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Ein unerwarteter Begleiter

Marandor wohnte in einer prächtigen Eiche, die große Ähnlichkeit mit Rubinias Baumfreund Kornelius hatte. Das Mitglied des Elfenrats war alles andere als begeistert, als die kleine Elfe vor seiner Tür stand. Eigentlich brauchte man einen Termin, um mit einem der Weisen zu sprechen. Rubinia zitterte allerdings so erbärmlich vor Kälte, dass er sie nicht draußen stehen lassen konnte. Er bat sie herein.

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„Nun, was kann ich für dich tun?“, fragte er, nachdem sich Rubinia eine Weile am Feuer gewärmt hatte. Die kleine Elfe berichtete von dem Leuchten des Feueropals, ihrer Begegnung mit Tempa und ihrer Beobachtung am Fluss. „Und darum muss ich in den Nebelwald fliegen. Wenn

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ich mich nicht dort umsehen kann, finden wir niemals heraus, was es mit dem schrecklichen Wetterwechsel auf sich hat und was wir dagegen tun können!“ Sie war ganz atemlos, so aufgeregt hatte sie gesprochen.

Marandor antwortete nicht. Er dachte nach.

Nach einer Weile, die Rubinia wie eine halbe Ewigkeit vorkam, sah er sie ernst an. „Du weißt, dass die Regeln des Elfenwaldes Gesetze sind.“

Rubinia nickte eifrig. „Ja, das weiß ich.“ „Sie gelten seit langer Zeit und haben sich bewährt.“ Der

weise Elf machte eine

Pause. Rubinias Herz

klopfte wie wild. „In diesem Fall werde

ich eine Ausnahme

machen“, fuhr Marandor schließlich

fort. „Aber nur, weil

wir alle in großer Gefahr sind und uns die Zeit davonläuft!“

Rubinia atmete erleichtert auf.

„Du wirst allerdings nicht allein gehen. Ich werde dir einen Begleiter zur Seite stellen“, entschied Marandor. „Und für heute ist es schon zu spät. Morgen früh um 9 Uhr werdet ihr euch am Biberdamm treffen.“

„Alles klar“, sagte Rubinia. Am liebsten wäre sie sofort losgeflogen. Doch sie sah ein, dass sie sich besser früh am Tag auf den Weg machte. Wer weiß, wie tief sie in den Nebelwald hineinmusste! Sie

machte einen kleinen Knicks. „Vielen Dank.“ Dann verabschiedete sie sich schnell, bevor Marandor es sich anders überlegen konnte. „Wie gesagt: Die Ausnahme gilt nur dieses eine Mal!“, erinnerte Marandor sie an der Tür. „Ein Mal ist kein Mal!“, rief Rubinia, winkte ihm fröhlich zu und flatterte davon.

Marandor musste schmunzeln. Er hatte die

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mutige kleine Elfe ins Herz geschlossen. Hoffentlich ging es gut, was er da gerade erlaubt hatte! „Morgen ist immer noch schulfrei“, sagte Florentine beim Abendbrot. „Der Bote hat es vorhin verkündet.“

Rubinia nickte. „Ich habe sowieso etwas anderes vor.“ Sie erzählte der Konditorin von ihrem Treffen

mit Marandor. Florentine sah sie besorgt an. „Ich bin froh, dass er dich nicht allein gehen lässt. Wollen wir hoffen, dass das Ganze schnell ein Ende hat.“

Später saß Rubinia in eine Decke gehüllt in ihrem Zimmer. Wie sehr sie ihre Freunde vermisste! Und

wie gern sie mit ihnen über all das geredet hätte, was gerade geschah!

Da fiel ihr etwas ein: Auch wenn man sich nicht

sehen konnte, konnte man in Verbindung sein. Sie breitete zwei wunderschöne Ahornblätter, die ihr ein netter Baum kürzlich geschenkt hatte, auf ihrem Schreibtisch aus. Auf jedes Blatt schrieb sie eine Nachricht, eine für Enja und eine für Lorian.

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Beide Namen umrahmte sie mit einem großen Herz. Sie würde ihnen die Blätter-Briefe morgen als Überraschung einwerfen.

In dieser Nacht machte Rubinia kaum ein Auge zu. Sie war zu aufgewühlt. Wenn Marandor eine Ausnahme erlaubte, dann ging es um sehr viel. Ihr wurde klar, wie bedeutsam ihre Aufgabe war.

Dick eingepackt flog sie am nächsten Morgen um kurz vor 9 bei Enja und Lorian vorbei und warf ihnen die Blätter heimlich in die Baumkästen.

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Hoffentlich freuten sich die beiden! Dann machte

sie, dass sie zum Biberdamm kam. Doch wer da am Treffpunkt auf sie wartete, war kein Bote des Elfenrats, sondern ein riesiger schwarzer Troll! Er saß auf einem

großen Stein. Neben ihm lag ein Beutel mit

Kirschen.

„Auweia, das ist der Stinketroll!“, dachte Rubinia. Der Stinketroll war der Nachtwächter des Elfenwalds. Sie hatte ihn

noch nie gesehen, aber schon oft von ihm gehört. Er sah genauso furchterregend aus wie alle sagten. Und sein Geruch machte seinem Spitznamen alle Ehre.

Sie ging vorsichtig auf ihn zu. „Guten Tag, ich bin Rubinia Wunderherz“, stellte sie sich vor. Als

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Antwort kam nur ein Grunzen. „Danke, dass du mich in den Nebelwald begleitest“, sagte sie.

Der Troll nickte knapp. Er zeigte mit dem Finger auf Rubinia, dann auf die Kirschen. „Ich soll mir welche nehmen? Danke!“, rief Rubinia erfreut. Ihr Begleiter schien netter zu sein als gedacht. Sie steckte sich eine Kirsche in den Mund.

Der Troll band sich seinen Beutel um, dann stand er auf. Ehe sich die kleine Elfe versehen

konnte, hatte er sie mit seiner großen haarigen Hand hochgehoben und auf seine Schulter gesetzt. „Huch“, rief Rubinia und hätte sich beinahe an der Kirsche verschluckt. Im nächsten Moment ging es auch schon los. Unter den großen Füßen des Trolls knackte das Eis des zugefrorenen Flusses. Rubinia hielt den Atem an. Was würde sie auf der

anderen Seite erwarten?

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