ExtraBLAtt Nr. 1, August 2012

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Nr. e1ns Gratis · 10‘000 Exemplare

25. August 2012

Initiativzeitung für Luzern · Herausgegeben von der Initiative «Ja zu einer lebendigen Industriestrasse» Information und Diskussion zur Abstimmung am 23. September 2012: www.luzerngewinnt.ch

Investoren im Glück: Luzern zu verkaufen Was treibt die Stadt zu ihrem Ausverkauf unserer Lebensqualität? «Jetzt werden mitten im Spiel die Regeln geändert», lässt sich Matthias Meier, der Pressesprecher der Allreal, in der NLZ vom 25. Juni zitieren. Was für die Allreal ein Spiel ist, ist für Luzerner und Luzernerinnen urbane Realität, die ihr Leben prägen wird. Nach der Tribschenstadt und dem Citybay soll nun auch am Charakter der Industriestrasse tüchtig herumgeschraubt werden. Thomas Moser · Wenn das Luzerner Stimmvolk am 23. September 2012 über den Landverkauf an der Industriestrasse und über die Initiative «Ja zu einer lebendigen Industriestrasse» abstimmt, wird klar, wer über die Hegemonie in der Stadt verfügt. Wer stellt die Regeln für das Spiel der Allreal auf? Auch Baudirektor Kurt Bieder lässt sich im zitierten Artikel zu fragwürdigen Aussagen hinreissen: «Wenn nun am Schluss das Verfahren aus kaum vorauszusehenden Gründen scheitert, ist das für die Stadt ein Imageverlust.» Der Widerstand der Luzerner und Luzernerinnen gegenüber dem Projekt sei also kaum voraussehbar gewesen und schade der Stadt Luzern. Was kommt diesen Leuten eigentlich in den Sinn, die Regeln für Kurt Bieder und die aktienkotierte Allreal zu ändern? Hängt es vielleicht damit zusammen, dass diese später dort wohnen müssen? Kurt Bieder würde ein Spaziergang in seiner Stadt mal wieder gut tun. Womöglich würde er dann das «Recht auf Stadt» der Bewohnerinnen und Bewohner anerkennen müssen und etwas besser voraussehen, was diese wollen. Analysiert man die Entwicklung der Stadt Luzern in den letzten zehn Jahren, so ist die aktuelle Debatte überhaupt keine Überraschung. Es geht – wie fast

immer in den letzten Jahren – um das Gebiet südöstlich der Langensandbrücke und östlich der Gleise. Ein Projekt, welches dort realisiert wurde, ist der Citybay. Auf der Internetseite vom Citybay heisst es unter dem Titel «Urban Nature»: «Leben und Arbeiten in der Stadt bringt viele Vorteile mit sich: Beste Verbindungen, kurze Distanzen, vielfältige Freizeitmöglichkeiten.» Doch scheint es, dass diese Vorteile in Luzern immer mehr nur den Wohlhabenden vorbehalten sind. Am Citybay lebt wohl nicht eine einzige Luzerner Durchschnittsfamilie. Auch sonst wurde in der Entwicklung des Tribschenquartiers kaum Rücksicht auf die Anliegen der Luzerner Bevölkerung genommen. Trotz Widerstand wurden reihenweise Kulturinstitutionen geschlossen: Die Boa, das La Fourmi, die Kunsthalle, das Vasco da Gama … Es entstehen Quartiere ohne Bezug zu Luzern. Auf dem alten Emmi-Areal entstehen ebenfalls Luxuswohnungen. All das stets unter dem Argument, Luzern wirtschaftlich fit zu machen. Das beeindruckt die Bevölkerung. In erster Linie verschafft diese Entwicklung einigen wenigen ImmobilienbesitzerInnen unglaubliche Renditen und verdrängt alles Unkonventionelle aus der Stadt Luzern. Die Alternativkultur gehört an den Stadtrand, die Familien in die Agglomeration und Kleingewerbe verschwindet ganz. Der symbolische Höhepunkt dieser heuchlerischen Politik ist die Entfernung jeglicher Sitzmöglichkeiten vom Bahnhofplatz. Damit Luzern glänzt, müssen Luzerner und Luzernerinnen in Zukunft an einem der Haupttreffpunkte in Luzern (Torbogen) stramm stehend auf ihre Freundinnen und Freunde warten, so dass die neuen CityBay-Mieter und -Mieterinnen ja keinen falschen Eindruck von ihrer «Urban Nature» bekommen.

Platz für neue Wohnlichkeit … Das Tribschenquartier räumt auf: mit Häusern und Bewohnern.

Luzern wacht auf Die erste Watsche für die genannte Stadtentwicklung hat der Stadtrat bereits kassiert: 58,2 Prozent der Stimmbevölkerung sagten am 17. Juni «Ja» zur Initiative «Für zahlbaren Wohnraum» des Mieterinnen- und Mieterverbands. Diese fordert eine Erhöhung des prozentualen Anteils an gemeinnützigen Wohnungen auf 16 Prozent (aktueller Stand 14 Prozent). In einer Stellungnahme zur Wohnrauminitiative schreibt Kurt Bieder: «Da die Stadt lediglich etwas mehr als 1 Prozent der Wohnungen in Luzern besitzt, wird er [der Stadtrat] kaum darum herumkommen, auch Einfluss auf den Wohnungsmarkt zu nehmen.» Angesichts dieser Aussage ist es schon sehr erstaunlich, dass sich der Stadtrat für den Verkauf der Industriestrasse stark macht. Man kann sich nicht vorstellen,

Die Kampagne zum 23. September So billig wie geplant sind wir nicht zu haben Die Bewohner des Tribschenquartiers machen mobil! Die Initiative will nicht zwei, drei alte Häuser retten, sondern mehr: Jung und alt, LuzernerInnen und Zugezogene fordern eine faire, partizipative und inhaltsbezogene Diskussion über die Zukunft des Wohnens in ganz Luzern. Verteilen Sie das Extrablatt und unsere Flyer an Ihre Nachbarn und Freunde, denn das Thema geht sie alle an.

dass dieses Gremium seine Stimmbevölkerung ernst nimmt. Ähnlich unbeholfen agierte der Grossstadtrat angesichts der unmissverständlichen Forderung des Luzerner Stimmvolks nach mehr bezahlbarem Wohnraum. Keine zwei Wochen nach der Abstimmung sprach sich auch das Stadtparlament grossmehrheitlich für die Veräusserung der Industriestrasse aus. Den Verkauf eines Areals voranzutreiben, welches optimal geeignet wäre, um ein Anliegen der Bevölkerung umzusetzen, ist äusserst zynisch. Dem Stadtrat sind die Anliegen der Luzerner und Luzernerinnen weniger wert als die 17,4 Millionen Franken, welches die Allreal für den Kauf bezahlt. Bei einem Budget der Stadt von rund 747,7 Millionen Franken ein lächerlicher Betrag. Dass sich gegen den Verkauf des Areals an der Industriestrasse Widerstand

Zahlbarer Wohnraum statt Landverkauf Das Thema wurde schon vielfach in der Presse kleingeschrieben, und angeblich hat die Initiative kaum eine Chance. Die IG Industriestrasse bittet Sie: Informieren Sie sich jetzt! Am 17. Juni 2012 sagte die Luzerner Stimmbevölkerung klar «Ja» zur Förderung von bezahlbarem Wohnraum. Auf dem Industriestrassen-Areal besteht eine erstklassige Möglichkeit, solchen zu schaffen. Trotzdem will der Luzerner Stadtrat dieses Gebiet an eine Zürcher Immobilienfirma verkaufen. Unsere Initiative fordert hingegen, dass das Areal im Baurecht an gemeinnützige Wohnbauträger abgegeben wird. Dadurch bliebe der wertvolle Stadtboden auch für die kommenden Generationen erhalten und die Stadt würde über Jahrzehnte hinweg zuverlässige Einnahmen erzielen.

Nachhaltige Stadtentwicklung statt kurzfristige Profite Der laufende Ausverkauf des städtischen Bodens geht mit dem Vorschlag des Stadtrates weiter. Um kurzfristige Einnahmen zu erzielen, will die Stadt auch noch die letzten Landreserven verkaufen. Durch diese Entwicklung verlieren wir immer stärker die demokratische Kontrolle über unseren Boden. An der Industriestrasse lässt sich Luzern aber auch eine grosse Chance entgehen: Mit einer Abgabe im Baurecht würde sich die Stadt nachhaltige Einnahmen sowie die Kontrolle über strategisch wichtigen Boden in einem städtebaulichen Schlüsselareal sichern. Denn die Forderung nach

Foto: Jakob Ineichen

formiert hat, ist entgegen Kurt Bieders Behauptung überhaupt nicht überraschend. Es ist lediglich die logische Folge einer Stadtentwicklungspolitik, die die Anliegen der Bewohner und Bewohnerinnen marginalisiert. Jetzt ist die Zeit gekommen, um dieser arroganten Politik eine schallende Ohrfeige zu verpassen. Für eine lebendige durchmischte Industriestrasse: Luzern gewinnt! Thomas Moser studiert Medizin, engagiert sich bei der Juso Stadt Luzern und ist Präsident von «La résistance de la raison».

einer Abgabe im Baurecht bedeutet nicht, dass alles so bleiben soll wie es heute ist. Vielmehr wünscht unsere Initiative eine Weiterentwicklung des Areals zu Gunsten der gesamten Bevölkerung. Ein innovatives, gemeinnütziges Projekt bietet neben bezahlbaren Wohnungen auch Platz für Büroflächen, Kleingewerbe und Kulturschaffende.

Für bezahlbaren Wohn- und Gewerberaum In Luzern herrscht ein Mangel an Wohn- und Gewerberaum für normal- und wenigverdienende Menschen. Wir brauchen deshalb vorrangig keine neuen Luxuswohnungen, sondern Mietwohnungen für Familien, Alleinerziehende und Junge, für ältere Menschen mit beschränktem Budget und für den Mittelstand. Mit der deutlichen Annahme der Volksinitiative «Für zahlbaren Wohnraum» bekam die Stadt den Auftrag, den Anteil an gemeinnützigen Wohnungen zu erhöhen. Mit unserer Initiative kann dazu der erste Meilenstein gesetzt werden. Dies wäre im Interesse der gesamten Bevölkerung: Die Mieten für Wohnungen und Gewerberäume liegen bei gemeinnützigen Wohnbauträgern im Durchschnitt 20 Prozent tiefer als bei privaten, gewinnorientierten Investoren. Zudem haben gemeinnützige Wohnungen einen positiven Einfluss auf das generelle Mietzinsniveau. Solche günstigen Wohnungen gibt es an der Industriestrasse aber nur mit unserer Initiative. Die Initiative stoppt den Ausverkauf unseres Bodens und nützt langfristig sowohl der Stadtkasse, dem Kleingewerbe, der Kultur sowie allen, die in Luzern eine nicht überteuerte Wohnung suchen. Sagen Sie deshalb «Ja» zur Initiative «Ja zu einer lebendigen Industriestrasse – für KMU, bezahlbares Wohnen und Kulturraum für alle» und «Nein» zum Landverkauf an die Allreal AG. Machen Sie Ihr Kreuz zur Stichfrage bei der Initiative!


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Eine Stadt will nach oben Luzern überzeugt mit meisterlicher Inkompetenz Nicht nur die Bewohner der Industriestrassengebäude 9 bis 17 können über das Verhalten der Baudirektion und des Stadtrats nur noch den Kopf schütteln. Sogar die Investoren wundern sich. Es ist zum Verzweifeln! Benno Baumeister · Die Stadt Luzern verfolgt eine Politik, die darauf abzielt, die steuerliche Belastung für die Bevölkerung zu senken und die Einnahmeverluste durch die Anziehung und Ansiedlung besserer Steuerzahler zu kompensieren. Weniger Belastung auf mehr Steuersubstrat, heisst die Losung. Ob das in einer Stadt wie Luzern ähnlich gut funktionieren kann wie etwa in Zug oder Ausserschwyz, ist offen. Sicher ist aber eines: Wenn man Luzern schon zu einer superattraktiven, aufstrebenden Wirtschaftsmetropole umbauen will, sollte man eine gewisse Professionalität aufbringen. Was gar nicht geht, ist die Mischung aus Arroganz und Unvermögen, welche die Stadt bei der Abwicklung des Investorenwettbewerbs um das Industriestrassenareal erkennen liess.

Ein Fehlstart mit Folgen Ungeschicklichkeiten unterliefen der Stadt schon in der Vorbereitung des Projekts. Ein Beispiel unter vielen: Nachdem die Stadt bei den direkt betroffenen «Industriesträsslern» jahrelang den Glauben wachsen liess, es sei auch eine alternative Nutzung des Areals denkbar, kam es am 2. Februar 2011 zu einer sogenannten Infoveranstaltung im benachbarten EWL-Gebäude. Die Chefs der Baudirektion stellten das Konzept des Investorenwettbewerbs vor. Es entspann sich eine rege Diskussion, bis die Beamten zur allgemeinen Bestürzung bekannt gaben, dass die Bewerbungsunterlagen für den Investorenwettbewerb bereits fix und fertig seien und am nächsten Morgen ins Netz gestellt würden. Chaotisch dann der Ablauf des Wettbewerbs: In seiner ersten Version sah die Wettbewerbsausschreibung eine Art Optionsmodell vor. Die Bewerber durften in ihren – natürlich anonymisierten – Eingaben sowohl eine Kauf-, als auch eine Baurechtsvariante präsentieren. Wochen später erhielten die Bewerber dann einen kurzen Bescheid aus der Baudirektion, wonach neu eine Festlegung auf Baurecht oder Kauf verlangt sei. Für die Jury war in der Folge klar sichtbar, welche Projekteingaben von Genossenschaften kamen und welche von kommerziell orientierten Investoren. Ein anderes Beispiel: Die Wettbewerbsausschreibung stellte allen Bewerbern die Aufgabe, zu prüfen, ob sich das schutzwürdige Gebäude Industriestrasse 9 auch erhalten und in ein Neubauprojekt integrieren liesse. Im abschliessenden Bericht zum Wettbewerb war davon nicht mehr die Rede. Die einschlägige Arbeit der Entwerfer und Architekten war für die Katz. Der schludrige Umgang mit den eigenen Wettbewerbsausschreibungen und der Arbeit der Architekten hat leider Tradition bei der städtischen Baudirektion; was auch beim Bau der SwissporArena zu beobachten war. Es ist allgemein bekannt, dass die Stadt Luzern bei den Architekten und Planern weit über die Region hinaus einen denkbar schlechten Ruf geniesst.

Unvermeidliche Kollateralschäden? Das alles seien unvermeidliche Kollateralschäden einer robusten Stadtentwicklung, mögen sich die Baudirektion und der politisch verantwortliche Stadtrat denken. Es sei genauso zu verschmerzen wie der Frust der Anwohner, solange sich die auswärtigen Investoren wohlfühlen. Doch peinlicherweise schafft es die Stadt Luzern nicht einmal, mit einem Ball zu jonglieren. Beim Industriestrassen-Wettbewerb hat sie auch die hofierten Geldgeber verprellt. In der Wettbewerbsausschreibung war festgehalten, dass vor dem Landverkauf eine Volksabstimmung steht. Der Stadtrat brachte die entsprechende Vorlage in der Juli-Session dieses Jahres ins Parlament, das dem Verkauf zustimmte. Die kurz zuvor eingereichte Initiative «Ja zu einer lebendigen Industriestrasse» hätte das Geschäft nicht tangiert. Laut Gemeindeordnung hat der Stadtrat für die Prüfung und Behandlung eines Volksbegehrens zwölf Monate Zeit. Die Möglichkeit, das Volk ausschliesslich über den Verkaufsvertrag mit dem Investor abstimmen zu lassen, hätte somit bestanden. Und genau dieses Minimum an politischer Verlässlichkeit hat der Vertreter des Siegerprojekts, die Zürcher Immobiliengruppe Allreal, von ihrem politischen Partner erwartet. Doch auch die Allreal musste lernen, dass die kleine Stadt Luzern ein unsicherer Kumpan ist. Der Stadtrat um Noch-Baudirektor Kurt Bieder beschloss ohne Not, die Initiative per Eilverfahren ins Parlament zu bringen. Dort wurde sie für gültig erklärt.

Am 23. September darf der Stimmbürger nun sowohl über den Kaufvertrag als auch über die Initiative abstimmen. Die Unterlagen werden dieser Tage verschickt. Dumm nur, dass sie dem Bürger suggerieren, beim Landverkauf handle es sich um einen stadträtlichen Kompromissvorschlag. Es ist absehbar, dass es Leute geben wird, die es unstatthaft finden, ein von langer Hand geplantes Immobiliengeschäft als Gegenvorschlag zu einer Initiative zu verkaufen, die genau dieses Geschäft verhindern will. Bei der Allreal nimmt man den städtischen Schlingerkurs natürlich mit Unverständnis zur Kenntnis. Der Pressesprecher äusserte seinen Unwillen sogar öffentlich, was in der traditionell diskreten Baubranche als Ausdruck von extremer Verärgerung gilt. Die Stadt Luzern hat es beim Projekt Industriestrasse geschafft, ausnahmslos alle Beteiligten vor den Kopf zu stossen, was Kurt Bieder vor allem mit Blick auf die national tätigen Immobilienkonzerne vor Imageschäden warnen lässt. Der Mann sorgt sich zu Recht, zumal erst vor wenigen Tagen ein neuer Gipfel der Peinlichkeit erklommen wurde. Es wurde nämlich gerüchteweise bekannt, dass die Gegner der Industriestrasseninitiative nichts dabei fanden, ausgerechnet die Allreal um finanzielle Unterstützung im Abstimmungskampf anzubohren. «Benno Baumeister» ist das Pseudonym eines in Luzern aufgewachsenen Architekten, der zurzeit in Zürich lebt und als Projektentwickler arbeitet. Er äussert hier seine persönliche Meinung.

Die einstigen Träume vom Technopark Eine Quartierplanung in ständiger Berg- und Talfahrt

Im Jahr 2002 sagte die Stadtluzerner Bevölkerung Ja zu einer Umzonung für das Areal Industriestrasse. Damit war der Weg frei für den Bau eines Technoparks. Die Stadt hatte grossen Druck aufgesetzt und redete von Investoren. Aber dann blieb stolze zehn Jahre lang alles beim alten. Bis jetzt. Pirmin Bossart · Es war eine grosse Aufregung in den Jahren um 2000. Neben dem Bau der Tribschenstadt (600 Wohnungen) und dem Ausbau des Eisfeldes zum Regionalen Eiszentrum stand im Tribschenquartier ein weiterer Wurf an: Auf einem 9000 Quadratmeter grossen Areal an der Industriestrasse sollten grosszügige Büroflächen für «wertschöpfungsintensive Firmen» geschaffen werden. Die Stadt hoffte auf gute Steuereinnahmen. Auf dem ganzen Stadtgebiet waren damals 1700 Woh-

Es ist zum Verzweifeln!

Schlingernd zur Stimmabgabe

nungen im Bau oder in Planung. Also, argumentierte Baudirektor Kurt Bieder, bestehe «ein gewisser Nachholbedarf in der Erschliessung von Wirtschaftsflächen» (Neue Luzerner Zeitung, 11. April 2001). Das Industriestrasse-Areal war nur deshalb länger vor der üblichen Hauruck-Entwicklung verschont geblieben, weil es für den neuen Werkhof der Stadt Luzern reserviert worden war. Als dann beschlossen wurde, diesen ins Industriegebiet Ibach auszulagern, wurde das Grundstück plötzlich wieder interessant. Im Auftrag der Baudirektion erstellte ein Luzerner Architekturbüro unter dem Titel «Technopark» eine Machbarkeitsstudie, die Pläne für eine Überbauung mit zwei vier- bis fünfgeschossigen Baukörpern skizzierte: Vorgesehen war, in grösserem Ausmass Raum für Büros und Dienstleistungsbetriebe zur Verfügung zu stellen.

Illustration: Melk Thalmann

Die Abstimmungskampagne der Möchtegern-Landverkäufer und Inititativgegner Simon Roth · Bereits im Vorfeld der Abstimmungskampagne sind Bilder zu sehen, die zeigen, in welche Richtung die Argumentation der Initiativgegner gehen wird: Bei einem Landverkauf entstehe eine familienfreundliche Überbauung, und bei einer Annahme der Initiative hätten wir auf Luzernerboden slumähnliche Zustände. Da stellt sich die Frage, ob unsere Gegner entweder des Textverständnisses nicht mächtig sind oder aber versuchen, die Stimmbevölkerung mit der Vorspielung falscher Tatsachen hinters Licht zu führen. Denn das angesprochene Bild zeigt zum einen nur ei-

nen Ausschnitt des betreffenden Areals und zum anderen (und wichtigeren) bedeutet die Annahme der Initiative nicht die Zementierung des heutigen Zustandes. Im Gegenteil; die Initiative verlangt, das Areal im Baurecht an eine gemeinnützige Organisation abzugeben. Der grösste Unterschied zwischen dem Verkauf und der Initiative ist allein, wer von den Veränderungen im betroffenen Gebiet profitiert: die Aktionäre der Allreal AG oder die Bevölkerung der Stadt Luzern! Simon Roth ist Vizepräsident der SP Stadt Luzern.

Mit dem Luftbild, das wir hier im Ausschnitt zeigen, versuchen die Gegner der Initiative die Bewohner der Häuser Industriestrasse 9 und 17 zu diskreditieren. Zugegeben, es sieht auf dem gezeigten Grundstück nicht sehr aufgeräumt aus, jedoch gehört es nicht zu den beiden genannten Gebäuden und die für das Durcheinander Verantwortlichen sind auch nicht Mitglieder unserer Initiative. Fair play?

Bildquelle: Webseite der Initiativgegner; ursprünglich von Google Maps.

Euphorie für Bucherer Die Nachfrage nach solchen Dienstleistungsflächern sei gross, wurde die Stadt nicht müde zu betonen. «Es treffen laufend viele Anfragen auswärtiger Firmen bei uns ein, die sich gerne hier etablieren möchten», sagte der städtische Wirtschaftsbeauftragte Fridolin Schwitter im November 2000 gegenüber der Neuen Luzerner Zeitung. Zu oft müsse ihnen abgesagt werden, «weil geeigneter Raum fehlt». Der Technopark werde es ermöglichen, einerseits neue Firmen in der Stadt Luzern ansiedeln zu können. Andererseits könnten dadurch expandierende Luzerner Unternehmen in der Stadt gehalten werden, «statt sie auf die grüne Wiese ziehen lassen zu müssen». Grund für die Euphorie war die Firma Bucherer, die sich interessiert zeigte, im Kopfbau das neue Logistikzentrum anzusiedeln. Damit wäre rund ein Drittel der Nutzfläche bereits belegt gewesen. Also wurden alle Hebel in Bewegung gesetzt, die nötigen Rahmenbedingungen zu schaffen. Dazu gehörte eine Umzonung von der Zone für öffentliche Zwecke und der Gewerbezone in eine Wohn- und Arbeitszone. Neben der Bü-

ronutzung war vorgesehen, maximal ein Geschoss (Attika) für die Wohnnutzung zur Verfügung zu stellen. Ein erster Anlauf für eine Umzonung war schon im Januar 1999 im Grossen Stadtrat aufgrund verschiedener Beweggründe gescheitert: Die Grünen wollten mit ihrem Nein der Stadt eine wichtige Baulandreserve an zentraler Lage sichern. Und die FDP sprach sich dagegen aus, weil sie das Gebiet Industriestrasse als möglichen Standort für einen Hallenbad-Neubau in der Zone für öffentliche Zwecke belassen wollte. Als zum zweiten Mal die Umzonung anstand, ergriff das linksgerichtete Bündnis der Phase 1 das Referendum gegen die Umzonung. In der Folge stieg Bucherer aus dem Vorvertrag aus. Die Firma, die der Stadt Beine gemacht hatte, fand ein lukrativeres Angebot, um ihr Logistikzentrum zu verwirklichen. Im Abstimmungskampf distanzierten sich dann die Stadtvertreter vom Begriff «Technopark» und sprachen von einem «Dienstleistungspark» oder «Dienstleistungszentrum». Das klang weniger bedrohlich. Am Ende sagten zwei Drittel der Stimmberechtigten Ja zur Umzonung. Auch die städtische SP war dafür.

Wieder Opposition Das war im Jahr 2002. Ein Jahr später musste Stadtarchitekt Jean-Pierre Deville der NLZ bestätigen, dass noch keine konkreten Nachfragen von Firmen oder Investoren vorliegen würden. Aber, meinte er, «theoretisch können sich jederzeit Interessenten melden». Das ist dann auch, fast zehn Jahre nach den grossen Versprechungen, geschehen. Jetzt ist es die Zürcher Investorengruppe Allreal, die das ehemalige Gebiet des Technoparks kaufen und überbauen will. Und wieder gibt es Opposition. Die Rahmenbedingungen haben sich erneut geändert. Kleingewerbe und Kulturräume werden massiver aus der Stadt gedrängt denn je. Und: Statt den Boden im Baurecht abzugeben, gibt ihn die Stadt zum Verkauf frei. Nachdem der rote Teppich schon für Gold-Bucherer (vergeblich) ausgebreitet worden war, soll jetzt auch noch das letzte Tafelsilber verscherbelt werden. Pirmin Bossart ist Autor und freier Journalist und schreibt unter anderem für die Neue Luzerner Zeitung.


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Städtischer Grund ist ein unvermehrbares Gut Handlungsspielraum beibehalten Denkt man an die möglichen langfristigen Gewinne, verkauft Luzern den knappen Boden unter Preis. Beim Zukauf neuen Besitzes steht man sich selbst im Weg – weniger durch fehlende Mittel denn durch die derzeitige Finanzkompetenz. Stefanie Wyss · Der Historiker Beat Mugglin arbeitete vor rund 20 Jahren die Bodenpolitik der Stadt Luzern zwische 1848 und 1980 auf. In seiner Einleitung schrieb er treffend: «Da der Boden ein unvermehrbares und damit knappes Gut ist, gilt hier der Leitspruch: Allgemeines Interesse kommt vor individuellem Nutzen. Die Kommunen müssen diesem Grundsatz Nachachtung verschaffen.» Mugglin stellte weiter fest, dass der Kampf um das rare Gut Boden in den 1950er Jahre begonnen und die Kommune – die Stadt Luzern – den Kürzeren gezogen habe. Damals wurde vor allem die schlechte Finanzlage als Begründung angeführt, dass kein neuer Boden hinzugekauft werden könne. Mugglin konstatierte, dass der Luzerner Boden schon 1985 ausverkauft gewesen sei und die Stadt Luzern dabei das Nachsehen gehabt habe. Heute wird von bürgerlichen Parteien wie SVP, FDP, CVP und GLP die Finanzknappheit als Grund angeführt, dass die Stadt zum einen Grundstücke verkaufen müsse und zum anderen nicht als Käuferin auftreten könne. Für eine aktive Bodenpolitik setzen sich verschiedene ExponentInnen der Jungen Grünen, Grünen, Juso und der SP ein.

Reduzierter Handlungsspielraum Die Antwort des Stadtrats im Juni 2012 auf eine Interpellation des SP-Grossstadtrats Daniel Furrer zeigt gut auf, wie die Liegenschaftspolitik der Stadt Luzern in den letzten Jahren funktionierte: 24 Liegenschaften (davon acht ausserstädtische) wurden veräussert und lediglich neun Liegenschaften wurden erworben. Die Landverkäufe bessern zwar kurzfristig die städtische Kasse auf,

verkleinern aber zusehends den Handlungsspielraum der Stadt. Die Gewinne eines Landverkaufs fliessen der Stadt nur im einmaligen Verkauf des Bodens zu; den langfristigen Gewinn, der mit Wohnungen oder Büros erzielt werden kann, stecken Private ein. Doch warum ist es so eminent wichtig, dass die Stadt Luzern eigenen Boden und eigene Liegenschaften besitzt? Durch den Besitz von Liegenschaften könnte die Stadt bestimmen, wie mit diesen Grundstücken verfahren werden soll. Die Annahme der Initiative «Für zahlbaren Wohnraum» am 17. Juni 2012 hat zum Ausdruck gebracht, dass sich die Luzerner Stimmbevölkerung eine aktivere Wohnraumpolitik der Stadt Luzern wünscht. Werden Areale einfach privaten InvestorInnen zum besten Preis überlassen, kann die Stadt nur noch zusehen, wie darauf beispielsweise Luxuswohnungen und Büroräume gebaut werden, obwohl bezahlbare Wohnungen dringender sind. Mit dieser Politik wird günstiger Wohnraum verdrängt. Der Umgang mit den letzten freien Flächen, die die Stadt noch besitzt, muss sorgfältig sein. Das Areal Industriestrasse sollte nicht an die Meistbietende verkauft werden. Die kurzfristigen Gewinne für die Stadtkasse sind verlockend, dennoch wird die Mehrheit der Luzerner Bevölkerung unter dieser verfehlten Liegenschaftspolitik leiden. Es herrscht in den im Grossstadtrat vertretenen Parteien ein Konsens darüber, dass die Liegenschaftspolitik der Stadt grundlegend diskutiert werden muss. Auch bürgerliche PolitikerInnen sehen, wie wenig Spielraum die Stadt und auch das Parlament in diesem Bereich noch hat. Die Stadt erhielt 2010 durch die Fusion Luzern-Littau neue Landreserven – unter anderem viele Landwirtschaftsbetriebe und Grünflächen. Auch dort könnte die Stadt Luzern für eine neue nachhaltige Liegenschaftspolitik sorgen. Eine vielversprechende Idee ist, dass städtische Areale nur noch im Baurecht abgegeben werden dürfen. Ein Baurechtsvertrag ist für die Stadt – auch

in Zeiten einer finanziell schwierigen Lage – sowie für die Eigentümerin bzw. den Eigentümer des Bauwerks attraktiv. Baurechtsverträge können für mindestens 30 und höchstens 100 Jahre (mit einer Verlängerungsoption) abgeschlossen werden. Das gibt Sicherheit für die InvestorInnen. Der Baurechtszins kann frei festgelegt werden. So ist es beispielsweise möglich, für Büroflächen mit einer hohen Wertschöpfung einen höheren Baurechtszins auszuhandeln als für gemeinnützige Wohnbaugenossenschaften.

Vorkaufsrecht verschenkt Gerade weil es nur noch wenige Flächen und Liegenschaften im Besitz der Stadt Luzern gibt, sollte sie auf dem Immobilienmarkt aktiv auftreten und bei Verkäufen mitbieten. Es ist zu überlegen, ob hier der Stadtrat eine höhere Finanzkompetenz erhalten sollte. So konnte beispielsweise die Stadt aufgrund der geltenden Finanzkompetenzen ein dreimonatiges Vorkaufsrecht einer Liegenschaft an der Pilatusstrasse 22 nicht wahrnehmen. Das Parlament könnte dem Stadtrat hier eine höhere Finanzkompetenz einräumen, um flexibler auf dem Immobilienmarkt agieren zu können. Ein weiterer Lösungsansatz, um die verfehlte Immobilienpolitik der letzten Jahre etwas auszugleichen, ist die Verdichtung. Dort, wo die Stadt noch Immobilien hat, soll verdichtet gebaut werden. Hier ist aber ein besonderes Augenmerk auf die Qualität zu legen: Wo es viel Beton gibt, soll es auch grüne Oasen geben. Damit die Stadt Luzern weiterhin ein attraktiver Lebensraum bleibt, braucht es ein Engagement für eine neue Bodenpolitik. Stefanie Wyss, Grossstadträtin Junge Grüne, Vorstandsmitglied MieterInnenverband, Studentin Germanistik und Geschichte. Literaturhinweis: Mugglin, Beat: Die Bodenpolitik der Stadt Luzern. Beiträge zur Luzerner Stadtgeschichte, Bd. 9. Raeber, Luzern 1993.

3 Was ist eigentlich … Vielen von uns «einfachen Mietern» schwirrt beim Lesen der Texte zum Abstimmungsthema bald der Kopf. Wir müssen uns mit Begriffen und Verhältnissen auseinandersetzen, mit denen Juristen, Planer und Investoren leichthändig jonglieren. Machen wir uns schlau, getreu dem Motto, dass es keine dummen Fragen, sondern höchstens dumme Antworten gibt! Die nachstehenden gehören hoffentlich nicht dazu …

Was ist Baurecht? Mit dem Baurecht erhält jemand das Recht, auf oder unter einer Bodenfläche ein Bauwerk zu errichten und zu bewirtschaften. Der Grundbesitzer bzw. Baurechtgeber verzichtet für eine vertraglich festgelegte Dauer (max. 100 Jahre) auf jede eigene Nutzung. Im Baurechtsvertrag kann der Besitzer jedoch Einfluss auf die Bebauung und damit indirekt auch auf die Nutzung nehmen. Für den Grundbesitzer hat dies den Vorteil, dass er sein Land nicht endgültig abtreten muss und von allfälligen Wertsteigerungen profitieren kann. Der Baurechtnehmer trägt das unternehmerische Risiko der Bebauung, während der Baurechtgeber den Baurechtszins in Form eines im Voraus bestimmten jährlichen Betrags erhält.

Was sind gemeinnützige Wohnbauträger? Gemeinnützige Wohnbauträger sind Baugenossenschaften, Stiftungen oder auch Private, die Wohnungen gemäss des Prinzips der Kostenmiete vermieten. Sie verfolgen den Zweck, «dauerhaft den Bedarf an Wohnraum zu tragbaren finanziellen Bedingungen zu decken». Sie dürfen deshalb nur beschränkt Gewinne erzielen. Die genauen Bestimmungen, zum Beispiel die Einschränkung von Profitmöglichkeiten, sind im eidgenössischen Wohnraumförderungsgesetz festgelegt.

Kurswechsel in der Bodenpolitik Umsetzung der Initiative «Für zahlbaren Wohnraum»

Die Zukunft bringt Gelegenheiten zur Landabgabe an gemeinnützige Wohnbauträger. Mit der angenommenen Initiative fordern die Luzerner Bürger Konsequenzen aus der bisher verfehlten Bodenpolitik. Ein Richtungswechsel ist längst überfällig. Mark Schmid · Die Luzerner Stimmberechtigten haben im Juni mit deutlicher Mehrheit das Ziel unterstützt, innert 25 Jahren den Anteil der unter gemeinnützigen Kriterien vermieteten Wohnungen von 14 auf 16 Prozent zu erhöhen. Ohne einen Kurswechsel in der städtischen Bodenpolitik ist dieses Ziel nicht zu erreichen. In den letzten Jahren hat die Stadt privaten Immobilien-Investoren auf Grundstücken im öffentlichen Besitz Investitionsgelegenheiten geschaffen. Im Gegenzug hat sie einmalige Beiträge in die Stadtkasse erhalten (etwa durch den Verkauf einer Parzelle an die börsenkotierte Mobimo auf Büttenen) oder die Erfüllung einer öffentlichen Aufgabe sichergestellt (durch die Querfinanzierung eines Teils der Stadionkosten durch die Abtretung des Baurechts für zwei Hochhäuser auf der Allmend an die Credit Suisse). Das Ja zur Initiative «Für zahlbaren Wohnraum» war nicht zuletzt ein deutliches Zeichen, die Bodenpolitik in Zukunft auf andere Bedürfnisse auszurichten. Gemeinnützige Wohnbauträger, die nach dem Modell der Kostenmiete operieren und keine spekulative Gewinnabschöpfung realisieren, können sehr gut mit der Abgabe von Land im Baurecht leben. Statt einmaligem Ausverkauf des Landes ergibt sich dadurch für die Stadt die Möglichkeit, langfristig kontinuierliche Einnahmen in Form von Baurechtszins zu sichern und gleichzeitig die zukünftige Mitsprache über die weitere Entwicklung nach ei-

nem Lebenszyklus der Immobilien zu wahren. In den nächsten Jahren stehen bedeutende Planungen an, welche Gelegenheiten für Abgaben von Land an gemeinnützige Wohnbauträger bieten. Das Areal vom ehemaligen Hallenbad über Steghof bis zur Industriestrasse ist als Entwicklungsschwerpunkt definiert. Das Land mehrheitlich im Besitz der Stadt oder der von der Stadt kontrollierten ewl. Nach dem Scheitern des Projektes Salle modulable steht das Areal des Lidoparkplatzes und des Parkplatzes entlang der Seeburgstrasse wieder zur Disposition. Ein Parkplatzgeschoss liesse sich gut mit einer attraktiven Wohnnutzung kombinieren, an einer Lage, die bestens erschlossen ist und damit auch ein Wohnen ohne privaten PKWVerkehr ermöglichen würde. Weitere Landreserven besitzt die Stadt in der ehemaligen Gemeinde Littau. Der nun im September zur Abstimmung kommende Verkauf von Land an der Industriestrasse entspricht den neuen Anforderungen an die Bodenpolitik nicht. Im Verfahren wurde verpasst, von Beginn weg klare Auflagen bezüglich eines Anteils an gemeinnützigem Wohnraum zu formulieren und die Abgabe in Form von Baurecht zu definieren. Diese Bedingungen wurden vor dem Wettbewerbsverfahren nicht politisch geklärt. Der Mieterverband hatte dabei nie Gelegenheit, sich zu diesen Fragen vernehmen zu lassen. Ein Nein zum Verkauf und ein Ja zur Initiative bieten Gelegenheit, einen Beitrag zum im Juni durch die Stimmberechtigten fixierten Ziel zu leisten, den Anteil der gemeinnützig vermieteten Wohnungen zu erhöhen. Mark Schmid ist Vorstandspräsident des Mieterinnen- und Mieterverbandes der Kantone Luzern, Obwalden, Nidwalden und Uri.

Im Jahr 1904 waren erst vier Betriebe mit mehr als 100 Arbeitern auf Stadtboden angesiedelt. Eine echte Industriestadt ist Luzern nie geworden, abgesehen von der «Fremdenindustrie». 1916 votierte der Stadtrat für eine Industrialisierung des Tribschenmooses und erwarb dafür Land, um es an Betriebe abzugeben. Das Bild zeigt den Lagerplatz der Stocker & Co. im Juli 1929. Das Gebäude Industriestrasse 9 wurde im Jahr 1903 für die Käsehandlung DillierWyss erbaut, die es bis 1909 betrieb. Auch der Nachfolger Peter Bürki handelte mit Käse. Im heutigen Strassenbelag sind immer noch die originalen Geleise zu sehen.

Wie kann günstiger Wohnraum geplant werden? Flächenanteilpläne für gemeinnützigen Wohnungsbau sind vielversprechend, doch leider keine Pflicht. Beat Züsli · In breiten Kreisen ist es mittlerweile unbestritten: Die Wohnungen in den Kernstädten werden teurer, eine soziale Entmischung findet statt und der freie Markt wird keine Lösungen dazu bringen. Aufgrund dieser Erkenntnis hat eine schöne Mehrheit der Stadtluzerner Stimmbevölkerung im Juni 2012 der Wohnrauminitiative zugestimmt. Welche Möglichkeiten hat nun eine Stadt, um auf der Ebene der Nutzungsplanung den Bau von kostengünstigem Wohnraum zu fördern? Im Auftrag des Bundesamtes für Wohnungswesen hat die Schweizerische Vereinigung für Landesplanung (VLP) die Wirkung verschiedener Massnahmen untersucht. Offensichtlich den direktesten Einfluss hat die Gemeinde durch die Abgabe von eigenen Grundstücken im Baurecht an gemeinnützige Wohnbauträger, welche verpflichtet werden, entsprechend günstige Wohnungen anzubieten. Da die wenigsten Gemeinden – wie auch die Stadt Luzern – über sehr grosse Landreserven verfügen, sind die Möglichkeiten hier beschränkt. Als Lösungsweg der Zukunft und damit als vielversprechend wird in der VLP-Studie der Ansatz über die Flächenanteilpläne angesehen. Dabei wird in der Nutzungsplanung für ein bestimmtes Gebiet ein Anteil an gemeinnützigem Wohnungsbau vorgesehen. Besonders geeignet für eine solche Bestimmung sind entweder Neubaugebiete oder Gebiete, bei denen Nutzungsänderungen oder Verdichtungen in Aussicht stehen. Es ist anforderungsreich, aber langfristig lohnend, diese Gebiete zu identifizieren und den geeigneten Anteil an Gemeinnützigkeit festzulegen. Der gemeinnützige Anteil kann situationsbezogen definiert werden, um eine optimale soziale Durchmischung zu erreichen. Seit Beginn der Arbeiten zur Revision der Bau- und Zonenordnung in der Stadt Luzern wurde die Schaffung von Zonen mit einem Anteil an gemeinnützigem Wohnungsbau als Idee eingebracht, leider jedoch von der Mehrheit des Stadtparlaments und vom Stadtrat abgelehnt. In der aktuellen Version der zweiten Auflage der BZO ist einzig die Möglichkeit vorgesehen, dass der Stadtrat im Rahmen von Gestaltungsplänen die Gewährung des Überbauungsbonus an die Errichtung eines Anteils von gemeinnützigen Wohnungen binden kann. Eine verpflichtende Bestimmung fehlt völlig. Es wurde hier versäumt, neue Instrumente zur Lösung der akuten Wohnraumfrage aufzunehmen. Da eine nächste, umfassende BZO-Revision erst wieder in etwa 15 Jahren ansteht, kann hier wahrlich von einer verpassten Chance gesprochen werden. Dementsprechend wurde auch in der planerischen Entwicklung des Gebietes Steghof/Hallenbad/Industriestrasse die Ansiedlung von gemeinnützigem Wohnungsbau nie ernsthaft in die Betrachtungen aufgenommen. Was ist nun zu tun, angesichts der dringenden Wohnraumprobleme und der fehlenden, langfristig wirkenden Instrumente? Es bleibt nichts anderes übrig, als bei jedem der anstehenden Projekte mit städtischem Einfluss die Möglichkeiten abzuklären und möglichst frühzeitig einen Anteil an gemeinnützigem Wohnungsbau festzulegen. Beim Gebiet Industriestrasse wurde die frühzeitige Festlegung verpasst. Nun gilt die Losung: «Lieber spät als nie!» Beat Züsli, Architekt und Energie-Ingenieur, Vorstandmitglied Deutschschweizer und Luzerner Mieterinnen- und Mieterverband


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Der bürgerliche Wert der Urbanität Gibt es die ideale Stadt? Die Planung und Entwicklung einer Stadt bezieht sich stets auf die gesellschaftlichen Umstände. Sie lebt von der Spannung der Vielfalt. Martin Wyss · Der Begriff der Urbanität ist derzeit in aller Munde. Wir fahren nicht mehr mit Velos durch die Städte, sondern benutzen dazu urban cycles. Den Soundtrack dazu liefert uns urbane Musik und wir hüllen uns in urbane Kleidung. Währenddessen sind die Stadtverwaltungen damit beschäftigt, neue urbane Räume zu schaffen und so den Bedürfnissen des urbanen Lebensstils gerecht zu werden. Doch wovon sprechen wir, wenn wir Bezug auf die Urbanität nehmen? Abgeleitet ist der Begriff vom lateinischen urbs, was schlicht Stadt bedeutet. Indem also Urbanität geschaffen wird, skizzieren wir einen Entwurf davon, was eine Stadt sein soll. Die italienische Renaissance hat sich in besonderem Masse mit dieser Arbeit auseinandergesetzt und zahlreiche Neudefinitionen von städtischen Grundrissen und Stadtbildern vorgenommen. Die in dieser Zeit entworfenen Idealstädte stehen in Kontrast zu den im frühen Mittelalter organisch und oftmals chaotisch gewachsenen städtischen Strukturen und haben unser Verständnis von urbanem Raum stark geprägt. Bereits aus dem 14. Jahrhundert stammen Zeugnisse davon, dass die Stadtentwicklung als ein gesellschaftlicher Entwurf verstanden wurde. In diesem wird immer auch eine Aussage darüber gemacht, wie die soziale Ordnung in einer Stadt sein soll und somit auch, wie sich die StadtentwicklerInnen, ganz im Sinne Aristoteles‘, ein gutes Leben als Ziel des menschlichen Lebens vorstellen. Das Dilemma dabei ist, dass niemand mit Sicherheit sagen kann, was das gute Leben ist.

Hoffnungen sind verschieden Im Jahre 2007 lebte erstmals die Mehrheit der Weltbevölkerung in Städten, und der anhaltende Zustrom ist enorm. Die Menschen ziehen in die Städte mit der Hoffnung, ihren Entwurf des guten Lebens dort verwirklichen zu können und im urbanen Raum Arbeit und ein Auskommen, vielleicht sogar Gestaltungsfreiräume zu finden. Städte sind also Orte von Erwartungen und Hoffnungen für die Menschen, die darin leben. Diese sind jedoch keinesfalls einheitlich, sondern höchst heterogen. Die Stadtmauer als Sinnbild für feste Strukturen und Ordnung begrenzt einen Raum, in dem vielfältige Lebensentwürfe, Hoffnungen und Erwartungen aufeinander prallen. Diese Konstellation war die Keimzelle für das, was wir heute mit der bürgerlichen Freiheit bezeichnen, also die Vorstellung, dass jeder Person gewisse Rechte zustehen und sie zugleich gewissen Pflichten gerecht

werden muss. Die Entfaltung der bürgerlichen Werte in den modernen Städten hing eng mit der Schaffung gewisser Freiheiten zusammen. Wer jedoch diese Freiräume für sich beansprucht, muss sie auch anderen zugestehen. Der urbane Raum ist dazu verurteilt, Spannungen der Heterogenität auszuhalten, sie zuzulassen und die Vielfalt zu bejahen. Die grösste Gefahr für ihn lauert in der zu ausgeprägten Gemeinschaftlichkeit. Jene sich über die USA ausbreitenden Sun City-Altersghettos, in denen das Durchschnittsalter 75 Jahre beträgt und 98 Prozent der Bevölkerung aus einer weissen Oberschicht stammen, sind das Sinnbild für diese gegen die Urbanität gerichteten Entwicklungen. Nicht minder bedrohlich sind aber auch am Schreibtisch entworfene, besonders kinderfreundliche, durch siedlungsinterne Carsharing-Systeme ausgewiesen «nachhaltige» und auf smarte Jungfamilien zugeschnittene Wohnbezirke. Solche Entwicklungen halten die Spannungen der Vielfalt nicht aus, sondern umgehen sie. Die gesellschaftlichen Verhältnisse zwischen arm und reich, zwischen jung und alt, zwischen In- und Ausländern bleiben jedoch bestehen. Es ist die Leistung des urbanen Raumes, diese sinnlich wahrnehmbar und so auch gestaltbar zu machen.

Vielfalt oder Einfalt? Vielfalt ist keine Dienstleistung für die einzelne Person, um ihr Leben angenehm und unterhaltsam zu machen. Vielmehr ermöglicht sie erst die Freiheit, dem einzelnen Menschen Rechte und somit auch individuelle Gestaltungsfreiräume zuzugestehen. Die in unserer Stadt Einzug haltenden Verdrängungstendenzen von Kulturräumen, MigrantInnen und Menschen mit unkonventionellen Entwürfen des «guten Lebens» führen in eine Richtung, welche die Homogenität der städtischen Bevölkerung fördert und zur Segregation von Gemeinschaften führt. Gegen diesen Verrat an den bürgerlichen Werten, aus denen das Ideal einer urbanen Stadt gewachsen ist, gilt es vorzugehen. Wenn eine Stadt ihre Ordnung nur noch durch Polizeipräsenz und Videoüberwachung, durch Umgehung gefährlicher Räume und der Schaffung von homogenen und entmischten Stadtteilen aufrechterhalten kann, dann verliert sie ihre Urbanität und die Bevölkerung ihr Recht auf eine individuelle Gestaltung des guten Lebens. In diesem Sinne gilt es, die Baufläche an der Industriestrasse der Spekulation zu entziehen, ihn als gestaltbaren heterogenen Raum in der öffentlichen Hand zu bewahren und so Urbanität zu erhalten und neu zu schaffen. Martin Wyss, Organisator des Café philo Luzern, studiert im 5. Jahr Soziologie und Philosophie in Basel.

Wettbewerb: Mein Traumhaus Kinderzeichnungen gesucht – auch von grossen Kindern!

«Wo möchte ich wohnen?» Diese Frage beschäftigt Kinder noch auf eine ganz eigene Weise. Alle Möglichkeiten des Lebens und die Freiheiten der Phantasie stehen ihnen noch offen, und so wird aus manchem Traum- schnell mal ein Baumhaus. Mit Düsenjet auf dem Dach, versteht sich … Wir wollen mehr davon! Schicken Sie uns die Bilder Ihrer Kinder – und Ihre eigenen, wenn Sie auch noch den Traum von einem Haus, einer Stadt, einer Höhle oder einem Palast haben. Aus allen Einsendungen stellen wir im Herbst eine Ausstellung in der Industriestrasse 17 zusammen. Je Kategorie gibt es drei schöne Jurypreise und einen tollen Publikumspreis! Kategorie jung: 0 bis 15 Jahre Kategorie alt: 16 bis 107 Jahre Einsendeschluss ist der Abstimmungssonntag, 23. September. Bitte versehen Sie die Bilder mit Namen und Alter und senden Sie sie an: IG Industriestrasse Malwettbewerb Industriestrasse 17 6005 Luzern

Rösslimattquartier, Luzern, 1987, vor der grossen Überbauung durch die SUVA.

Foto: Jean-Pierre Grüter

Die Städtische Gasfabrik im Steghof Wo Gasfabrikarbeiter einst Schwerstarbeit verrichteten 1899 eröffnete die Stadt Luzern im Steghof, weit draussen vor den Toren der Stadt, am Stand­­­­­­­ort des heutigen ewl-Verwaltungsgebäudes ein nagelneues Gaswerk und beschäftige auf dem Höhepunkt der Stadtgasproduktion 55 Fabrikarbeiter. Nach dem Zweiten Weltkrieg ging es bergab mit dem Stadtgas. Heute finden sich nur noch wenige Hinweise auf das Werk. Fabian Hodel · «Luft, die brennt» – inflammable air – nannten die Briten das Gaslicht, und sie entdeckten es als Abfallprodukt bei der Verkokung von Kohle im 18. Jahrhundert. In Luzern brannten Gaslaternen erstmals am Sonntag 10. Oktober 1858 und die Luzerner Zeitung war des Lobes voll, als sie ein paar Tage später schrieb: «Man kennt die Stadt kaum mehr, wenn man jetzt nachts die hellen Gassen durchläuft, die früher so finster waren.» Tatsächlich war es zuvor bei Finsterheit in der Stadt wirklich dunkel und die paar Öllaternen waren bestenfalls Positionslichter, vermochten aber kaum Licht zu werfen. Das 1858 eröffnete Gaswerk stand im heutigen Vögeligärtli, war privat und entwickelte sich für deren Besitzer zur wahren Goldgrube, denn alle, auch Private in ihren Wohnhäusern wollten jetzt Gaslicht und das Geschäft lief hervorragend. Im letzten Betriebsjahr 1894 konnte der private Betreiber 18 Prozent Dividende ausschütten. Weniger hervorragend entwickelte sich die Stimmung zwischen der Stadt Luzern und den privaten Gaswerkbetreibern. Man stritt sich immer häufiger über Lärm, Gestank und viel zu hohe Gaspreise. Zweimal prozessierte die Stadt Luzern gegen die Gasfabrik und 1895 kam es zur Kommunalisierung. Die Stadt kaufte die Gasfabrik und machte das Gaswerk zu einem städtischen Betrieb.

Mehr Gas für die neue Stadt Inzwischen war Luzern in einer starken Wachstumsphase und expandierte gerade auch auf der Hirschmatt, dort, wo die Gasfabrik stand. Man suchte Bauland für eine neue Gasfabrik und fand sie im

Steghof hinter den Geleisen des neuen und weiter gefassten Gleisbogens, der seit 1896 zum neuen Bahnhof führte. Dort auf der grünen Wiese entstand nun für 1,05 Mio. Franken bis 1899 die neue Gasfabrik auf 22‘000 Quadratmetern Steghofland. Das ganze Bauprogramm umfasste die Kohleöfen, die Gasometer (Gasbehälter), die Installationswerkstätten mitsamt Lager, die Büros der Gasverwaltung, die Gaswaschanlagen, die Kohleaufbereitungsanlagen und natürlich den Netzausbau zur Lieferung ins städtische Gasnetz. Die Produktionskapazität war mit 15‘000 Kubikmetern Gas pro Tag drei Mal höher als im alten Gaswerk im Vögeligärtli, denn Gas wollte man künftig nicht nur zum Beleuchten, sondern auch zum Kochen und für die Fabriken in Kriens und Reussbühl verwenden. Die Stadt war mit dem neuen Gaswerk zur Grossarbeitgeberin und zur industriellen Unternehmerin geworden. Ziel war es, mit dem Gaswerk – wie übrigens auch mit dem Städtischen Wasserwerk und dem Elektrizitätswerk – Gewinne zu erzielen und damit die Steuern tief zu halten. Phasenweise gelang dies auch, wobei das Gaswerk im Vergleich zum EW nie zur grossen Geldkuh wurde.

Höhepunkt und Niedergang Dafür war wohl der Aufwand für die Produktion doch etwas zu gross. Über hundert Beschäftigte zählte das Städtische Gaswerk zu seinen besten Zeiten. 55 davon verrichteten im Drei-SchichtBetrieb harte körperliche Arbeit. Jahrein, jahraus Kohle schaufeln, Öfen beschicken und ausräumen, und dies zum Teil unter misslichen Bedingungen bei Hitze und mit ständigem Kohlstaub. Daneben arbeiteten über 20 Mann in den Installationsbetrieben und rund 30 auf der Verwaltung. Die Stadt bemühte sich, ein fairer Arbeitgeber zu sein, geriet aber gerade beim Gaswerk immer wieder in Teufels Küche zwischen den Anliegen und Forderungen der Gaswerkgewerkschaft und der Krisenanfälligkeit der Gaswirtschaft, besonders in Kriegszeiten. Kohleknappheit während der Kriege und die harte und erst noch stadteigene Konkurrenz durch das Elektrizitäts-

werk setzten der Unternehmensleitung hart zu. Nach 1945 zeichnete sich der langsame, aber stetige Niedergang der Stadtgasproduktion ab. Als Beleuchtungsund Kochenergie wurde Gas von Strom verdrängt und mit dem Öl drängte ein neuer Energieträger vehement auf den Markt. 1973 entschied die Stadt, die Versorgung auf Erdgas umzustellen und damit die Stadtgasproduktion aufzugeben. Damit wurde das Gaswerk Steghof überflüssig und 1975 stillgelegt und abgebrochen. An seiner Stelle steht heute das ewl-Verwaltungsgebäude. Von den drei ehemaligen Gasometern, den eigentlichen Wahrzeichen eines jeden Gaswerkes, ist in Luzern nichts mehr zu sehen. Fabian Hodel verfasste als Historiker die Geschichte der Städtischen Unternehmungen Strom-Gas-Wasser, unterrichtet in Luzern und wohnt in Stans/NW.


2012 ist das UNO-Jahr der Genossenschaften. Mit dem Motto «Mehr als wohnen. Die Genossenschaften» sind auch die Wohnbaugenossenschaften aktiv. Die Volksabstimmung über die Volksinitiative «für eine lebendige Industriestrasse» gibt Luzern eine spezielle Chance, das Motto politisch zu verwirklichen! Mit einem «Ja» lassen sich die Vorzüge genossenschaftlichen Wohnens und der Nutzen dieses Organisationsmodells umsetzen. Von Louis Schelbert

Auf der Höhe der Zeit Das Genossenschaftswesen hat in der Schweiz eine lange Tradition. Unser Land nennt sich «Eidgenossenschaft». Der Bund der alten Eidgenossen war ein Beistandspakt, mit dem man sich gegenseitige Hilfe zur Selbsthilfe versprach. Diese Tradition lebt in Zünften oder in Alpgenossenschaften weiter. Aber sie lebt auch fort in grossen schweizerischen Firmen in den Bereichen Bankwesen, Detailhandel oder Verkehr. Zahlreiche Unternehmen operieren mit Erfolg am Markt: Das Genossenschaftsmodell ist auf der Höhe der Zeit und es ist erfolgreich. Das ist gerade für Krisensituationen besonders bemerkenswert!

Hilfe zur Selbsthilfe Auch die Wohnbaugenossenschaften stehen in dieser Linie. In hohem Masse geht es auch hier um die Sicherung der wirtschaftlichen Interessen in gemeinsamer Selbsthilfe. Klar ist es auch GenossenschafterInnen nicht verboten, an sich zu denken: Wohnen ist ein Grundbedürfnis! Die Bundesverfassung sieht in Artikel 108 vor, dass der Bund den gemeinnützigen Wohnungsbau fördert. Dem entsprechen Wohnbaugenossenschaften in hohem Masse. Tatsächlich erschöpft sich ihr Sinn nicht im Bau eines Daches über dem Kopf. Sie verstehen sich als gemeinnützig und darum heisst es im Motto zum Uno-Jahr auch: «Mehr als wohnen».

Apropos Subventionen … In der Diskussion um Subventionen regiert der Egoismus. Manch Eigentümer neidet dem Gemeinnutz die verhältnismässig geringe Förderung. Marcel Budmiger · Gemeinnützige Wohnbauträger erhalten zu viele Subventionen – so der Vorwurf der Gegner der mittlerweile angenommenen Initiative «Für zahlbaren Wohnraum» und auch der Initiative «Ja zu einer lebendigen Industriestrasse». Von diesen Subventionen würden zudem auch nur ein paar wenige Bewohner in den Genossenschaftssiedlungen profitieren. Tatsächlich gab der Bund in den letzten vier Jahren 106,5 Mio. Franken zur Förderung des gemeinnützigen Wohnungsbaus aus – schliesslich hat er dazu einen verfassungsmässigen Auftrag, nach Artikel 108 der Bundesverfassung. In der gleichen Zeit wurde Wohneigentum mit 1’800 Mio. Franken (inkl. der Steuerausfälle) gefördert. Von letzterem profitieren nur noch die Besitzer, während mehr gemeinnützige Wohnungen allgemein mietzinsdämpfend wirken. Statt günstigem Wohnraum werden Hausund Wohnungsbesitzer gefördert. Über weitere solche Subventionen stimmen wir am 23. September ab – nach den beiden Bausparinitiativen nun schon zum dritten Mal in diesem Jahr. Während weitere Steuererleichterungen für Eigentümer jeweils abgelehnt wurden, sagte nicht nur die Luzerner Stimmbevölkerung jedes Mal JA zur Förderung zahlbaren Wohnraums.

106.5 Mio Franken Förderung des gemeinnützigen Wohnungsbaus in den Jahren 2008 bis 2011

Wohnbaugenossenschaften – Der dritte Weg zwischen Miete und Eigentum

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1800 Mio Franken Förderung des Wohneigntums (inkl. Steuerausfälle) in den Jahren 2008 bis 2011

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5 «Was hat das noch mit Gemeinnützigkeit zu tun?» Diese kritische Frage ist immer wieder zu hören, wenn die Mietzinsen der Neubauwohnungen von Wohnbaugenossenschaften publik werden, wie letzthin jene der neuen Wohnungen der Allgemeinen Baugenossenschaft Luzern (ABL) im Weinbergli.

generell verzichtet wird, sondern die Kostenmiete zur Anwendung kommt. Kostenmiete bedeutet, dass die Wohnungen grundsätzlich zu den Selbstkosten vermietet werden, die da sind: Zinsen für das investierte Fremdkapital, bescheidene Verzinsung des Eigenkapitals (Anteilscheine), Amortisationen, laufender Unterhalt und Einlagen in den Unterhaltsfonds sowie Verwaltungskosten. Dass dieses Mietzinsmodell, das für das Prädikat «Gemeinnützige Wohnbaugenossenschaft» Voraussetzung ist, schliesslich zu Mietkosten führt, die mindestens 20 Prozent unter jenen des so genannten freien Wohnungsmarktes liegen, lässt sich beispielsweise mit der ABL-Mietzinsstatistik 2011 (nachlesbar im Geschäftsbericht) nachweisen. Obwohl diese Statistik auch 250 Wohnungen enthält, die erst in den vergangenen zwanzig Jahren erstellt wurden, beträgt der durchschnittliche Nettomietzins der ABL für eine 3- oder 3 ½-ZimmerWohnung CHF 925 und für eine 4- oder 4½-Zimmer-Wohnung CHF 1‘170. Mit ähnlichen Zahlen könnten auch andere langjährige Wohnbaugenossenschaften aufwarten. Bei einer ganzheitlichen Betrachtungsweise lässt sich also die Gemeinnützigkeit von Wohnbaugenossenschaften auch dann nicht bestreiten, wenn sich die Anfangsmieten ihrer Neubauwohnungen kaum von jenen anderer Anbieter unterscheiden.

Werner Schnieper · Die Frage lässt sich nicht einfach mit Ja oder Nein beantworten, sondern bedarf einiger Erläuterungen. Es ist vorerst darauf hinzuweisen, dass gemeinnützige Wohnbauträger mit den gleichen Kostenfaktoren (Baulandpreise, Dienstleistungen der Bauwirtschaft, Hypothekarzinsen usw.) konfrontiert sind wie andere Investoren. Zudem legen Wohnbaugenossenschaften in der Regel Wert auf eine Bauweise, die eine lange Lebensdauer der Wohnhäuser verspricht und einen möglichst geringen Energieverbrauch verursacht (Minergiestandard). Schliesslich ist auch den heutigen Ansprüchen der Mieterschaft Rechnung zu tragen, ohne jedoch luxuriös zu werden. Trotzdem entwickeln sich die Mieten von genossenschaftlichen Neubauwohnungen mittelfristig in Richtung Preisgünstigkeit, weil auf Gewinnstreben (zum Beispiel Anpassung der Mietzin- Werner Schnieper war von 2000 bis 2006 sen an die Quartierüblichkeit, bei Mie- Präsident der ABL Allgemeinen Baugeterwechsel, an die gestiegene Nachfrage) nossenschaft Luzern.

Feier zum zwanzigjährigen Bestehen der 1924 gegründeten ABL Allgemeinen Baugenossenschaft Luzern im Kunsthaus, mit Genossenschaftskindern aus allen Siedlungen. Quelle:ABL

Mehr als wohnen Dabei geht es um nicht-wirtschaftliche Leistungen. Dazu gehören Dienstleistungen, gemeinsame Aktivitäten, Nachbarschaftshilfe. Die Mitglieder der Genossenschaften bestimmen mit über ihr gemeinsames Eigentum, sie schauen beim Bauen auf gute planerische und architektonische Lösungen, sie sind interessiert am kontinuierlichen Unterhalt und an der Weiterung der Wohnqualität. Sie achten auf eine gesunde Wohn- und Lebensqualität in ihren Siedlungen. Die Mitglieder fördern und begleiten einander in der Selbsthilfe und im nachbarschaftlichen Zusammenleben. Wohnbaugenossenschaften haben also auch Ideale und es ist imponierend zu sehen, in wie vielen Siedlungen das auch gelebt wird. Nicht zuletzt ist festzuhalten, dass dem Staat damit eine Reihe von Aufgaben abgenommen oder leichter gemacht werden.

Gemeinnützig sein Genossenschaften heissen vor allem «gemeinnützig», weil sie nicht gewinnstrebig sind. Das heisst: Genossenschaftsräte dürfen keine erfolgsabhängigen Honorare beziehen und die Dividende auf die Anteilsscheine muss bescheiden sein. Wichtig ist im weiteren, dass die Mieten nicht den Gesetzen einer möglichst hohen Rendite und schnellen Gewinnen folgen. Die Genossenschaften erheben deshalb eine sogenannte Kostenmiete. Diese muss die laufenden Kosten und den erforderlichen Unterhalt abdecken, darf aber auch die Bildung einer Reserve ermöglichen.

Chancen nutzen Trotzdem muss es natürlich möglich sein, Neues anzupacken. Die engen Finanzen und neue Projekte zusammenzubringen, ist eine anspruchsvolle Aufgabe. Deshalb haben sich die Wohnbaugenossenschaften in Verbänden zusammengeschlossen. Damit lässt sich auf den Ebenen Bund, Kantone und Gemeinden arbeiten. Der Verband ist das Instrument, das die Weiterentwicklung des Gemeinnützigen Wohnungsbaus auf allen diesen Ebenen erlaubt. Das ist auch nötig: Viele Behörden und Bauverantwortliche in den Gemeinden sind noch zu wenig über die Fördermöglichkeiten informiert. Das gilt auch für die Stadt Luzern. Da gibt es noch viel Arbeit, lohnende Arbeit! Die Annahme der Volksinitiative «für zahlbaren Wohnraum» im Juni dieses Jahres zeigt die Richtung auf. An der Industriestrasse bietet sich die erste Chance: Sie gilt es zu nutzen. Louis Schelbert ist Nationalrat der Grünen und Präsident der Wohnbaugenossenschaften Schweiz.

Das überparteiliche Komitee Engagieren Sie sich! Werden Sie jetzt Mitglied Die Volksinitiative «Ja zu einer lebendigen Industriestrasse» fordert, dass das Areal der Gebäude Industriestrasse 9 bis 17 im Baurecht an gemeinnützige Wohnbauträger abgegeben wird, zur Erstellung von zahlbarem Wohn- und Gewerberaum. Die Initiative kommt am 23. September 2012 zusammen mit dem Verkaufsgeschäft zur Volksabstimmung. Im Juli gründete sich zur Unterstützung das überparteiliche Komitee «Zahlbarer Wohnraum statt Landverkauf». Es wird bereits durch den

Luzerner Mieterinnen- und Mieterverband, die SP, Juso und Junge Grüne unterstützt, sowie von zahlreichen Anwohnern, Privatpersonen aus ganz Luzern und Prominenten. Dabei sind unter anderem: Toni Muheim, alt Regierungsrat der SP, Louis Schelbert, Nationalrat der Grünen und Präsident der Wohnbaugenossenschaften Schweiz, sowie Theres Vinatzer, die amtierende Vize-Präsidentin des Grossen Stadtrates und ab dem 6. September höchste Luzernerin.

Die Übergabe der Unterschriften am 21. Mai 2012.

Foto: Gabriel Ammon

Wir laden Sie ein, die Initiative zu unterstützen und dem Komitee beizutreten. Am einfachsten können Sie dies über unsere Webseite tun, wo Sie ein einfaches Formular ausfüllen können: www.luzerngewinnt.ch/support-us Mit dem Q-Code rechts neben der Überschrift gelangen Sie mit Ihrem Handy direkt auf unsere Seite mit allen Informationen zur Initiative. Es gibt viele Möglichkeiten, uns zu unterstützen. Aber auch Spenden für unseren Abstimmungskampf sind stets herzlich willkommen. Besten Dank! Postkonto IG Industriestrasse Konto Nr. 60-490988-8 IBAN: CH49 0900 0000 6049 0988 8 Zur Produktion von Informationsmaterialien benötigen wir finanzielle Mittel. Wir haben uns vorgenommen, dabei zugleich effektiv und unterhaltsam vorzugehen, unter anderem mit vorliegendem Extrablatt. Es soll die in Luzern vorhandene Informationssituation ergänzen und nahe beieinanderliegende Themen so miteinander verbinden, wie es in der Tagespresse nicht geschehen kann. Am 5. September erscheint die zweite (und vorerst leider letzte) Ausgabe des Extrablatts, mit zahlreichen weiteren Artikeln vor allem zu den Möglichkeiten, zahlbar und lebenswert in Luzern zu wohnen. Wir freuen uns über Ihre Meinung und Anregung. Dabei bitten wir freundlichst darum, zu bedenken, dass wir keine professionellen «Zeitungsmacher» sind und «in the heat of the night» verschiedene Fehler überleben konnten. Wir freuen uns auf Ihre Nachsichtigkeit! Nach Möglichkeit werden wir eine Auswahl der Rückmeldungen veröffentlichen, wenn diese bis zum 31. August bei uns eingegangen sind. Bitte schreiben Sie uns per Mail an die Adresse redaktion@luzerngewinnt.ch oder per Post an die IG Industriestrasse, Industriestrasse 17, 6005 Luzern


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Leere Räume wollen belebt werden Zwischennutzungen: eine urbane Notwendigkeit Immer wieder werden Gebäude geräumt und stehen über Jahre leer. Die Substanz leidet ebenso wie die Stimmung im Quartier, obwohl soziale und kulturelle Einrichtungen dringend Räume benötigen. Es geht jedoch nicht darum, die Zwischennutzer auszunutzen.

von Patrick Bonato

David Roth · Eigentlich würde das Haus das Prädikat «untauglich» verdienen: Schräge Böden, Fenster wie ein Treibhaus, ringsherum gekachelte Wände, eine schwer kontrollierbare Heizung, horrende Nebenkosten, kaum eine Steckdosen, eine aus feuerpolizeilicher Sicht untragbare Situation – und keine Person, die sinnvoll Auskunft geben kann. Und trotzdem feierten sich der Stadtrat und die Kulturchefin, als sie im März verkündeten, dass das Hallenbad einer Zwischennutzung zur Verfügung gestellt werde. Der damalige Baudirektor Kurt Bieder liess verlauten: «Wir wünschen uns einen Mix aus verschiedenen Akteuren der Kreativwirtschaft, Start-up-Unternehmen, Ateliers für Jungdesigner, Theaterleute, Fotografen, Werkräume für Kunsthandwerker und Filmschaffende, Studios für Training und Unterricht.» Dass das Gebäude über weniger brauchbare Räume verfügt, als er Nutzungen aufzählte, verschwieg er. Und als ob er eigentlich nur auf das Scheitern des Projektes warten würde, fügte er im Radio hinzu, jetzt könne sich die Alternativkultur ja mal beweisen und zeigen, dass man wirklich Räume benötige. Um so beeindruckender ist es, dass sich innert kürzester Zeit so viele Leute zusammengefunden haben, um aus dieser Krücke von einem Gebäude

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das Bestmöglichste herauszuholen. Noch ist unklar, wie das Projekt aussieht und ob es durchführbar ist, aber die Ausschreibung der Stadt Luzern hat vor allem eines gezeigt: Der Bedarf nach Räumen ist riesig. Nach dem Abriss der Frigorex und der Schliessung der Boa, aber auch durch eine immer grösser werdende Anzahl Kunst- und Kulturschaffender sind die Nischen rar geworden. Zwischennutzungen sind keine Gnadenakte einer Behörde, sondern eine urbane Notwendigkeit. Es ist schlicht unverantwortlich, wenn in einer Stadt, die immer mehr verdichtet werden soll, nutzbare Räume über Jahre leer stehen. Und was für städtische Gebäude richtig ist, gilt genauso für private. Auch diese sollen zu Selbstkosten für Zwischennutzungen zur Verfügung gestellt werden, wie es eine Initiative der JUSO fordert. Damit wären aber erst die Rahmenbedingungen geschaffen. Ändern muss sich vor allem auch die Denkweise. Die Stadtbehörden müssen endlich lernen, dass die Arbeit von Leuten, die auf Zwischennutzungen angewiesen sind, nicht lediglich dazu da ist, Gebiete aufzuwerten und ein bisschen zu beleben. Dass es nicht bloss darum geht, ein Gebäude vor dem Zerfall zu retten. Sondern dass dieses Engagement und der kaum messbare Einsatz an Arbeitskraft und Material einen Wert in sich haben – sowohl kultureller, wirtschaftlicher, als auch gesellschaftlicher Natur. Diese Faktoren sind ein Teil einer lebenswerten Stadt und deshalb macht es auch nichts, wenn sie, wie beispielsweise die Schüür, gelegentlich mal dauerhaft werden. David Roth ist Präsident der JUSO Schweiz.

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Foto: Jakob Ineichen

Ein Freiraum auf Zeit Wie sicher ist die Schüür? Gleich hinter der Langensandbrücke, dem Tor zum Tribschenquartier, liegt an einem für die Stadtplanung neuralgischen Punkt das Konzerthaus Schüür, über dem seit jeher ein Damoklesschwert hängt. Wir sprachen mit Thomas Gisler, dem Programm- und Geschäftsleiter der Schüür. Die Schüür startete vor 20 Jahren als Zwischennutzung, bis der Südzubringer gebaut wird. Wie lebt es sich in einem dauerhaften Provisorium? Voraus: Ich arbeite seit zehn Jahren in der Schüür. Für mich ist der Zustand Normalzustand. Ich hatte eigentlich nie Angst, dass sich daran was ändern könnte. Da Kultur eh nicht über mehrere Jahre planbar ist, arbeiten wir grundsätzlich im Hier und Jetzt, mit einem Horizont von etwa zwölf Monaten.

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Ist der Fortbestand der Schüür mittlerweile gesichert? Der Fortbestand ist zumindest bis zum Jahr 2017 gesichert. So lange läuft der Gebrauchsleihvertrag mit der Stadt Luzern. Wir sind aber in engem Kontakt mit den zuständigen Stellen, damit es nicht doch plötzlich eine Überraschung gibt … Im Tribschenquartier verschwanden einige Kulturhäuser (Wärchhof, Boa, Frigorex). Warum gibt es die Schüür noch? Das Schüür-Grundstück war bis vor wenigen Jahren nicht im Besitz der Stadt Luzern, sondern enteignetes Land. Sprich: Es durfte nur für das benutzt werden, für das es enteignet worden war. Der Grund war und ist der Südzubringer. Man durfte also nur eine Strasse bauen, sozusagen. Jetzt gehört das Land der Stadt. Der Südzubringer ist jedoch immer noch aktuell. Ob er jemals kommt, ist eine andere Frage … Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit aus einer Zwischennutzung etwas Langfristiges entstehen kann? Wenn das so einfach zu beantworten wäre, würden in Luzern noch ein paar Kulturbetriebe mehr stehen! Zu einem grossen Teil hat man es nicht in der eigenen Hand. Hilfreich ist sicherlich ein guter Kontakt zu den Behörden. Man muss sich aber auch bewusst sein, dass in dem Kulturbereich, in welchem wir uns bewegen – ich sag jetzt mal: in dem der Alternativkultur –, nichts für immer ist. Das war nie so und das wird nie so sein. Und irgendwie ist das auch gut so. Nur so kann neues entstehen. Und das ist das Wichtigste in der Kultur. Die Rahmenbedingungen, die dafür nötig sind, stehen allerdings auf einem anderen Blatt …


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Viel Lärm um das Kulturgeräusch Wo gehobelt wird, da fallen Späne In Luzern gehören die Diskussionen um sogenannten Lärm schon zur Heimatmusik. Darf Kultur zu hören sein – oder besser: Welche Kultur darf zu hören sein? Darf überhaupt irgend etwas ausser der Hochkultur Emissionen erzeugen und Immissionen in die Umgebung bringen? Und hat derjenige, der sich freiwillig in Kulturnähe begibt, eine Duldungspflicht?

Uferlos und Privé. Das Erwartete, doch Unverständliche trat ein: Das (bürgerliche) Parlament folgte dem Stadtrat und lehnte das Postulat ab. Entstanden war der Vorstoss, nachdem die Stadt Luzern und die Emmi für das Emmi-Areal in der Tribschen einen Vertrag ausgearbeitet hatten. Demnach müssten diese beiden Parteien – respektive für die Emmi die künftige Stockwerkeigentümerschaft – bei unzumutbaren Lärmemissionen des Treibhauses und/ oder des Spielleutepavillons je 250‘000 Franken an Lärmschutzmassnahmen zahlen. Was die Stadt als kreativen Kompromiss bejubelt, ist schon eher ein Biss in den sauren Apfel. Wer sich an einem exponierten Standort niederlässt, sollte sich bewusst sein, welche Immissionen bereits bestehende Institutionen verursachen. Die Lösung kann doch nicht darin liegen, (unvermeidbar) lärmverursachende Lokalitäten abzuschirmen, damit die Anwohner ungestört daneben hausen können. Und dies auf Kosten der Allgemeinheit! Leider hat es der Grosse Stadtrat verpasst, eine proaktive Lösung für das Gebiet Industriestrasse/Steghof aufzugleisen und dabei auch zukünftige finanzielle Verpflichtungen für die Stadt zu vermeiden. Es bleibt zu hoffen, dass die zukünftigen Nutzer des neuen Quartiers so tolerant und offen sind, wie man es von Zentrumsbewohnern erwarten darf.

Melanie Setz · Das sogenannte «BoaDebakel» dürfte den kulturinteressierten Luzernerinnen und Luzernern noch ein schmerzlicher Begriff sein. Das etablierte Kultur- und Konzerthaus musste nach jahrelangen ImmissionsStreitigkeiten mit den Anwohnern Ende 2007 seine Türen schliessen. Ein herber Rückschlag für Luzern, insbesondere für die Alternativkultur. Streitigkeiten um die Auswirkungen von Freizeit- und Ausgangslokalitäten auf die Nachbarschaft sind ein stets wiederkehrendes Thema und es ist bedauerlich, wenn die verschiedenen Anspruchsgruppen keinen Kompromiss finden können. Um solche Konflikte im Keim zu ersticken, forderte die SP/Juso-Fraktion zusammen mit der Fraktion der Grünen und Jungen Grünen bereits im vergangenen Frühjahr mit einem Postulat für das Gelände Industriestrasse eine im Grundbuch eingetragene Duldungspflicht für die bereits bestehenden Institutionen Melanie Setz ist Grossstadträtin und und Lokalitäten Gassechuchi, Bar 59, Mitglied der SP/Juso-Fraktion.

Foto: Patrick Blank

Es war einmal … in der Boa: Der Illustrator Werner Kiechler (1956–1996), der ab Mitte der 80er Jahre in der Industriestrasse 17 wohnte, zeichnete hier das legendäre Videofestival «Viper», das ebenfalls schon lange der Vergangenheit angehört.

Klein und strahlend: Eine Perle der Stadt Das kurze Leben des Kulturzentrums Boa Die Boa war ein internationales Aushängeschild für die Kompetenz des freien kulturellen Lebens in Luzern. Auch ihr Ende setzte ein Zeichen. Stefan Welzel · Vor fünf Jahren schloss mit dem Kulturzentrum Boa eines der vielseitigsten und spannendsten Kulturbetriebe der Zentralschweiz seine Türen. Das Haus und seine Macher schauten damals auf eine sehr kurze und bewegte Geschichte zurück. 1994 stimmte die Bevölkerung der Stadt Luzern für den sogenannten Kulturkompromiss. Bürgerliche Parteien und Wähler wussten um die Wichtigkeit linken Zuspruchs für den Millionenkredit zugunsten des neu zu bauenden Kultur- und Kongresszentrums Luzern (KKL Luzern). Als «Gegenleistung» sollte auch die alternative Kultur nicht zu kurz kommen, so handelten es linke Kulturschaffende und Parteien aus. Infolgedessen wurde die Ende der 80er Jahre besetzte und danach von diversen Kulturschaffenden (so auch von der freien Theaterszene) als Veranstaltungsort genutzte Schlauchfabrik Boa saniert. Auch die Existenz des Konzerthauses Schüür sollte auf lange Zeit hinaus gesichert werden. Nur rund zwei Jahre später öffnete die «neue Boa» ihre Tore. Es sollten nur wenige ruhige und sorgenfreie Jahre für das Kulturzentrum folgen. Aber was für welche! The Young Gods, Zinoba, Coco Rosie, Galexico, Lambchop … Die Liste prominenter und anspruchsvoller Bands,

die in den letzten Jahren des Kulturzentrums Boa (1988–2007) einen Zwischenhalt in Luzern einlegten, lässt sich noch ausgiebig verlängern. Dank eines beständigen, auf guten internationalen Kontakten aufbauenden Programms lockte die Boa viele aufstrebende oder schon etablierte Musikschaffende und deren Fans in den nur 600 Gäste fassenden Konzertsaal des Hauses. Es war gerade die persönliche, entspannte und unverkrampfte Atmosphäre, die insbesondere auch den Künstlern ein unvergessliches Erlebnis bescherte. Dementsprechend positive Rückmeldungen von Bands, ihren Agenturen, aber auch Berichte in den Medien und das gute Image von Luzern in der landesweiten und internationalen Musikszene legten Zeugnis davon ab, wie aussergewöhnlich gut in dem alternativen Kulturzentrum gearbeitet wurde. Es waren aber auch die Abende mit den kleinen und unbekannten Bands, den Theateraufführungen und Discos, die den vielen Stammgästen in bester Erinnerung geblieben sind. Die Boa war ein zu Hause für zahlreiche Kultur- und Ausgangsinteressierte, aber auch eine Plattform der gesellschaftskritischen und politischen Auseinandersetzung und somit in der Tat ein Mehrspartenhaus – «organisch» mit und in der Stadt Luzern gewachsen. Dass rosigen Zukunftsaussichten Mitte der 90er Jahre ein rasches und bitteres Ende im Jahre 2007 folgte, konnte

man schon zu Beginn des neuen Jahrtausends erahnen. Es sollte einen unwiederbringlichen Verlust für Luzerns Kulturlandschaft darstellen. 1999 wurde im Stadtparlament beschlossen, das an die Boa angrenzende Industrieareal in eine Geschäfts- und Wohnzone zu verwandeln. Die Folgen waren zunehmende nachbarschaftliche Streitigkeiten sowie verstärkter politischer und rechtlicher Druck. Boa-interne Dissonanzen verschärften die Problematik zusätzlich. Trotzdem bürgte das Haus bis zu seinem Ende für ein hochstehendes Kulturprogramm, das ein breites, an alternativer Kultur interessiertes Publikum anzusprechen vermochte. 2003 wurde eine weitere Sanierung der Boa (verbesserte Schallisolierung) an der Urne verworfen. 2006 folgte bereits die Abstimmung über den Kulturwerkplatz Luzern-Süd (Südpol), der die Boa offiziell ersetzen sollte. Im November 2007 fanden in der ehemaligen Schlauchfabrik die letzten Konzerte statt – seitdem nutzt die Post die Lokalität als Briefzentrum. Die kleine, aber hell strahlende Perle Boa ist nicht mehr. Die Szene trauert bis heute und hofft darauf, dass sich ähnliche kulturpolitische Fehler, wie sie im Falle der Boa gemacht wurden, nicht wiederholen – oder dass sie vom Stimmvolk verhindert werden. Stefan Welzel studierte Geschichte und Theaterwissenschaften in Luzern und Bern, Redakteur der «Prager Zeitung».

Erfolgsmodell Progr

Zürich: Die hohe Schule des Häuserkampfs

Die Berner haben rechtzeitig verstanden

In der teuren Stadt hat man zu verhandeln gelernt

Nur Minuten vom Bahnhof entfernt steht in Bern der «Progr». Ein hundertjähriger Bau, gross und mächtig. Früher unter anderem ein Gymnasium, ab 2004 provisorisch, seit 2009 definitiv ein Ort der Begegnung und der Kulturproduktion. Dies, nachdem sich die Berner Stimmbürger gegen ein Projekt der Allreal für ein Gesundheitszentrum entschieden hatten. Marlon Heinrich · Für Susanne Amman, die administrative Leiterin des Progr «mit Drehscheibenfunktion», ist ziemlich klar, weshalb sich die Bernerinnen und Berner für die kulturelle Nutzung des Progr entschieden haben. Generationen seien im Progr zur Schule gegangen, würden den Progr mit guten Erinnerungen verbinden, und deshalb sei es ihnen bei dieser Abstimmung nicht egal gewesen, was mit dem Bau geschehe. Vielen sei sogar bewusst gewesen, dass der Progr «tot» gewesen wäre, wenn dort ein Gesundheitszentrum entstanden wäre. Oder anders gesagt: Viele befürchteten, in Zukunft vor dem Schulhaus ihrer Jugend vor verschlossenen Türen zu stehen, wenn sie es betreten wollten. Heute ist der Progr alles andere als ein totes Gebäude. Er lebt, und wie. Sogar mitten im August, mitten an einem heissen Sommertag, an dem man die ganze Welt an einem See oder einem Fluss vermutet. Im lauschigen Innenhof hat es eine Bar und unter einem Zirkuszelt eine Bühne für Veranstaltungen.

Unter Sonnenschirmen nippen zahlreiche Gäste an Gläsern, trinken Kaffee, plaudern angeregt. Man möchte ewig hierbleiben, mindestens aber die Zeit anhalten – so schön ist die Stimmung. In den weiten Gängen des Progr herrscht viel Verkehr: Leute tragen Papier oder Werkzeug unter dem Arm, sie sind «businesslike» gekleidet, tragen Kleider wie du und ich oder einen Overall mit bunten Farbklecksen. Vermutlich sind sie auf dem Weg zu einem der zahlreichen Ateliers, um zu arbeiten. Seit kurzem wird im Progr gebaut. Die so genannte «Turnhalle», ein rege benützter Szenetreffpunkt, erhält ein neues Outfit. Für Susanne Ammann ein wichtiger Umbau, ebenso wichtig wie weitere bauliche Massnahmen. Denn durch diese soll der Progr für Besucherinnen und Besucher noch offener, noch mehr zum Begegnungszentrum werden. Das trägt viel zu seiner Attraktivität bei, und ein lebendiger Progr wertet nicht nur das sonst eher nüchterne Quartier auf, sondern das ganze kulturelle Leben von Bern – davon ist Susanne Amman überzeugt. Diese Attraktivität haben auch Banker aus der nahen Büroumgebung entdeckt, die man nicht als gängige Progr-Klientel vermuten würde: Viele von ihnen lunchen am Mittag im Innenhof und, so hört man sagen, fühlen sich dabei pudelwohl. Marlon Heinrich gehörte zur ersten Betriebsgruppe der Boa. Heute ist er Journalist, Redaktor, Autor und Öffentlichkeitsarbeiter für Non-Profit-Organisationen.

Zürich bietet eine Vielfalt prominenter Beispiele für alternative, bezahlbare Wohnprojekte. Eine Insiderin berichtet. Franziska Koch · Von 1989 bis 1994 lebte ich an der Industriestrasse 9. Der dortige Freiraum prägt mein Schaffen bis heute. Durch die günstige Miete konnte ich mich ganz der Musik und Kultur widmen. Die interdisziplinären Arbeiten waren 2004 für die Anstellung als Dozentin an der Zürcher Hochschule der Künste entscheidend. Inzwischen leite ich zusammen mit Elke Bippus die Abteilung «Bildende Kunst». Aber ich bin auch an dieser Schule, weil ich gerne mit Leuten zusammenarbeite. Für Netzwerke ist ein Ort wie die Industriestrasse perfekt: Hier stationieren seit 1978 über kurz oder lang Menschen aus verschiedensten Disziplinen. Sie bilden immer neue Atmosphären für kulturelle Aktivitäten. Für mich gibt es weder Subkultur noch etablierte Kultur, sondern einfach Kultur. Ein Prozent der KünstlerInnen schafft es in den internationalen Kunstolymp. Die meisten anderen leisten ihren grossen Beitrag an die Gesellschaft und an die Geisteswelt der Gegenwart unter prekären Bedingungen. Nebst der Kultur interessieren mich auch andere Lebensformen. Diese sehe ich in Wohnbaugenossenschaften. Anders als viele Investorenprojekte sind sie langfristig ausgerichtet. Denn sie werden von Menschen ausgestaltet, die in den Gebäuden leben und arbeiten wollen. Von der Industriestrasse bin

ich mit meinem damaligen Partner und zwei Babys nach Zürich-Hottingen gezogen, in die wohl teuerste Wohnzone der wohl teuersten Stadt der Welt. An der Plattenstrasse 64 fanden wir eine ideale Wohnform in einer Hausgemeinschaft, in einem Haus aus der Jahrhundertwende, das der Stadt gehört. Es war von vielen Kulturschaffenden bewohnt. Kurz darauf erhielten wir die fristlose Kündigung. Aus der prekären Situation heraus starteten wir einen juristischpolitischen Häuserkampf mit der Stadt. Wir erreichten Halbjahresverträge, fristlose Kündigungen, neue Halbjahresverträge. Gleichzeitig wurden einige BewohnerInnen von derselben Stadt mit Kunstpreisen ausgezeichnet. Die Wende kam mit der Gründung unserer Genossenschaft 64. Wir machten einen Quartieraufruf und luden die wohlhabenden Nachbarn zu einem «Tag der offenen Tür» ein. Viele kamen und einige wurden sogar Genossenschafter. Unter den Besuchern befand sich auch der damalige Stadtpräsident. Nach dem Event bekamen wir einen Zehnjahresvertrag.

Modelle mit Zukunft Heute hat die Stadt Zürich das politische Legislaturziel, möglichst viele Wohnbaugenossenschaften zu erhalten, zu fördern und zu etablieren. Parallel zur konventionellen Verdichtung schafft man Raum für alternative Wohnformen: Bei der Kalkbreite entsteht ein riesiges Ökoprojekt. Die «Genossenschaft Kalkbreite», ein Verbund aus Genossenschaften und Quartierbewohnern, hat

das 6’350 m2 grosse Areal im Baurecht von der Stadt Zürich übernommen. Zur urbanen Architektur gehört eine 2’500 m2 grosse Terrasse über den Geleisen, die Bewohnern wie Passanten als grüner Erholungsraum dient. Familien- und Wohngemeinschaften, Etagencluster wie Kleinstwohnungen, einen Grosshaushalt: Rund 230 Menschen werden hier ihre adäquate Lebensform finden. Daneben bleibt genügend Raum fürs Gewerbe. Wie es wohl mit dem Projekt «Binz bleibt Binz» weiter geht? Seit 2006 wird an der Üetlibergstrasse 111/111a die gut organisierte Besetzerszene geduldet. In dem einstigen Fabrikareal leben 50 Menschen. Mehrere hundert Personen nutzen den Ort als Musik- und Theaterproberaum. Eigentümerin ist hier der Kanton Zürich. Auch wenn mir der Erwerb im Baurecht an der Plattenstrasse 64 lieber gewesen wäre: Jetzt gerade sind wir mit der Stadt wieder in Verhandlungen über einen neuen Zehnjahresvertrag. Der ursprüngliche Kampf scheint sich für alle Parteien gelohnt zu haben. Franziska Koch ist Künstlerin, Musikerin, Dozentin und Leiterin Bildende Kunst an der Zürcher Hochschule der Künste ZHdK.


EXTRA BLATT

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Nr. 1 / August 2012

Die Rentner sitzen im gleichen Boot

Impressum

Extrablatt ist eine Zeitschrift der Initiative «Ja zu einer lebendigen Industriestrasse» zur Abstimmung am 23. 9. 2012. Extrablatt Nr. 2 erscheint Anfang September 2012.

Wohnungsnot ist kein Jugendphänomen Die städtische Pensionskasse saniert ihre Liegenschaften an der Tribschenstrasse 15/17 und an der Werkhofstrasse 20/22. Rund 100 vorwiegend ältere Mieter müssen im Jahr 2013 ihre Bündel packen und eine neue Wohngelegenheit suchen.

Aus der Wohnung saniert Von ihrem Balkon aus sieht Heidy Villiger nicht nur das Berg-Panorama, sondern hat auch den Blick auf die grosse Gartenterrasse. Dort stehen Spielgeräte der Kinderkrippe herum, die auch hier beheimatet ist. Seitlich des Eingangs hat es Tische und Stühle. Diese Sitzecke war bei den älteren Ladies sehr beliebt, um einen Jass zu klopfen. Man kennt sich hier im Gebäude, ist tolerant und hilfsbereit: Alt und Jung unter einem Dach, generationenübergreifendes Wohnen und Leben. Genau das, was vom Stadtrat gerne propagiert wird, findet hier statt. «Dass ausgerechnet die städtische Pensionskasse jetzt dieses gut funktionierende Soziotop zerstört, macht mich unglaublich wütend», sagt Heidy

Die Artikel geben die Meinung der jeweiligen AutorInnen wieder. © der Texte und Bilder bei den AutorInnen, FotografInnen und IllustratorInnen. Nachdruck nur mit ausdrücklicher Genehmigung. © IG Industriestrasse, Luzern 2012 Druck: Ropress Genossenschaft, Zürich (www.ropress.ch) Auch diese Herrschaften wohnen derzeit noch in der Industriestrasse: Das Haus Nr. 17 beherbergt unter anderem Ateliers für Trickfilmproduktionen und lässt dort die Puppen tanzen. Foto: Patrick Blank Villiger und spricht damit vielen Betroffenen aus dem Herzen. Man investiere für die Zukunft und die bisherigen Mieten seien alles andere als kostendeckend, sagte Mathias Müller, Leiter Immobilien der PK gegenüber der Luzerner Zeitung. Die bisherigen Mietenden hätten zudem ein Vorrecht, wenn sie zurückkehren wollen (sofern ihre finanziellen Möglichkeiten das denn erlauben) und das bisherige Angebot eines betreuten «Wohnen im Alter» solle auch im sanierten Centralpark weitergeführt werden. Damit dies auch Leuten mit geringerem Einkommen möglich ist, könnte gemäss Stadtrat auf die AHIZ (finanzielle Zusatzleistung der Stadt zur AHV) zurückgegriffen werden. Blöd nur, dass genau diese AHIZ im Rahmen des städtischen Sparpakets dieses Jahr um 50 Prozent auf 500 000 Franken gekürzt wurde. Auf diesen Haken machte die grüne Grossstadträtin Stefanie Wyss aufmerksam, die zusammen mit Monika Senn Berger namens der Grünen/Jungen Grünen die dringliche Interpellation «Alterswohnungen der städtischen Pensionskasse» eingereicht hatte. Der Einsatz der beiden Politikerinnen wurde von den Bewohnerinnen und Bewohnern enorm geschätzt. «Unterstützung gab es auch von der Pro Senectute. Sie hat einigen geholfen, eine Lösung

zu suchen», sagt Heidy Villiger. Zurück in den sanierten Centralpark wird nur eine Minderheit der Betroffenen gehen. Einige der Senioren ziehen notgedrungen in ein Betagtenheim, bei anderen steht der Entscheid noch offen und wer Glück hatte, fand einen Ersatz. Dazu gehört auch die vife Heidy Villiger, die über Internet eine Wohnung suchte und fand. «Im September ziehe ich ins kleinere der neuen Allmend-Hochhäuser. Meine nigelnagelneue Zweieinhalb-Zimmer Wohnung mit Balkon, eigener Waschmaschine und Tumbler kostet dort nur 1‘255 Franken inklusive. Und das Schönste daran: Sogar das Fensterputzen ist inbegriffen!» Die Geschehnisse rund um das Industrieareal verfolgt die rüstige Rentnerin mit brennendem Interesse. Für sie ist es sonnenklar, dass das Areal nur im Baurecht abgegeben werden soll. Und auch das ganz sicher nicht an einen Grosskonzern. «Luzern ist eine Stadt und hier soll es auch erschwinglichen Wohnraum geben. Warum sollen wir alle in die Agglomeration, wo wir doch hier daheim sind? Darum finde ich es gut, dass man sich für den Erhalt von günstigem Wohnraum wehrt. Meinen Kampf habe ich verloren. Ich wünsche jenen an der Industriestrasse mehr Erfolg!» Christine Weber arbeitet mit der Agentur Wort & Ohr für Kulturszene und Journalismus.

Die neue Lust am Gärtnern, mitten in der Stadt

«Es ist einfach schön, hier zu arbeiten» Der Steinbildhauer Philipp Basler arbeitet seit 15 Jahren im Quartier und entwirft vorwiegend Grabsteine. Doch er hofft, die Industriestrasse noch lange nicht beerdigen zu müssen.

Urban Gardening ist im Trend

Das Gespräch führte Johnny Furrer, Journalist.

Dass StädterInnen als Ausgleich für ihr Leben in Wohnungskäfigen hoch über dem Boden einen Ausgleich suchen, ist nicht neu: Schon unsere Grosseltern zog es mindestens an jedem Wochenende in die Schrebergärtensiedlungen. Dort pflegten sie eine kleine heile Welt fernab der grauen Wirklichkeit des Arbeitsalltags. Doch die Zäune und Revierkämpfe, die Streitereien um den besten Rasen und die dicksten Kohlrabi sind Schnee von gestern: Heute wird gemeinsam gepflanzt und gejätet, inmitten des städtischen Umfelds. Marcel Ineichen · Stadt und Natur gelten seit jeher als gegensätzliche Sphären, die konkurrierende Sehnsüchte, gegensätzliche Ordnungsmodelle und widersprüchliche Maxime vom gesellschaftlichen Zusammenleben zum Ausdruck bringen. Unsere Zeit erzeugt das Phänomen, dass auch Menschen sich für Gartenbau in kleinster, urban möglicher Form interessieren, für die Pflanzen bislang eher «Ausserirdische» waren. Die neue Mischform von Stadt und Natur gilt als Quelle und Inspiration aktueller Ausdrucksformen von Stadtkultur. Vor allem in Metropolen ist es ein Megatrend: Nachbarschaftliche Dachbepflanzungen, Hofgärten ohne Grenzen, mobile Beete, interkulturelle Gärten, Generationengärten – die Formen der neuen Arrangements zwischen Stadt- und Landlust sind vielfältig. Die Generation Internet betreibt das Säen, Hegen und Pflegen, das Ernten und Pflanzen tauschen, das Erleben der Jahreszeiten im gemeinschaftlich organisierten städtischen Gemüsegarten mit Leidenschaft. «Local Food» wirkt – selbst in den kleinen Mengen, welche auf dem meist stark beschränkten Raum zu erzielen sind – geradezu heilend in einer komplett vorgefertigten, virtualisierten und globalisierten Warenwelt.

Unsere Partner:

Häuser-Illustrationen: Tatjana Erpen

Christine Weber · Ein dickes Dossier liegt vor der Mieterin Heidy Villiger auf dem Tisch. Gesammelte Artikel, Interpellationen, Leserbriefe, E-Mails und Briefe zeugen von einem enormen Engagement der 69jährigen Rentnerin. «Ich habe mich mit Händen und Füssen gegen diese Art von Sanierung gewehrt. Ich war Auslöserin für ein Treffen mit der zuständigen Leitung der Pensionskasse, schrieb Leserbriefe und war sogar beim Stadtpräsidenten in der Fragestunde», sagt Heidy Villiger. Genützt hat es nichts. Per Ende Januar 2013 müssen alle Mietenden an der Tribschenstrasse ausgezogen sein und der Umbau geht los. Ob viele von den 103 Mietparteien danach wieder in die gleichen Gebäude einziehen ist mehr als fragwürdig: Der Preis für eine Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung ist dann nämlich zum Teil doppelt so teuer und daher für viele der alten Leute unerschwinglich. Rund 1500 Franken kostet dann die gleiche Wohnung brutto, die vorher ebenfalls brutto 860 Franken kostete. Niemand bestreite, dass die rund 40jährigen Liegenschaften eine Sanierung nötig haben. «Aber eine solche? Was sollen wir alten Leute mit einer todschicken Küche oder einem verglasten Wintergarten? Die Wohnungen haben ja alle schon einen Balkon und wer soll denn diese Glaswände putzen! Die meisten von uns sind nicht mehr so fit und haben körperliche Beschwerden», ärgert sich Heidy Villiger. Sie ist überzeugt, dass eine sanftere und dementsprechend kostengünstigere Sanierung hätte realisiert werden können.

Redaktion und Produktion: IG Industriestrasse Industriestrasse 17, 6005 Luzern www.luzerngewinnt.ch Mail: redaktion@luzerngewinnt.ch

Foto oben: Peter Lauth. Foto unten: Stefan Davi.

Philippe Basler, Ihr Atelier steht am Geissensteinring in unmittelbarer Nähe zur Industriestrasse. Wie kamen Sie hierhin? Das passierte eher zufällig. Ich hörte, dass hier etwas frei wird. Mir gefiel die Gegend und das Atelier im Fabrikgebäude. Viele Künstler, Bars und Handwerker kamen und gingen, ich bin geblieben. Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie den Namen «Industriestrasse» hören? Hier in der Gegend gibt es sehr viele verschiedene Ateliers und Menschen. Es ist ein angenehmer Austausch, wir helfen einander aus und unterstützen uns. Es ist wohl eine der letzten Ecken in der Stadt, wo so ein Austausch noch möglich ist. Welche Konsequenzen hätte der Abriss der Häuser Industriestrasse 9 bis 17 für Sie? Ein Abriss wäre wohl der Anfang vom Ende, der Beginn einer sukzessiven Umgestaltung des ganzen Quartiers. Aber ich mache mir keine Illusionen: Eines Tages wird auch dieses Gebäude für etwas neues Platz machen müssen. Die Frage ist nur, wann und vor allem für was. Viele Existenzen werden zwangsläufig untergehen. Ich frage mich, haben wir noch eine Berechtigung hier? Doch die Frage sei erlaubt, wieso ausgerechnet an einer städtischen Toplage günstiger Wohnraum und Künstlerateliers stehen sollen? Das geht doch auch in der Agglomeration … Es ist das Stadtbild, es muss lebendig sein, und das passiert, wenn gelebt und gearbeitet wird. Es braucht eine gute Durchmischung. Und es ist einfach schön, hier zu arbeiten. Spüren Sie diese Vorzüge auch in Ihrer Arbeit? Ja, sicher. Ich arbeite oft mit offenen Türen. Es gehen viele Leute vorbei, die sehen was ich mache. In einem anonymen Aussenquartier wäre dies nicht der Fall. Hier entstehen oft Gespräche mit den Passanten – und manchmal sogar ein Verkaufsgeschäft.


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