Kurt Ausgabe 7

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DANEBEN GESETZT

Selbstversuch: Wie fühlt sich Betteln an?

NICHT NUR GESTRESST

Lina ist mit Burnout zuusammengebrochen

SECHS FRAGEN ZU BURNOUT

Prof. Dr. Beate Beermann: Pausen sind produktiv

K.O. IN RUNDE DREI

Alicias Neustart in Leeds

SCHEITERN IST WICHTIG

Prof. Dr. Ricarda Steinmayr im Interview

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IMPRESSUM

Wer was gemacht hat und Rätsel

FOTOLOUISA VON ESSEN, MERLE JANSSEN & LEONIE ROTTMANN COVERFOTOJUDITH WIESRECKER MONTAGESTEPHAN KLEIBER COVERFOTO


Eins vorab In Syrien hat Mohammad bereits als Augenarzt gearbeitet. In Deutschland muss er seine Kenntnisse erneut nachweisen – und das auf Deutsch. Drei Monate lang bereitet er sich auf die Prüfungen vor.

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TEXTSTEFANIE OPITZ & VANESSA GIESE FOTODANIELA ARNDT

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in Sonderheft zu Semesterbeginn – zu einem Zeitpunkt, an dem vieles anfängt. Wir haben Geschichten gesammelt übers Anfangen, vor allem übers Neuanfangen. Denn die Menschen in unseren Geschichten haben allesamt Brüche in ihren Lebensläufen. Manche sind krank geworden, weil sie sich überfordert haben. Andere mussten aus ihrer Heimat fliehen oder sind freiwillig ausgewandert – nachdem sie im Drittversuch an einer Prüfung gescheitert sind. Die meisten haben ihren Weg mittlerweile gefunden. Wir haben ein Heft gemacht, das Mut macht. Eins, das Perspektiven und Chancen zeigt. Das beweist, dass der kürzeste Lebensweg nicht immer der beste ist. Denn auch krumme Lebensläufe machen glücklich. Diese Ausgabe ist als Themenheft in einem Uni-Seminar entstanden. Junge Journalistinnen und Journalisten haben im Sommersemester recherchiert, konzipiert und Geschichten aufgeschrieben. Wir als Dozentinnen haben sie dabei begleitet. Die Geschichten in diesem Heft erzählen also nicht nur vom Aufstehen und Weitergehen; sie sind auch so entstanden: Studierende sind losgelaufen. Sie sind dabei gestolpert und wieder aufgestanden. Sie mussten Niederlagen einstecken – und feiern nun mit dieser Veröffentlichung viele kleine und große Erfolge. Wir wünschen viel Spaß beim Blättern und Lesen!

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Zweieinhalb Jahre hat Günter auf der Straße gelebt. Heute verkauft er hier die Zeitschrift Bodo und hilft anderen Menschen aus der Obdachlosigkeit.

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Völlig ausgebrannt brach Lina unter einem Apfelbaum im Garten ihrer Eltern zusammen. Diagnose: Burnout. Sie erzählt, wie sie es geschafft hat, ihr Gleichgewicht wiederzufinden.


Inhalt

4 6 10 14 16 20 26 27 30 33 34 38 39

DANEBEN GEGRIFFEN

Fuck Up Nights: scheitern und darüber reden

ICH WÄR' SO GERN WIE DU

Balu & Du unterstützt Schulkinder

GEGEN JEDEN WIDERSTAND

Rashel ist geflüchtet und wird nun Elektriker

WER WIE WAS

Zahlen & Fakten: Geflüchtete in Ausbildung

WAS FEHLT IHM DENN?

Ein Arzt aus Syrien ringt um seine Approbation

GÜNTER UND BODO

Die zwei schaffen Chancen

WER IST DIESER BODO?

Wie ein Straßenmagazin Obdachlosen hilft

DANEBEN GESETZT

Selbstversuch: Wie fühlt sich Betteln an?

NICHT NUR GESTRESST

Lina ist mit Burnout zuusammengebrochen

SECHS FRAGEN ZU BURNOUT

Prof. Dr. Beate Beermann: Pausen sind produktiv

K.O. IN RUNDE DREI

Alicias Neustart in Leeds

SCHEITERN IST WICHTIG

Prof. Dr. Ricarda Steinmayr im Interview

IMPRESSUM

Wer was gemacht hat und Rätsel

FOTOLOUISA VON ESSEN, MERLE JANSSEN & LEONIE ROTTMANN COVERFOTOJUDITH WIESRECKER MONTAGESTEPHAN KLEIBER


⁄⁄ MOMENTE

Krone richten, weitermachen Das Geld ist futsch: Dem einen sind die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter noch vor dem ersten Arbeitstag abgesprungen, einem anderen fiel die große Party ins Wasser. Bei Fuck Up Nights erzählen Gründerinnen und Gründer, wie sie Projekte in den Sand gesetzt haben – und warum sie jetzt doch erfolgreich sind. Denn Scheitern kann heilsam sein. FOTOPATRICK REYMANN

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NIMM MEINE HAND In Disneys Dschungelbuch nimmt sich der Bär Balu dem Findelkind Mogli an. Das Mentorenprogramm „Balu und Du“ nimmt sich diese Freundschaft zum Vorbild und hilft auf der Reise durch den Grundschul-Dschungel. TEXT&FOTOSARAH NIESIUS

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inigolf oder Museum?“ fragt Balu. „Ich möchte heute zu den Flamingos, wie beim letzten Mal. Ich weiß sogar noch, warum Flamingos rosa sind. Das hast du mir beigebracht“, antwortet Mogli. Die U-Bahn fährt ein. U45 Richtung Westfalenhallen. Balu und Mogli steigen ein: „Die werden rosa, weil sie ganz viele

Krebse essen“, erzählt Mogli. Balu und Mogli sind Fabienne und Nehir. Wie in Disneys Dschungelbuch kommen sie aus zwei unterschiedlichen Welten – Balu Fabienne, kupferfarbenes lockiges Haar, zierliche Statur und stets ein Lächeln auf den Lippen, ist 23 Jahre alt und macht zurzeit ihr Abitur am Westfalen-Kolleg in Dortmund. Mogli Nehir,

ein aufgewecktes Mädchen mit langen braunen Haaren und einem freudigen Blick, ist acht Jahre alt und besucht die zweite Klasse einer Grundschule in der Dortmunder Innenstadt. Ihre Familie stammt aus der Türkei. Das Programm „Balu und Du“ fördert Mädchen und Jungen zwischen sechs und zehn Jahren, die neben Familie, Freundinnen und Freunden eine unterstützende Person in ihrem Leben benötigen, um zum Beispiel in der Schule besser zurechtzukommen.

PATEN FÖRDERN PERSÖNLICHE ENTWICKLUNG DER KINDER

Balu Fabienne und Mogli Nehir bei den Flamingos im Westfalenpark

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Der Vorsitzender des „Balu und Du e.V.“ Dominik Esch erklärt: „Junge, engagierte Leute übernehmen ehrenamtlich mindestens ein Jahr lang eine individuelle Patenschaft für ein Kind. Sie helfen ihm durch persönliche Zugewandtheit und aktive Freizeitgestaltung, sich in unserer Gesellschaft zu entwickeln und zu lernen, wie man die Herausforderungen des Alltags erfolgreich meistern kann.“ Zwischen all dem Lernstoff, den vielen Gesichtern und Lehrerinnen und Lehrern, könne die Grundschulzeit manchmal wie ein großer Dschungel sein – unübersichtlich und verwirrend. Damit sich die Kinder in diesem Dschungel nicht verlaufen, steht ihnen


ihr persönlicher Balu zur Seite. Balu nimmt sich Zeit für die außerschulische Entwicklung des Kindes und hilft dabei, neue Erfahrungen zu sammeln, um Fehlentwicklungen im Sozialverhalten oder der Kommunikationsfähigkeit frühzeitig entgegenzuwirken. So sagt es Dominik Esch. Balu und Du startete 2005 als kleiner Verein. Mit der Idee einer einjährigen Partnerschaft gibt es heute, dreizehn Jahre später, an vielen Standorten Deutschlands und Österreichs solche Netzwerke. In Dortmund läuft das Projekt seit drei Jahren. Koordiniert und betreut wird es vom Dienstleistungszentrum im Fachbereich Schule der Stadt Dortmund. „Balu und Du ist ein Programm, das nachweislich die individuelle Entwicklung von Kindern fördert. Die Stadt Dortmund hat ein besonderes Interesse daran, gerade benachteiligte Kinder bei einem guten

Start ins Leben zu unterstützen“, erklärt Stadtsprecherin Anke Widow. Dabei profitieren auch die, die eigentlich helfen: Selbstdisziplin, Zuverlässigkeit, interkulturelle Kompetenzen und Frustrationstoleranzen werden gestärkt, so die Stadt. Finanziert wird das Mentorenprogramm sowohl über Spenden als auch über Stiftungsgelder.

KINDER ENTDECKEN NEUE HOBBYS FÜR SICH Ein Kind kann ein Mogli werden, wenn es von seinen Lehrerinnen und Lehrern und nach Absprache mit den Eltern oder Erziehungsberechtigten für das Programm vorgeschlagen wird. Susanne Müller ist Lehrerin an einer Grundschule und erzählt: „Wir entscheiden im Kollegium, welche Kinder Unterstützung durch einen Balu gebrauchen könnten. Dadurch haben die jungen Schülerinnen und Schüler die Möglich-

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keit, am Nachmittag in ihrer Freizeit herauszufinden, wer sie sind und welche Interessen sie haben.“ Viele der Kinder bräuchten vor allem einen geregelten Alltag und die Möglichkeit, in ihrer Freizeit Deutsch zu sprechen: „Spricht die Familie des Kindes Zuhause eine andere Sprache, ist es in der Schule schwieriger, Anschluss zu finden. Meist sind die Kinder dann sehr zurückhaltend und unselbstständig“, erklärt Susanne Müller. „Durch das Programm konnten viele der Kinder neue Hobbys für sich entdecken. Zum Beispiel hat ein Balu Gitarre gespielt und begonnen, mit seinem Mogli zu singen und Musik zu machen.“ Das Dienstleistungszentrum Bildung der Stadt Dortmund gibt zu bedenken: „Manche Balus unterschätzen den zeitlichen Aufwand und merken nach einigen Monaten, dass sie die circa fünf


Balu Caro und Mogli Jacqueline treffen sich seit Februar.

Stunden pro Woche, die das Programm ungefähr in Anspruch nimmt, nicht leisten können.“ Manchmal gäbe es Probleme mit den Familien der Moglis, die andere Erwartungen haben oder es nicht schaffen, Vereinbarungen einzuhalten. „Dass die Chemie zwischen Balu und Mogli nicht stimmt, kommt aber selten vor“, erzählt die Dortmunder Stadtsprecherin Anke Widow. Fabienne und Nehir treffen sich jeden Freitag. Um 15 Uhr holt Fabienne Nehir im Friseursalon ihrer Mutter ab. Zwischen Haareschneiden und lauten Föngeräuschen wartet Nehir sehnsüchtig auf ihre große Freundin. Von dort aus ziehen die beiden los, um Museen zu besuchen, Minigolf zu spielen, in den Park zu gehen oder Tretboot zu fahren. Im Monat stehen den beiden 16 Euro für Aktivitäten zur Verfügung. Viele Dortmunder Freizeitangebote unterstützen das Programm mit Sonderpreisen, Gutscheinen oder kostenlosen Eintritten. Für Nehir ist Fabienne eine besondere Freundin. Sie freue sie sich immer darauf, wenn sie von Fabienne abgeholt werde, erzählt die Achtjährige.

Im Westfalenpark stehen sie vor den Flamingos, sprechen über die Tiere, lachen über Witze, die Nehir aus der Schule erzählt, und spielen Verstecken. „Es macht richtig viel Spaß, sich mit einer kleinen Freundin zu treffen. Wir erzählen uns vieles, und ich glaube, dass ich in meiner bisherigen Zeit mit Nehir schon viel Verständnis entwickeln konnte“, sagt Fabienne. Ihre Aufgabe als persönliche Balu für Nehir sei es nicht, sie zu erziehen oder ihr schulischen Rat zu geben, sondern durch ihre ungewöhnliche Freundschaft Emotionales zu thematisieren, Spaß zu haben und sie zu motivieren, sagt Fabienne.

JACQUELINE ZEIGT CARO DIE KINDLICHE WELTSICHT Die Forschungen des Verhaltensökonoms Prof. Armin Falk und seinem Team haben die positiven Effekte des Programms bestätigt: Moglis werden durch die Freundschaft mit ihrem Balu konzentrierter. Sie lernen, sich besser zu organisieren, kommen im Alltag besser zurecht, können Konflikte besser lösen, sind fähig, sich zu reflektieren und werden in ihrer Bildung gefördert.

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Auch Fabienne konnte mittlerweile Erfolge feststellen: „Nehir ist total unkompliziert und ich finde es sehr schön zu sehen, dass sie Fortschritte macht. Sie traut sich viel mehr zu und geht schneller auf Leute zu.“ Zwei Freundinnen aus zwei unterschiedlichen Welten sind auch Caro und Jacqueline. Seit Februar sind sie Balu und Mogli und treffen sich einmal in der Woche. Caro hat schulterlange braune Haare, ist 28 Jahre alt, wirkt selbstsicher und erwachsen. Sie studiert den Masterstudiengang Economics in Bochum. Bei einem Besichtigungstermin für ein WG-Zimmer kam sie mit einer anderen ehrenamtlichen Balu ins Gespräch: „Mir hat das Programm auf Anhieb gefallen. Ich habe mich beworben und traf so Jaqueline. Mir gefällt es, dass ich jetzt auch einen kindlichen Einfluss in meinem Leben habe. Jacqueline und ich machen viele Dinge, die ich aus meiner eigenen Kindheit vermisse, zum Beispiel spielen wir total gern ‚Der Boden ist Lava‘ – vom Sofa, auf das Bett und rüber zum Kleiderschrank. Hauptsache der Boden wird nicht berührt. Als Erwachsene, die ständig nur von


WIE WERDE ICH EIN BALU? Wer zwischen 17 und 30 Jahre alt ist und einem Kind im Grundschulalter Zeit und Aufmerksamkeit schenken möchte, um es außerschulisch zu fördern und eine Freundschaft aufzubauen, kann sich beim Dienstleistungszentrum Bildung der Stadt Dortmund bewerben. Studierende haben die Möglichkeit, im Rahmen des Programms einen Leistungsnachweis über ein außerschulisches Praktikum zu erwerben. Alle Balus erhalten für ihre Mentorinnen- und Mentorenrolle einen Nachweis über ihr ehrenamtliches Engagement.

Erwachsenen umgeben ist, verliert man schnell die kindliche Weltsicht.“

BALUS BERICHTEN ONLINE ÜBER IHRE ERFAHRUNGEN Jaqueline trägt ein buntes PaillettenShirt und ihre langen blonden Haare offen. Sie ist neun Jahre alt und besucht zurzeit die dritte Klasse einer Grundschule im Dortmunder Westen. Beim Eisessen in der Innenstadt erzählt sie aufgeregt von ihren Plänen mit Caro für die Sommerferien: „Wir wollen in das größte Kindermuseum Deutschlands, das ist in Duisburg. Und bald gehen wir auch schwimmen.“ Die Reise des BaluMogli-Gespanns halten die beiden in einem Fotobuch fest. Für Jaqueline seien die Treffen mit Caro eine Motivation, erzählt sie: „Seitdem wir zusammen Fotos machen und basteln, mache ich auch allein ganz viel. Nächste Woche basteln wir zusammen ein Geschenk für meinen Papa, der bald Geburtstag hat.“ In einem Online-Tagebuch berichten Balus über ihre Erfahrungen und Erlebnisse. „Über das Tagebuch lassen sich für Standkoordinatoren verfolgen, welche

Gespanne gut laufen und wo sich Probleme anbahnen. Dann ist es schneller möglich zu intervenieren, um Abbrüche zu verhindern“, erklärt Pressesprecherin Anke Widow. Auch das informelle Lernen wird im Tagebuch stets aktualisiert. Es bezeichnet das Lernen außerhalb des Schulalltags. Caro versucht Jacqueline so spielerisch zu helfen: „Wir machen das, was uns Spaß macht. Wenn wir zum Beispiel Eis essen, dann rechnen wir nach, wie viel wir für unsere Eisbecher bezahlen müssen. Oder wenn wir mit der Bahn unterwegs sind, schauen wir uns auf dem Fahrplan an, auf welchem Gleis wir umsteigen müssen.“ Auch Jacquelines Mutter ist vom Mentorenprogramm „Balu und Du“ begeistert und merkt, dass ihre Tochter seit den regelmäßigen Treffen mit Caro aufgeschlossener und motivierter ist. „Die beiden haben sich von Anfang an gut verstanden. Ich merke, dass es Jacqueline guttut und bin froh, dass ihre Klassenlehrerin mit diesem Angebot auf uns zugegangen ist. Caro ist eine Bezugsperson, die aber immer noch außen vor ist und als neutrale Person in Jacquelines Leben gekommen ist.“

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GEGEN JEDEN WIDERSTAND Ein Geflüchteter aus Bangladesch meistert die Herausforderungen der deutschen Sprache auf dem Weg zum Elektroniker. Dagegen hatte ein Geflüchteter aus Guinea in der Backstube mit sich selbst und der neuen Heimat zu kämpfen – und beendete seine Ausbildung nicht. TEXT&FOTOSALOME BERBLINGER

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» Es ergibt keinen Sinn, wenn wir Leute suchen und gleichzeitig Menschen da sind, die keine Arbeit haben. « André Höler von Ritter Starkstromtechnik

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enn ein Kollege Rashel Shaikh schickt, um eine Schelle oder einen Sicherungsautomaten zu holen, weiß Rashel genau, wonach er suchen muss. Das war nicht immer so. Zu Beginn der Ausbildung im Betrieb Ritter Starkstromtechnik fiel es dem 27-Jährigen aus Bangladesch schwer, die Begriffe dem Werkzeug oder Material zuzuordnen. Shaikh erzählt: „Dann habe ich Fotos gemacht und den Begriff daruntergeschrieben. Der Lagerchef hat mir geholfen. Damit haben wir mein Problem gelöst.“ Der junge Mann trägt über seinem grauen Shirt eine blaue Jacke mit der Aufschrift seines Ausbildungsbetriebes. Er steht vor einem Musterschaltplan im Lager von Ritter. Hier kann er Kabel legen, Knöpfe drücken und die Lampe zum Leuchten bringen. Am Muster übt er für die praktische Prüfung im zweiten Lehrjahr seiner Ausbildung zum Elektroniker Energie- und Gebäudetechnik. „Die Praxis gefällt mir – ich genieße meine Arbeit. Aber Schule und Theorie finde ich interessanter“, sagt Shaikh.

FIT FÜR DIE AUSBILDUNG ZUM ELEKTRONIKER In seinem Heimatland hat Shaikh bereits Telekommunikationssysteme studiert. Als Shaikh 2014 nach Deutschland kam, konnte er sein Studium nicht fortsetzen. Er hat keine Unterlagen aus seiner Schule oder seinem bisherigen Studium, mit denen er an einer deutschen Universität neu anfangen oder einen Antrag auf Anerkennung stellen kann. Deshalb bemühte er sich um eine Ausbildung im Bereich IT-Information, bekam aber nur Absagen. Über eine Helferin der Caritas erfuhr Shaikh von

der Flüchtlingsinitiative der Handwerkskammer Dortmund, die 2015 ins Leben gerufen wurde. In dem Projekt werden junge Geflüchtete sprachlich und fachlich für eine Lehre im Handwerk fit gemacht, sagt Tobias Schmidt, Zuständiger der Handwerkskammer. Dazu prüfen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in einem ersten Schritt Vorkenntnisse und Wissen in Mathe und Deutsch. Anschließend stufen sie die Teilnehmerinnen und Teilnehmer für die Deutschkurse ein. Während Shaikh den sechsmonatigen Qualifikationskurs machte, suchte die Handwerkskammer einen Praktikumsplatz für ihn. Shaikh lernte Deutsch und erhielt Unterricht in Mathe, Politik und anderen berufsvorbereitenden Fächern. Schließlich absolvierte er ein vierwöchiges Praktikum bei Ritter und konnte wenige Monate später dort seine Ausbildung beginnen. Heute fährt Shaikh für seinen Betrieb raus auf die Baustelle und beschäftigt sich mit der Installation von Schaltanlagen seiner Kunden, zu denen Dortmunder Krankenhäuser, Dienstleistungsanbieter und andere Unternehmen zählen. Anfangs hatten der Betrieb und sein Auszubildender viele Probleme zu bewältigen. André Höler, Leiter des Geschäftsbereichs Installation bei Ritter Starkstromtechnik, sagt: „Herr Shaikh musste sich jeden Monat in Schwelm melden und dafür quasi immer einen Urlaubstag nehmen, weil es bis dahin ja fast eine Weltreise ist und das Melden eiskalt nur während der Öffnungszeiten bis 16 Uhr möglich war.“ Glücklicherweise schaffte eine neue Vorschrift bald Erleichterung: Seit 2016 duldet die Ausländerbehörde Schwelm abgelehnte Asylbewerberinnen und -bewerber für

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die gesamte Dauer ihrer Ausbildung. Zuvor mussten Shaikh und viele andere immer wieder nach Schwelm, um dort den Duldungszeitraum verlängern zu lassen. Weiterhin sei nicht sicher, ob Shaikh langfristig in Deutschland bleiben dürfe. „Für die Zeit der Ausbildung: ja. Danach muss Herr Shaikh mindestens einen Arbeitsvertrag nachweisen“, sagt Höler. Und sein Auszubildender ergänzt: „Und ich muss mich noch mal um eine Aufenthaltsgenehmigung bewerben.“

WARUM RITTER GEFLÜCHTETE AUSBILDEN WILL Duldung bedeute nach dem Aufenthaltsgesetz die „vorübergehende Aussetzung der Abschiebung“, erklärt Natalie Bußenius, Pressesprecherin des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge. Es soll gewährleisten, dass sie sich auf das Lernen und Arbeiten konzentrieren können. Außerdem haben so auch die Betriebe Sicherheit: Wenn sie in Geflüchtete investieren, können sie diese nach Abschluss der Ausbildung als Arbeitskraft übernehmen. In diesem Fall bekommen Asylsuchende ein Aufenthaltsrecht für weitere zwei Jahre. Die Ausreisepflicht bleibt aber grundsätzlich bestehen. Wer die Ausbildung abbricht oder nach Vollendung nicht weiter im Betrieb arbeiten kann, hat sechs Monate die Chance, einen neuen Platz oder eine Arbeitsstelle zu finden. Höler nennt die Gründe seines Betriebes, eine Kooperation mit der Handwerkskammer einzugehen: „Wir haben nach wie vor ein Nachwuchsproblem und wollen jetzt mehr ausbilden, um später Mitarbeiter zu haben. Außerdem


Auszubildender Rashel Shaikh (links) mit André Höler, seinem Chef bei Ritter Starkstromtechnik

haben wir ein gewisses Maß an gesellschaftlicher Verantwortung. Es ergibt keinen Sinn, wenn wir Leute suchen und gleichzeitig Menschen da sind, die keine Arbeit haben.“ Neben Shaikh gibt es noch einen weiteren Auszubildenden mit Fluchthintergrund, der mit Hilfe der Flüchtlingsinitiative die Ausbildung zum Elektroniker Energie- und Gebäudetechnik absolviert. Inwieweit Geflüchtete einen Teil des Nachwuchsproblems lösen können, kann Tobias Schmidt, Abteilungsleiter unter anderem für Fachkräftesicherung und Internationale Projekte der Handwerkskammer Dortmund, noch nicht abschließend beurteilen. „Wer 2016 seine Ausbildung angefangen hat, ist noch nicht fertig. Wir müssen 2019 schauen, wie viele die Ausbildung beenden und noch da sind. Nur mit langfristiger Bleibeperspektive können alle profitieren“, sagt er. Es gebe auch noch eine andere

Tim Kortüm vom Schürener Backparadies beschäftigt 30 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus13 Nationen.

Perspektive: Wenn Geflüchtete schlechte Bleibechancen haben und in ihr Heimatland zurückkehren müssen, können die in Deutschland gelernten Berufe dort von Vorteil sein. Schmidt denkt dabei beispielsweise daran, dass Geflüchtete beim Wiederaufbau unterstützend wirken können.

ZU BEGINN DER AUSBILDUNG LÄUFT ES MEISTENS GANZ GUT Nicht alle Geflüchteten beenden ihre Ausbildung erfolgreich. Am Anfang lief es auch mit Paulo Kanté* gut, einem jungen Mann aus Guinea, der während der Zeit der großen Fluchtbewegung 2015 nach Deutschland geflohen war und sich bei Tim Kortüm im Schürener Backparadies in Dortmund vorstellte. Kanté hat im örtlichen Fußballverein trainiert, dort viele Deutsche kennengelernt und die Sprache schnell verstanden. In den ersten Monaten von August

*Name von der Redaktion geändert 12

bis Ende des Jahres 2016 war der neue Auszubildende sehr engagiert. Kortüm konnte ihn überall in der Bäckerei einsetzen. Mit der Zeit habe das dann stark nachgelassen, sagt Kortüm. Das erste Problem sei das Wohnheim für Geflüchtete gewesen, in dem Kanté wohnte. Nachdem er die ganze Nacht gearbeitet habe und morgens im Deutschunterricht saß, habe er nachmittags nur schlecht oder gar nicht schlafen können, weil er sich das Zimmer mit vielen anderen teilen musste. „Im Wohnheim hat er auch gesehen, dass andere gar nicht arbeiten“, sagt Kortüm. „Das waren echt schwere Umstände für ihn.“ Ein weiteres Problem sei gewesen, dass der Auszubildende das deutsche Steuersystem nicht verstanden habe. „Ich habe ihm die Lohnabrechnung mit seinem Nettolohn gegeben und dann wollte er den Bruttolohn.“ Auch mit Hilfe eines Dolmetschers und der Caritas halfen Erklärungen nichts. „Wenn einer ihm mal


widersprochen hat oder etwas erklären wollte, hat er sich sofort angegriffen gefühlt, weil er das nicht verarbeiten konnte. Weil er es nicht gewohnt war, dass einer ihm etwas beibringen will – er hat nie eine Schule besucht.“ Gekleidet in weiße Polo-Shirts stehen Chef Kortüm und drei Kollegen um einen hüfthohen Tisch herum, in ihren Händen jeweils ein Stück Teig. Sie formen ihn zu Hörnchen und legen sie auf ein Backblech. Es ist zehn Uhr morgens und kurz vor Feierabend. Obwohl die Bäcker schon die ganze Nacht in der Stube stehen, sind sie bestens gelaunt, machen Scherze und lachen gemeinsam. „Natürlich ist das Bäcker-Handwerk kein dankbarer Job. Es ist echt anstrengend, aber macht auch super Spaß“, sagt Kortüm. 30 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit 13 unterschiedlichen Nationalitäten hat Kortüm angestellt. „Wir integrieren so viele Leute – das ist überhaupt kein Problem. Aber das muss natürlich von beiden Seiten kommen“, sagt der Halb-Holländer. „Wir sind ein multikultureller Familienbetrieb und das heißt nicht nur arbeiten, stempeln und nach Hause gehen. Wir helfen beim Umzug und dabei, Möbel zu besorgen, stellen Fahrräder bereit, um nachts zur Arbeit zu kommen. Und gehen mal zusammen essen und zeigen die Stadt – damit motiviert man die Leute und das macht uns selbst auch Spaß.“ Manche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind schon seit 20 Jahren im Betrieb und gehören damit „schon fast zum Inventar“. Auch an Bewerbungen mangelt es dem Schürener Backparadies nicht. Trotzdem hat Kortüm die Erfahrung machen müssen, dass viele nach einem Gespräch und der Zusage nicht zur Arbeit erscheinen. Oder ihre Ausbildung nach einigen Monaten abbrechen. Die Situation im Backparadies spitzte sich weiter zu. Ein Mitarbeiter aus dem Laden erzählt, dass eines Morgens das Telefon klingelte und ein fremder Mann sagte: „Ich bin Taxi-Fahrer aus Frankfurt und habe hier einen Fahrgast von

Ihnen. Den müsste ich nach Dortmund bringen. Würden Sie die Kosten dafür übernehmen?“ Völlig verwirrt fragte der Mitarbeiter, wer denn dort in Frankfurt stehe. Kanté war es, der wahrscheinlich in Frankfurt feiern war, anstatt in der Backstube zu sein. Der Taxifahrer wollte 800 Euro für die Rückfahrt. Laut Schilderungen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter war das nur einer von vielen Vorfällen. Kortüm sagt: „Er war irgendwann nicht mehr zu bändigen: Drogenkonsum, von der Polizei angehalten – das ist traurig, denn er war eigentlich so fleißig.“ Im März 2017 beendete Kortüm das Ausbildungsverhältnis. Die Ausbildungsstelle hatte Kanté vor der Abschiebung bewahrt. Ob er noch in Deutschland ist, wissen seine ehemaligen Kolleginnen und Kollegen nicht.

WEITERHIN OFFEN FÜR GEFLÜCHTETE Trotzdem sind Kortüm und sein Team nach wie vor offen für geflüchtete Auszubildende. „Das ist jetzt die schlechte Geschichte, aber wir haben echt auch Glück gehabt mit den Leuten. Man hat dann mal ein, zwei schwarze Schafe dazwischen. Aber die hat man natürlich mit anderen Bewerbern genauso – das hat überhaupt nichts mit der Herkunft zu tun.“ Nur für den Verkauf sprechen die meisten Geflüchteten und viele Menschen mit Migrationshintergrund noch nicht genug Deutsch. „Man muss die Kunden beraten, sich gut artikulieren können und auch mal einen Witz machen“, sagt Kortüm. Deshalb scheitere es meist an der Sprache, wenn die Handwerkskammer jemanden für den Verkauf im Schürener Backparadies vermitteln wollte. Rashel Shaikh weiß, wie wichtig die deutsche Sprache für seine Entwicklung ist. „Ich habe bei Kollegen gesehen, dass es schwierig ist, als Fremdsprachler einen Bachelor-Abschluss zu machen. Deshalb habe ich mich gleich dazu entschieden, dass eine Ausbildung besser für mich ist. Ich habe einmal pro Woche Nachhilfe, denn ich will mich in Deutsch immer weiterentwickeln.“

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» F  LÜCHTLINGE «  ODER » GEFLÜCHTETE «? Als Flüchtling wird laut der Genfer Flüchtlingskonvention streng genommen nur bezeichnet, wer beispielsweise aufgrund der Religion, Nationalität, sozialen Gruppe oder politischen Überzeugung verfolgt wird. Wer andere Gründe hat, sein Heimatland zu verlassen, kommt laut dieser Definition freiwillig und kann jederzeit zurückkehren. Ein treffender Begriff für Migrantinnen und Migranten, die vor Armut, Hunger, Wohnungsnot, Wasserknappheit und einem fehlenden Gesundheits- und Bildungswesen fliehen, gibt es bisher nicht. Der Begriff „Flüchtling“ findet sich im Allgemeinen in positiven wie in negativen Zusammenhängen. Allerdings haben Wörter mit der Endung -ling oft einen negativen Beigeschmack. So werden beispielsweise die Wörter Feigling und Eindringling nach dem gleichen Muster gebildet. Ihre Bedeutung kann negativ abfärben. Deshalb ist im Text von „Geflüchteten“ die Rede.


Schlüsselfaktoren für den Erfolg und woran Geflüchtete scheitern können

D

ie Sprache ist ein entscheidender Faktor für beruflichen Erfolg. Dabei reiche es nicht, sagt Tobias Schmidt von der Dortmunder Handwerkskammer, nur im alltäglichen Gebrauch den Eindruck zu erwecken, sicher mit der Sprache umzugehen – die Auszubildenden müssten auch fachsprachliches Vokabular beherrschen. Handwerksberufe wie KFZ-Mechatro-niker oder Anlagenmechaniker für Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnik werden laut Schmidt komplexer und digitalisierter. „Das ist anders als die einfachen Helfertätigkeiten vor 40 Jahren, die in der Industrie angesiedelt waren. Die Gastarbeiter mussten praktisch kein Deutsch sprechen und bewegten sich als ungelernte Kräfte in einem interessanten Tarifsystem.“ Heute komme eine stark heterogene Gruppe nach Deutschland. „Es kommen fast

fertig Studierte aus Damaskus. Und es gibt andere Geflüchtete aus ländlichen Regionen, die gerne eine Ausbildung machen möchten, aber mit Anfang 20 nur vier Schulklassen besucht haben und nicht mal in ihrer Muttersprache lesen und schreiben können.“ Der Forschungsbericht des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, der auf 36 Leitfadeninterviews mit Betrieben basiert, bestätigt die teilweise hohen Anforderungen durch die Betriebe bezüglich der Sprache. Neben der Komplexität der Tätigkeiten seien diese auch abhängig vom Kundenkontakt und dem Schutz am Arbeitsplatz. Die deutsche Sprache sei darüber hinaus wichtig für die soziale Integration, also die Zusammenarbeit mit Kolleginnen und Kollegen.

TEXT&RECHERCHESALOME BERBLINGER GRAFIKANNEKE NIEHUES

Um Deutsch zu lernen, brauche es vor allem Eigenmotivation – da sind sich fast alle befragten Betriebe einig. Eigenmotivation zu entwickeln und zu halten, sei je nach Umständen nicht immer so einfach möglich. Schmidt sagt: „Berufe, von denen man gut leben und bei denen man sich entwickeln kann, werden in manchen Herkunftsländern nicht professionell ausgebildet. Das kann dazu führen, dass die Familien der Geflüchteten die Ausbildung und Arbeit nicht anerkennen.“ Druck sei ein häufiger Grund dafür, einen Ausbildungsplatz nicht anzunehmen oder die Ausbildung abzubrechen. So hat laut Schmidt zum Beispiel ein Geflüchteter mit angefangenem Studium im Heimatland die nötigen Fähigkeiten zu einer Ausbildung. Er hat aber die Befürchtung, diese werde seinem Anspruch nicht gerecht. Von

Die Prognose

70 %

Geflüchtete Menschen brauchen Zeit, um anzukommen. Auch auf dem Arbeitsmarkt. Quelle: Bundesagentur für Arbeit/Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, 2017

nach 15 Jahren

60 %

nach zehn Jahren

Geflüchtet, männlich, 23 sucht Helfertätigkeit 50 %

Auf Arbeitssuche

nach fünf Jahren

Die meisten der arbeitssuchenden Geflüchteten sind männlich und jünger als 35 Jahre. Sie suchen eine Helfertätigkeit, weil … … sie noch nicht genug Deutsch sprechen. … sie zu jung sind, um einen Beruf erlernt zu haben. … sie noch keinen anerkannten formalen Berufsabschluss vorweisen können. Quelle: Bundesagentur für Arbeit, 2018

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Maximal 10 %

sind im ersten Jahr nach ihrer Flucht erwerbstätig


Die Prognose

70 %

Geflüchtete Menschen brauchen Zeit, anzukommen. Auch auf dem Arbeitsmarkt.

den 21 Geflüchteten, die 2015 durch die Initiative der Handwerkskammer Dortmund in eine Ausbildung vermittelt wurden, stehen bald 14 vor dem Abschluss. 2016 konnten 62 Geflüchtete in Betriebe vermittelt werden, allerdings sind nicht alle angetreten.

Nach 15 Jahren

verfügen, sind meistensQuelle: Praktika und für Arbeit/Instimüssen sie damit rechnen, mindestens Bundesagentur Probearbeitstage im Betrieb erforderdrei Jahre von ihren Angehörigen getut für Arbeitsmarktund Berufsforschung,erworbene 2017 lich. Papiere, die bereits trennt zu sein: Die drei Jahre während Kenntnisse verifizieren, sind laut dem der Ausbildung 60und % bis der Geduldete Nach Jahrenum seine Bericht oft entweder nicht auf die ausreichend Geld zehn verdient, Flucht mitgenommen worden, verloren Familie nachzuholen. In den meisten gegangen oder wurden im Heimatland Fällen ist es Geflüchteten außerdem nicht ausgestellt. aufgrund von anderen ausländerrechtliBezüglich der „Soft Skills“ setzen Bechen Regelungen nicht möglich, die abtriebe darauf, dass ihre AuszubildenEntscheidend für die Betriebe ist außergeschobene Familie zu besuchen. „Man den pünktlich, zuverlässig, fleißig und dem der Bleibestatus der Geflüchteten, kann sich vorstellen, dass die Auszu50 % teamfähig sind. Die befragten Betriebe weil sie kein zu hohes Investitionsribildenden dabei unter einem enormen Nach fünf Jahren betonen laut dem Bericht, dass sie bei siko eingehen möchten. Dara Franjić, seelischen Druck stehen, durch den sie Die meisten der Geflüchteten sindvom Caritasverband für das unter Umständen natürlich weniger Geflüchteten mitarbeitssuchenden ähnlichen ProbleReferentin männlich und jünger alswie 35 Jahre. Sie suchen eine men konfrontiert seien bei andeBistum Essen, benennt ein Problem begute Leistungen erbringen,“ sagt Dara Helfertätigkeit, weil: auch. Geflüchtete züglich der Ausbildungsduldung: Zwar Franjić. Das könne zum Abbruch von ren Auszubildenden _Sie nochzunicht genugder Deutsch sprechen zeigten Beginn Tätigkeit meist werden die Auszubildenden geduldet, Ausbildungen führen. Maximal 10 % _Sie zu jung sind, um einen Beruf erlernt zu haben eine besonders hohe Arbeitsmotivatiihre Familien oder Partnerinnen und sind im ersten Jahr nach ihrer _Sie nochfestzustellen, keinen anerkannten Berufsabschluss on. Um ob dieformalen geflüchtePartner vorweisen können können. aber trotzdem abgeFlucht erwerbstätig Quelle: Bundesagentur für Arbeit, ten Bewerberinnen und 2018 Bewerber über schoben werden. Je nach Entscheidung ausreichend formale Qualifikationen der zuständigen Ausländerbehörde

Geflüchtet, männlich, 23 sucht Helfertätigkeit

Auf Arbeitssuche

Darum keine betriebliche Ausbildung Aus Sicht der Bewerberinnen und Bewerber mit Fluchthintergrund und einer Staatsangehörigkeit nichteuropäischer Asylzugangsländer Mehrfachantworten möglich Quelle: Bundesagentur für Arbeit/Bundesinstitut für Berufsbildung, 2016

39 % Keine Ausbildungsstelle gefunden

9% 6%

Keine Angaben

21 %

Sonstige Gründe

Schulische Vorbildung unzureichend

2% 4%

Ausbildungsvertrag wurde vom Betrieb gekündigt

17 %

Möchte keine Ausbildung beginnen

4%

5%

Migrationsbedingte Gründe z. B. unzureichende Deutschkenntnisse, juristische Schwierigkeiten bei der Anerkennung von Schulabschlüssen oder der Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung

Ausbildung abgebrochen

Finanzielle Gründe

6% Ausbildung beginnt später 12

%

Für etwas anderes entschieden

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WAS FEHLT IHM DENN? Das Wohl von Patientinnen und Patienten liegt Mohammad Alali Alalyan am Herzen. Doch von seinem Traumberuf trennt den syrischen Arzt sozusagen eine Prüfung auf Herz und Nieren. Erst mit staatlicher Zulassung darf er hier arbeiten. TEXT&FOTOMERLE JANSSEN ILLUSTRATIONMANUEL SOBOTKA

Anamnese Erinnerung an Syrien

I

n seinem Behandlungszimmer in Damaskus träumte Mohammad Alali Alalyan manchmal von Deutschland. Er wusste: Die deutsche Medizin ist fortschrittlich, die Qualität hoch, die Zertifikate renommiert – eines Tages, nach seiner Weiterbildung zum Facharzt, wollte er herkommen. Drei Jahre hatte Alali Alalyan bereits als Assistenzarzt in einer Augenklinik gearbeitet, als der Krieg das Leben in Damaskus für ihn und seine Familie zu gefährlich machte. Ausschreitungen ließen aus seinen Zukunftsplänen Anfang 2016 Fluchtpläne werden. Seine Frau, die mit kanadischer Staatsbürgerschaft kein Visum brauchte, reiste mit der gemeinsamen Tochter vor ins Ruhrgebiet nach Essen. Alali Alalyan kam einen Monat später als Flüchtling nach. Zurück blieb ihre Wohnung, groß und modern, direkt in der Stadtmitte von Damaskus. Zurück blieb auch die fast abgeschlossene Weiterbildung zum Augenarzt.

Überweisung Aufnahme in Deutschland Es folgten „komplizierte“ Tage und Wochen, in denen zu viel in kurzer Zeit ge-

macht werden musste, „damit es weitergehen konnte“, berichtet Alali Alalyan. Für den 33-Jährigen ging es weiter: Seit seiner Ankunft bemüht er sich um die Anerkennung seines Berufsabschlusses. Denn langfristig darf er den Arztberuf ohne die deutsche Zulassung (Approbation) hier nicht ausüben. Im Mai fand er eine Arbeitsstelle im Augenzentrum in Dortmund-Hombruch. Ohne Approbation keinesfalls ein leichtes Unterfangen. In den ersten Wochen wurde Alali Alalyan deshalb nicht bezahlt; er war nur Hospitant, bis ihm die vorläufige Berufserlaubnis erteilt wurde. Um Ärztinnen und Ärzte aus dem Ausland auf ihrem Weg zur Approbation zu unterstützen, bieten einige Bildungseinrichtungen Vorbereitungskurse an. Sie werden teilweise in Kooperation mit Ärztekammern organisiert oder finden in dem vom Bund geförderten Programm „Integration durch Qualifizierung“ statt. Alali Alalyan hat an einem mehrmonatigen Seminar in Köln teilgenommen. Nicht gut organisiert, resümiert er. Gut zwei Dutzend Ärzte mit unterschiedlicher Herkunft und unterschiedlichem Know-how auf alles Mögliche vorzubereiten, sei schwierig: Die einen benötigen die Fachsprachprüfung, die anderen die Kenntnisprüfung, wieder andere müssen einfach nur auf Deutschland vorbereitet werden.

Mund auf Die Fachsprachprüfung Bei seinem ersten Versuch fiel Alali Alalyan durch die Sprachprüfung. Er war zu diesem Zeitpunkt anderthalb Jahre in Deutschland. Doch eine „große Sprache wie Deutsch“ könne man in dieser Zeit nicht lernen, ist Alali Alalyan überzeugt. Sprechen fällt ihm schwerer als Schreiben. Ihm ist wichtig, den Patientinnen und Patienten alles zu erklären. Wenn ihm mal ein deutsches Wort nicht einfällt, helfen ihm die Patientinnen und

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Patienten. „Sie haben gemerkt, dass ich in Medizin gut bin und Erfahrung habe“, sagt er. Deswegen seien sie mit seiner Arbeit zufrieden. Eine Bestätigung, die Alali Alalyan sehr freut. Nur jede zweite Prüfung verlief in den vergangenen Jahren erfolgreich – die Statistik der Ärztekammer WestfalenLippe verheißt auf den ersten Blick nichts Gutes. Doch die Prüfung kann unbegrenzt wiederholt werden.

Diagnose Syrien ist ein Drittstaat Inzwischen hat Alali Alalyan die Fachsprachprüfung gemeistert. Vor ihm liegt nun noch die Kenntnisprüfung. Auch

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hier wieder: hohe Anforderungen zum Wohl der Patientinnen und Patienten, hohe Durchfallquoten, Uneinheitlichkeit. Bei Ärztinnen und Ärzten aus EUMitgliedsstaaten ist die Anerkennung des Berufsabschlusses in der Regel nichts weiter als eine Formalie. Nur bei einer defizitären Ausbildung müssen sie sich einer Eignungsprüfung unterziehen. Unumgänglich ist die Kenntnisprüfung hingegen für Medizinerinnen und Mediziner aus Drittstaaten. Diese Unterscheidung findet Omar Jaber nicht gerechtfertigt. Er ist ein Studienfreund von Alali Alalyan. Auch ihn führte die Flucht nach Dortmund. Nach seinem Studium arbeitete Jaber in der Chirurgie eines syrischen Klinikums. An


Mohammad Alali Alalyan hat die Sprachprüfung bestanden. Nun liegt noch die medizinische Kenntnisprüfung vor ihm, um als Augenarzt arbeiten zu können.

manchen Tagen, erzählt er, habe es dort 60 Notaufnahmen innerhalb von zwei Stunden gegeben. Dazu Gewaltandrohungen, damit er gefallene Soldaten wieder zum Leben erwecke. Er verließ Syrien 2013, „ohne jemandem etwas zu sagen“. Nach bestandener Kenntnisprüfung erhielt Jaber 2014 die deutsche Approbation und ist heute Neurochirurg im Klinikum Dortmund. Er schätzt die Qualität des deutschen Gesundheitssystems. Daher befürwortet er grundsätzlich auch die Prüfungen. Nur sollten solche Maßnahmen konsequenterweise für alle gelten, unabhängig von deren Herkunft. In jedem Land gebe es gute und schlechte Universitäten, sagt Jaber. Die Ausbildung in Damaskus schätzt er als gut ein. Während der praktischen Phase würden die syrischen Studierenden zum Beispiel mehr medizinische Bereiche durchlaufen als die deutschen. Ungeachtet dessen, wie gut die Ausbildung tatsächlich ist, stoßen syrische

Ärzte bei den Behörden aus einem anderen Grund auf Vorbehalte. Frank Nölke ist Leiter des zuständigen Dezernats für öffentliches Gesundheitswesen bei der Bezirksregierung Arnsberg. Er erklärt, warum es für Antragsstellende aus Syrien, aber auch aus Ägypten oder Libyen, derzeit schwierig ist: Bei Bürgerkriegsgebieten, sagt er, könne die deutsche Botschaft vor Ort nicht sicher sagen, „wer da gerade wem einen Stempel zur Verfügung stellt“. Die Anwärterinnen und Anwärter hätten es daher „enorm schwer“, valide Dokumente vorzulegen. Sowohl Alali Alalyan als auch Jaber teilen diese Skepsis. Beide argwöhnen, dass man an bestimmten Universitäten dieser Länder Zertifikate kaufen könne.

Dosierung Das ganze Medizinstudium Für Jaber war die Vorbereitung auf die umfassende Kenntnisprüfung, als müsse man „das ganze Medizinstudium von vorne anfangen“. Wer dabei

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wie der Neurochirurg einige Jahre auf einem Fachgebiet gearbeitet hat, sagt er, hätte Dinge aus anderen Bereichen vergessen. Auch deutsche Fachärztinnen und Fachärzte können die Kenntnisprüfung nicht kurzerhand bestehen, vermutet er. Medizin zu praktizieren. sei völlig anders, als Medizin zu studieren. Damit spricht er Alali Alalyan aus der Seele. Dieser fragt sich, warum es nicht reiche, vorrangig seine Fachkenntnisse in der Augenheilkunde zu prüfen. Denn dort möchte er wieder arbeiten. Allerdings dürfe es natürlich nicht passieren, dass er bei einem lebensbedrohlichen Fall als Arzt nicht wisse, was zu tun sei. Für Dezernatsleiter Nölke ist es nicht denkbar, die Kenntnisprüfung stärker auf die jeweiligen Fachrichtungen auszurichten. Die Approbation berechtige zu jeglicher ärztlichen Tätigkeit, erklärt er. „Wer eine solche allumfassende Berufszulassung möchte, muss auch damit leben, dass potenziell alle Fachbereiche geprüft werden.“


Prognose Dreimal darfst du raten

das Landesprüfungsamt Düsseldorf mitteilt, der prozentuale Anteil jedoch „nicht genau spezifizierbar“.

Neben seiner Arbeit wiederholt Alali Alalyan jetzt die Hauptgrundlagen in der Medizin. Vor seiner Kenntnisprüfung 2019 möchte er sich zwei bis drei Monate Auszeit nehmen, um sich darauf vorzubereiten. Der Druck ist höher als noch beim Sprachtest. Für die Kenntnisprüfung hat er nur drei Versuche – und laut Landesprüfungsamt Düsseldorf überstiegen im vergangenen Jahr die nicht bestandenen Prüfungen knapp die bestandenen. Die Quote erfolgreicher Kandidatinnen und Kandidaten lässt sich daran jedoch nicht ablesen. Die Statistik unterscheidet nicht zwischen Erstund Wiederholungsprüfung.

Deutschland brauche Ärztinnen und Ärzte aus dem Ausland, sagen Jaber und Alali Alalyan. Tatsächlich gibt es in vielen Bundesländern einen Mangel oder „Anzeichen für Engpässe“, wie die Bundesagentur für Arbeit Ende 2017 feststellte. Trotz steigender Ärztezahl seien die gemeldeten Stellen verglichen mit anderen Berufen überdurchschnittlich lange vakant, heißt es in der Analyse. Erschwerend geht die Bundesarbeitsagentur von einem noch „weit höheren“ Bedarf an Medizinerinnen und Medizinern aus, weil nicht alle Arbeitgeber ihre Stellen melden.

Alali Alalyan ist optimistisch. Er rechnet damit, dass im Drittversuch 99 Prozent der Prüflinge bestehen. Bei seinem Vorbereitungskurs hätte ein Dozent das erzählt. Wörtlich sollte man diese Angabe nicht nehmen. Zwar sei die Durchfallquote im letzten Versuch gering, wie

Sollte Alali Alalyan dennoch im Drittversuch scheitern, will er zurück nach Syrien gehen und die Ausbildung zum Facharzt von vorne beginnen. „Was soll ich noch hier, wenn ich nicht als Arzt arbeiten kann?“ Denn letztlich ist für ihn nicht entscheidend, ob seine Patientin-

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nen und Patienten Arabisch sprechen oder Deutsch. Am liebsten würde er – samt Approbation – bleiben. Insbesondere wegen der Kinder; der fünfjährigen Tochter und dem in Deutschland geborenen Sohn. Ob er weiter im Augenzentrum arbeiten werde, als Oberarzt im Klinikum oder gar in einer eigenen Praxis, so etwas könne er „vor der Approbation nicht berechnen“.

Visite Wie geht es ihm heute? Die Sprache bereitet ihm allerdings immer noch Schwierigkeiten. Niedergeschlagen sei er deswegen, und auch ungeduldig mit sich selbst. Nicht zuletzt, weil es der Kommunikation mit den Patientinnen und Patienten im Wege stünde. Die medizinische Behandlung allein mache noch keinen guten Arzt. Dennoch ist Alali Alayan „sehr zufrieden“. Er arbeitet gern im Augenzentrum, ist froh um die Arbeitsstelle. Er möchte ein guter Arzt sein. „Ich bin sicher, dass ich das schaffen kann“, sagt er.


SO KANN‘S AUCH LAUFEN Zweieinhalb Jahre hat Günter auf der Straße gelebt. So richtig kommt er nicht von ihr los. Heute verkauft er das Straßenmagazin Bodo und hilft zusammen mit seiner Frau anderen Menschen aus der Obdachlosigkeit heraus. TEXTLOUISA VON ESSEN & VERONIKA FRITZ FOTOLOUISA VON ESSEN

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m in Günters Wohnung zu kommen, muss man viele Stufen steigen. Er wohnt mit seiner Frau Tabitha im dritten Stock eines Dortmunder Altbaus. Im Eingang hängen Marionetten von der Decke. Im Wohnzimmer steht ein halbfertiger 3DDrucker. Das Esszimmer sieht aus wie ein mittelalterlicher Tafelsaal. Bis zu dieser Wohnung waren es für Günter mehr Stufen und Hürden als nur bis hoch in den dritten Stock. Überhaupt eine Wohnung zu haben, ist für Günter keine Selbstverständlichkeit. Zweieinhalb Jahre seines Lebens war er obdachlos. 20 Jahre ist das jetzt her. Als Verkäufer des Straßenmagazins Bodo ist die Straße immer noch sein Lebensinhalt, Einnahmequelle und Stütze seines Erfolgs. Aber nicht nur das: Die Menschen von der Straße kommen heute zu ihm. Er ist für sie Anlaufstelle, Berater und Zufluchtsort. Seit vielen Jahren helfen Günter und Tabitha Menschen aus der Obdachlosigkeit. In einem freien Zimmer ihrer gemeinsamen Wohnung lassen sie regelmäßig

Obdachlose und Menschen in schwierigen Lebenssituationen für ein paar Wochen unterkommen. Denn als ehemaliger Obdachloser weiß er, wie man sich auf der Straße fühlt und was man am meisten braucht: „Wenn du Menschen auf der Straße fragst, was sie sich wünschen, dann bekommst du vor allem eine Antwort: mal was Anderes sehen, mal in Ruhe schlafen können. Einfach mal abschalten und sich auf etwas anderes konzentrieren können.“

ERSTER SCHRITT AUS DER OBDACHLOSIGKEIT Es kommen Menschen, die Schutz brauchen. Zum Beispiel darf eine Prostituierte, die Zuflucht vor ihrem Zuhälter sucht, bei Günter übernachten. „Ich bleibe für diejenigen unbekannt, vor denen meine Gäste Schutz suchen, das ist der große Vorteil”, sagt der Hausherr. Durch seine eigenen Erfahrungen mit der Obdachlosigkeit hat er sich ein Netzwerk aufgebaut. Meistens bleiben die Männer und Frauen zwischen vier und sechs Wochen. In dieser Zeit wird ein offizieller Untermietvertrag ge-

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schlossen, durch den die Obdachlosen eine Meldeadresse bekommen. Diese macht viele bürokratische Dinge wesentlich einfacher, etwa das Beantragen von Sozialhilfe. Das wiederum ist ein wichtiger Schritt in Richtung Arbeit und eigener Wohnung. Neben dem zusätzlichen Zimmer unterhalten Günter und Tabitha mithilfe von Sozialhilfe und ihrem Bodo-Einkommen auch einen Wohnwagen mit festem Stellplatz. Er ist vor allem in den Wintermonaten „ausgebucht“. „Wir helfen jährlich etwa 15 Menschen von der Straße und wir machen das jetzt seit 18 Jahren“, erzählt Günter stolz. Der heute 52-Jährige hat zweieinhalb Jahre seines Lebens „Platte gemacht“, so nennen Wohnungslose das Leben auf der Straße. Übernachtet hat er am Kanal. Er zeigt ein Foto von seinem damaligen Besitz – alles in einem einzigen Fahrradanhänger. Ein Hund schaut hinten aus dem roten Anhänger heraus. „Der hat immer auf mich aufgepasst“, erzählt Günter. Einsam war die Zeit auf der Straße nicht. Mit anderen Men-


» Die Generation, die aus Protest absichtlich auf der Straße lebt,  gibt es nach meinen Erfahrungen nicht mehr. « Günter sagt, dass Trennung viele Menschen auf die Straße bringt.

schen, die in einer ähnlichen Situation waren wie er, lebte er in einer Art Gemeinschaft mit drei Zelten. „Da hatten wir´s schon gut, dass wir Zelte hatten.“

AUS DER GEMEINSAMEN WOHNUNG GEWORFEN Die Gemeinschaft hat sich gegenseitig unterstützt. „Einer hat immer aufgepasst, während die anderen arbeiten gegangen sind. Also Bodo verkaufen, Flaschen sammeln, betteln … das ist dann Arbeit“, sagt Günter. Wieder in eine Wohnung zu kommen, schien für den gebürtigen Dortmunder damals unmöglich. Denn ohne Meldeadresse gibt es kein Geld und ohne Einkommen gibt es keine Wohnung. „Natürlich hätte ich in dieser Situation auch meinen Eltern in den Hintern kriechen können“, sagt Günter. „Das wollte ich aber nicht.“ Man merkt Günter an, dass das Leben auf der Straße nicht das Schlimmste an seiner Situation damals war. Viel schlimmer sind für ihn die Ereignisse, die dazu geführt haben. Wie er die Kontrolle über sein Leben verlor. Es ist eine Geschichte über Trennung, Klagen

und Sorgerechtsstreit. Mit 26 Jahren hat Günter das erste Mal geheiratet. Ein Kind war zu dem Zeitpunkt schon unterwegs. Doch die Ehe ging nicht lange gut. „Es gab immer wieder neue Gerüchte, dass meine damalige Frau das Kind vernachlässigt und es tagsüber allein lässt“, erzählt Günter. Als sich für ihn der Verdacht verfestigte, habe er seinen Job als Maschinist aufgegeben, um sich selbst um die Tochter zu kümmern. Es sei zur Trennung gekommen. Günter verlor den Sorgerechtsstreit. Dann hätten Mitarbeiter des Jugendamts vor der Tür gestanden. „Ich musste unsere Wohnung sofort verlassen, da mir eine Gefährdung des Kindeswohls vorgeworfen wurde”, sagt Günther. Man merkt ihm an, dass er die Trennung von seiner Tochter bis heute nicht verarbeitet hat. Er spricht langsam, verbittert und macht immer wieder Pausen. Auf den Rausschmiss aus der Wohnung folgte eine Zeit der Klagen: gegen das Gutachten, gegen das Urteil, gegen das Jugendamt. Heute hat Günter keinen Kontakt mehr zu seiner Tochter, aber einen Berg Schulden. „Da ist für mich nichts mehr

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zu machen“, sagt er. Das freie Zimmer in seiner Wohnung war für seine Tochter gedacht. Damals hatte er noch Hoffnung. Heute schenkt das Zimmer Hilfsbedürftigen eine neue Perspektive.

MENSCHEN BEFINDEN SICH IN EINEM AUSNAHMEZUSTAND „Es sind fast immer Trennungen, die Menschen auf die Straße bringen“, sagt Günter. „Die Generation, die aus Protest absichtlich auf der Straße lebt, gibt es nach meinen Erfahrungen nicht mehr.“ Oft sei es auch der Tod eines Partners, sagt Bastian Pütter, Chefredakteur des Straßenmagazins Bodo. Wenn einer plötzlich sterbe, breche für den anderen eine Welt zusammen. „Die Menschen befinden sich dann in einem emotionalen Ausnahmezustand. Dann ist alles andere egal. Man fokussiert sich nur noch auf das Thema, das einen belastet und vernachlässigt seine Pflichten. Wenn man niemanden hat, der einem heraushilft, kommt schnell eins zum anderen. Bei Günter war das damals der Sorgerechtsstreit um seine Tochter“, erklärt Pütter.


» Die meisten Menschen, mit denen wir es zu tun haben, leiden an psychischen oder an Suchterkrankungen.« Bastian Pütter, Chefredakteur der Bodo

Günter hatte nach zweieinhalb Jahren auf der Straße großes Glück: Er erfuhr davon, dass seine Frau die alte, ehemals gemeinsame Wohnung verloren hatte. Die Wohnung stand frei und der Vermieter kannte ihn noch. „Ich habe den Mietvertrag dann einfach unterschrieben“, sagt er. Und von da an ging es wieder bergauf: Er lernte seine jetzige Frau Tabitha kennen und baute sich mit dem Bodo-Verkauf eine kleine Existenz auf. Er hat seinen Platz in der Gesellschaft gefunden. Nichtsdestotrotz kennt Günter auch seine Grenzen. Denn Hoffnung auf eine feste Arbeitsstelle macht er sich nicht mehr. Seitdem bei ihm Epilepsie festgestellt wurde, hat er zwar mehrere Jobs gehabt, diese aber immer wieder verloren. „Durch meine Krankheit bin ich mehrere Wochen im Jahr nicht arbeitsfähig. Mich stellt niemand mehr ein.“

UNTERWEGS IM KREUZVIERTEL Mittlerweile ist Günter einer der dienstältesten Verkäufer und mit viel Engagement dabei. Sein Verkaufsgebiet ist das Kreuzviertel und der Westpark. Schon von Weitem ist seine knallrote Verkäuferweste zu erkennen. Sein Gesichtsausdruck ist freundlich, aber bestimmt. Seine Mission trägt er in weißer Schrift auf dem Rücken: „Bodo – die besten Geschichten von der Straße“. Die Leute

im Viertel kennen ihn schon. Eine Frau kommt ihm mit einem Kinderwagen entgegen. Günter grinst sie an und hält ihr spielerisch eine Bodo vor die Nase. „Ich mach nur Quatsch, die hat doch schon längst eine“, ruft er lachend. Im Café Erdmann im Westpark sitzen zwei junge Frauen, die zuerst kein Interesse an der aktuellen Ausgabe zu haben scheinen. „Wir haben doch die letzten schon alle gekauft“ – doch schließlich wickelt sie Günter mit seiner direkten, lockeren Art um den Finger. „Ich verkaufe hier seit 21 Jahren und hab mir da meinen Namen gemacht. Man muss nur wissen wie.“

Bodo-Verkäufer – das ist Günters Beruf, so wie andere an der Supermarktkasse arbeiten, Versicherungen vertreiben oder Dächer decken. Der Unterschied: Als Bodo-Verkäufer bleibt man Sozialhilfeempfänger. Alle, die mehr als Arbeitslosengeld II, besser bekannt als Hartz IV, bekommen, haben keinen Anspruch auf einen Verkäuferposten. Faktisch gesehen ist Günter also immer noch arbeitslos. Manche würden sagen, er lebt immer noch auf Kosten der Gesellschaft – wird durch seinen Sozialhilfestatus von seinen Schulden entbunden und zahlt keine Steuern, sondern kassiert sie.

Den klassischen Weg ist er damit allerdings nicht gegangen. „Er ist bei uns eigentlich eine absolute Ausnahme“, sagt Bastian Pütter, der Günter und die anderen Verkäuferinnen und Verkäufer gut kennt. „Die meisten Menschen, mit denen wir es zu tun haben, leiden an psychischen oder an Suchterkrankungen“, sagt Pütter. „Sie sind immer noch an einem Tiefpunkt und werden auch leicht rückfällig. Günter stammt aus einer normalen Familie, ist abgestürzt und auf der Straße gelandet, hat sich dann mit Bodo wieder hochgekämpft. Jetzt lebt er verheiratet in einer schönen Wohnung.“ Dass er trotz dieses Erfolgs noch für Bodo arbeite, sei sehr ungewöhnlich und hänge eben stark davon ab, dass er sonst keinen Job finde.

EINE FRAGE DER MOTIVATION

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Doch für Günter ist es wichtig, sich etwas selbst zu erarbeiten. „Es ist der Wille, etwas verändern zu wollen. Guck mich an, ich baue mir gerade einen 3D-Drucker selbst – einen, der funktioniert. Und wenn es noch zwei Jahre dauert bis der fertig ist, dann ist das eben so. Das ist für mich eine Frage des Stolzes und auch der Motivation“, betont Günter. Auf den selbstgebauten Tisch im mittelalterlichen Esszimmer sind Tabitha und Günter besonders stolz. Auch die Mittelaltergewänder haben sie selbst genäht. „Basteln ist für mich Stressabbau, dann bau ich wenigstens keine andere Scheiße“, sagt Günter und lacht.


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Bodo schafft Chancen Wie ein Straßenmagazin Obdachlosen hilft

TEXT&FOTOLOUISA VON ESSEN

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ir freuen uns über jeden, der geht“, sagt Oliver Phillip. Mit einem Team aus Ehrenamtlichen und Angestellten unterstützt er als Vertriebsleiter mit Bodo – das Straßenmagazin Obdachlose und sozial Schwache. „Gehen“ heißt: nicht mehr auf das Projekt angewiesen sein, kein Harz IV mehr empfangen und sich einen stabilen Alltag aufgebaut haben. Das ist das langfristige Ziel des gemeinnützigen Vereins Bodo e.V. Seit 1995 erscheint monatlich eine Ausgabe des Straßenmagazins Bodo, dessen Name sich aus den Anfangsbuchstaben der Verkaufsstädte Bochum und Dortmund zusammensetzt. Ein Redaktionsteam aus regionalen Journalistinnen und Journalisten unter Chefredakteur Bastian Pütter erstellt die Magazininhalte – regionale Themen mit sozialem und kulturellem Schwerpunkt. Über 100 Verkäuferinnen und Verkäufer mit den verschiedensten Hintergründen und Lebensgeschichten verkaufen in Dortmund und Bochum pro Monat 20.000 Ausgaben. Um Verkäuferin oder Verkäufer zu werden, darf man maximal Arbeitslosengeld II bekommen, besser bekannt als Hartz IV. 2,50 Euro: Das ist der Preis, für den man die Bodo erwerben kann. Davon ist die Hälfte für die Verkäuferinnen und Verkäufer reiner Gewinn, denn für 1,25 Euro müssen sie jede Ausgabe beim Verein erwerben. Bis zu 100 Euro dürfen sie zusätzlich zum Hartz IV-Betrag verdienen – für viele die Hauptmotivation, sich mit der Bodo auf die Straße zu stellen. Die eigentliche Intention des Vereins ist eine andere: „Wir wollen den Menschen zurück zu einem geregelten Alltag verhelfen“, sagt Phillip. „Das fängt damit an, dass die Verkäufer morgens früh aufstehen müssen, um sich um 10 Uhr in der Zentrale die Zeitungen abzuholen. Sie müssen gepflegt sein und mit ihrem Geld haushalten.“

Alle neuen Bodo-Verkäuferinnen und Verkäufer bekommen ein kostenloses Startpaket von zehn Heften. Die dürfen sie dann verkaufen. Sie verdienen damit 25 Euro. Von diesen 25 Euro können sie dann für je 1,25 Euro weitere und dieses Mal mehr Zeitschriften kaufen. Die Menschen lernen zu wirtschaften. „Das bedeutet dann für die Verkäufer, dass sie mit ihren Einnahmen verantwortungsvoll umgehen müssen. Wenn sie das Geld direkt für Alkohol und Zigaretten auf den Kopf hauen, haben sie nicht mehr genug Geld für neue Hefte“, erklärt Phillip. Die Tätigkeit erfordert viel Mut, weiß der Vertriebsleiter. „Dafür gewinnen die Verkäufer mit ihrem Erfolg neues Selbstvertrauen.” Neben dem Verkaufsjob bietet der Verein die Möglichkeit, sich gegenseitig auszutauschen. Das Straßencafé in der Schwanenstraße und der Buchladen am Schwanenwall sind viel genutzte Anlauf- und Aufenthaltsstellen. Vor

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Ort sind Ehrenamtliche zur Stelle, die helfen und beraten, zum Beispiel bei Briefwechseln mit Ämtern oder beim Ausfüllen von Formularen und Anträgen. „Wir agieren hier mit den Leuten auf Augenhöhe. Viele, die zu uns kommen, haben einmal im Leben eine falsche Entscheidung getroffen, das heißt aber nicht, dass man ihnen nicht neue Chancen bieten sollte,“ sagt Phillip. Und „Bodo schafft Chancen“ – das ist jedenfalls das Motto, das in großen Buchstaben auf der Webseite geschrieben steht. Neben dem Verkauf des Straßenmagazins besteht auch die Möglichkeit, als Umzugs- und Transporthelferin oder -helfer beschäftigt zu werden. Im Buchladen können Jugendliche eine Ausbildung im Einzelhandel anfangen. Besonders freut sich der Verein neben Buchspenden für den Laden auch über Kleidung oder Sachspenden, die sich die Hilfsbedürftigen in den Geschäften mitnehmen können.


AUF EINMAL BIST DU UNSICHTBAR Zehn Euro erbettelt Markus im Durchschnitt jeden Tag. Er ist obdachlos und sitzt oft vor dem Dortmunder Hauptbahnhof. Fünf Stunden lang saß unsere Autorin Francine Fester neben ihm. Wie es war, andere Leute um Geld bitten zu müssen, erzählt sie hier. TEXTFRANCINE FESTER SYMBOLFOTODANIELA ARNDT

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wanzig Schritte entfernt, das Smartphone am Ohr, die teure Uhr am Arm. Der blaue Anzug sitzt und die Schuhe glänzen schwarz. Nur noch zehn Schritte entfernt. „Du schaffst das“, raunt es leise von der Seite. Fünf Schritte, ich fasse Mut: „Entschuldigen Sie bitte, haben Sie vielleicht eine kleine Spende für mich?“ Keine Reaktion, nicht mal eines Blickes würdigt mich der Mann. „Mach dir nichts draus, so ist das nun mal“, muntert Markus* mich auf. Es ist 12 Uhr. Ich, 21 Jahre alt und Journalistik-Studentin, sitze am Dortmunder

Hauptbahnhof vor einem Schnellrestaurant. Neben mir hockt der 23-jährige Markus. Seit 10 Uhr verharrt er dort. Zusammen sitzen wir auf seiner feuchten dunkelblauen Decke.

ihm und seinen Eltern war immer angespannt. Schon als Kinder wurden Markus und sein drei Jahre älterer Bruder von ihrem Vater geschlagen. Seine Mutter war machtlos.

EINE SCHNORRDOSE ALS WICHTIGSTES UTENSIL

Während er mir das erzählt, fallen ihm seine glatten blonden Haare in die Augen. Zwischendurch schiebt er sie unter seine schwarze Wollmütze. Doch die Haare fallen immer wieder in sein Gesicht. Seine löchrige graue Jogginghose ist dreckig und auch sein dunkelgrüner Pullover ist schmuddelig. Vor uns liegt ein nasser und dreckiger BVB-Schal. Mit beiden Händen umklammert Mar-

Seit drei Jahren lebt Markus bereits auf der Straße. Aufgewachsen ist er in Vreden, einer kleinen Stadt im Münsterland mit knapp 23.000 Einwohnerinnen und Einwohnern. Seine Mutter ist Bäckereifachverkäuferin und sein Vater Bauarbeiter. Das Verhältnis zwischen

*Auf den Bildern ist nicht Markus zu sehen. 27


kus seine Blechbüchse, als würde sie ihm Wärme spenden. Er nennt sie Schnorrdose. Seine Fingernägel sind von Dreck umrandet. „Frisch ist es heute, ‘ne?“, nuschelt Markus. „Ja“, antworte ich. Es sind nur zehn Grad. Die harten Steinplatten sind eisig. Die feuchte Decke, auf der wir sitzen, verschlimmert alles. Trotz meiner dicken Winterjacke und einer Strumpfhose unter meiner Jeans hat sich die Kälte schon durch meinen Körper gezogen. Markus und ich sind dankbar für jedes Öffnen der gegenüberliegenden Restaurant-Tür. Warmer Dampf, Ausdünstungen von Fritteusen-Fett, Pommes und Burgern schlagen uns dann entgegen. Wärme, die meinen kalten Händen guttut. „Haben Sie vielleicht eine kleine Spende für mich?“, frage ich alle, die an uns vorbeilaufen. Ich bin dankbar, wenn die Menschen überhaupt eine Reaktion zeigen, meine Nachfrage wenigstens ablehnen. Die Wenigen, die uns wahrnehmen, sind meistens Frauen. Sie schauen uns mitleidig an, bleiben stehen, kramen in ihrer Handtasche und geben uns ein wenig Kleingeld. Jedes Mal freut sich Markus, bedankt sich mehrmals und wünscht einen schönen Tag. „Das Lustige an der ganzen Sache ist, dass diejenigen, die augenscheinlich nicht so viel Geld haben, etwas spenden und diejenigen, die Geld haben, meistens nichts abgeben. Ich schätze, das ist der Weg, um reich zu bleiben“, sagt Markus und zählt dabei das Geld in seiner Schnorrdose.

MIT 19 ZU HAUSE RAUSGEFLOGEN Zur Schule ging Markus selten, gerade so schaffte er seinen Hauptschulabschluss. Ein Freund seines Vaters vermittelte ihm einen Ausbildungsplatz zum Gerüstbauer. Nicht gerade das, wovon er träumte, aber das Einzige, was er bekam. Nach Abschluss seiner Ausbildung blieb ein Anschlussvertrag für Markus aus. Er wurde arbeitslos, sehr zum Ärgernis des Vaters. Seine Mutter war nicht in der Lage zu schlichten. Die Folge: Der damals 19-Jährige flog zu Hause raus. Er verließ Vreden und kam

» Du gewöhnst dich daran, deinen Stolz runterzuschlucken. « Markus hat sich ans Betteln gewöhnt.

zunächst bei einem Freund in Bochum unter. Keine Dauerlösung. Kontakt zu seinen Eltern hat er seitdem nicht mehr. „Warten Sie“, ruft Markus, als er sieht, dass eine Frau im Rollstuhl die Tür des Schnellrestaurants nicht öffnen kann. Er springt auf und hilft. Verdutzt schaut ihn die Frau an, lässt sich helfen und bedankt sich bei ihm. Wieder auf seiner Decke sagt Markus: „Ich glaube an Karma. Wenn man Gutes tut, erfährt man auch Gutes.“ „Anfangs hat mich das Betteln schon sehr mitgenommen. Aber mit der Zeit gewöhnst du dich daran. Du gewöhnst dich daran, deinen Stolz runterzuschlucken. Ich nenne es seelische Prostitution“, sagt er. Seine hellblauen Augen starren dabei auf seine Blechdose. Nach einem kurzen Moment der Stille seufzt er leise und richtet seinen Blick wieder auf die vorbeigehenden Menschen. Eine Gruppe Schulkinder kommt auf uns zu. Sie guckt uns mitleidig an und verschwindet hinter der Eingangstür des Schnellrestaurants. 15 Minuten später kommen die Kinder wieder heraus. Eins von ihnen, ein Junge, vielleicht 13 Jahre alt, mit einem Schulranzen auf dem Rücken und verstrubbelten, hellblonden Haaren, kommt auf uns zu,

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in den Händen eine braune Papiertüte. „Hier für euch, falls ihr noch Hunger habt“, sagt er, lächelt und läuft dann schnell seinen vorauslaufenden Schulkameradinnen und -kameraden hinterher. Markus freut sich und schaut neugierig in die Tüte. Darin findet er Essensreste: Pommes, die teilweise mit Mayonnaise und Ketchup beschmiert sind, angebissene Hähnchen-Nuggets und Burger. Hastig greift Markus in die Tüte. Augenblicklich verschwindet das Essen in seinem Mund. Seine roten Hände zittern. Schnell greift er wieder rein. Er lächelt.

ZU MITLEID GESELLEN SICH SCHAM UND EKEL Während er isst, erwische ich mich dabei, wie ich Markus angewidert ansehe. Verschiedene Gedanken schießen mir durch den Kopf. Ekel, Scham, Mitleid und Unverständnis. Ich freue mich darüber, dass Markus etwas zu essen hat, dass ein kleiner Junge Empathie beweist und seine Essensreste einem bedürftigen Menschen gibt. Gleichzeitig widert mich das Essen an und ich schäme mich für meine Überheblichkeit. Ich denke an all das Essen, das ich jeden Tag zu mir nehme, und die Essensreste, die ich wegschmeiße. Wie undankbar ich bin für das, was ich habe.


„Ey, Markus, was geht?“, raunt jemand von der Seite. Hennes, eigentlich Johannes, streckt ihm die Hand entgegen. Der Geruch von abgestandenem Alkohol umgibt ihn. Der Gestank ist intensiv. Reflexartig greife ich mir an die Nase und versuche, sie unauffällig zuzuhalten. Dunkelgrün-schwarz gestreift ist seine Hose. Sicherheitsnadeln und metallene Ketten baumeln von Hennes‘ mit Nieten besetzten Bomberjacke.

viel brauchst‘n?“ Zwei, drei Euro würden reichen, meint Hennes. Dankbar steckt er das von Markus gereichte Geld in seine Hosentasche. Bei einem kurzen Lächeln ragen wenige gelbe Zähne aus seinem Mund und Grübchen graben sich in seine Wangen. „Wenn ich am Ende des Tages noch Geld übrig habe, gebe ich es ihm. Warum soll ich das Geld horten, wenn es andere nötiger brauchen?“, sagt Markus.

Kennengelernt haben sich Markus und Hennes an der Unionstraße in Dortmund. In der Übernachtungsstelle für Obdachlose schliefen sie wenige Meter voneinander entfernt. „Dort ist man dankbar für jeden, der einem nicht die Sachen klaut oder vollpinkelt“, meint Markus. Eine Nacht, so erzählt er, verließ er sein Bett, um auf die Toilette zu gehen. Als er wiederkam und sich ins Bett legte, stieg ihm der strenge Geruch von Urin in die Nase. Seine Matratze war nass und warm. Alle anderen Betten und Matratzen waren belegt. Markus blieb nichts anderes übrig, als auf dem Boden zu schlafen. Hennes überließ ihm seinen Schlafsack. Das war der Beginn ihrer Freundschaft.

NICHT WÜRDIG, EINE ANTWORT ZU BEKOMMEN

„Haste noch ‘n bisschen übrig für mich?“, fragt Hennes leise. Die schlechte Ausbeute von gestern hinterließ einen leeren Magen. Markus greift in seine Jackentasche und holt eine Hand voll Münzen heraus. Auf seiner Decke verstreut zählt er die Centstücke. „Wie

Mittlerweile habe ich Hunger, ich wollte ja nichts von den Essensresten mitessen. Außerdem hat die Kälte meinen Körper inzwischen vollkommen eingenommen – es ist 16 Uhr. „Entschuldigen Sie, haben Sie vielleicht eine kleine Spende für uns?“, hörte ich mich heute unzählige Male fragen. Es fühlt sich an, als hätten die Worte keine Bedeutung mehr. Als sei ich durch eine dicke Glaswand von den anderen getrennt. Ich bin es nicht würdig, eine Antwort zu bekommen. Ein Tag voller Demütigungen. Markus fühlt sich nicht so. „Ich habe mich dafür entschieden, so zu leben – zumindest auf Zeit. Natürlich war es am Anfang hart und ich habe genauso wie du und schlimmer gelitten. Aber mit der Zeit habe ich gelernt, den Menschen nicht böse zu sein. Sie können nichts für meine Lage.“ Als obdachlos würde sich Mar-

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kus nicht bezeichnen, er habe ja immer die Möglichkeit, in der Unterkunft an der Unionstraße zu schlafen. Auch bei einem Kumpel könne er ab und an ein warmes Plätzchen bekommen. Mittellos – das ist das, was er sei. „Eines Tages werde ich heiraten und wie jeder andere ein Haus und Kinder haben. Außerdem möchte ich einen Teich mit Fischen in meinem Garten“, sagt Markus und blickt in die Ferne. „Ich weiß nicht wie. Aber ich werde es schaffen. Bis dahin ist jeder Cent, den ich bekomme, ein kleines Erfolgserlebnis.“ Sieben Stunden saß Markus heute auf dem Boden – fünf davon saß ich neben ihm. Zusammen haben wir 15,83 Euro gemacht. Er freut sich, normalerweise erbettelt er nur um die zehn Euro. „Heute war ein guter Tag. Ich bin glücklich.“ Mein Experiment ist vorbei. Ich stehe auf und nehme die nächste U-Bahn nach Hause. Dort angekommen, dusche und esse ich und falle erschöpft ins Bett. Ich denke an Markus. Ich habe heute einen Menschen gesehen, der am Boden sitzt, nach Hilfe fragt und oft nicht angesehen wird. Der nur ein paar Cent und die Kleidung, die er trägt, besitzt. Und der sein weniges Geld mit einem, dem es schlechter geht, teilt. Auch bei dem scheinbar absoluten Kontrollverlust seines Lebens ist ihm seine Selbstbestimmung erhalten geblieben. Ich habe heute einen beeindruckenden Menschen gesehen.


IM WETTSTREIT MIT SICH SELBST Überfordert, gestresst und ausgebrannt – der 25-jährigen Studentin Lina* wurde alles zu viel. Sie brach zusammen und erzählt, wie sie ganz unten war, dabei ausgerechnet unter einem Apfelbaum landete und wie sie ihr Gleichgewicht wiederfand. TEXT&INTERVIEWLEONIE ROTTMANN FOTOLEONIE ROTTMANN & PRIVAT

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till und leise nahm die Dunkelheit immer mehr Platz in Linas* Leben ein. Sie breitete sich einfach in ihrem Körper aus. Langsam, aber mit Kraft. Lina wollte sich wehren. Doch sie konnte die Dunkelheit nicht aufhalten: der Beginn einer langen Reise zu sich selbst. „Ich wusste lange, dass etwas nicht stimmte. Aber ich wusste nicht, was. Und die Einsicht kam viel zu spät“, erzählt die 25-Jährige aus Dortmund. Sie spielt dabei nervös mit den Fingern an ihren blonden Haaren. Sie wippt unruhig mit den Beinen, kann den Blickkontakt nicht halten. Man merkt ihr an, dass es ihr bis heute unangenehm ist, über ihre Vergangenheit und ihre Krankheit zu reden. Drei Jahre zuvor stand Lina vor einem absoluten Tiefpunkt. Diagnose: Burnout.

ALLES WAR SCHEINBAR PERFEKT Mit der Zeit war ihr Leben immer mehr durcheinander geraten. „Ein scheinbar perfektes Leben“, das betont Lina mehrfach und verdreht dabei die Au-

gen. Ein scheinbar perfektes Abitur mit einem Notendurchschnitt von 1,1. Ein scheinbar perfektes Jura-Studium, das schon lange ein Traum von ihr war. „Wir dachten immer, Lina hätte alles, was sie will“, erzählt Linas Mutter, die neben ihr am großen, hellen Küchentisch sitzt. Man merkt den beiden an, dass sie ein enges Verhältnis haben. Schon immer sehnte sich Lina nach der Anerkennung ihrer Eltern. „Vor allem meine Mama war immer stolz auf mich, egal was ich gemacht habe. Ich konnte beobachten, wie ihre Augen strahlten, wenn sie von mir erzählte. Ich wollte sie auf keinen Fall enttäuschen.“ Sie schaut aus dem Fenster. Ihr Blick bleibt an einem Apfelbaum im Garten hängen. Dort ist sie damals aus dem Nichts weinend zusammengebrochen. „Ich bin von der Uni nach Hause gefahren und konnte meine Augen kaum noch offenhalten. Immer und immer wieder fielen sie zu.“ Lina fokussiert beim Erzählen den Baum: „Ich dachte, ich bräuchte nur etwas frische Luft und bin in den Garten gegangen. Als ich unter diesem Baum stand, gaben meine Beine nach. Ich fing fürchterlich an zu

*Name von der Redaktion geändert 30

weinen, ohne zu wissen, warum. Ich konnte nicht mehr aufhören.“ Heute kennt sie den Grund. Damals merkte die Studentin, dass etwas mit ihr nicht stimmte. Morgens kam sie schlecht aus dem Bett, wurde den ganzen Tag nicht richtig wach und es war völlig egal, wie früh sie schlafen ging. Jeden Morgen stellte sie sich die Frage, wie sie den kommenden Tag überstehen sollte. Jede Anstrengung erschien ihr riesig und nicht machbar. Obwohl ihre Eltern sie nie darum gebeten hatten, wollte Lina ihr Leben nach dem Abitur unbedingt selbstständig finanzieren. Zwar wohnt sie noch bei ihren Eltern, wollte ihnen dafür aber Geld geben und auch ihr Auto selbstständig bezahlen. Mit dem Beginn des JuraStudiums in Bochum fing sie an, abends in einem Restaurant zu kellnern. Doch sie unterschätzte die Belastung des Studiums, verbrachte ihre Zeit entweder in der Uni, zu Hause am Schreibtisch oder bei der Arbeit. Für Freundinnen und Freunde, Familie und Freizeit blieb keine Zeit mehr. In den ersten beiden Semestern waren ihre Leistungen noch


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überdurchschnittlich gut, so wie sie es aus der Schulzeit gewohnt war. Plötzlich fiel ihr Leistungsniveau rapide ab. Ende des dritten Semesters fiel sie durch mehrere Klausuren. Ihre Welt brach um sie herum zusammen. „Linas Augen waren wie tot. Da war kein Glanz mehr. Wir machten uns riesige Sorgen, kamen aber überhaupt nicht mehr an unsere Tochter heran“, erzählt Linas Mutter. Mehrere Versuche, die Tochter vor diesem Zusammenbruch auf ihre Lebensumstände anzusprechen, scheiterten. Bis zu einem lauen Frühlingstag: Sie erinnert sich an den Zusammenbruch unter dem Apfelbaum im Garten ihrer Eltern vor drei Jahren, als wäre es erst gestern gewesen.

EIN AUGENBLICK UND ALLES WAR VORBEI „Mein Wecker klingelte wie immer um 5.45 Uhr. Ich musste mir den Wecker immer so früh stellen, weil ich ständig die Schlummer-Taste drückte, bis ich endlich aufstehen konnte. Als der Wecker das erste Mal klingelte, dachte ich, mich würde ein Schlag treffen. So kaputt hatte ich mich noch nie gefühlt. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich diesen Tag überleben würde. Gegen 7 Uhr kämpfte ich mich ins Bad. Ich musste mich mehrfach auf den Boden setzen, weil meine Beine nachgaben. Irgendwie bin ich dann zur Uni gekommen, aber ich habe absolut keine Erklärung, wie ich das geschafft habe. Meine Wahrnehmung war wie durch einen Schleier. Zu Hause wollte ich mir kurz etwas zu essen machen und dann wieder an den Schreibtisch. Als ich in der Küche stand, wurde mir plötzlich total schwindelig und ich bekam Hitzewallungen. Ich dachte, das würde vielleicht am Wetter liegen und ging nach draußen in den Garten, um kurz frische Luft zu schnappen. Bis zu dem Apfelbaum dort drüben bin ich gekommen und kauerte auf dem Boden. Das nächste, was ich weiß, ist, dass meine Mutter neben mir hockte und versuchte, mich hochzuziehen.“ Linas Mutter kam an dem Tag früher von der Arbeit nach Hause und konnte ihre Tochter durch das Küchenfenster

unter dem Baum sitzen sehen. Sie rief sofort einen Notarzt. Direkt danach telefonierte sie mit ihrem Mann, der sofort heimkam. Der Notarzt verabreichte Lina starke Beruhigungsmittel und riet den Eltern nachdrücklich, ihrer Tochter eine Auszeit zu gönnen. „Es war ein langer Prozess, bis Lina eingesehen hat, dass sie krank ist und Hilfe braucht. Und diese vor allem annehmen konnte“, sagt die Mutter. Lina schaut sie an und ihre Augen strahlen Dankbarkeit aus. Sie weiß nicht, was ohne die Unterstützung ihrer Eltern passiert wäre. Sie kümmerten sich nach ihrem Zusammenbruch um alles: um die Beurlaubung an der Universität, die Krankschreibung für die Arbeit und um einen Platz in einer Reha-Klinik. Die Zeit dort half Lina wieder zurück in ihr Leben. Der Weg in die Klinik war nicht einfach. Nach dem ersten Antrag für eine psychosomatische Rehabilitationsmaßnahme kam der ernüchternde Brief der Krankenkasse: abgelehnt. Linas Mutter wird sauer, als sie davon erzählt. „Da rafft sich ein psychisch kranker Mensch auf und gesteht sich ein, dass er Hilfe braucht, was ja schon schwierig genug ist, und dann sowas“, sagt sie mit wütender Miene. Die Familie ließ sich davon nicht entmutigen und legte Widerspruch ein. Beim zweiten Versuch klappte es und Lina konnte sich nach mehreren Monaten Wartezeit in der Klinik endlich die Zeit für sich und ihre Bedürfnisse nehmen.

OHNE SELBSTACHTSAMKEIT FUNKTIONIERT DAS LEBEN NICHT Am Anfang war es für Lina schwierig in der Klinik. Sie konnte selbst nicht akzeptieren, dass sie krank war und Hilfe brauchte. „Ich fühlte mich wie eine Versagerin.“ Das änderte sich im Laufe der Therapie. Vor allem der klar strukturierte Tagesplan in der Klinik tat der Studentin gut. Morgens gab es ein gemeinsames Frühstück, dann Therapien, Mittagessen, nochmal Therapien, Abendessen, Freizeit. Solche Abläufe musste Lina erst wieder erlernen. Außerdem konnte sie in den verschiede-

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nen Therapieformen sich selbst und ihre Bedürfnisse kennenlernen. Einzeltherapie, Gruppentherapie, Bewegungs- oder Kunsttherapie. Das Spektrum war groß und Lina hatte die Möglichkeit, selbst zu entscheiden, was ihr guttut und was nicht. Ein Umdenken erreichte Lina vor allem in der Gesprächstherapie: „Ich habe dort gelernt, wie ich auf meinen Körper und meine Seele hören kann, um mir Auszeiten zu gönnen. Das war nicht immer einfach, aber es hat sich gelohnt.“ Neun Wochen verbrachte sie in der Klinik Wersbach in Leichlingen nördlich von Köln. Sie ist sich heute sicher, dass das die beste Entscheidung war, die sie je getroffen hat. Sie hat gelernt, auf ihren Körper und ihre Seele zu hören, sich Freiräume zu schaffen. Sie führt dafür jetzt ein Glückstagebuch. Jeden Abend schreibt sie auf, was sie an dem Tag gefreut, was sie geschafft und welche Ziele sie erreicht hat. Das sind aber vor allem Ziele außerhalb des Studiums. Ein erfolgreicher Tag bedeutet für sie mittlerweile, dass sie ein Gleichgewicht zwischen ihren Pflichten und Freizeitaktivitäten gefunden hat. Lina studiert weiterhin in Bochum Jura. Sie ist nach wie vor sehr ehrgeizig, aber mit Hilfe der Therapie konnte sie sich vom Perfektionismus verabschieden. Ihren Nebenjob hat sie gekündigt, um sich auf ihr Studium konzentrieren zu können. Ihre Eltern unterstützen sie finanziell und die Studentin lässt das zu. Sie sieht Hilfe nicht mehr als etwas Negatives, sondern freut sich darüber, dass ihre Eltern ihr das ermöglichen. Natürlich gibt es weiterhin stressige Phasen, zum Beispiel, wenn die nächste Klausur ansteht. In Leichlingen aber hat sie gelernt, dass sie nach einer temporären Überbelastung eine Pause braucht. Sie zieht noch mehr Vorteile aus dem Klinikaufenthalt: „Ich habe mich selbst sehr intensiv kennengelernt. Das sollte jeder Mensch im Laufe seines Lebens tun. Ich kann jetzt ein viel besseres Leben führen, weil ich die Zusammenhänge kenne und Verhaltensweisen besser verstehen kann.“


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Über Burnout im Beruf

Prof. Dr. Beate Beermann

as ist Burnout? Burnout ist nicht Teil der von der Weltgesundheitsorganisation herausgegebenen Klassifikation von Krankheiten. Streng genommen ist es also keine Krankheit. Burnout beobachtet man bei Menschen, die sich über lange Zeit sehr stark verausgabt haben. Zusätzlich verschwimmen bei ihnen meist die Grenzen zwischen Privatem und Beruflichem. Die Symptome sind vergleichbar mit denen einer Depression, dazu gehören zum Beispiel Antriebslosigkeit und die Unfähigkeit zu arbeiten. Die Betroffenen ziehen sich zudem häufig zurück. Was könnten erste Anzeichen für ein Burnout sein? Wenn Menschen Leistungen nicht mehr erbringen können, zu denen sie normalerweise in der Lage sind. Manchmal sind auch einfache körperliche Symptome zu erkennen, wenn Leute zum Beispiel abnehmen. Betroffene verlieren ihre Lebensfreude oder entwickeln eine Art Manie, werden also total überaktiv. Klassischerweise ist eins der ersten Anzeichen in einer Überlastungssituation ein Hörsturz mit einem Tinnitus. Wie kann ich selbst erkennen, dass ich betroffen bin? Wichtig ist, sich selbst zu reflektieren und auf die Signale des Körpers zu achten. Ich habe mal einen Mitarbeiter mit schweren Herzrhythmusstörungen betreut. Er stand konstant unter Druck und erst als der im Urlaub nachließ, brach er zusammen. Sein Körper wehrte sich gegen jede weitere Belastung. Der Mann zeigte klare physiologische Reaktionen auf den Stress. Vermutet man bei Bekannten oder Kollegen Burnout, ist es zudem häufig nicht einfach, sie darauf anzusprechen. Oft beklagen Betroffene, dass ihre Vorgesetzten nicht sehen, was sie alles leisten. Wer ist besonders oft betroffen? Grundsätzlich alle. Unsere Gesellschaft ist auf Leistung ausgerichtet. Einige Betroffene fallen nach einer temporären Belastungsphase kurzzeitig in ein Loch. Andere werden geradezu euphorisch, wenn sie ein Projekt beendet haben.

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Weil sie so sehr dafür gelobt werden und Anerkennung bekommen, gehen sie oft direkt ohne Erholungsphase in das nächste Projekt. Sie befinden sich dann in einer Eskalationsschleife. Hochmotivierte Leute sind definitiv gefährdeter. Wie wird Burnout therapiert und wie sind die Heilungschancen? Burnout ist heilbar, aber der oder die Betroffene wird immer gefährdet bleiben. Das ist ähnlich wie bei Rauchern. Sie können aufhören zu rauchen, aber nach nur einer Zigarette sind sie wieder dabei. Hilfe ist bei einem Burnout zwingend notwendig. In der Regel ist eine kombinierte Behandlungsform mit Psychopharmaka und Psychotherapie am vielversprechendsten. Problematisch ist es fast immer, wenn die Betroffenen zurück an ihren Arbeitsplatz kehren. Es muss als erstes die Frage geklärt werden, ob die alte Stelle überhaupt noch mit der Erkrankung vereinbar ist. Das gelingt nur dann gut, wenn sich der therapeutische Ansatz mit dem betrieblichen Abläufen verbinden lässt. Ich würde jedem Betroffenen empfehlen, wenn es an den alten Arbeitsplatz zurückgeht, weiterhin therapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Wie müsste unsere Arbeitswelt aussehen, um Erkrankungen wie Burnout zu verhindern? Die Gesundheitskompetenzen von Menschen müssten geschult werden. Und das am besten so früh wie möglich. Es muss klar werden, dass Gesundheit nicht nur eine gesunde Ernährung und ein bisschen Bewegung bedeutet, sondern eben auch die Erkenntnis, dass jeder Mensch das Recht und einen guten Grund dazu hat, Nein zu sagen. Pausen und Erholungsphasen müssen auf der einen Seite eingefordert und auf der anderen Seite auf organisatorischer Ebene akzeptiert werden.

Prof. Dr. Beate Beermann ist Fachbereichsleiterin bei der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin in Dortmund.


VIERTVERSUCH ENGLAND Alicia hatte einen Traum: Sie wollte Grundschullehrerin sein. Doch sie scheiterte im Drittversuch in Mathe – und fand so ihr Glück. Dafür musste sie nur auswandern. TEXT&INTERVIEWDANIELA ARNDT FOTOPRIVAT & INSTITUT FÜR PSYCHOLOGIE

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s ist Dienstagmorgen. Stille herrscht in dem Raum, in dem Alicia Wnendt sich auf ihren Tag vorbereitet; zumindest noch für einen Moment. Dann öffnet sich die Tür und die ersten Kinder laufen herein. Sie plappern durcheinander, Bücher werden auf Tische geknallt, Stühle über den Boden geschoben. Alicia lächelt. Seit zwei Jahren arbeitet die 24-Jährige schon an der Titus Salt School in Leeds, England. Dort betreut sie Kinder, die Schwierigkeiten in der Schule haben,

zum Beispiel aufgrund einer leichten Behinderung oder einer Lernschwäche. DSP heißt diese Tätigkeit: Designated Specialist Provision. Zu Deutsch: Den Kindern werden im Schulalltag Betreuerinnen und Betreuer zur Seite gestellt. Die Mädchen und Jungen, die Alicia betreut, sind wie eine kleine Familie für sie. Was sie nicht wissen, ist, dass auch Alicias Weg nicht leicht war. 2015 studiert Alicia noch Grundschullehramt an der Technischen Universität Dortmund mit den Pflichtfächern

Mathe und Deutsch sowie Englisch als Zusatzfach. Schon seit ihrer Schulzeit träumte sie davon, Lehrerin zu werden. Also hängt sie sich voll rein, geht zu allen Vorlesungen, lernt für Klausuren. Trotzdem: In Mathe läuft es einfach nicht. Sie steht im Drittversuch. Diese Situation lässt sie nachts nicht schlafen, geistert ihr im Kopf herum. „Natürlich kann der Drittversuch für Einzelne eine große Belastung sein“, sagt Ricarda Steinmayr, Leiterin des Instituts für Psychologie an der TU Dortmund. Das größte Problem sei, dass die Leistungsangst der Studierenden stark gesteigert sei, weil sie wissen, dass es danach mit dem Studium vorbei sein kann. „Wenn man dann ohnehin schon ein leistungsängstlicher Typ ist, dann ist es schwer, die Angst unter Kontrolle zu bringen“, erklärt Steinmayr. Solche Studierende könnten dann nicht abrufen, was sie eigentlich wissen. Sie hätten Blackouts, fänden nicht die richtigen Worte. Denn: Angst wirke leistungsmindernd. Die „Sorgenkomponente“ ziehe geistige Kapazitäten ab, die man eigentlich für die Prüfung bräuchte.

JÄHRLICH SCHEITERN ETWA 150 STUDIERENDE

Alicia (Mitte) mit zwei Schulkindern beim Orientierungslauf um den See

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So ist es letztlich auch bei Alicia. Der Tutor, der sie auf die Klausur vorbereitet hat, all die Stunden, die sie gebüffelt hat, die Beratung, die sie an der Uni gemacht hat – all das hat am Ende nicht geholfen. Obwohl sie sich eigentlich besser vorbereitet fühlt als vor dem Zweitversuch, fällt sie durch. Ihr Studium ist vorbei. Alicia ist mit ihrem Le-


benstraum gescheitert. Diesen Schock erleben jährlich etwa 150 Studierende an der TU Dortmund, wie die Pressestelle angibt. Das sind drei Prozent der 5.000 Studienanfänger, die es pro Jahr gibt. Eine kleine Zahl. Manche Studiengänge bieten außerdem eine vierte Zusatzprüfung an, so Pressesprecherin Eva Prost. Zu Ende ist der Weg also nicht für jede und jeden dieser 150. Für Alicia ist er es.

EIN NEUER WEG, KEIN NEUES ZIEL „Nachdem ich zusammengebrochen bin und nach all der Heulerei habe ich mich gefragt, wo mein Weg jetzt hingehen soll“, erzählt sie heute. Ihre Eltern schlagen ihr vor, einfach etwas anderes mit Kindern zu machen – Erzieherin zum Beispiel. Doch steht sie nicht zu hundert Prozent dahinter. Schließlich schließt sie einen Kompromiss mit ihrer Familie: Sonderpädagogische Förderung. Sie schreibt sich für das Studium in Dortmund ein, ist aber nicht glücklich damit. Statt sich auf das neue Ziel festzulegen, entscheidet Alicia sich für einen anderen Weg. Noch während ihres alten Studiums plante sie ein dreimonatiges Auslandspraktikum. Daran hält sie fest. „Ich wollte unbedingt eine Erinnerung haben, die nicht total schlecht ist“, sagt sie. Sie konzentriert sich auf den Trip. Was danach sein würde, ist für sie zu diesem Zeitpunkt nicht wichtig. Am 8. Januar 2016 landet Alicia in Leeds. Vor ihr liegen drei Monate Praktikum. Hier soll sie die Hälfte der Zeit als Sprachassistentin arbeiten und mit den Schülerinnen und Schülern Deutsch

Wiedersehen mit Alicias ehemaligen Lehrern und ihrer früheren Lehrerin lernen. Die andere Hälfte arbeitet sie im DSP-Team und betreut Kinder mit Schwierigkeiten in der Schule.

gebeten. Die Frage, die diese ihr stellt, kommt unerwartet: „Möchtest du noch mal drei Monate bleiben?“ Man hat für sie eine halbe Stelle geschaffen, bei der sie drei Tage die Woche bezahlt weiter im DSP-Team arbeiten kann. Alicia braucht nicht lange darüber nachdenken: Sie will das unbedingt.

Land und Leute gefallen ihr auf Anhieb. „Die Menschen sind hier einfach freundlicher und offener, als ich das aus Deutschland kenne“, erzählt die 24-Jährige. Besonders das Schulsystem, das sie dort kennenlernt, überzeugt sie. „Ich habe das Gefühl, dass sich die Lehrer hier besser um ihre Schüler kümmern.“ Alicia fühlt sich rundum wohl. Sie wohnt bei einer Gastmutter, die ebenfalls an ihrer Schule arbeitet. Sie findet schnell Freundinnen und Freunde – und verliebt sich in Chris, einen Kollegen. Ihr Plan, erst einmal die Zeit in England zu genießen, geht auf. Das „Danach“ will sie nicht an sich heranlassen. Nicht, bevor sie wirklich muss.

Sie verlängert um drei Monate. Zieht bei ihrem Freund ein. Weil sie ohnehin keine Lust hat, allein zuhause zu sitzen, arbeitet sie außerdem zwei Tage die Woche ehrenamtlich als Sprachassistentin. Alicia hat sich eingelebt. Sie hat einen neuen Weg gefunden. Und sie hat das Kollegium in Leeds von sich überzeugt.

Doch natürlich kommt die letzte Woche ihres Praktikums. Alicia realisiert, dass ihre Zeit in Leeds zu Ende geht. Das schlechte Gefühl kommt wieder. Sie wird von ihrer Chefin zum Gespräch

Alicias Abzweigung führt geradewegs auf eine weitere große Entscheidung zu. Nachdem auch die zweiten drei Monate sich dem Ende nähern, wird ihr eine feste Stelle im DSP-Team an-

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ABZWEIGUNG AUSWANDERN


geboten. „Ich hatte ein starkes Gefühl, dass ich zuhause mit dem Studium nicht wirklich glücklich werde“, sagt sie. Also wagt sie es: Sie bewirbt sich auf die Stelle, wohlwissend, dass sie damit den ersten richtigen Schritt Richtung Auswandern macht.

GEGEN DEN WILLEN IHRER ELTERN Sie entscheidet sich damit gegen den Willen ihrer Eltern. Die waren zwar mit den ersten drei Monaten Praktikum einverstanden, die Verlängerung jedoch war schon problematisch. Sie wollen unbedingt, dass Alicia in Deutschland ihr Studium beendet. Vor ihrer endgültigen Entscheidung testet die 24-Jährige vorsichtig aus, was ihre Eltern davon halten, wenn sie in Leeds bleibt. Der Wi-

derstand, auf den sie stößt, ist immens. Dennoch: In Leeds zu sein, ist ihr so wichtig, dass sie sich trotzdem bewirbt. Alicia bekommt den Job. „Als sie mir gesagt haben, dass ich den Job habe, haben sie auch gesagt, die Stelle wäre von Anfang an für mich gedacht gewesen“, erzählt sie. Ein Eindruck, den ihre Kollegin Gemma Longbottom nur bestätigen kann. Die beiden haben sich im DSP-Team kennengelernt und zusammen gearbeitet. Alicia habe sie sofort damit überzeugt, wie sie mit den Kindern umgegangen ist. „Wir wollten sie unbedingt hier halten“, sagt Gemma. Sie hält Alicia für „hundert Prozent erfolgreich“. Es sei einfach großartig, wie sie sich ein komplett neues Leben mit einem neuen Job und neuen Leuten in einem neuen Land aufgebaut habe; und

Beim Rudertraining für das Drachenbootrennen

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das alles in einer Fremdsprache. Von dem verpatzten Drittversuch wusste Gemma lange nichts. Alicia hatte Angst, dass die anderen sie für dumm halten könnten. Doch für Gemma ist es einfach eine Erfolgsgeschichte, wie Alicia nach Leeds gekommen ist. Die 24-Jährige selbst schätzt sich nicht als so erfolgreich ein. Den Drittversuch habe sie trotz allen Glücks manchmal noch im Hinterkopf. „Da werde ich vielleicht nie drüber hinwegkommen“, sagt sie. Vor allem habe sie sich selbst die Schuld gegeben. „Ich war überzeugt davon, dass es an mir gelegen hat, dass ich nicht genug getan habe und dass ich einfach zu dumm bin.“ Heute lebt Alicia wieder allein – von ihrem Freund hat sie sich getrennt. Neben ihrem Vollzeit-Job an der Schu-


le studiert sie Englisch und Deutsch als Fremdsprache an einer Fernuni. Da sie sich einige Module von der TU Dortmund anrechnen lassen kann, könnte sie schon im September 2019 fertig sein. Dann möchte sie ihr Trainer Teaching machen, das Referendariat in England. Am liebsten zum Teil in Leeds. Denn da möchte sie letztlich später als Fachlehrerin arbeiten. Zurück nach Deutschland kommt sie erstmal nicht. „Nur mein deutscher Pass verbindet mich noch mit Deutschland“, sagt sie. Auch wenn das Verhältnis zu ihren Eltern heute wieder gut ist. Alicia hat der Drittversuch zum Erfolg gebracht. Denn sie selbst sagt, wäre sie in ihrem Studium hier nicht gescheitert, wäre sie nach dem Praktikum wahrscheinlich zurückgekommen. Da-

bei ging es ihr nie um Geld, wie sie sagt, sondern immer darum, ihren Traumberuf ausüben zu können, glücklich zu sein. „Hätte ich mich nicht so wohl in Leeds gefühlt, hätte ich es nicht so weit gebracht“, sagt sie. Auch die Unterstützung ihrer Freundinnen und Freunde vor Ort und nicht zuletzt ein bisschen Glück hätten außerdem zu ihrem Erfolg geführt. Es ist Dienstagnachmittag. Alicia hat die Kinder gerade zu den Eltern gebracht, die zum Abholen an der Schule waren. Jetzt bereitet sie sich darauf vor, nach Hause zu gehen und später vielleicht noch mit ein paar Freundinnen und Freunden in den Pub zu gehen. Morgen warten die Mädchen und Jungen wieder darauf, von ihr durch den Tag begleitet zu werden.

Pause vom Klettern in Bewerley Park

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er Verlauf von Alicias Scheitern ist beispielhaft für den vieler Studierender, findet Ricarda Steinmayr. Zuerst kämen immer die negativen Emotionen, vor allem Scham – wenn man sich selbst die Schuld am Scheitern gibt. Oder Wut – wenn man die Schuld in anderen sieht. Das Problem bei diesen Gefühlen: „Wir lassen uns von diesen negativen Emotionen dann auch in unserem Handeln leiten“, sagt Steinmayr. Die kurzfristigen Reaktionen auf das Scheitern müsse man zunächst überwinden. Das geschehe meist, wenn man sich vom ersten Schock erholt habe und, wie auch Alicia, vor dem endgültigen Aus stehe. „Wenn dann solche Konsequenzen entstanden sind, dass man zum Handeln gezwungen ist, fängt man an, neu darüber nachzudenken.“ Man suche also nach neuen Möglichkeiten, neuen Wegen, neuen Zielen.

über Alicias Scheitern

Prof. Dr. Ricarda Steinmayr

Motivation Scheitern Alicias Fall zeige aber auch, dass Scheitern motivieren kann. Scheitern ist sogar sehr wichtig für unsere Entwicklung: „Es gehört zum Leben dazu zu scheitern, sonst lernen wir uns selbst nie richtig kennen. Wir müssen lernen, wo unsere Grenzen sind. Das können wir nur, wenn wir etwas Neues ausprobieren, was immer mit der Gefahr zu scheitern verbunden ist.“ Dafür sei es eben wichtig, so wie Alicia Situationen zuzulassen, in denen wir scheitern können. Manche Menschen würden sich bewusst nur in Situationen begeben, in denen ein Scheitern ausgeschlossen sei. Das sei aber nicht hilfreich, um weiterzukommen. Stattdessen solle man Situationen testen, in denen man nicht sicher ist, ob man scheitert oder es schaffen wird, rät Steinmayr. Der Umgang mit dem Scheitern sei schließlich auch Übungssache. Dennoch, es sollte sich in Grenzen bewegen. Das „kleine Scheitern“, wie etwa, wenn man ein Spiel verliert, könne gar nicht oft genug geschehen, findet die Professorin. Doch natürlich solle man nicht ständig an großen Lebensprojekten scheitern. Das könne zu Depressi-

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onen führen. „Aber grundsätzlich ist Scheitern sinnvoll, denn es gehört dazu, im Leben Abzweigungen zu nehmen.“

Die richtige Methode Aus psychologischer Sicht ist Alicias erste Reaktion auf ihr Scheitern eine Umgangsweise, die nicht gut für das Selbst ist. „Wenn ich mein Scheitern auf meine eigene Begabung zurückführe, dann ist das Problem, dass ich daran wenig ändern kann“, sagt Ricarda Steinmayr. Diese Art, mit dem Scheitern umzugehen, könne Depressionen begünstigen. Stattdessen solle man das Scheitern lieber auf die eigenen Anstrengungen schieben. Man könne etwa andere Lernstrategien ausprobieren oder nochmal eine Vorlesung besuchen. „Auf jeden Fall kann man aktiv bleiben.“ Auch die Strategie, das Misslingen auf andere Personen oder schlicht auf das Pech zu schieben, sei nicht hilfreich. „Die eigenen Anstrengungen können wir kontrollieren. Dann hat man das Gefühl, selbst wieder etwas machen zu können, um doch noch zum Erfolg zu kommen.“ Alles andere hemme nur die Handlungsfähigkeit.

» Das ist nicht das Ende « Ricarda Steinmayr sieht Alicias Fall als typisch an für das Scheitern an einem großen Ziel. „Es ist doch häufiger als man denkt der Fall, dass sich Leute sagen: Das ist nicht das Ende“, erklärt sie. Oft käme nach dem am-Boden-zerstört-Sein eine Phase, in der die Leute ihre Ziele überdenken und im Zweifelsfall neue Wege suchen würden. Für Steinmayr liegt der Hauptfaktor für Alicias Erfolg darin, dass sie so ein klares Ziel vor Augen hatte und bereit war, dafür Umwege zu gehen. Und das sei bestimmt nicht leicht gewesen: „Wenn man jung ist und das erste Mal groß scheitert, ist das erschreckend. Aber dann ist es gut, wenn man merkt, dass es trotzdem weitergeht.“ Prof. Dr. Ricarda Steinmayr ist Leiterin des Instituts für Psychologie an der TU Dortmund.


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REDAKTIONSASSISTENZ

Judith Wiesrecker ILLUSTRATION

Manuel Sobottka FOTOREDAKTION

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Daniela Arndt, Judith Wiesrecker

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Stephan Kleiber, Svenja Kloos, Anneke Niehues, Sophia Sailer, Martin Schmitz, Laura Spilker TEXTREDAKTION

Daniela Arndt, Salome Berblinger, Humberto Mario Consuegra Cardozo, Leon Elspaß, Francine Fester, Veronika Fritz, Clemens Hirmke, Merle Janssen, Sarah Niesius, Maarten Oversteegen, Leonie Rottmann, Angelika Steger, Gina Thiel, Louisa von Essen WIR DANKEN …

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dem Alumni-Verein Ex e.V. für die finanzielle Unterstützung dieses Projektes.

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ADMINISTRATION & TECHNIK

Stephan Kleiber

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Julia Knübel, Martin Schmitz LIEBLING KREUZVIERTEL

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REDAKTION

Uni-Center, Vogelpothsweg 74, Campus Nord, 44227 Dortmund

Julius Kleiber

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PROJEKTLEITERINNEN

Dr. Vanessa Giese, Stefanie Opitz (V.i.S.d.P.)

SCHLUSSREDAKTION

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HERAUSGEBER

Institut für Journalistik, TU Dortmund

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DRUCK

Lensing Druck GmbH & Co. KG Feldbachacker 16 44149 Dortmund

ID-Nr. 1874967

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