Folgenschwerer Kurswechsel Der Gründungsbau war mit dem Kreuzhof erst einige Jahre vollendet, der Stifter Graf Eberhard 1078/79 eben erst gestorben, da beschloss sein Sohn Graf Burkhard, ein gewaltiges neues Kloster zu errichten und den Bau seines Vaters fast vollständig niederzureißen. Nichts blieb übrig vom Konzept des Kirchenbildes, von Jerusalem oder von der Grabstätte am Fuß des Kapellenkreuzes. An die Stelle des Eigenklosters mit eigener Sakraltopographie trat die Unterordnung unter Rom. In den 1070/80er Jahren finden wir uns nämlich mitten im Investiturstreit. Papst Gregor VII. hatte Kaiser Heinrich IV. in die Knie gezwungen, hatte ihn 1077 vor der Burg von Canossa erniedrigt, wie nie ein Kirchenmann den Kaiser gedemütigt hat. Das Reich war gespalten in eine päpstliche Partei und eine kaiserliche. Graf Burkhard schloss sich mit Schaffhausen dem Papst an. Er ließ 1080 eine tiefgreifende Klosterreform durchführen und die neue Kirche nach römischen Vorstellungen neu errichten. Und hierin liegt die besondere Faszination des Klosters zu Allerheiligen: An wenigen Orten Europas lässt sich der tiefgreifende Wandel des Investiturstreits so deutlich in der Baugeschichte ablesen wie in Schaffhausen.
Ein großes Vorbild für Schaffhausen Gregor VII. war vor seiner Papstwahl Mönch in der mächtigen Reformabtei Cluny im Burgund gewesen. Cluny war im Gegensatz zur bisherigen Praxis kein Eigenkloster, sondern direkt dem Papst unterstellt. In Cluny entstand nach zwei Vorgängerbauten ab 1088 die größte Abteikirche Europas (Cluny III). Sie war fünfschiffig wie die frühen Basiliken der Apostelfürsten Petrus und Paulus in Rom. Burkhard von Nellenburg wollte für Schaffhausen eine Reform nach dem Vorbild Clunys. Er verzichtete auf den Eigentumsanspruch am Kloster, übertrug ihm stattdessen umfangreiche Güter und Rechte und unterstellte es direkt dem Papst.
Der Reformer Burkhard von Nellenburg Graf Burkhard, der Sohn des Stifters Eberhard von Nellenburg, ließ für seinen Vater und sich in der Klosterkirche ein neues Stiftergrabmal mit der Darstellung der Verstorbenen errichten. Es ist eines der ältesten figürlichen Adelsgräber überhaupt. Graf Eberhard ist mit dem Kirchenmodell in der Hand als Kirchengründer gekennzeichnet. Graf Burkhard hält ein Bäumchen mit Wurzelballen in Händen, die festuca. Diese symbolisiert die Übertragung der Güter auf das Kloster, die Burkhard vorgenommen hatte. Mit diesem Stiftungskapital erlangte das Kloster die Unabhängigkeit von seinen Stiftern und entsprach damit dem Machtanspruch der römischen Universalkirche.
Der Neubau und andere Neuigkeiten Wohl in Kenntnis des Bauplans von Cluny III. ließ Burkhard von Nellenburg praktisch gleichzeitig mit Cluny auch in Schaffhausen die Fundamente für eine gewaltige fünfschiffige Kirche ausheben. 1105 wurde der massige, heute noch bestehende Neubau geweiht. Er weist allerdings nur drei Schiffe auf, die Ausführung der beiden äußeren Seitenschiffe kam aus unbekanntem Grund nicht zustande. Mit der Durchführung der Reform in Schaffhausen betraute Graf Burkhard den Abt Wilhelm von Hirsau im Schwarzwald. Das Kloster Hirsau, gegründet 1059 von Papst Leo IX., diente den Reformbestrebungen von Cluny als deutscher Stützpunkt. Die Hirsauer Reform stand im Investiturstreit auf Seiten des Papstes gegen den Kaiser und breitete sich weit über Deutschland aus. Die Klosterkirchen von Allerheiligen in Schaffhausen und Alpirsbach im Schwarzwald sind die bedeutendsten erhaltenen Bauzeugen der Hirsauer Reform. Zur Klosterreform gehörte auch die Erstellung einer Bibliothek. Während etwa drei Jahrzehnten schrieben Mönche in Schaffhausen Bücher ab, die man zu diesem Zweck vornehmlich von der Klosterinsel Reichenau auslieh. Die Abschriften sind größtenteils in der Schaffhauser Ministerialbibliothek erhalten, die schönsten von ihnen im Museum zu Allerheiligen zu besichtigen. Sogar der Bibliothekskatalog aus der Zeit um 1100 ist überliefert. Er zeigt denselben Aufbau wie das entsprechende Vorbild aus Cluny.
Grabmal des Grafen Burkhard († um 1105). Original um 1100 im Museum (oben) Grundrisse vom ersten Klosterbau (grau) begonnen 1049 und dem Neubau (blau) 1080—1105 (unten)
Elke und Peter Jezler
Rekonstruktion des Neubaus um 1105 (oben) Klosterkirche Allerheiligen (1080–1105), der größte romanische Kirchenbau der Schweiz (unten)
Schaffhausen | Bodensee Magazin Spezial 91