eine gesund verankerte und gut vernetzte Zivilgesellschaft. Beackern wir mit vereinten Kräften dieses ‹Biotop Gesellschaft›, welches wertfrei jeder Pflanze seine Existenz zugestehen mag. Um dies ab sofort zu fördern und eine breitere Akzeptanz und Toleranz in der Bevölkerung zu erreichen, ist es für Politik und alternativere Szene unumgänglich, sich gemeinsam an einen Tisch zu setzen. Eine optimale Homöostase ist nur im Zentrum zweier Pole möglich. Und gehen wir am 23.September ALLE abstimmen! Denn, so schreibt Vaclav Havel, «Hoffnung verstehe ich vor allem als einen Geisteszustand, nicht als einen Zustand der Welt … Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgehen wird, sondern die Gewissheit, dass etwas sinnvoll ist, egal, wie es ausgeht.» Patrizia Schobinger ist Nachbarin, ehemalige Mitarbeiterin der GSW und Stellenleiterin der Info- und Anlaufstelle für Migrationsfragen in Kriens.


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Quo vadis Lucerna? Eine Stadt schafft sich ab Es mangelt an neuem und bezahlbaren Wohnraum für Familien in der Stadt Luzern. Wird das Heft grossen Investoren überlassen, wird sich dieser Notstand weiter steigern. Der gemeinnützige Wohnungsbau hätte andere Prämissen. Aber die Stadt fördert lieber den letzten Ausverkauf ihres Bodens. Philipp Ambühl · Das leidige Thema der Mietpreissteigerung in der Stadt Luzern ist bekannt. Der Wohnungsmangel bei 4-Zimmer Familienwohnungen in den unteren Preissegmenten, bis Fr. 2000.–, ist in den letzten drei Jahrzehnte derart akut geworden, dass sich schon massive gesellschaftliche Auswirkungen zeigen. Ein paar Fakten in Zahlen: Die Stadt Luzern hat heutzutage den zweithöchsten Altersdurchschnitt aller grösseren Städte. In den 70er Jahren waren von 100 Einwohnern in der Stadt Luzern 28 Kinder und Jugendliche von 0 bis 19 Jahren. 2008 waren es auf 100 Einwohner noch ganze 15 Kinder und Jugendliche. Notwendig wären aber circa 26 Jugendliche auf 100 Einwohner, um den Bevölkerungstand selbst zu erhalten.

Was ist geschehen? In den 70er Jahren wurden schweizweit über 3500 Wohnhäuser mit 20 und mehr Wohnungen gebaut. Dies geschah auch in Luzern. Quartiere wie Obergütsch entstanden. Angebot und Nachfrage nach bezahlbarem Wohnraum für Familien waren ausgeglichen. Junge Familien fanden bezahlbaren Wohnraum in der Stadt Luzern, auch mit nur einem Einkommen. In den 70er Jahren musste ein Haushalt etwa 13 Prozent seines Einkommens für die Wohnungsmiete ausgeben. Im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends wurden gerade mal noch knapp 900 Wohnhäuser mit 20 und mehr Wohnungen schweizweit erstellt. Dies geschah fast ausschliesslich in den Agglomerationsgürteln der Städte oder auf dem Land. Die Folge war, dass 2003 ein Haushalt schon fast etwa 25 Prozent des Einkommens für Miete aufwenden musste. Die Nachfrage nach bezahlbaren Wohnraum für junge Familien in der Stadt Luzern ist um ein x-faches höher als das Angebot. Junge Paare, die beide Vollzeit arbeiten, sprich zwei Einkommen haben, können problemlos Fr. 2‘500.— bis Fr. 3‘500.— für die Miete einer schönen neuen 4-Zimmer Wohnung in der Kernstadt von Luzern aufwenden. Selbst ein Alleinstehende/r mit gutem Bruttoeinkommen kann sich das leisten – natürlich inklusive teuren Ferien, Abendausgang, Auto etc.

Finito bella vita Bei Familiengründung mit Kindern sieht die Sache schlagartig anders aus. Finito bella vita. Es muss eine günstigere Wohnung her. Es steht nur noch ein Einkommen zur Verfügung, bis die Kinder mindestens vier Jahre alt sind, um in die Kinderkrippe zu gehen. In der Stadt Luzern findet man fast keine 4-Zimmer Familienwohnungen, die nur mit einem «normalen» Gehalt nebst Familie finanziert werden könnte. Also bleibt nur noch der Wegzug aus Stadt in die Agglomerationsgemeinden. Viele junge Leute überlegen es sich gut, ob sie wegziehen, oder halt weiterhin in der Stadt wohnen möchten und dafür auf eine Familiengründung verzichten. Die katastrophale Entwicklung kann man aus nachstehender Grafik einfach ersehen. Von 1970 bis 2000 hat sich die Anzahl der Einpersonenhaushalte mehr als verdoppelt, von 22.6 auf 47.5 Prozent. Dafür hat eine Halbierung der Familien-Haushalte mit drei und mehr Personen stattgefunden. Haushalte mit fünf und mehr Personen sind gar von 12.4 auf 3.5 Prozent geschrumpft.

Privathaushalte nach Grösse seit 1970 in der Stadt Luzern, in Prozent Jahr total mit … Anzahl Personen 1 2 3 4

5+

1970 1980 1990 2000

12.4 5.6 3.5 3.5

100 100 100 100

22.6 37.8 41.7 47.5

30.0 30.4 32.7 30.3

19.3 15.7 13.8 12.3 12.2 9.9 9.9 8.8

LUSTAT Statistik Luzern Datenquelle: Bundesamt für Statistik, Eidg. Volkszählung 2000 Im Vergleich zum Stand von 2000, hat sich inzwischen die Lage weiter zu Ungunsten von Familienhaushalten, die in Mietwohnungen leben, verschoben. Gemäss Bundesamt für Wohnungswesen haben sich die Mieten bei Neubauwohnungen im Zeitraum von 2000 bis 2012 um mehr als 30 Prozent gesteigert. Die Landesteuerung betrug im gleichen Zeitraum 9.3 Prozent, die Reallohnerhöhungen lagen bei knapp 10 Prozent. Was ist mit den kostengünstigen 4-Zimmer Familienwohnungen aus den 70er Jahren geschehen? Dort leben Ehepaare und Rentner. Auch nach Aus-

zug ihrer Kinder bleiben sie aus Kostengründen dort. Zieht dann eine pensionierte Person ins Altersheim, wird die Wohnung von den Immobiliengesellschaften renoviert und als Stockwerkeigentum verkauft. Typische Beispiele dieses Handelns finden sich im Bruchquartier. Wird die freie Wohnung nicht verkauft, so wird sie zu Marktpreisen vermietet, dass heisst für weit über Fr. 2000.–. Aus der Sicht von privaten Immobiliengesellschaften am liebsten an Paare ohne Kinder und ohne Hund (zwei Einkommen, kein Lärm, kein Dreck). Verwerfliches Handeln kann man den privaten Immobiliengesellschaften nicht vorwerfen. Sie handeln aus ihrer Sicht ökonomisch und gewinnorientiert. Solange ein solcher Nachfrageüberhang auf dem Sektor der Familienwohnungen herrscht, ist keine Änderung notwendig. Wenn nicht umgehend neuer und bezahlbarer Wohnraum für Familien in der Kernstadt von Luzern geschaffen wird, geht auch bald der günstige Wohnraum in den Aussenquartieren wie Littau, verloren. Schon jetzt wird bei jedem Mieterwechsel in den Aussenquartieren der Mietpreis ohne Renovation um real 200 bis 500 Franken erhöht.

Was sind die Folgen? Gerade junge Paare ziehen bei der Geburt des ersten Kindes in die Agglomeration, wo der Wohnraum noch ein bisschen günstiger ist. Dort bleiben sie für die nächsten 20 Jahre. Die Arbeitsstelle wird in der Stadt beibehalten, was zu mehr Pendlerverkehr führt. Die Steuern fallen in den Agglo-Gemeinden an. Was aber viel problematischer für die Stadt Luzern ist: Die Kinder wachsen in diesen Gemeinden auf. Sie bauen dort ihr Beziehungsumfeld auf. Die Stadt Luzern hat nur mehr als Konsumund Arbeitsort eine Bedeutung. Als Beispiel sei die Fasnacht genannt. In den letzten Jahrzehnten wandelte sich die Fasnacht von einem Anlass, bei dem die Jugend in Kostümen in Stadtguggenmusiken aktiv war, wo Familien sich verkleidet am Fasnachtstreiben in den Gassen beteiligten, zu einer reinen Konsumfasnacht. Viele besuchen nur noch die Umzüge, danach geht man heim. Ein Fasnachtsumzug in Emmen oder Sursee ist heutzutage bunter, lebendiger und schon bald auch grösser.

KMUs ziehen weg Es gibt weitere vielfältige Auswirkungen. Der Zuzug von Einzelpersonen, die ausserhalb von Luzern aufgewachsen sind, wird sich weiter verstärken. Diese Personen haben keinen Kulturbezug zur Stadt. Daher nehmen sie auch nicht am «Urluzerner» Kulturleben teil oder treten Vereinen und Gesellschaften der Stadt Luzern bei. Das führt zu einer weiteren gesellschaftliche Anonymisierung der Luzerner Stadtbevölkerung und bedeutet in vielfacher Hinsicht wiederum höhere Kosten für die Stadt. Jetzt schon werden überdurchschnittlich viele Altersheimplätze in der Stadt Luzern gebraucht. Die Kinder dieser Leute leben ja nicht mehr in Luzern. Der Steuerertrag auf Vermögen natürlicher Personen wird in den nächsten Jahrzehnten sinken, weil die Nachkommen ausserhalb der Stadt leben. Wirtschaftlich ist ein massiver Exodus der KleinstKMUs und KMUs aus Luzern zu beobachten. Alte KMU-Betriebe werden nicht mehr weitergeführt oder werden an Standorte im Agglomerationsgürtel verlegt. Neue KMUs werden in den Agglomerationsgemeinden gegründet, und das von Leuten, die Jahre vorher mit ihren Familien aus Luzern weggezogen sind. Gerade KMU-Betriebe sind wichtig, da sie äusserst krisenresistent sind und rund 90 Prozent der Innovationen sowie rund 70 Prozent der Arbeitsplätze in der Schweiz stellen. Die KMU zahlen am Ort ihres Standorts ihre Steuern und können nicht wie grosse Unternehmungen ihre Holdinggesellschaften in steuergünstige Orte verlegen.

Was ist zu tun? Eine Stadt kann nicht, wie eine Kapitalgesellschaft, den Standort, das Land wechseln. Das Land und die Menschen, die in einer Stadt leben, sind ihr einziges Kapital. Selbst mit der Initiative vom 17. Juni 2012 über den Bau von 2000 mietgünstigen Wohnungen innert 25 Jahren in der Stadt Luzern wird sich keine Trendwende schaffen lassen, Linderung aber sicher. Der Wohnungsanteil von günstigen Familienwohnungen würde damit von 14 auf 16 Prozent erhöht. Um etwas zu bewegen, wären Quoten notwendig, wie sie die Zürcher Stadtregierung vorsieht. In Zürich will die Stadtregierung den Anteil mietzinsgünstiger Wohnungen von heute 25 Prozent auf einen Anteil von 33 Prozent hochfahren. Die Stadt Luzern hat weder die Landreserven noch den politischen Willen, gleiches zu tun. Die Folge ist, dass der Grossraum Luzern seit 1993 eine drei Prozent höhere Steigerung der Mietpreise verzeichnet, als die Grosstadt Zürich im gleichen Zeitraum. Nur Genf und Locarno liegen noch höher. Schon nur konsequentes Handeln seitens der Stadtregierung und der Legislative würde viel brin-

Auf dem Industriestrassenfest am 25. August wusste jede und jeder, wo es lang geht! Von 14 bis 4 Uhr zeigten viele hundert Besucher aus der ganzen Stadt, was das Quartier ihnen wert ist. Foto: Melk Imboden «Orte wie die Industriestrasse sind unbezahlbar. Sie bieten Möglichkeiten, eigene Lebensformen und Träume auszuloten. Die Menschen die da wohnen, leben und arbeiten, sind eine Bereicherung für mich und unsere Gesellschaft.» (Paul Rigert, freier Kameramann. Werkelt seit zehn Jahren an der Industriestrasse 11.)

gen. In Städten wie Basel, Zürich, Genf und Dutzenden weiteren Städten, wird kein Bauland mehr an Privatinvestoren verkauft. Sie geben ihr Parzellen nur noch im Baurecht ab. Dies entzieht das Bauland der Spekulation. Sie erhalten die Grundstücke für nachfolgenden Generationen und somit die Möglichkeit der Neugestaltung, entsprechend den zukünftigen Bedürfnissen in ihren Städten. Zudem generiert der Baurechtszins eine zuverlässige Einnahmequelle über Generationen.

Besser Baurecht Für private Immobiliengesellschaften ist es nicht sehr attraktiv, Parzellen/Immobilien im Baurecht zu haben. Ihr betriebseigenes Investmentkonzept sieht vor, dass eigenes vorhandenes Bauland über die Jahre immer teurer wird (höheres Eigenkapital). Dadurch können sie bei den Banken wiederum eine höhere Kapitalbelehnung für Neuinvestitionen auf ihre eigenen vorhandenen Immobilien erreichen. Bauland, das in den 70er Jahren mit Fr. 100.– pro Quadratmeter von der Stadtregierung verkauft wurde, ist heutzutage teilweise 2’000 bis 3‘000.– Franken pro Quadratmeter wert. Beim Baurecht wird dies unterbunden. Es kann kein Stockwerkeigentum erstellt werden oder die Immobilie mit Renditensteigerung auf dem Bauland weiterverkauft werden. Die Renditen können nur über die Mietpreise erzielt werden. Die hohe Eigenkapitalrendite der privaten Immobiliengesellschaften, welche Aktionäre und Besitzer fordern, sinken massiv. Einfach umschrieben: Hohe Investitionen für unterdurchschnittliche Renditen. Nach 50 oder 99 Jahren, je nach Baurechtsdauer, verliert die Immobilie ihren Wert, da das Bauland an den Eigentümer, die Stadt Luzern, zurückgeht. Gemeinnützige Baugenossenschaften haben bezüglich Rendite viel weniger Probleme mit dem Baurecht. Sie sind nicht Aktionären oder Besitzer verpflichtet, welche eine jährliche steigende Gewinnausschüttung fordern. Ihre Rendite muss lediglich kostendeckend sein. Sprich, die Mieteinnahmen müssen lediglich den normalen Betriebsaufwand, Sanierungen und die Amortisation der Immobilie über 99 Jahre decken. Natürlich wird eine Baugenossenschaft wenn möglich einen kleinen Gewinn erwirtschaften. Dieser dient aber lediglich dazu, neue Genossenschaftsbauten zu finanzieren. Neue Mietwohnungen von gemeinnützigen Baugenossenschaften sind gemäss Bundesamt für Statistik durchschnittlich über 20 Prozent günstiger als jene von privaten Immobiliengesellschaften. Wie passen das Allreal-Konzept der Stadtregierung und die Initiative der IG Industriestrasse in die oben beschriebene Sachlage? Dass etwas mit dem Land in der Industriestrasse passieren muss, ist allen Beteiligten klar. Das fast 10’000 Quadratmeter grosse Grundstück ist zu wertvoll, als dass man es weiterhin so nutzen könnte.

Keine Garantien Das Allreal-Projekt der Stadtregierung sieht einen Bürokomplex mit über 5000 m2 vor. Im weiteren sind ca. 70 Stück 3- und 4-Zimmer-Wohnungen in der mittleren Preislage und 14 Ateliers im Dachgeschossen vorgesehen. Die Begründung für das Bürogebäude ist, attraktiven Büroraum für einen «guten Steuerzahler» zu schaffen. Tatsache ist, dass Grossfirmen aus den Innenstädten wegziehen. Des Weiteren ist nicht ge-

«Während andere Städte viel Geld in den Aufbau von Arbeits- und Wohnraum für die Kreativwirtschaft investieren, will Luzern dieses letzte, organisch gewachsene Kulturbiotop zerstören. Wir sagen Ja zu einer umsichtigen Weiterentwicklung des Bestehenden.» (o.T. Raum für aktuelle Kunst, einer der ältesten unabhängigen Kunsträume der Schweiz.)

sagt, dass dort tatsächlich eine Firma einzieht, welche auch wirklich in der Stadt Luzern ihren Steuersitz hat. Selbst die Immobiliengesellschaft Allreal hat ihren Verwaltungssitz in Zürich, den Steuersitz der Holding aber im Kanton Zug. Die Allreal kann keine Garantie bezüglich des Einzugs eines «guten» Steuerzahlers abgeben, was verständlich ist. Die Stadtregierung setzt in diesem Fall auf das Prinzip Hoffnung, wie in einem Casino. Mittelpreisige Wohnungen, das heisst, dass 4-Zimmer-Wohnungen weit über Fr. 2000.– zu liegen kommen und somit für junge Familien nicht bezahlbar sein werden. Familien mit Kindern, die sich Fr. 2‘500.– und mehr für eine Wohnung leisten können, ziehen aufs Land in Wohneigentum. Die Allreal zielt mit diesen Wohnungen primär auf das sehr lukrative Kundensegment der 1- bis 2-Personenhaushalte, welche gemäss obenstehender Statistik schon heute 80 Prozent der Haushalte in der Stadt ausmachen. Wenn man die Umgebungsgestaltung des Projektes Allreal genauer anschaut, ist klar ersichtlich, dass keine Kinderspielplätze oder Grünflachen vorgesehen sind. Die angeblichen 14 «Ateliers» für Künstler sind schon beim ersten Blick in die Baupläne als gewinnbringende Loftwohnungen zu erkennen. Im Allrealprojekt der Stadtregierung ist der endgültige Verkauf des Grundstückes von fast 10’000 m2 zu einem Preis von 17.2 Mio. Franken vorgesehen. Aufgrund der zentralen Lage zum Bahnhof wird das Grundstück in den nächsten Jahrzehnten massive Wertsteigerung erfahren. Der Kaufpreis von 17.2 Mio. Franken wird bald wie «Peanuts» erscheinen.

Fragwürdiges Handeln Wie schon erwähnt: Es ist nicht Aufgabe von privaten Immobilienfirmen, Sozialwohnungsbau zu betreiben. Das Handeln der Stadtregierung und des Grossen Stadtrates ist hingegen aufgrund der Faktenlage um so mehr in Frage zu stellen. Zukünftigen Generationen von Stadtbewohnern wird durch den Verkauf ein zentrales Grundstück endgültig entzogen. Es gilt auch den Aspekt zu betrachten, dass das riesige Nachbarsgrundstück der EWL in den nächsten Jahrzehnten frei wird, weil die EWL ihren Hauptsitz an einen verkehrsgünstigeren Standort verlegen wird. Die Stadt Luzern ist Hauptaktionär der EWL. Beide Grundstücke zusammen ergeben eine ideale Grundlage, mitten in der Kernstadt von Luzern eine Quartierseinheit mit familienfreundlichen Wohn- und Kleingewerbe Situationen zu schaffen. Die Initiative der IG Industriestrasse geht genau in diese Richtung. Mit der Forderung, dass das Grundstück an eine gemeinnützige Baugenossenschaft im Baurecht abgegeben wird, damit preisgünstiger Familienwohnraum entsteht und Platz für Kleingewerbe und KMU’s geschaffen wird, sind alle Elemente berücksichtigt, die die Grundlage einer lebendigen, sich weiterentwickelnden Stadt bilden. Philipp Ambühl ist Stadtbürger und Marronibrätler. Quellen: Bundesamt für Statistik BFS, SECO, Eidgenössisches Departement des Innern, Bundesamt für Wohnungswesen, Statistik Luzern (Lustat), Finanzdepartement des Kantons und der Stadt Luzern, Ämter für Statistik der Kantone Zürich, Zug, beider Basel, Genf, Tessin. Grundbuchamt der Stadt Luzern.


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Ist die FDP noch ernst zu nehmen? Die Partei positioniert sich mit einem Richtungswechsel Das dürfte nicht nur die Mitglieder der jetzigen Initiative verblüfft haben: Vor nicht allzu langer Zeit war die FDP noch auf der anderen Seite: auf derjenigen der Mieter und der Baurecht-Befürworter. Vor vier Jahren reichte die FDP-Fraktion zusammen mit SP und Grünen einen Vorstoss zur unverzüglichen Planung an der Industriestrasse ein. Damals unterstütze die FDP neben anderen auch folgende zwei Forderungen: «Die Realisierung soll nach Möglichkeit zusammen mit gemeinnützigen Wohnbauträgern erfolgen» und «Das Land soll nicht verkauft, sondern im Baurecht abgegeben werden». Am 29. Januar 2009 wurde das Postulat im Stadtparlament überwiesen, von Baudirektor Kurt Bieder leider nicht im Sinne des Parlaments umgesetzt. Was bewirkte bei der FDP wohl das Umdenken? Geld, Wählerstimmen, persönliche Interessen? Wir wissen es nicht. Fragen Sie doch einmal nach!

Schlagabtausch zum Ämtertausch: Im August trat die damalige Präsidentin der Kunstgesellschaft Manuela Jost von ihrem Amt zurück, aufgrund ihrer Wahl in den Stadtrat. In der Exekutive der Stadt Luzern wird sie Nachfolgerin des bisherigen Baudirektors Kurt Bieder, der wiederum, zur Auslastung seiner führenden Qualitäten, als Präsident der Kunstgesellschaft vorgeschlagen wurde. Seine Wahl ist für den 26. September terminiert. Illustration: Martin Waespe

Noch einmal mit Gefühl … Was genau will die Abstimmungsinitiative? Unsere Argumente im Klartext Die Abstimmung am 23. September betrifft ein sehr komplexes Projekt und einen Prozess, der im Dunkelfeld zwischen den politischen und unternehmerischen Beteiligten weit gediehen ist. Für den Stimmbürger ist es oft nicht leicht, sich in die laufende Diskussion einzuschalten. Dafür gibt es die zwei Ausgaben des Extrablatts und hier noch einmal – auf den Punkt gebracht – das Plädoyer für Ihr überzeugtes JA! Am 23. September stimmen wir über die Initiative «Ja zu einer lebendigen Industriestrasse» sowie den Verkauf des Industriestrassen-Areals an die Zürcher Allreal AG ab. Wird das Grundstück verkauft, verliert die Stadt eine ihrer letzten Landreserven. Statt an der Industriestrasse günstigen Wohnraum zu schaffen, soll unser Tafelsilber verscherbelt werben. Dies, obwohl die Luzerner Stimmbevölkerung am 17. Juni 2012 klar Ja sagte zur Förderung gemeinnütziger Wohnbaugenossenschaften. Für uns ist deshalb klar: Das Areal soll im Baurecht an gemeinnützige Wohnbauträger abgegeben werden. So behält die Stadt die Kontrolle und sichert sich über Jahre hinweg zuverlässige Einnahmen. Der wertvolle Stadtboden bleibt auch für die kommenden Generationen erhalten und es entstehen dringend benötigte günstige Wohnungen!

JA zu Wohn- und Arbeitsplätzen Durch die Abgabe an eine gemeinnützige Wohnbaugenossenschaft soll an der Industriestrasse bald schöner moderner und bezahlbarer Wohnraum für Familien, Ateliers für die Luzerner Kunstszene und Gewerberäume für kleine und mittlere Unternehmen und Büroflächen für grosse Dienstleistungsunternehmen entstehen. Durch die Annahme der Initiative «Ja zu einer lebendigen Industriestrasse» wird ein klarer Auftrag und ein starkes Signal an den Stadtrat geschickt. Unter diesen Voraussetzungen kann die Weiterentwicklung des Quartiers effizient und nachhaltig vorangetrieben werden. Das Areal der Stadt Luzern an der Industriestrasse hat eine Fläche von rund

8‘700 m2 . Es befindet sich in der Wohnund Arbeitszone. Die Abgabe im Baurecht an eine gemeinnützige Wohnbaugenossenschaft erfüllt nicht nur die von der Stimmbevölkerung am 17. Juni 2012 gestellten Forderung nach gemeinnützigen Wohnraum. Sie bietet auch eine einmalige Chance, an zentraler Lage ein Quartier entstehen zu lassen, welches aufgrund sorgfältiger und nachhaltiger städtebaulicher Analyse den Charakter des Standortes auf Luzerner und Luzernerinnen abstimmt und so optimalen Lebensraum für Familien, Arbeitende, Künstler und Unternehmer schafft. Das sanierungsbedürftige Quartier könnte so nachhaltig städtebaulich aufgewertet werden und ökologische Standards erfüllen.

In den Erdgeschossen einer genossenschaftliche innovativen Überbauung wird es möglich sein, flexible und bezahlbare Gewerbeeinheiten zu integrieren. Denkbar sind Verkaufsläden, Restaurants, Bars oder weitere kleingewerbliche Nutzungen. Auch grosse Büroflächen können in ein solches Projekt mit einbezogen werden, so dass gewährleistet wird, dass auch grosse Dienstleistungsbetriebe weiterhin in der Stadt Luzern Platz haben.

JA zu mehr Wohnungen

JA zu Ateliers

Wohnraum ist knapp in der Stadt Luzern. Gerade im Zentrum ist es kaum möglich, moderne und schöne Wohnungen zu einem bezahlbaren Preis zu finden. Die letzten Jahre haben gezeigt: Der Druck auf dem Wohnungsmarkt kann nur durch gemeinnützige Wohnbauträger wie Genossenschaften nachhaltig verringert werden. Diese müssen nicht permanent ihre Profite maximieren, wie beispielsweise die börsenkotierte Allreal AG, welche jährlich um die 4 Prozent Rendite erzielen muss. Die Abgabe im Baurecht an eine gemeinnützige Wohnbaugenossenschaft bringt der Stadt nachhaltige Einnahmen und bietet die Gelegenheit den Druck auf den Wohnungsmarkt etwas abzubauen. Eine genossenschaftliche Überbauung bietet die Möglichkeit bis zu hundert neue bezahlbare Wohnungen entstehen zu lassen.

Eine neue gemeinnützigen Überbauung ermöglicht es die Künstlertradition an der Industriestrasse zu erhalten. In eine lebendige durchmischte Industriestrasse gehören wieder Ateliers für Künstler. Bereits jetzt leistet die Industriestrasse einen wertvollen Beitrag zur Kulturszene Luzern. Solch eine wertvolle Ausgangslage muss bei einer neuen Überbauung berücksichtig werden und man muss versuchen bestehendes Potential in die Weiterentwicklung des Gebiets einfliessen zu lassen. Genau diese Sensibilität lässt die profitorientierte Umgestaltung des Areals durch die Allreal vermissen.

JA zu Familien Die Lage des Industriestrassen-Areals ist optimal. In freundlicher und moderner Atmosphäre und in nächster Umgebung von Schulhäusern, der Ufschötti, dem Eiszentrum, mit optimaler Anbindung an den öffentlichen Verkehr mit Bus und Bahn wäre ein neues gemeinnütziges Wohnbauprojekt ein Gewinn für die gesamte Stadt Luzern und würde die soziale Durchmischung optimal fördern. Im aktuellen Projekt bleiben diese

Privilegien den Wohlhabenden vorbehalten und sind für eine Durchschnittsfamilie kaum bezahlbar.

JA zu kleinen und mittleren Unternehmen (KMU)

NEIN zum Landverkauf Der Ausverkauf des städtischen Bodens geht weiter. Um kurzfristige Einnahmen zu erzielen, will die Stadt auch noch die letzten Landreserven verkaufen. Damit verlieren wir die demokratische Kontrolle über unseren Boden. An der Industriestrasse lässt sich Luzern aber auch eine Chance entgehen: Mit einer Abgabe im Baurecht würde sich die Stadt, statt bloss eines kurzfristigen Gewinns, nachhaltige Einnahmen sowie die Kontrolle über strategisch wichtigen Boden in einem städtebaulichen Schlüsselareal sichern. Vielmehr bringt unsere Initiative eine Weiterentwicklung des Areals im Dienste breiter Bevölkerungskreise.

«Es ist unverständlich, dass die Stadt mit dem Verkauf des geschichtsträchtigen Industriegebiets an einen fremden Investor ihre soziale Verantwortung gegenüber der hier lebenden kraftvollen, unabhängigen und kreativen Diversität abgibt. Mit diesem Verkauf wird Luzern wieder mal Bewohner verlieren, die viel lieber hier bei den Wurzeln ihres Schaffens

bleiben würden. Man muss sich fragen: Warum soll die Luzerner Jugend so oft nach Zürich flüchten, um zu überleben? Und warum lädt die Stadt Luzern den Zürcher Kapitalismus ein, um ‹ihre Kinder› zu vertreiben?» (Laurent Goei, Grafiker, Künstler, Musiker. Wohnte 1991–1994 in der Industriestrasse 9.)

Paare, Passanten …

Foto: Melk Imboden


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Willkommen in der Tribschenstadt

Die Architektur den Menschen angepasst, nicht umgekehrt

Drei BewohnerInnen der neuen Siedlung auf dem Tribschenmoos erzählen, was ihnen gefällt Ein grosses, neues, trendiges Quartier mit Eigentums- und Mietwohnungen, Läden, Büros, Praxis- und Gewerberäumen präsentiert sich an zentraler Lage in Luzern, umgeben von attraktiven Nachbarn – Bahnhof Luzern, Quartier Neustadt und Vierwaldstättersee. Vera Blättler sprach mit drei BewohnerInnen der Tribschenstadt darüber, wie es sich dort lebt.

Nahe beim Zürcher Bucheggplatz baute die Stadtzürcher Stiftung «Wohnungen für kinderreiche Familien» vor wenigen Jahren die Siedlung Brunnenhof: Entworfen von renommierten Zürcher Architekten, bietet die Überbauung 21 6 ½ -Zimmerwohnungen, 44 5 ½ -Zimmerwohnungen und 7 Wohnungen mit 4 ½ Zimmern. Die meisten davon von Stadt und Kanton Zürich subventioniert.

Nachdem 1997 das Stimmvolk die Verlegung des städtischen Werkhofs nach Ibach gut geheissen hatte, befürwortete eine Mehrheit der Stadtbevölkerung drei Jahre später auch die neue Überbauung «Tribschenstadt». Vergleichbar mit der heutigen Situation an der Industriestrasse, bestand das damalige Quartier aus einem kunterbunten Mix von Ateliers, Kultur- und Gewerbebetrieben, beispielsweise dem Jugendhaus Wärchhof oder dem Pavillon der Luzerner Spielleute.

Andrea Widmer, 29 Jahre, TCM-Therapeutin, Label Design Specialist, lebt in einer Wohngemeinschaft. «Meine zwei Mitbewohnerinnen und ich sind als Erstmieterinnen in unsere Wohnung im Tribschenquartier eingezogen. Nach 1½ Jahren an der Gibraltarstrasse, in einer kleinen Wohnung ohne Balkon, wollten wir unsere WG vergrössern. Wir durften uns trotz fehlender Mitgliedschaft bei der ABL (Allgemeine Baugenossenschaft Luzern) einmieten und nachträglich Mitglied werden. Neben Wohngemeinschaften und betreuten Alterswohnungen gibt es hier viele Familien, Paare und Einzelpersonen. Die Tribschenstadt bietet aber nicht nur Wohnraum, sondern auch diverse Arbeitsplätze und ein Restaurant. Im Umkreis aber werden Gewerberäume leider immer mehr dem Erdboden gleich gemacht. Und so findet hier dann doch nur beschränkt eine Durchmischung statt. Angesprochen ist eher der gehobene Mittelstand. Wirklich Kontakt habe ich mit meinen Nachbarn nicht. Der Austausch beschränkt sich, fern von gemeinsamen Festivitäten, auf Begegnungen in der Waschküche, nachbarschaftliche Dienstleistungen wie der Ausleihe von Guetzliförmli oder dem Erkunden des Wohlbefinden im Aufzug. Dennoch fühle ich mich wohl in unserer Wohnung. Die Wohnung ist gross, warm und schön. Gegen die Hofseite hin muss man sich mit der Lautstärke zurückhalten, und wenn man eine Woche lang den Gratisparkplatz benutzt, kriegt man von Nachbarn einen Mahnzettel. Aber ich wusste ja schon vorher, in was für ein Quartier ich ziehe. Spass finde ich woanders. Der Innenhof mit Rasen wird nicht gebraucht. Der ist einfach da. Aber hinten beim Pingpong-Tisch und Basketballkorb spielen oft Kinder. Ich kann mich erinnern, dass hier früher das Jugendhaus Wärchhof stand. Ich war dort ein paar Mal im Ausgang. Damals wohnte ich auf dem Land, und die Stadt Luzern stand mir noch nicht so nah. Ich denke, das Gelände ist jetzt besser genutzt als vorher. Klar, die Nachfrage nach Wohnungen ist gross. Und trotzdem verstehe ich das Konzept der Stadt nicht wirklich. Mir scheint, dass alle Nischen niedergerissen und möglichst effizient, das heisst gewinnbringend, überbaut werden. Die Bedürfnisse der Bevölkerung kommen teilweise zum Tragen und werden in die Stadtentwicklung integriert. Aber kulturelle Abstriche werden leider zu leicht gemacht. Kultur, Kind und Freiraum kommen manchmal einfach zu kurz. Kurz gesagt: Es ist spiessig hier, und trotzdem sind die Enten vom See in unserem Innenhof. Es ist bünzlig und trotzdem bunt. Es ist geradlinig und sicher und ich wohne hier ganz gern seit fünf Jahren. Ich würde aber auch ohne zu weinen an einen anderen Ort ziehen.»

Benji Gross, 34 Jahre, Vater von zwei Kindern, PR-Fachmann, Mitglied des FUKA-Fonds «Als aktiver Kulturgänger musste ich mir als Bewohner der Tribschenstadt anfänglich einiges anhören. Mit dem Wärchhof machte der Überbauung schliesslich ein Kulturort Platz, den auch ich sehr schätzte. Meine Familie und ich sind als langjährige ABLMitglieder auf die Wohnung in der Tribschenstadt gestossen. Am Tag lebt das Quartier enorm. Am Abend ist es still, ein grosser Vorteil für Familien mit Kindern. Den lebendigen Abend geniesse ich in der Nähe. Dies ist nur dank des gesunden Mixes möglich, den das Tribschenquartier bietet. Neben der eher ruhigen Tribschenstadt soll es unbedingt Orte geben, an denen es laut sein darf. Das ehemalige Werkhofareal vermisse ich nicht. Im Gegensatz zur Industriestrasse war das Tribschenquartier damals weniger verdichtet, vieles lag brach. Ich finde, das Areal ist heute besser genutzt; mit Abstrichen. Leider gibt es hier kein Zentrum und das Quartier ist sehr architektonisch geprägt; ich vermisse wilde Komponente. In der Tribschenstadt hat man nicht viel Freiraum. Wenn so viele

unterschiedliche Leute auf engem Raum wohnen, gäbe das nur Konflikte. Meinen Freiraum finde ich auswärts. Hier wohnen die unterschiedlichsten Menschen. Die ABL etwa will junge Familien anziehen. Das ist gelungen. Doch die Miete ist an der oberen Grenze. Sie liegt knapp unter dem marktüblichen Preis. Eine 4½-Zimmerwohnung kostet exklusive Nebenkosten ca. 2000 Fr. pro Monat. Mit zwanzig Jahren leistest du dir das nicht. Dafür bleiben die Preise die nächsten Jahre gleich. Meiner Meinung nach muss man nicht alles konservieren, aber auch nicht alles aus der Stadt drängen. Der FUKA-Fonds Luzern kann beispielsweise Künstlerinnen und Künstler, die aus Luzern nach Emmen verdrängt wurden, nur marginal unterstützen, obwohl diese sehr mit der Stadt Luzern verbunden sind. Darum würde ich es sehr bedauern, wenn an der Industriestrasse eine weitere «Tribschenstadt» entsteht. Luzern soll vielseitig und lebendig sein. Die Industriestrasse ist für mich Treffpunkt und Austauschplatz. Obwohl als Zwischennutzung gedacht, steht sie für mich vielmehr als Kreativraum, zu dem man Sorge tragen muss. Vor allem, wenn man bedenkt, was sich dort alles entwickelt.»

Lisa Bachmann, 59 Jahre, Mutter von zwei Kindern, Theaterarbeitende «Meine Verbindung zum ehemaligen Tribschenmoos existiert schon lange. In meinen Kindheitserinnerungen tauchen viel Kleingewerbe, Schuppen, der städtische Werkhof und das Jugendhaus Wärchhof auf. Ich weiss noch, wie ich damals als Kind durch dieses Gelände gelaufen bin, um im See zu baden. Der Geruch von Karbolineum, der Altpapierhändler, der Alteisensammler, die Hühner, der Schreiner, die Käserei – all das war ein riesiges Abenteuer. Von 1985 bis 1989 arbeitete ich im Jugendhaus Wärchhof. Vor acht Jahren suchte ich mit meiner Familie eine Wohnung. Via Bekannte kam uns zu Ohren, dass hier ein neues, spannendes Quartier entstehe. Die Idee von einer Mischung aus Wohnungen, Arbeitsräumen, Ateliers und einem Kindergarten überzeugte uns. So leben wir nun hier in unserer grossen Eigentumswohnung mit 4½ Zimmern. Für verhältnismässig wenig Geld konnten wir uns mit Hilfe der Bank die Wohnung leisten. Wir profitieren von vielen Vorteilen. Beide Kinder konnten den Kindergarten im Quartier besuchen. Die autofreie Zone ist optimal für uns. Zudem gibt es auch hier in der Umgebung noch Abenteuerorte, Nischen

und Niemandsland für Kinder und junge Erwachsene. Der Innenrasen wurde uns als ruhige Oase verkauft. Dies hat sich verändert. Die Kinder spielen darauf, und abends wird manchmal zusammen gegessen. Es ist lebendig. Natürlich schätzen wir auch die Nähe zum See und zum Bahnhof. Die mobile Erschliessung und die Einkaufsmöglichkeiten sind sehr gut. Die Tribschenstadt ist wie ein Städtli in der Stadt. Am Abend ist es ruhig. Der wenige Lärm vom Treibhaus stört uns nicht. Das Quartier lebt. Eine weitere Bereicherung ist die Mischung der Leute – es kommen auch welche aus Eritrea, Laos, dem ehemaligen Jugoslawien, es gibt alte Leute, Ehepaare und Kinder. Für mich als Theaterarbeitende ist natürlich die Nähe zum Theaterpavillon sehr wertvoll. Auch war es schön, kulturelle Vielfalt in Form vom «Théâtre La Fourmi» in der Nähe zu haben. Ich bedaure, dass es ausziehen musste. Das Quartier darf nicht steril werden. Die Durchmischung ist sehr wichtig. Es soll nicht nur ein Wohnquartier sein. Die Tribschenstadt ist noch nicht fertig gebaut. Schlussendlich werden sechs bis sieben Wohneinheiten auf dem Areal stehen. Die Nachfrage ist sehr gross. Es ist «in», hier zu wohnen. Grosse Bäume, Sträucher, Gemüse- und Blumenbeete im Innenhof sind wegen der dünnen Humusschicht und der darunterliegenden Tiefgaragen ungeeignet. In den Innenhöfen herrscht Fussballverbot. Wäsche darf nicht auf dem Balkon getrocknet, Katzenleiterli dürfen nicht montiert werden - die ästhetischen Bauten würden verunschönt, heisst es. Ja, so gibt es ein paar Einschränkungen. Aber alle, die hier eingezogen sind, haben sich auf diese Bedingungen eingelassen. Wir sehen uns gegenseitig in die Wohnung, was mir gefällt, und trotzdem können wir uns genug abgrenzen. Wir sind eine tolerante Hofgemeinschaft. Es sind Menschen angesprochen, die nicht isoliert wohnen wollen. Einmal im Jahr organisieren wir ein Hoffest für unsere Gemeinschaft. Es liegt an den BewohnerInnen, Leben ins Quartier zu bringen. Über das Ganze gesehen ist der Anspruch auf Wohnungen da, und viele Leute können in der Tribschenstadt davon profitieren. Meine grösste Angst ist nur, dass das Quartier steril werden könnte und etwas Exklusives, Abgehobenes entsteht. Mir ist es ein Anliegen, dass man zur Durchmischung Sorge trägt. Und ich möchte, dass die Industriestrasse erhalten bleibt, es braucht diese Vielfalt.»

Marlon Heinrich · Wohnungsnot ist auch in der Stadt Zürich ein Thema. Nicht für alle – es geht vor allem um den Mangel an günstigem Wohnraum. Denn wie in anderen europäischen Städten lässt sich in Zürich eine Tendenz beobachten: Die Aufwertung innerstädtischer Wohngebiete kann für sozial und ökonomisch benachteiligte Menschen zur Folge haben, dass sie an den Rand der Stadt oder in die Agglomeration verdrängt werden. Oder anders gesagt: Für kinderreiche Familien mit kleinerem Einkommen ist es nach einer «Um- und Neubaueritis» in vielen Zürchern Quartieren besonders schwierig, in der Stadt geeignete, sprich bezahlbare Wohnungen zu finden. Die Zürcher Stiftung «Wohnungen für kinderreiche Familien» (WfkF) setzt hier an. Seit den zwanziger Jahren des vergangen Jahrhunderts vermietet sie günstigen Wohnungen: Sie verwaltet fünf Wohnsiedlungen in den Quartieren Schwamendingen, Unterstrass sowie Friesenberg und Leimbach. In insgesamt 511 Wohnungen der Stiftung leben über 2400 Menschen, davon sind über 60 Prozent Kinder. Unter diesen Siedlungen hat der Brunnenhof Modellcharakter für die Zukunft, auch für Luzern, auch für die Industriestrasse. Denn der Brunnenhof bot die einmalige Chance, von Beginn weg die Architektur den Menschen anzupassen, die später darin wohnen sollten. Und frühzeitig – begleitet von professioneller sozialer Arbeit – einen Rahmen für ein interkulturelles Familien-Wohnmodell zu legen. Ein friedliches Zusammenleben in einer kinderreichen Wohnsiedlung zu fördern und die Durchmischung der Bewohnerschaft als Potenzial zu sehen. So gibt es im Brunnenhof günstige, subventionierte Wohnungen für ärmere Familien, aber auch Wohnungen mit höheren Mietpreisen für Bessergestellte, und zu jeder Familie müssen mindestens drei Kinder gehören. Bei der Vergabe der Wohnungen achtete man zudem auf ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Ausländern und Schweizern: Der Ausländeranteil im Brunnenhof beträgt rund 50 Prozent. Diese ausländischen Mieterinnen und Mieter stammen aus weit über 20 verschiedenen Nationen. Marlon Heinrich gehörte zur ersten Betriebsgruppe der Boa, heute ist er Journalist, Redaktor, Autor, Öffentlichkeitsarbeiter für Non-Profit-Organisationen.

Vera Blättler, Bewohnerin der Industriestrasse 9, gelernte Schneiderin und Modedesignerin, ist Marktfrau und Gastronomiemitarbeiterin.

Reussbühl Ich leb’ in einem Örtchen, das sich aufgegeben hat, / Geschichte nicht kennt – keine will. Mit fünftausend mehr wär’s vielleicht ’ne Stadt? / My God – I live in Reussbühl-Hill! Die Polizei, das hört’ ich sagen, / hat einen Schlüssel für meine Wohnung in Reussbühl … Sie lieben keine Blumen und hegen keine Gärten, / lieben’s im Dunkel und löschen das Licht dazu. Haben Krach mit vollbehaarten Hausabwarten. / Um acht ist Nacht und dann ist Ruh. Die Asylanten, das hört’ ich sagen, / die binden den Abfallsack nicht zu – in Reussbühl … Dort, wo der Bus vielleicht einfach gar nicht hält, / Sitte und Moral verfällt. Das billigste Bier weit und breit – / für viel mehr bleibt keine Zeit. Buskontrolleure, das hört’ ich sagen, / die kontrollieren am allerliebsten in Reussbühl … ... und Reussbühler hört’ ich schon sagen, / nirgends auf der Welt ist es wie in Reussbühl! Hösli (Thomas Hösli, 1964–2007), unvergesslicher Musiker, Sänger, Entertainer, wirkte musikalisch ein Leben lang in unterschiedlichsten stilistischen Ausrichtungen, von Punk über Rock’n’Roll und Ska bis Chanson. Hösli lebte in den 80er-Jahren eine Weile im damaligen Luzerner Vorort Reussbühl (Gemeinde Littau). «Reussbühl» ist das Titelstück auf Höslis Soloalbum von 1992. Foto: Rémy Markowitsch


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Landen wir alle bald auf dem Wagenplatz? Wilde Romantik, Notlösung oder Statement? Ein Gespräch im Wagen Am 10. und 11. August feierte der Wagenplatz im Ibach sein zehnjähriges Jubiläum. In einem Gespräch mit Flavia, Sandrine, Simon, Frido, Dorly, Bewohnerinnen und Bewohnern des Platzes, fragte Rahel Grunder nach deren Sicht auf die Wohnpolitik, nach selbstbestimmtem Leben und nach den Freiräumen.

Keine Chance für Billy Gemeinnütziges Projekt war zu wenig repräsentativ Gab es eine Alternative zu dem Siegerprojekt der Allreal? Durchaus: Der Entwurf «Billy» einer lokalen Bietergemeinschaft bot alles, was die Luzerner Bevölkerung sich wünschen kann. Marcel Budmiger · Am Investorenwettbewerb zur Industriestrasse nahmen auch mehrere gemeinnützige Wohnbaugenossenschaften teil. Eine Bietergemeinschaft, bestehend aus der Wohngenosenschaft Geissenstein EBG (der ehemaligen Eisenbahnerbaugenossenschaft), dem Architekten des Stadions Allmend, Iwan Bühler, sowie weiteren Luzerner Architekturbüros erreichte mit dem Projekt «Billy» den dritten Platz im Wettbewerb. Der Entwurf überzeugt durch eine spannende Anordnung der Gebäude, durch ein Konzept der gemischten Wohnformen und durch die Schaffung eines kleinen Parks mit viel Grün. Die gute Plazierung von «Billy» zeigt, dass es durchaus möglich gewesen wäre, von Anfang an auf gemeinnützige Wohnbauträger zu setzen. Mit der Auswahl von «Billy» hätte die EBG verschiedenste Varianten von Wohnmöglichkeiten anbieten können, neben konventionellen Klein- und Fa-

milienwohnungen auch solche für Wohnen im Alter oder Wohngemeinschaften. Die Wettbewerbsjury kritisierte jedoch die gemeinsame Erschliessung der Dienstleistungsflächen und eines Teils der Wohnungen, da laut Begründung «dieser unmittelbare Kontakt mit den Bewohnern für die von der Stadt Luzern gewünschten Firmen vermutlich nicht praktikabel ist». Zudem sei das Erdgeschoss für die Firmen zu wenig repräsentativ. Ausschlaggebend für den Entscheid gegen «Billy» dürfte letztlich gewesen sein, dass die anderen Kaufangebote der engeren Wahl höher waren.

Was wäre, wenn … Eine Annahme der Initiative «Ja zu einer lebendigen Industriestrasse» würde nun aber nicht bedeuten, dass automatisch das Projekt «Billy» zum Zug käme. Es müsste wohl ein neuer Wettbewerb ausgeschrieben werden, mit der Auflage, gemeinnützigen Wohnraum zu erstellen. Damit stünden nicht die Repräsentationsgelüste internationaler Dienstleistungsfirmen im Zentrum, sondern die Interessen der Luzerner Wohnbevölkerung.

Wie ist Wagenplatz entstanden? Was für Menschen waren das? F: Die Wagenplatzgruppe an sich ist eigentlich 13 Jahre alt. Aber der Wagenplatz Ibach besteht seit zehn Jahren. Damals waren wir beim Reusszopf und man hat zwei Jahre lang versucht, uns wegzukriegen. Schliesslich wurde der Platz mit etwa 40 Bullen gestürmt. Die Aktion löste ein grosses Medienecho aus. Im Prinzip ein Eigengoal des Kantons. Daraufhin gab es ein Briefwechsel zwischen dem Kanton Luzern als Besitzer des Reusszopfes und den WagenplätzlerInnen. Es war klar für uns: Wir wollen nicht weiter von der Stadt weg, als der Reusszopf entfernt ist. Die Stadt wurde in den Briefwechsel miteinbezogen. Durch diesen Kontakt entstand ein Zwischennutzungsvorschlag von Seiten der Stadt für das Gelände neben der Kehrrichtverbrennungsanlage im Ibach. Momentan haben wir einen Zweijahresvertrag, der dieses Jahr wieder verlängert werden muss. Zum Zeitpunkt der Entstehung des Wagenplatzes Ibachs war es in der «Besetzerszene» eher ruhig und für die Stadt deshalb ein Leichtes, einen Ort für uns zu finden. Die Medien äusserten sich positiv über den Wagenplatz; die öffentliche Meinung war unsere letzte Chance.

diesem Wagen ist mir. Ich kann umund ausbauen, wie ich gerade die Lust und Laune habe. Ich halte mich öfters im Freien auf und bin auf den Aussenraum angewiesen. Ich mag gerne kleine «Truckli». Das ist heimelig und übersichtlich. Die Menschen sind für mich schon auch ein Grund, weshalb ich auf den Wagenplatz gezogen bin. S: Hier ist man reduziert auf das Notwendige und merkt auch, dass man den ganzen Scheiss nicht braucht. Wobei – ich hab noch nie so viel Zeugs angesammelt, wie seitdem ich im Wagen lebe. [Lacht.] Wir nehmen gerne viel auf uns, um auf einem Wagenplatz zu leben. Zum Beispiel müssen wir im Winter durch den Schnee, um aufs Klo gehen. Sa: Und ich geniesse die Narrenfreiheit, die man auf einem Wagenplatz hat. Die Freiheit, Dinge zu realisieren und auszuprobieren. Das ist sehr wertvoll für mich. S: In gewissen Wohnungen kann man gar nicht richtig wohnen wegen der massiven Einschränkungen, die man da hat. Auf einem Wagenplatz hast du Möglichkeiten, die in Mietwohnungen schwierig sind. Darf ich dies und jenes überhaupt? Auf dem Wagenplatz musst du es einfach machen. Wenns nicht geht, so stehst du dir selbst im Wege. F: Ein Wagenplatz ist nicht unbedingt die Lösung für irgendwas, ich habe aber schon das Gefühl, dass gewisser Freiraum für mich extrem wichtig ist und auch für andere Menschen wichtig wäre, die das nicht haben. Eben ein Ort, der nicht so reglementiert ist. Warum sind Wagenplätzler keine «Sozialschmarotzer»? Oft kommt der Vorwurf, dass sie zu faul zum Arbeiten sind und sich nur weigern, Miete zu zahlen.

Gibt es Unterschiede in der Verhandlungsbasis mit Stadt und Polizei von damals zu heute? Ist das Besetzen immer noch ein gängiges Mittel? F: Ich denke, die Entstehung eines Wagenplatzes, wie es damals beim Ibach geschehen ist, ist auch heute noch möglich. Man muss sich dafür einsetzen und nicht gleich aufgeben. Alle die Grundstückbesitzer, die wir vorgängig angefragt haben, wären schon bereit gewesen, uns aufzunehmen. Sobald jedoch eine Bewilligung von Seiten der Gemeinde eingereicht werden sollte, wurde es kompliziert. In unserem Bauund Zonenreglement ist es nicht vorgesehen, dass man in einem Wagen wohnt. Das war schon immer so. Wie hat es der Wagenplatz Ibach geschafft, bis heute erhalten zu bleiben? Fl: Mit den Leuten, die das beleben wollen. Und wir pflegen auch einen guten Kontakt zu unseren Nachbarn. Das ist schon sehr wichtig. S: Ich glaube, es gäbe viele Leute, die so leben wollen. Es würde den Wagenplatz nicht mehr geben, wenn nicht immer wieder neue Menschen dazu kommen würden. F: Die Frage ist ja eher: Wie schafft man es, in einer grösseren Gruppe von Individualisten zusammen zu leben? Es ist egal, ob das auf einem Wagenplatz, in einem Haus oder in einer Wohnung ist. Warum entscheidet man sich, auf einem Wagenplatz zu leben? Fl: Für mich steht dies etwas im Widerspruch mit sich selbst. Einerseits ist es schön, unterwegs zu sein. Andererseits kann ich mein Zuhause überall hin mitnehmen und muss nicht immer umziehen. Jeder Nagel, jede Schraube an

F: So einen Neid oder eine Missgunst auf das Wagenleben kann ich nicht ernst nehmen. Das ist total unbegründet. Es gibt Sozialschmarotzer sowohl in Häusern wie auch in Wagen. Nur im Wagen leidet der Schmarotzer mehr, wenn er zu faul ist, um zu heizen. Das Problem unserer Gesellschaft ist doch, dass sie den Menschen gegenüber, die ihr Leben selbst in die Hand nehmen, nicht ehrlich ist. Da geht es um die persönliche Lebensgestaltung und vorgefertigte Lebensformen. Was bietet ein Wagenplatz, was eine Mietwohnung nicht hat? F: Mit den Kindern sind wir 13 Menschen, die hier leben. Wenn nur schon zwei Personen ein Einfamilienhaus auf demselben Grundstück erstellen würden, so wäre der Raum ausgefüllt. Und sie würden keine Steuern mehr zahlen, da sie ihren Traum vom Eigenheim verwirklicht und sich dadurch hoch bei der Bank verschuldet haben. Unser Wagenplatz nimmt auch eine soziale Komponente wahr. Wir sind ein offener Platz und geben Menschen die Möglichkeit, Zeit bei uns zu verbringen. Wagenplätze haben die Tendenz, sich auf Industrieund Brachland anzusiedeln. Wie beeinflusst diese Atmosphäre einen Wagenplatz? S: Das ganze Drumherum ist sehr bereichernd. Wir lachen oft darüber, welche Gewerbe auf so engem Raum aufeinander leben: Abschiebungsasylzentrum, Strassenstrich, Dudelsackproberaum, Kehrrichtverbrennungsanlage, Krematorium, Jenischenplatz …

Das Projekt «Billy»: Entwurf der ARGE Iwan Bühler - Max Lehmann. Visualisierung: Studio 12 GmbH.

Das Quartier und seine Medien Zur Initiative zeigt sich jede Menge Leben Das kann (und will) wohl niemand ignorieren: Nicht nur mit den richtigen Argumenten, sondern auch mit den Aktionen und jeder Menge Engagement zeigt das Quartier seine Zähne. Die Webseite «www.luzerngewinnt.ch» zeigt, welche Vielfalt und kreatives Potenzial das Viertel zu bieten und vielleicht bald zu vermissen hat. Dazu gehören die Informationsstände und Veranstaltungen, das grandiose Strassenfest, die beiden Ausgaben des «Extrablatt», Interviews und Artikel in anderen Medien, haufenweise Bilder und Fotografien und nun auch Belege aus den Trickfilm-Werkstätten in Haus Nr. 17: Mit dem QR-Code kommen Sie mit Ihrem Handy direkt auf unsere Seite, und zwar diesmal auf den Downloadbereich mit einer frischen Animation. Die Idee und Realisation ist von Nils Hedinger, die Musik von Martin Waespe, und gemischt wurde es vom Studio Soundville Luzern – ein hundertprozentiges Quartier-Produkt also! Gezeigt wird der Clip auch von den BourbakiKinos.

Das graue Haus Das Luzerner Chanson-Duo «Canaille du Jour», kürzlich noch im Keller der Industriestrasse 9 zu Gast, entdeckte im Plattenschrank ein Lied von Nino Ferrer, 1972 geschrieben, das so gut auf die

Situation passt, dass man es kurzerhand übersetzte und zusammen mit einigen verwegenen MusikerInnen («The Maisonettes») für die Initiative einspielte. Das originale Chanson «La maison pres de la fontaine» handelt von den sterbenden Idyllen, den aussen grauen und innen so bunten Häuser, deren Ende ja als normal akzeptiert werden muss, aber deren Ersatz meist nur ein vermeintlicher Fortschritt ist. Laden Sie sich den Luzerner «Spätsommerhit» herunter!

F: Diese Gelände haben schon ein hintergründiges Potenzial. Da sie brach liegen, nimmst du keinem etwas weg. Seid ihr als WagenplatzbewohnerInnen Aktivistinnen der Wohnpolitik? F: Ich persönlich bin in den meisten Fällen gezwungenermassen politisch, obwohl ich Politik eigentlich verabscheue. Aber weil ich mit Thematiken und Missständen in Berührung komme, werde ich immer wieder zum Aktivist. Als Wagenbewohner gehöre ich automatisch zur Wohnpolitik, weil der Wagen als Wohnmöglichkeit in der Schweizer Politik nicht vorgesehen ist. Fl: Ich würde mich zwar schon als unpolitisch bezeichnen. In vielen Dingen hab ich nicht das Gefühl, etwas zu vertreten oder zu sagen. F: So seh ich dich nicht! Ich denke, du läufst mit offenen Augen durch die Welt und hast deine eigene Meinung. Das ist in Wirklichkeit viel politischer als die ganze Schubladisierung. S: Nun gut, was ist wirklich politisch? Ich finde es hässlich, wenn Politik zum Business wird. Deshalb würde ich mich nicht politisch einstufen. Eigentlich befinde ich mich in einer Verweigerungshaltung, weil ich mit Wohnpolitik nichts zu tun haben möchte. F: Ja, aber wenn wir Probleme auf dem Platz hätten, so würden wir alle zu politischen AktivistInnen. Ist ein Wagenplatz eine Alternative zu überteuerten Wohnungen? Landen wir alle mal auf dem Wagenplatz? Fl: Ich kann mir gut vorstellen, dass es noch mehr Leute gibt, die sich in ihrer Lebensform eingeschränkt fühlen und ausbrechen wollen. S: Lebst du zum Arbeiten oder lebst du zum Leben? Mit den aktuellen Mietpreisen musst du gewisse Prozente arbeiten. Ich habe das Gefühl, umso mehr ich arbeite, desto mehr Geld brauche ich auch. Das ist ein Rattenschwanz. Fl: Die Leute erhalten auch einen Einblick in eine andere Lebensform, wenn sie uns hier besuchen. Das kann schon auch Vorbildfunktion haben: Es kann wirklich möglich sein. Es wäre auch eine Herausforderung an die Stadt, wenns mehr Wagenplätze geben würde. Möchtet Ihr im Wagen alt werden? Was macht Ihr, wenn es aus Altersgründen nicht mehr möglich ist? S: Ich möchte alt werden – im Wagen. Ich denke im Wagen ist das genauso gut möglich wie im Haus im 3. Stock. Ich hoffe auf ein soziales Gefüge, das passt. Ich hoffe, ich habe noch Kraft, im Alter mühsam zu werden. Fl: Irgendwann haben wir dann ein Bähnli von Wagen zu Wagen. F: Und dann holen wir die Spitex auf den Wagenplatz! Rahel Grunder ist Kunstschaffende in Luzern. Foto: Atelier Blank & Chiovelli. Das Gespräch wurde redaktionell gekürzt. Unten: Plakatmotiv zum Jubiläum des Wagenplatzes am Ibach.


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Das frühe Fumetto und die Freiräume Vom Arbeiten im offenen Raum zum internationalen Erfolg Die Geschichte des Luzerner Comix-Festivals Fumetto ist in seinem ersten Jahrzehnt eine Geschichte vom einfachen Machen, von Freiwilligen-Arbeit, unkomplizierter Netzwerkerei und stetem Wandern von einem kulturellen Freiraum zum anderen. Urs Hangartner • René F., soziokultureller Animator im 1978 eröffneten Jugend- und Freizeithaus Wärchhof, hat die Idee, in Luzern ein Comic-Festival zu machen. Er fragt 1991 den Luzerner ComicZeichner Melk Th., der sagt, er solle doch gescheiter den hier Schreibenden fragen: Was ein Festival ausmacht, was es so braucht, wer infrage käme, dabei zu sein etc. Der hier Schreibende fragt bei seinem Freund Cuno «Comix» Affolter in Olten nach, welcher der Nation aus dem Radio (DRS 3, Sounds!) bekannt ist. Cuno vermittelt Namen und Adressen, organisiert bei Verlagen Naturalpreise und hält 1992 am ersten Festival namens «Fumetto» einen seiner furiosen Lichtbilder-Vorträge. Es gibt eine Ausstellung, einen Wettbewerb, einen Trickfilmabend, ein visuelles Konzert der Band Melk Them, die gerade ihre Comic-Space-Oper «Some Deadly Eggs» im Programm haben. Im Wärchhof arbeitet der frühere Post-Mann Robi M. als Praktikant. Er und René F. schmeissen operativ den Laden, dazu kommen bald dank persönlicher Kontakte unzählige Kreativköpfe, die an der Kunsti Grafik oder Illustration studieren. Ein Netzwerk entsteht, und es geht interkantonal und auch international zu und her. Für exklusiv kuratierte Werkschauen besucht man Künstler in Nizza, New York, La Coruña, Chicago, Nancy. Es geschieht alles mit viel Freiwilligenarbeit und viel Fachkompetenz, die teilweise HVDM

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gar mit Sackgeld-Honoraren/Spesen entschädigt wird; mit noch mehr Herzblut und kreativer Freude geht ein Personal-Pool ans Werk, wie es ihn so in späteren Jahren nicht mehr geben wird. Man macht es einfach, weil man es machen will, arbeitet in minimal gehaltenen Strukturen, in monetär minimalem Rahmen. Die Fumetto-Freiraum-Topografie im Schnelldurchlauf: Vom ersten «Freiraum» Wärchof (†, heute Treibhaus) gehts in die Boa (†), als diese umgebaut wird, in ein Zelt aufs Inseli, in die Schüür (plus Zelt), ins Kulturpanorama (†, heute Bourbaki), in den Spielleute-Pavillon (†, heute Theaterpavillon), auf das ausrangierte SGV-Motorschiff Waldstätte, ins Parterre-Säli, zurück in die Boa und auch ins Timbuktu (†), in die Frigorex (erst Skala, das spätere Vasco Da Gama †), in den erst teileröffneten Löwengraben-Knast, ins La Fourmi (†), wieder in die Frigorex (zuletzt 2000). Ganz früh schon, damit das in der Luzerner Kulturgeschichte nicht vergessen wird, gastiert das Fumetto an der Industriestrasse 9: 1994 stellt dort in der Galerie ProsArt im Keller der bedeutende italienische Comic-Zeichner Lorenzo Mattotti aus, dessen Gemälde eine Fumetto-Delegation in der Hamburger Speicherstadt entdeckt hatten. Die Independent-Comics-Connections Amok und Frigo installieren sich 1996 im Haus an der Ecke Industriestrasse/Geissensteinring. Urs Hangartner, Redaktor, Gastdozent an der HSLU, Comic-Forscher, war bis 2000 Mitglied in der Fumetto-Kerngruppe. Als Bassist von Rumpelkapellen hat er in den 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts wiederholt an der Industriestrasse musiziert.

Ein Leserbrief! Betreff: Artikel zur Boa Sehr geehrter Herr Welzel, im Extrablatt Nr 1 haben Sie auf Seite 7 einen Artikel zum Kulturzentrum Boa verfasst. Leider entsprechen nicht alle Ausführungen den Tatsachen. Tatsache ist, dass die Häuser am Geissensteinring gegenüber der Boa längst vor der Inbetriebnahme des Kulturzentrums vorhanden waren – und die nachbarschaftlichen Streitigkeiten nicht allein auf die Umzonung zurückzuführen waren. Leider wurde bei der damaligen Sanierung der Boa zwecks Umnutzung in ein Kulturzentrum jeglicher Lärmschutz vernachlässigt – obwohl, wie ich

angeführt habe, bereits Wohnbauten in nächster Nähe standen. Ebenfalls wurden die Immissionen des Publikumverkehrs (Ende der Veranstaltungen) völlig unterschätzt. Im übrigen unterstütze ich die Initiative zur Industriestrasse und ich nehme an, dass obiger Artikel aber für eine ganze Anzahl Stimmbürger/innen kontraproduktiv war! Auch Frau Setz (auf derselben Seite) ist auf dem Holzweg, wenn Sie die Meinung vertritt: «wer sich an einem exponierten Standort niederlässt, sollte sich bewusst sein …» Heute ist es möglich, dass sich Wohnen und gewisse Immissionen nicht «beissen», nur sind dazu Lärmschutzmassnahmen nötig und zwar an der Quelle des Lärms (und nicht nur bei den Wohnbauten). Es ist natürlich von der Stadt Luzern nachlässig gewesen, Treibhaus und Spielleutepavillon seinerzeit ohne jeglichen Lärmschutz zu planen – obwohl man sicher wusste, dass dort später in unmittelbarer Nähe eine Wohnzone kommt … aber wahrscheinlich war Herr Bieder ahnungslos … Dann teile ich auch die Ansicht von Frau Setz in keiner Art und Weise, dass Zentrumsbewohner in toleranter Weise jegliche Immissionen in Kauf nehmen müssen – sollen alle ins Grüne zügeln mit entsprechendem Mehrverkehr? Auch das Zentrum muss wohnlich bleiben – was ja nachgerade von der SP propagiert wird! Peter Huber, Luzern


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Eine Stadt sucht ihre Kompromisse Die kleinste Metropole der Innerschweiz hat was verloren … Die Kleinstadt Luzern kämpft um Grösse und zerstört dabei ihre alternativen Kultur- und Freiräume. Der Blick in die Geschichte zeigt, dass die heutige Stadtentwicklung und Kulturpolitik auch viel mit der ungelösten Frage der Eingemeindung zu tun haben.

vor, die Abstimmung zu verlieren. Die Stadt musste die Linken und Kulturschaffenden auf ihre Seite ziehen, um ihr Anliegen sicher durchbringen zu können. Also wurde den Alternativen die drei Gebäude versprochen und deren Renovation in Aussicht gestellt, dafür durften die Stadt und die Etablierten ihr neues KKL bauen. Dieser Deal klappte dann bestens und ging als «KulOrpheo Carcano · Machen wir einen turkompromiss» in die Geschichte ein. kurzen Gedankensprung ins Jahr 1985. Was auch immer die wahren BewegWas gab es zu diesem Zeitpunkt an al- gründe der damaligen Regierung waren ternativen Kulturräumen in Luzern? – eine derartige Förderung nicht gewinn1981 wurde der Sedel an den Trägerver- bringender kultureller Räume scheint ein ILM übergeben – als Ersatz für die heute undenkbar. zerstörten Proberäume in der Kriegerscheune auf der Allmend, welcher ein Blinde Begeisterung Jahr zuvor niederbrannte. Bald darauf fanden im Clubraum die ersten Konzer- Rund zwanzig Jahre später war es die te statt, obwohl das laut Mietvertrag zu- Boa, welche durch ihre erzwungene nächst nicht gestattet war. Die Angst vor Schliessung einen Meilenstein in der einer Jugendrevolte half sicher entschei- Kulturpolitik setzte: Das offizielle Ende dend mit, den Sedel als Freiraum zu eta- des «Kultur-Komprommisses». blieren. Der Eindruck der Ereignisse der Von offizieller Seite her wird natür1980er Unruhen in Städten wie Zürich lich auch heute noch Kulturförderung und Bern war noch frisch, und so wollte betrieben. Für die Boa wurde aus städtiman die Jugend mit diesem grosszügi- scher Sicht mit dem Südpol sogar ein gen Angebot besänftigen. Ersatz erstellt. Doch die städtischen Angebote sind meist wenig attraktiv und Nicht viel werden bereits im Vorfeld stark durchreglementiert. Den NutzerInnen wird Und sonst? Für die Kleinkunst gab es im Gegensatz zu früher nicht mehr viel bereits seit 1967 das aus privater Initia- Spielraum gelassen, Räume und Struktive von Emil und Maya Steinberger ge- turen selbst zu gestalten. Neu daran ist, gründete Kleintheater. 1978 eröffnete dass die Stadt zwar Kulturräume fördas Jugendhaus Wärchhof, welches bald dert, jedoch Freiräume verhindert. Neu stark ausgelastet war. 1980 begann der ist aber leider auch, dass KulturschafStadtkeller in der Altstadt mit der Pro- fende utopische Bedingungen akzeptiegrammation von Konzerten. Die Luzer- ren und stets versuchen, das Unmögliner Spielleute konnten 1983 endlich ih- che möglich zu machen. ren Pavillon an der Bürgenstrasse Ein sehr schönes Beispiel hierzu ist aufstellen, wo regelmässig kleine Thea- der sogenannte Boa-Ersatz Südpol: Die terproduktionen erarbeitet wurden. städtischen Fehlplanungen könnten Aus heutiger Sicht ist das nicht viel. wohl ein eigenes Buch füllen, obwohl Und die Unterstützung von offizieller man gerade mit dem Neubau von KulSeite war sehr bescheiden. Wer 1985 ein turräumen inzwischen eine gewisse ErRock- oder Jazzkonzert zu vernünftigen fahrung haben müsste. Trotzdem wurBedingungen organisieren wollte, fand de eine Betriebsgruppe gefunden, nur schwer einen geeigneten Raum. welche seitdem versucht, aus der schwieDies sollte sich bald ändern. Es war vor rigen Situation das Beste zu machen. allem der seit 1984 amtierende Stadt- Ein ähnliches Vorgehen beobachtet man präsident Franz Kurzmeyer (FDP), der aktuell beim Hallenbad: Die Stadt bietet sich der Anliegen der Kulturschaffen- Kulturschaffenden ein ungeeignetes den annahm und die Planung von alter- Haus zu recht unattraktiven Nutzungsnativen Kulturräumen vorantrieb. bedingungen an – und die Kulturszene Hier half sicherlich ein gewisser nimmt das Angebot mit offenen Armen Druck, welcher durch die Situation in an und erarbeitet ein Nutzungskonzept. andern Städten entstanden ist: In den Da fragt man sich: Was sind die AusJahren 1980 bis 1987 wurden in Zürich, wirkungen einer solch blinden BegeisteBasel, Bern und St. Gallen grössere au- rung derartiger Angebote der Stadt? tonome oder immerhin alternative Kul- Und wieso regt sich nicht mehr Widerturzentren eröffnet beziehungsweise stand gegen alles, was auf immer und nach langem Kampf anerkannt. So ewig verschwindet? Hat die Stadt Lustand denn auch im Luzerner Kulurleit- zern vielleicht erneut ein schlaues Konbild von 1986 geschrieben, dass «ein zept gefunden, von den wirklichen ProUngleichgewicht in der Förderung des blemen abzulenken und die Kulturleute herkömmlichen und des zeitgenössi- durch nett scheinende Angebote ruhig schen Kulturschaffens» bestehe und zu stellen? folglich das nicht-etablierte Kulturschaffen überproportional gefördert Der «Eingemeindungshammer» werden müsse! Zwei weitere Punkte sind in dieser EntDer Kulturkompromiss wicklung interessant. Das ist zum einen die Fokussierung auf ZwischennutzunZwei Jahr später wurde der für Luzern gen. Etwas was eigentlich selbstversehr prägende Hayek-Bericht veröffent- ständlich ist, das nämlich leerstehende licht. Das war eine von der Regierung in Räume genutzt werden können, wird als Auftrag gegebene Optimierungsstudie etwas Positives verkauft. Und dafür soll für den Bau von Kulturräumen. Gleich man doch bitte recht dankbar sein. Zum drei Räume sollten für kulturelle Veran- andern ist das die schleichende Verstaltungen diverser Art umgebaut wer- drängung von ganzen Arbeits- und Leden: Boa, Schüür und Bourbaki. Die bensbereichen aus dem Zentrum (und Empfehlungen der Studie wurden dann somit auch aus der Stadt). Dies gilt nicht ziemlich genau so zur Umsetzung vor- nur für die Kultur, sondern auch für bilgeschlagen. Mit einer wichtigen Aus- ligen Wohnraum, Ateliers und Kleingenahme: Von der alten Metallschlauchfa- werbe. brik Boa wurde nur die Hälfte an die Immer wieder bekommt man dabei Kultur übergeben – der Rest ging an das den «Eingemeindungshammer» zu spüKleingewerbe. So hat es Luzern zwar ren. Da in Luzern bis ins Jahr 2010 (Litverpasst, ein grosses Kulturzentrum mit tau) nie eingemeindet wurde, fehlte es verschiedenen abgetrennten Sälen wie früher als anderswo an Landreserven. in Bern oder Zürich zu bekommen. So wurde der Fokus viel stärker auf AbDennoch muss festgestellt werden, dass riss von Altbauten gerichtet. Vor dem in dieser Zeit von städtischer Seite her Plan zur aktuellen grossen Gemeindeeine gezielte Förderung von Alternativ- fusion bekam man als Kulturschaffenkultur stattgefunden hat. Die Frage der immer öfter zu hören, man solle bleibt bloss: Warum? doch nicht so kleinräumig denken und Die Antwort hat zu einem grossen schon mal in die (bald) neuen Stadtteile Teil mit dem Kunst- und Kongresshaus in Littau oder Emmenbrücke abwanam Europaplatz zu tun, dem damals sa- dern. Nun, da alle weiteren Gemeinden nierungsbedürftigen Gebäude der Etab- den Fusionsplänen eine Abfuhr erteilt lierten. Umbau oder Neubau war die haben, sieht die Situation wieder anders Frage; die Stadt befürwortete einen aus … grossen teuren Neubau: Das KKL, kon- Doch die Frage der Eingemeindung zipert vom Stararchitekten Jean Nouvel. ist uralt und prägt Luzern seit fast 150 Wieder regierte die Angst, diesmal da- Jahren. Im Zuge der ersten grossen

Stadtvereinigung in Zürich 1893 interessierten sich etwa Kriens und Luzern abwechslungsweise für das Thema der Verschmelzung. 1934 hatten in Kriens – unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise – 80 Prozent für die Fusion mit Luzern gestimmt! Luzern war jedoch nur halb interessiert und verschleppte das Abklärungsverfahren. 1942 realisierte dann Luzern sein Platzproblem und wollte eine grosse Eingemeindung mehrerer Vororte vorantreiben. Jetzt wollten die Agglo-Gemeinden nicht mehr, denen es wirtschaftlich wieder besser ging. Das Beispiel von Kriens, von der Stadt nie wirklich ernst genommen, machte misstrauisch – und die Unabhängigkeit wurde nun als viel wichtiger erachtet.

Überlastetes Zentrum Diese nie stattgefundene Zusammenlegung von Gemeinden, dieser übertriebene Föderalismus, hat in Luzern quasi in Umkehrung zu einem unvorstellbaren Zentralismus geführt. Die meisten wichtigen öffentlichen Gebäude (wie in neuerer Zeit etwa KKL, Uni, Hochschulen) wurden immer mitten ins Zentrum gestellt – am besten gleich neben den Bahnhof. Was dazu geführt hat, dass sich alle Verkehrswege und -mittel ebenfalls mitten in dieses völlig überlastete Zentrum quetschen.

7 Am Anfang dieser Entwicklung stand der 1896 gebaute zweite Luzerner Bahnhof. Dieser wurde erneut an diesem schon damals für ungeeignet befundenen Standort mitten in der Stadt und in unmittelbarer Seenähe errichtet – ohne Platz für einen Ausbau oder weitere Zufahrtsgeleise. Diese nie stattgefundene Eingemeindung hatte eine enorme Auswirkung auf die Entwicklung der Stadt und war der Ursprung vieler Entwicklungen, die wir heute noch beobachten können. Die ganze Infrastruktur, die schon längst auch der ganzen Agglo dient, befindet sich fast ausschliesslich in der Stadt Luzern. Trotz komplizierten Ausgleichen mit anderen Gemeinden, welche niemand so ganz nachvollziehen kann, befürchtet die Stadt wohl (zurecht?), dass sie für einen Grossteil dieser Infrastruktur alleine aufkommen muss. Kein Wunder also, dass in neueren Entwicklungspapieren der Stadt oft davon die Rede ist, dass der Bereich Wirtschaft und die Ansiedlung potenter SteuerzahlerInnen besonders gefördert werden müssen. Dass dies zu einer Verdrängung von billigem Wohnraum und nicht kommerziellem Schaffen führt, liegt bei dieser Politik auf der Hand.

Wo bleibt die Gegenwehr? Eine Gegenwehr zu all diese Entwicklungen ist immer sehr wechselhaft gewesen. Und nie ganz so radikal und breit wie in einer wirklich grossen Stadt. Es ist schwierig, darin eine Entwicklung zu sehen. Wie in einer Kleinstadt typisch, kennen sich alle, spannen dann

mal wieder für etwas Grosses zusammen, um am Ende leider oft genug wirkungslos zu bleiben , weil es halt insgesamt doch zu wenige sind. Aktuell hat sich das Engagement wieder ein bisschen auf die private Ebene und in kleine Räume verschoben. Es gibt zur Zeit keine grosse Gruppe, die sich einig ist, um sich beispielsweise ein wirklich alternatives Kulturzentrum unter den Nagel zu reissen – weder durch Verhandlung noch durch Besetzung. Vielleicht hat es schlicht und einfach schon genug Kulturräume. Doch an frei gestaltbaren fehlt es heute wieder mehr als noch vor zwanzig Jahren. Noch sind nicht alle KulturtäterInnen davongelaufen! Es gibt noch immer ein vernünftig-rebellisches Luzern – nicht nur das Einkaufsdisneyland mit Postkartenansicht und teuren Hotels, mit langweiligen Bürogebäuden und ruhigen Wohngebieten. Noch sind da Leute, welche die Selbstdeklaration von Luzern als «Kulturstadt» ernst nehmen und umsetzen wollen. Und es kommen dank Jazzschule, Kunsti und Uni auch immer wieder Neue dazu. Noch. Denn bald gibt es in der Stadt keine Räume mehr, wo man noch vernünftig wohnen, arbeiten, auftreten und feiern kann. Und dann ziehen vielleicht plötzlich alle weg – nicht nur nach Emmenbrücke, sondern noch weiter weg. Es ist Zeit, dass die Industriestrasse zum Kristallisationspunkt einer neuen Entwicklung wird. Orpheo Carcano ist Velokurier, Veranstalter (Anton-Musik) und Gastronom in Luzern.

Die Kunst des Tages, in der Option Gallery

Foto: Melk Imboden

Paris – New York – Berlin – Tribschen Liegt der Reiz einer «bedeutenden» Stadt in den Drogen im Trinkwasser – oder an günstigen Mieten? Paris: Montmartre und Montparnasse in den Zwanziger- und Dreissigerjahren. New York: Die Lower East Side in den Sechziger- und Siebzigerjahren. Berlin: Die Ostbezirke seit 1989.

für Theater, Cabarets, Konzertsäle, Bars, Cafés? Montmartre und Montparnasse waren Quartiere, in denen sich auch nicht subventionierte Künstler wie der junge Pablo Picasso niederlassen konnten. Kein vernünftiger Mensch zog vor vierzig Jahren freiwillig in die heruntergekommene Christian Gasser · Drei Metropolen, drei Lower East Side – nur Künstlerinnen und Stadtteile, drei Zeiträume. Etwas haben Künstler, die sich die Mieten im übrigen sie gemein: ihre kreativen, künstlerischen Manhattan nicht leisten konnten. Im und intellektuellen Höhenflüge. Ihre Westen Berlins enthoben die zahlreichen Avantgarden in bildender Kunst, Musik besetzten Häuser viele Menschen von der und Literatur, die von vielen Zeitgenos- leidigen Pflicht monatlicher Mietzahlunsen noch verschmäht wurden, aber die gen, und noch heute gibt es in den Ostbeweiteren Entwicklungen in vielen künst- zirken der Stadt erschütternd günstige lerischen Bereichen bis heute prägen. Räume, dank derer man mit sehr wenig Woran lag das? Ist in diesen Städten Geld überleben kann. die Luft besonders inspirierend? Sind sie auf kreativ vibrierenden Kraftorten geWer bleibt: Hai oder Maler? baut? Versetzten die Stadtverwaltungen das Trinkwasser mit Drogen? Wurden Die ersten Künstler, die sich in diesen Kunst und Künstler mit grosszügigen Vierteln niederliessen, lockten weitere Stipendien, Subventionen und protzigen Künstler aus dem In- und Ausland an, es Kulturpalästen eingekauft? bildeten sich Szenen, der Austausch war Oder liegt es ganz einfach daran, dass intensiv, das künstlerische Schaffen exes massenhaft billigen Wohn- und Ar- plodierte – Die Folgen davon kann man beitsraum gab? Wohnungen, Ateliers, in jeder Kunstgeschichte des 20. JahrRäume für kleine und grosse Galerien, hunderts nachlesen.

Haben Paris, New York und Berlin je unter ihrem Renommée als Kulturstädte gelitten? Haben sie als Wirtschaftsstandorte durch die Kulturproduktion (und allenfalls durch die Einbusse an Steuergeldern wegen darbender Künstler) Schaden genommen? Anders gefragt: An wen erinnert man sich, wenn man an das Paris der Zwanzigerjahre denkt: An die Immobilienhaie? An die Präsidenten der einzelnen Arrondissements? Oder an Pablo Picasso, Eric Satie, André Breton, Gertrude Stein und hunderte andere wirkliche Weltveränderer? Wer oder was zieht heute einen bedeutenden Teil der Touristen in diese Städte? Eine der wichtigsten Ursachen für eine aktive Kulturszene und damit auch für die Ausstrahlung und die Bedeutung einer Stadt – der freie und bezahlbare Raum in einem urbanen Zentrum – wird jedoch selbst von Kunsthistorikern kaum je verstanden und gebührend gewürdigt. Von Stadtplanern und Politikern sowieso nicht. Christian Gasser ist u. a. freier Schriftsteller, Journalist, Lehrbeauftragter an Hochschulen und Gelegenheits-DJ.


EXTRA BL A TT

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Nr. 2 / September 2012

Das Komitee «Günstiger Wohnraum statt Landverkauf»

Impressum

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Extrablatt ist eine Zeitschrift der Initiative «Ja zu einer lebendigen Industriestrasse» zur Abstimmung am 23. 9. 2012. Extrablatt Nr. 2 erscheint Anfang September 2012.

Appoldt Rudi-Renoir, Künstler, Musiker, Grafiker; Akermann Martina, Grossstadträtin SP; Ammon Gabriel, Grafiker, Fotograf; Andermatt Esther, Primarlehrerin, Musikerin; Annen Anna Margrit, Kunstschaffende; Antonenko Fritz; Archer Patrick, Musiker; Arnold Trixa, Musikerin, Dramaturgin; Bächler Dominique; Bättig Astrid, Akupunkteurin; Barrus Anouschka, Barchefin; Beck Constantin; Benninger Jürg, Künstler; Bernardi Joseph; Blättler Vera, Marktfrau, Gastronomie-Mitarbeiterin, Modedesignerin; Blum Felix, Sozialarbeiter; Böhnke Karin, freischaffende Textildesignerin und Stylistin; Brunner Ursula, Filmemacherin; Bucher Barbara; Bucher René, Sozialpädagoge; Budmiger Marcel, Grossstadtrat SP, Vorstandsmitglied Mieterinnen- und Mieterverband Luzern; Bühler Peter, Treuhänder; Burri Tom, Dipl. Sozialarbeiter FH; Carcano Orpheo, Velokurier, Veranstalter und Gastronom; Celik Ali R., Soziologe und Sozialarbeiter; de Sa Adelino, Zivildiensleistender; Christen Regula; Davi Barbara, Künstlerin; Davi Stefan, Künstler; Derungs Justo MC, Lehrer und soziokultureller Animator; Durrer Dominik, Fraktionschef SP/JUSO; Eisenring Reto, Musiker, Schlagzeuglehrer; Eicher Hansjörg, alt Kantonsrat; Elsener Markus, Spanischlehrer; Eltz Simon, Trickfilmzeichner; Federer Philipp; Felder Raffaela, Gesangslehrerin, Mitarbeiterin Cafeteria; Fellmann Dominik, Kleinkindererzieher, Produzent; Fessler Hugo, ehem. Grossstadtratspräsident SP; Flegel Marten; Froelicher Anna, Studentin; Furrer Daniel, SP Grossstadtrat; Gabriel Marc; Gähwiler Daniel, Geograph; Giger Paula, Architektin; Glaus Bettina; Goei Laurent, Dipl. Grafiker, Künstler, Musiker; Greter Alain, Buchhändler/Kantonsrat Grüne; Guarisco Anna-Lea, Illustratorin; Hofer Pascal, Bootsbauer, Sozialarbeiter; Fuchs Lisa, Kulturvermittlerin; Gauch Yannick, Präsident Juso Stadt Luzern; Gorman Sylvia; Greppi Michael, Künstler, Landwirt; Grossmann Matthias, Koch/Musiker; Habegger Charlotte; Hediger Nils, Filmemacher; Henseler Guido, Videoschaffender, Gründer Tele G.; Hofmann Sämi, Steinmetz und Kunstmaler; Hofstetter Moritz; Hofstetter Mariteres, Lehrerin; Huez-Galli Ursula; Huwyler Jörg; Inderbitzin Pius; Ineichen Marcel, Gartenbauer; Jurt Joan, Sekschülerin; Jurt Moira, Grafikerin; Kipfer Dorothée; Knüsli Rosmarie, Renterin; Komarov Ilja, Schauspieler, Komponist; Kulturbüro Luzern; Küng Corinne; Laky Nina; Ledergerber Michael, Regionalleiter Procap LU, OW, NW; Kaufmann Luca; Koch Franziska, Dozentin, Künstlerin; Koch Margaux, Schülerin; Koch Wim, Kantischüler; Kolb Franziska, Grafikerin; Kottucz Vera, Bewegungspädagogin; Küttel Daniela; Laube Evelyne, Illustratorin; Leardi Andrea; Lischer Albert; Meier Martina; Meier René, SP Grossstadtrat; Meile Renata Maria, dipl. Homöopathin; Merkel Bernd, Studienleiter, Schlagzeuger; Metzger Michéle, Quartierfan; Meyer Daniel, Fachfotograf, Moser Thomas; Muff Bruno, Grafiker/Illustrator; Muheim Anton, alt Regierungsrat; Müller Karin, Künstlerin, Störköchin; Mumenthaler-Stofer Luzia, Grossstadträtin; Nova Nils, Künstler; Odermatt Heidi, Goldschmiedin; Oehninger Philipp, Ingenieur; Oesch Corinne, Grafkerin, Oswald Dieter; Patwa Karim, Regisseur, Filmemacher; Portmann Michael; Portmann René, Schreiner, Sozialpädagoge; Roth David, Präsident Juso Schweiz, Kantonsrat; Roth Isabelle, Kunsthistorikerin; Roth Simon, Vizepräsident SP Stadt Luzern; Rebsamen Heidi, Kantonsrätin Grüne; Riedener Sepp, Seelsorger auf der Gasse; Rigert Paul, freier Kameramann; Rohner Patrick; Schärer Felix, Steinbildhauer, Landschaftsgärtner; Schärer Theodor, Künstler und Direktor; Schaub Flurina, Lehrerin/Tänzerin; Schelbert Louis, Nationalrat Grüne, Präsident Wohnbaugenossenschaften Schweiz; Schmid Mark, Präsident Mieterinnen- und Mieterverband; Schmid Markus; Schmid Markus T., alt Grossstadtrat; Schmidig Ruedi, Treuhänder; Schmidiger Marco, Geschäftsleiter; Schönenberger Alex; Schönenberger Patrick, Ausstellungstechniker/Webhoster; Senn Berger Monika, Grossstadträtin; Setz Melanie, Grossstadträtin SP; Soldati Claudio, Präsident SP Stadt Luzern, Sozialarbeiter FH; Stefano Joe, Tontechniker; Stübi Mario, Projektleiter; Syfrig Benno, Kieferchirurg; Thalmann Simone, Studentin pädagogische Schule; Tolusso Claudia, Freischaffende Bühnen-, Film- und Museumsdesignerin; Tomarchio Samantha, Übersetzerin, Lehrerin; Unternährer Esther; Waespe Martin, Filmemacher, Grafiker; Wagner Immanuel, Animator, Trickfilmautor; Widmer Hans, alt Nationalrat; van der Heiden Nico, SP-Grossstadtrat; van der Meijs Harry, ir. dipl. Architekt TU SWB; Vetterli Luzia, Grossstadträtin/Rechtsanwältin; Villforth Camilla; Villars Claudine, Lehrerin; Villiger Sandro, Präsident Avenir Social Sektion Zentralschweiz; Vinatzer Theres, Grossstadträtin SP; von Dören Lena, Trickfilmerin; von Flüe Helen, Quartierbewohnerin; Wicki Thom, Lehrer; Wittwer Liane; Wüest Andreas, Grossstadtrat; Wyss Martina; Wyss Stefanie, Studentin/Grossstadträtin; Zopfi Felicitas; Zumstein Megi, Grafikerin; Züsli Beat, Architekt/Energie-Ingenieur Stand: 3. September 2012

Redaktion und Produktion: IG Industriestrasse Industriestrasse 17, 6005 Luzern www.luzerngewinnt.ch Mail: redaktion@luzerngewinnt.ch

Die Artikel geben die Meinung der jeweiligen AutorInnen wieder. © der Texte und Bilder bei den AutorInnen, FotografInnen und IllustratorInnen. Nachdruck nur mit ausdrücklicher Genehmigung. © IG Industriestrasse, Luzern 2012 Druck: Ropress Genossenschaft, Zürich (www.ropress.ch) Unsere Partner:

sinnlichts Visionen Häuser-Illustrationen: Tatjana Erpen

Die Firma sinnlicht produziert in der Industriestrasse 15 – an einem idealen Ort – innovative Lichtlösungen für Wohnungen, Gewerbe und Institutionen. Bevor im Quartier die Lampen ausgehen, fragen sie sich: Was könnte sinnlicht in 15 Jahren treiben, wenn …? sinnlichts Vision 2017: Nr. l

In den Wohnungen an der Industriestrasse sitzen die Familien am Frühstückstisch. Letzte Hausaufgaben werden erledigt, eine Prüfung für eine Unterschrift wird noch rasch über den Tisch geschoben und das Znüni im Schulthek verstaut. Nur wenige Meter weiter fängt für die zwölf Mitarbeitenden und die zwei Lernenden bei sinnlicht der Arbeitstag an: Zwei Mitarbeitende und die Lernenden machen sich auf den Weg zu einem Kunden an der Brambergstrasse: Dort soll der Garten des Nachts in mystisches Licht getaucht sein. Zwei weitere packen 53 neue Lampen in den sinnlicht-Lieferwagen und montieren diese heute noch in einem neuen Büro in der Citybay. Mitten drin steht Geschäftsinhaber Heinz Marti, gibt da noch eine Information und packt dort rasch mit an. sinnlicht hat sich zu einem Unternehmen entwickelt, das in einem städtischen Umfeld Arbeits- und Ausbildungsplätze bietet und ein modernes Luzern repräsentiert. Ein Luzern, in dem wohnen, leben, arbeiten und lernen optimal kombiniert werden kann.

sinnlichts Vision 2017: Nr. ll

Es ist bitterkalt und vom Vierwaldstättersee her weht ein eisiger Wind. Die Mitarbeitenden von sinnlicht ziehen die Mützen tiefer ins Gesicht, reiben sich die klammen Finger und steigen wieder auf die Leiter. Seit bald einer Woche sind sie an der Arbeit. Demnächst ist es vollbracht: Noch drei Bäume und dann macht die neue Weihnachtsbeleuchtung am Quai der «Leuchtenstadt» alle Ehre! Ein wahres Lichtermeer haben die Lichtkünstler von sinnlicht erschaffen. Zu hunderten reflektiert der See das Leuchten der LED und taucht das Ufer in ein märchenhaftes Licht. Es ist Weihnachtszeit und sinnlicht setzte zur Freude der Luzernerinnen und Luzerner und der Touristen ein leuchtendes Zeichen. Schön, wenn es regionalen Unternehmen gelingt, die Bewohner und Gäste der Stadt mit innovativen Ideen zu begeistern und zu zeigen, wie viel das lokale Gewerbe bewirken kann.

sinnlichts Vision 2017: Nr. lll

Wer der Industriestrasse entlang geht, kann sie durchs offene Fenster sprechen hören. In der Werkstatt im Untergeschoss produzieren drei Mitarbeitende die neuste Kreation der sinnlicht-LEDLeuchtenlinie «LEDea». Seit «LEDea» an internationalen Messen grosse Beachtung fand, treffen an der Industriestrasse regelmässig Bestellungen aus aller Welt ein. Kein Wunder, konnte Heinz Marti gerade eben zwei neue Mitarbeiterinnen für die Produktion von «LEDea» einstellen, und bereits demnächst wird die Serie an Messen in Hannover, Den Haag und Birmingham erneut präsentiert. Wenn es lokalen Unternehmen gelingt, Produkte zu lancieren, die modern und weltweit gefragt sind, tragen diese den Namen Luzern in alle Welt und zeigen so, dass innovatives Design und perfekte Funktionalität auch in Luzern entstehen können.

«Eine sozioökonomische Entscheidung» Auf dem Industriestrassenfest rollten bereits die Bagger (oben) – und Direktoren trieben sich herum (unten links, Theo Schärer, Direktor des Marinemuseums Luzern). Fotos: Melk Imboden «Mit grossem Erfolg wurden dieses Jahr die Kulturorte in den Tribschen ausradiert. Nun geht es an den letzten dicken Kreativtort auf der Stadtkarte, den es noch zu tilgen gibt: das Industriegebiet um die Wasser- und Kraftwerke. Zwar gibt es wieder Versprechen zu Neubildungen wie zum Beispiel das bald ausrangierte Hallenbad, aber jede Wette – wenn das Ding läuft, wird es umgehend verhökert. Wo bleiben die Visionen der Stadtplaner? Das müssen andere sein, trotz Zusagen von wegen Integralität, Multifunktionalität, Kreativität und Humanismus.

Was bleibt, oder was will die Stadt Luzern? Sie wird – oder sie ist es schon ansatzweise – ein Kaff für Party-Fundance, Disney-Townstore, Strichmeilen und Bidonville-Zentren. Das ist doch stadtplanerisch mal was ganz Neues: Der Aggloring wird Stadtzentrum und die Stadtmitte wird ein riesiges soziales Pulverfass. Kein Wunder, will sich da niemand eingemeinden lassen.» (Theodor Schärer, Künstler und Direktor der Künstlervereinigung Marinemuseum. Diese zeigte 2003 im Keller der Industriestrasse 9 die Ausstellung «Für immer Krieg».)

Philipp Ambühl, the Marroniman.

Foto: Davix

Philipp Ambühl möchte, dass seine Stadt attraktiv für alle bleibt. Als Marroni-Verkäufer und Wurststandbetreiber kennt man Philipp Ambühl in ganz Luzern. Aber auch die Industriestrasse ist für den umtriebigen Unternehmer eine heisse Sache. Das Gespräch führte Johnny Furrer. Philipp Ambühl, Sie sind Unternehmer und nutzen Räumlichkeiten an der Industriestrasse als Warenlager und Vorbereitungsraum. Was schätzen Sie an diesem Standort? Der Ort ist zentral gelegen und die Wege sind kurz. Können Sie das ausführen? Es besteht eine Vernetzung; man vergibt Aufträge untereinander. Beispielsweise nutzt der Grafiker die Nähe zum Fotografen in der selben Strasse oder ich berücksichtige für Holzarbeiten den Schreiner von nebenan. Es hängt viel zusammen. Falls Ihre Lagerräume einem Neubau weichen müssten, würden Sie sich andere Arbeitspartner suchen? Gezwungenermassen ja. Ich müsste die Aufträge nach auswärts geben. Dann würden Sie halt mit KMUs in Rothenburg oder Emmenbrücke zusammenarbeiten. Das Ergebnis für Ihren Betrieb wäre doch dasselbe. Rein ökonomisch betrachtet mag das stimmen, vielleicht wäre die Miete ausserhalb sogar günstiger. Aber hier geht es um etwas anderes. Was dann wäre? Es ist ein sozioökonomischer Entscheid. Es geht nicht um mich und mein Lager, das kann irgendwo stehen. Ich bin ein Stadtbürger, meine Familie ist seit vielen Generationen in Luzern wohnhaft, mir liegt diese Stadt am Herzen. Und mich stört, was in dieser Stadt passiert. Der Anteil an Kindern und Jugendlichen in der Stadt hat in den letzten drei Jahrzehnten um die Hälfte abgenommen, weil es für Familien der Mittelschicht praktisch nicht mehr möglich ist, bezahlbaren Wohnraum zu finden. Auf die Länge ist das der Tod für eine Stadt. Dagegen kämpfe ich.


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