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Zu Besuch im Tempel der Lügen
Noch nie ist es mir so schwer gefallen, einen Künstler, eine Künstlerin für den Einband des Palmbaums zu finden. Und das bei einem so wundervollen Thema: der absurden Welt. Aber genau deshalb, weil unsere Welt so absurd ist, wussten auch Freunde, Kunstkritiker, Galeristen und Sammler keinen Rat. Absurdes malen und zeichnen viele, aber das Absurde als solches zur Sprache zu bringen, es als den Irrsinn, der uns nicht schlafen lässt, fühlbar zu machen, das gelingt nur wenigen. Nein, schlimmer noch: Wir sahen niemanden, der es auch nur versucht, wie vor hundert Jahren die Dadaisten, den herrschenden Verhältnissen ihre eigene Melodie vorzuspielen, sie zum Tanzen zu bringen!
Fragen Sie doch mal Richard von Gigantikow, rät mir Michael von Hintzenstern, der Impresario der Weimarer DadaDekade. Dessen Adelstitel ist echt, der des anderen so wahrhaft falsch, so selbst gemacht und erdacht wie alles in dem Lügenmuseum, das er seit drei Jahrzehnten betreibt. 1950 als Reinhard Zabka in Erfurt geboren, war er zunächst Gelegenheitsarbeiter und nannte sich seit 1974 einen »Bilderclown«, der die Leute zum Lachen bringt und zum Nachdenken. 1980 erwarb er mit Freunden eine verfallene Bauernkate bei Neustadt an der Dosse. Sie machten ein Kunsthaus daraus und nannten es 1990 »Deutsch-Historisches Lügenmuseum«. Das wuchs und wuchs, bis Zabka 1997 im Gutshaus Gantikow bei Kyritz ein neues Domizil fand.
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Seitdem nennt er sich von Gigantikow, und lacht darüber.
Denn die Lüge und das Lachen und die Fantasie, diese unheilige Dreieinigkeit ist es, die den Menschen vom Tier unterscheidet, die ihn zu einem Narren macht. Wer auch das offen eingesteht, dass wir alle Narren sind, der schafft sich Feinde, vor allem bei Ordnungshütern, die sich für besonders klug halten. Das war zu allen Zeiten so. In der DDR, in der Zabka den Argwohn der Staatsmacht weckte. Aber auch in der Bundesrepublik, in der das Geld die Ordnung wahrt.
So musste das Lügenmuseum nach Ablauf des Mietvertrages das Gutshaus räumen und fand 2012 Unterschlupf im einstigen Gasthaus Serkowitz von Radebeul. Im Wohnort eines der erfolgreichsten Lügenerzähler aller Zeiten, der sich allerdings todernst nahm: Karl May Auch hier wird das Flunkern schief angesehen: Die Stadt will das Haus demnächst verkaufen und die Sächsische Landesstelle für Museumswesen behauptet, es sei gar kein Museum, sondern nur eine Selbstdarstellung des Künstlers, eine Performance aus Flohmarktobjekten.
Gibt es eine bessere Werbung für ein Museum, das die Grenzen des Musealen und der zum Objekt erstarrten Kunst sprengt? Das traditionelle Museum, das Dinge, herausgerissen aus ihrem Lebenszusammenhang, hinter Panzerglas anstarren lässt, haben die Dadaisten schon vor 100 Jahren für tot erklärt. Denn die wahre Kunst des Ausstellens besteht darin, die toten Dinge zum Leben zu erwecken, sie sprechen zu lassen.
Das geschieht im Lügenmuseum, auch wenn es nur wenige Lügen im eigentlichen Wortsinn zu sehen gibt: Da wird das Ohr von van Gogh als Schatz präsentiert, wir können einen bemoosten Wanderschuh bewundern, den Fontane in den Wäldern Brandenburgs verloren hat, und die Reste einer verrotteten Schreibmaschine werden gezeigt, die erst Eva Braun und später Erich Mielke gehört haben soll. Behauptungen, die wir mit einem Schmunzeln als Lügen durchschauen, die aber als Parodien auf gängige Museumspraktiken an die Wurzeln unseres Kulturverständnisses rühren: Was erachten wir warum als wertvoll und bedeutend, was als wertlos? Zabka und seine Mitstreiter bringen den Müll der Geschichte zum Sprechen, lassen ihn Geschichten erzählen, indem sie Bilder daraus arrangieren, die Assoziationen im Kopf der Betrachter wecken. So gibt es einen schmalen Durchgang, den sie »Kathedrale des Sozialismus« nennen oder «Vittoriale der Ostdeutschen«. Hier, in dieser »Siegerstraße«, erscheinen all jene Objekte vom Mini-Lenin bis zum Sandmann, die in Ostalgie-Museen für den Alltag der DDR stehen, in rosarotem Licht, das die Verklärung so penetrant auf die Spitze treibt, dass man unwillkürlich die Kehrseite des vermeintlichen Idylls mitdenken muss – ohne es umgekehrt in ein Horrorkabinett zu verwandeln, was ja auch eine Lüge wäre. Weder Paradies noch Hölle treffen das Ganze, denn das wahre Leben gibt es nur im falschen und jeder muss seine eigenen Erinnerungen freilegen, die immer zwischen Wahrheit und Selbstlüge schwanken.
Wahrheit, heißt es bei Nietzsche, ist die Form der Lüge, derer ein jeder bedarf, um auf seine Art zu leben. So weit würde Zabka wohl nicht gehen, überhaupt fällt auf, dass Theorien für das Lügenmuseum nur eine untergeordnete Rolle spielen, dass es nur wenige Texte im Labyrinth der Räume und Gänge gibt. Die Dinge selbst und ihr geheimnisvolles Arrangement sollen sprechen, die Besucher schauen, staunen und sich ihre eigenen Gedanken machen. Hier, an diesem Gesamtkunstwerk, kann man trainieren, die Welt mit offenen Sinnen anzuschauen und sie nicht nach den Mustern einer fertigen Weltanschauung in Schubladen zu ordnen. aus Palmbaum. Literarisches Journal aus Thüringen, Heft 2/2022, Jens-Fietje Dwars
Seit 2017 gibt es einen Raum, der »Interieur Underground« heißt. Er soll jene Dinge enthalten, die 1992 auf dem Dachboden eines Hauses in der Erfurter Taubengasse gefunden wurden: Kunstwerke der DDR-Subkultur, die eben nicht Werke für den Kunstbetrieb waren. Weder für den Markt noch für offizielle Ausstellungen. Es war Kunst für den Gebrauch, oft aus gebrauchten Materialien gefertigt: experimentelle Gestaltungsversuche, in denen es mehr um den Ausdruck des eigenen Empfindens ging als um »hohe« Ideen oder zeitlose Formen. Die »Poesie des Untergrundes« ist die Seele dieses nichtmusealen Museums mit seiner Kunst der Nicht-Kunst. Nirgends tritt sie bunter, lauter, schriller und schöner in Erscheinung als im Tanzsaal des einstigen Gasthofes: Hier schrammelt, paukt und pfeift es aus Dutzenden irrwitziger Maschinen, die, wie von Zauberhand betrieben, nichts produzieren als zwecklose Bewegung und eine Musik aus puren Geräuschen, die den Zuhörer in einen Rausch versetzt. Die Hingabe an das spielerisch Zwecklose aber ist der Anfang aller Fantasie, der Urgrund der Künste, wie das Staunen der Beginn jeder Wissenschaft.
Das kosmische
Wunder
In der Ahnengalerie hängt ein Porträt von Emma von Hohenbüssow Gründerin des Lügenmuseums. In den Kästen: Ein Hörbild der verschollenen Kyritzer Knatter. Drei Sgraffiti von Hermann Glöckner.
Es bedarf einer ganz besonderen Sensibilität, uns unseren Alltag, unsere Gesellschaft – und auch die Institution Museum – völlig anders und neu sehen zu lassen. Das Lügenmuseum beweist diese Sensibilität auf einzigartige provokant-spielerische und humorvolle Art. Daher hat es Reinhard Zabka auch in all den Jahren geschafft, dass der Strom der neugierigen Besucher nicht abreißt. Diese werden nicht nur mit fantasievollen Objekten, Licht- und Klanginstallationen jeglicher Couleur überrascht, vielmehr lädt diese Stätte der Kreativität auch zum Verweilen und Kommunizieren ein.

Das Atelier eines Dissidenten

Streitend und flunkernd vor und nach der Wende 89, wird auf die Bedeutung der staatsfernen Kunst verwiesen. Installationen in Koffern, das Lügenmantra, das Ohr von Vincent van Gogh
Reinhard Zabka ist ganz dicht dran am Ursprung der heutigen Museen. Denn er habe eine Art Wunderkammer geschaffen, die an ein Kuriositätenkabinett erinnert, welche die ersten Museumsformen überhaupt waren. Der Experte spricht sich für eine vielfältige Museumslandschaft aus, in der auch kleine Einrichtungen gefördert werden und nicht nur große staatliche Institutionen.


Grüße von überall
Nie wieder werden uns die Reisen, Zaubertruhen voll traumhafter Versprechen, ihre Schätze unberührt enthüllen. Eine wuchernde, überreizte Zivilisation stört für immer die Stille der Meere.
Claude Lévi-Strauss
Es kommt darauf an , wie das Publikum reagiert. Die Besucher des Lügenmuseums beweisen einen guten Geschmack, weil sie in der Lage sind, dieses von den sonstigen Angeboten zu unterscheiden. Geschmack beruht auf der Fähigkeit zu unterscheiden. Dort, wo die Vertrautheit mit den Kunstläufen der Zeit fehlt, bleibt der Verständnishorizont zwangsläufig limitiert. Daraus resultiert Ablehnung dieser Qualität. Das sind Schutzmechanismen, bis sich herausstellt, dass einem kein Unheil droht durch die Annahme eines neuen Geschmackskriteriums.



Bazon Brock | Professor für Ästhetik