DEZEMBER 2018
Studierendenmagazin für Dortmund
RAUFT EUCH ZUSAMMEN! Ein Team. 14 Nationen. Dortmunder Jungs.
Eins vorab Krankenschwester Katrin Oehlschlegel betreut die, die nichts mehr haben. Jede Woche ist sie für Dortmunder Obdachlose unterwegs.
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TEXTMAX GROTE FOTODANIELA ARNDT
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iebe KURT-Fans, lasst Euch nicht von Grenzen aufhalten! Dass ich das selbst nicht mache, wird vielleicht schon an meiner ungewöhnlichen Signatur deutlich. Ich bin sehbehindert und schreibe für ein Heft, das ich selbst nicht lesen kann. Die Autorinnen Sarah Niesius und Pia Stenner berichten ab Seite 20 über ein Hilfsprojekt für Geflüchtete, das Studierende der Fachhochschule Dortmund initiiert haben. Student Sebastian Heinze war als Teil des Teams in Bosnien und Griechenland. Dort hat er mehrere Geflüchtetencamps besucht und die freiwilligen Helferinnen und Helfer unterstützt. Er erzählt von seinen schockierenden und schönen Erlebnissen und beschreibt, wie durch die Arbeit aus Grenzen Brücken entstehen. In der Geschichte auf Seite 34 macht ein Pärchen auch vor Grundstücksgrenzen nicht Halt. Es erkundet verlassene Orte und Gebäude. Autorin Karla Kallenbach haben die beiden davon erzählt. Auch im Sport werden Grenzen durch Teamplay und Zusammenhalt eingerissen: Autor Lukas Erbrich präsentiert den Rugby Football Club Dortmund, in dem 25 Spieler aus 14 Nationen zusammenspielen. Überschreitet Grenzen, verändert und seid offen für Neues. Denn so kann selbst ein blinder Printautor das KURT-Magazin lesen: Während meine Mitstudierenden das knisternde Papier in den Händen halten, sitze ich mit Headset am Laptop und die Computerstimme meiner Sprachsoftware säuselt mir die neuste Ausgabe ins Ohr. Auch das ist über Grenzen gehen. Viel Spaß beim Lesen!
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Die Uni Duisburg-Essen gibt Gummi: Studierende entwickeln einen E-Racer und hoffen nebenbei auf eine große Karriere. Gewonnen haben sie bisher noch nichts.
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Ein Pärchen steigt in verlassene Gebäude ein und hinterlässt nichts als Spuren im Staub. Die Villa einer kürzlich Verstorbenen liegt brach. Wie gemacht für die beiden Abenteurer.
Inhalt
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MEHR ALS VANDALISMUS
Streetart im Unionviertel
KONTAKTSPORT
Vierzehn Nationen – ein Verein
SAG MAL, PROF …?!
Warum war der November eigentlich so warm?
BIER IM WARTEZIMMER
Eine Krankenschwester für Obdachlose erzählt
DURCHHALTEN
Sebastian engagiert sich in Geflüchtetencamps
AUF DEN WEG GEMACHT
Sebastians Hilfsprojekt an der FH Dortmund
ARMIN, LASS UNS FREI
Jessica fordert: Mehr Flexibilität an der Uni
DIE KOHLE GEHT …
Wie hat sich das Ruhrgebiet verändert?
UND ES HAT SUMM GEMACHT
Studierende tüfteln an einem E-Rennwagen
NEBEN DER SPUR
Sofia arbeitet bei Starlight Express
IS' NUR HAUSFRIEDENSBRUCH
Die zwei Fragezeichen und die Villa der Toten
KURT UNTERWEGS
Hören, malen, kaufen
KURTS TRIP
Super Kimberly zockt im Videospiel-Museum
IMPRESSUM
Wer was wann wie gemacht hat und Rätsel
FOTOMALINA RECKORDT, JUDITH WIESRECKER & PRIVAT COVERFOTOHERMANN SCHRÖDER
⁄⁄ MOMENTE
Mehr als ein Graffiti
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Kein Bock auf Galerie oder Museum? Kein Problem! Im Unionviertel kann jeder Streetart erleben. Werke des Brasilianers Alex Senna und des Spaniers Miguel Ángel Belinchón Bujeser begeistern mit Plastizität auf flachen Häuserfassaden – einfach mal treiben lassen. FOTOSVEN DRÖGE
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RUGBY VERBINDET Wenn 25 Spieler aus 14 Nationen aufeinandertreffen, geht es im Sport längst nicht mehr nur um Sieg oder Niederlage. Beim Rugby Football Club Dortmund wird Integration gelebt. Wie wird aus einer Mannschaft ein echtes Team? TEXTLUKAS ERBRICHFOTOJUDITH WIESRECKER
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ie Asche: steinhart. Das Flutlicht: So grell, dass ein Blick hinein in den Augen schmerzt. Die Temperatur: fünf Grad. Ein eisiger Wind fegt über den Platz. Gemütlich ist es an diesem Herbstabend auf dem Mendesportplatz im Dortmunder Norden nicht. Gemütlichkeit ist ohnehin ein Begriff, den die Spieler des Rugby Football Clubs Dortmund (RFC) eher selten in den Mund nehmen – zumindest, wenn es um ihren Sport geht. Gesprochen wird – ja, was eigentlich? Deutsch, häufig Englisch, einige Füße und noch mehr Hände sind auch dabei. Die 25 Spieler der Mannschaft stammen aus 14 verschiedenen Nationen. Gerade wärmen sie sich mit kurzen, schnellen Sprints auf, als Enver Imamovic und Ryan Granby ihr Team zusammenrufen. Die Stimmen und das Lachen auf dem Sportplatz verstummen schlagartig.
DAS MEXIKANISCHE MENTALITÄTSMONSTER Auch Luis Callejas hört jetzt genau hin, was seine Trainer zu sagen haben. Größtenteils auf Deutsch, das Wichtigste übersetzt Coach Granby simultan ins
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Englische. Der Mexikaner Luis ist 1,70 Meter groß – den optimalen Rugbyspieler stellt man sich anders vor. Trotz des Bauchansatzes unter dem Trikot hat es Luis’ Spielweise in sich. Setzt er einmal zum Sprint an, ist er für seine Gegenspieler kaum zu stoppen. Zu Boden bringt Luis so schnell jedenfalls nichts. Er hat ein feuriges Temperament, liefert sich im Spiel Wortgefechte mit seinen Gegnern. Das braucht er, um auf Touren zu kommen. Der 32-Jährige kam vor eineinhalb Jahren nach Dortmund, um hier zu arbeiten. Damals sprach er kaum ein Wort Deutsch. Seitdem ist viel passiert. Rugby erleichtert es Luis, sich einzugewöhnen. „Dieser Sport vertritt weltweit eine Kultur des Teamgeists und Willkommens, Dortmund ist da keine Ausnahme“, sagt er. Der Mix aus Deutsch und Englisch helfe, die Sprache schneller zu erlernen. Inzwischen könne er fast alles verstehen und spricht mit seinen Teamkollegen so viel wie möglich. Deutsch. Abends und an den Wochenenden wirft er sich für den RFC in den Dreck – mal auf die steinharte Asche, mal auf aufge-
Markus Grefen (links) zeigt im Training vollen Körpereinsatz.
weichte Rasenplätze. Tagsüber tauscht er Trikot und Mundschutz gegen Hemd und Jeans: Luis arbeitet als Ingenieur im Bereich Konstruktion beim Essener Konzern Thyssenkrupp. Rugby kommt ursprünglich aus England. Hier in Deutschland wird der Mannschaftssport oft mit American Football verwechselt. Die amerikanische Profiliga NFL und der Superbowl schaffen es hierzulande allmählich aus dem Schatten des Fußballs heraus. Rugby hat in dieser Hinsicht noch einen weiten Weg vor sich – in den Heimatländern der Spieler ist das anders. Viele standen schon als Kind auf dem Platz. Zu den Spielen der deutschen Regional-
liga verirrt sich oft nur eine Handvoll Zuschauerinnen und Zuschauer an die Seitenlinie. Vielleicht, weil der Sport nichts für schwache Nerven ist. Rugby ist hart und körperbetont. Was die Spieler auf dem Feld vor der Wucht eines Zusammenpralls schützt: ein Mundschutz, bei Bedarf auch ein Helm.
» AUF DEM PLATZ HERRSCHT KRIEG « Ohne Regeln geht da nichts. Für den RFC steckt aber noch mehr dahinter: Disziplin, gegenseitiger Respekt und Weltoffenheit. Das leben die Trainer und Spieler im Verein vor. „Auf dem Platz herrscht Krieg, nach dem Spiel klat-
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schen sich die Jungs ab und es ist Frieden“, sagt Co-Trainer Ryan Granby dazu. Ausländische Studierende und Arbeiter haben den Verein seit der Gründung im Dezember 2007 über Wasser gehalten, sagt Granby. Wer heute kam, war morgen vielleicht schon wieder weg. In den vergangenen drei Jahren hat sich die Struktur der Mannschaft gefestigt. Neue Leute sind trotzdem immer willkommen, auch ohne Rugby-Erfahrung. Einzige Bedingung: „Ein Gefühl für Mannschaftssport“, sagt Granby. Die körperliche Statur spiele dabei keine Rolle, beim Rugby gebe es für jeden eine Position. Dieses Mannschaftsgefühl hat den RFC zum besten Saisonstart in
Kein Spiel ohne Regeln Grundregeln Beim Rugby treffen zwei Mannschaften mit je 15 Spielern aufeinander, ein Spiel dauert 80 Minuten. Die Tore bilden zwei Malstangen und eine Querlatte. Punkte Ziel ist es, einen Try zu landen. Das Rugby-Ei muss dabei im sogenannten Malfeld des Gegners abgelegt werden. Das Team erhält so fünf Punkte. Ein Try kann mit einem Kick „erhöht“ werden. Dafür muss das Ei durch das Tor geschossen werden. Die Mannschaft, die per DropKick ins Tor trifft, bekommt drei Punkte.
seiner Vereinsgeschichte getragen: Von den ersten vier Regionalliga-Spielen gewannen die Dortmunder drei.
spricht er nicht, deshalb brüllt er dem Team mit starkem Akzent Kommandos auf Deutsch entgegen.
» SPORT IST KEINE DEMOKRATIE «
Aber selbst jene, die den 61-Jährigen in diesem Moment nicht verstanden haben, wissen genau, worum es dann geht. Es zählt nur noch Vollgas. CoTrainer Granby scheint da etwas lockerer zu sein. Mit seinen 32 Jahren ist er kaum älter als die meisten Spieler und um einen flotten Spruch nie verlegen. Trotzdem: Wer sich hängen lässt, dem bellt auch er lautstarke Kommandos zu, Alter hin oder her. Disziplin macht aus dem Pulk der einzelnen Spieler erst eine Mannschaft. Ob Eli Nyakudya weiß, was das Trainerduo ihm und seinen Kame-
„Sport ist keine Demokratie“ ist ein Satz, der bei so viel Zusammenhalt eigentlich nicht auf den Mendesportplatz passt. Coach Enver Imamovic – die Mannschaft nennt ihn nur Enko – sagt ihn trotzdem. „Wenn jeder macht, was er will, bricht hier das Chaos aus.“ Der ehemalige bosnische Nationalspieler hat mehr als 40 Jahre Rugby-Erfahrung und ist für seine anstrengenden Trainingseinheiten berüchtigt. Englisch
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Spielregeln Der Ball darf ausschließlich zurückgeworfen werden. Das Rugby-Ei zu treten, ist hingegen in alle Richtungen erlaubt. Wichtig: Es darf nur der balltragende Spieler angegriffen werden. Und: Berühren andere Körperteile als die Füße den Boden, muss der Spieler das Rugby-Ei sofort loslassen. Wem das alles zu theoretisch ist: Der Rugby Football Club Dortmund trainiert am Montag und Mittwoch von 18.30 bis 20.30 Uhr am Mendesportplatz im Dortmunder Norden.
raden da eben zugebrüllt hat? Vielleicht. Vielleicht reimt er es sich auch zusammen. Rein optisch hat der 30-Jährige mit seinem Teamkollegen Luis nicht viel gemein: Eli misst fast 1,90 Meter, wiegt 90 Kilo und ist mit Muskeln bepackt. An ihm sind schon viele Gegner abgeprallt. Für den RFC ist das extrem wichtig, Eli spielt meistens als Schlussmann und hält seinem Team den Rücken frei. Vor mehr als zwei Jahren kam er aus Simbabwe nach Deutschland. In seiner Heimat bedeutet Rugby den Menschen mehr. „Die Rugby-Kultur hat selbst in der High School wenig mit Spaß zu tun.“ Vielmehr herrsche ein Ton wie bei der Armee, sagt Eli. Im Vergleich dazu geht es beim RFC locker zu.
Auch im Alltag beweist Eli Kampfgeist. Um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, arbeitet er neben seinem Job als Englisch-Lehrer auch in einem Sushi Restaurant. Den Bachelor schloss er an einer südafrikanischen Uni im Fach Wirtschaftswissenschaften ab. Im nächsten Jahr soll der Master an der Ruhr-Uni Bochum folgen. Dafür benötigt er Deutsch-Kenntnisse auf Sprachniveau C1. Selbst wenn es manchmal schwerfällt: Eli strengt sich an, so schnell es geht Deutsch zu lernen. Der Kontakt beim RFC hilft.
SPRÜCHE OHNE RÜCKSICHT AUF VERLUSTE Markus Grefen ist ein kräftiger Mann, der dem Prototyp eines Rugbyspielers entspricht. Die Vollgas-Ansage von Coach Imamovic hat Markus verstanden – und eigentlich gar nicht gebraucht. Mit vollem Körpereinsatz wirft sich der 27-Jährige beim Training gegen die imaginären Gegenspieler aus Schaumstoff, die sie beim RFC Pads nennen. Markus ist vor gut fünf Jahren über den Unisport ins Team gekommen. Er hat schon viele Spieler kommen und gehen sehen – und findet immer wieder neue Kumpel in der Mannschaft. „Gerade die Jungs aus Afrika und Südamerika sind bei der ersten Begegnung kontaktfreudiger und lockerer als die Deutschen.“ Bei aller Härte und Disziplin macht diese Lockerheit den RFC aus. Die Spieler nehmen sich nicht allzu ernst. Gerade Eli und Luis machen sich gern übereinander lustig – ohne Rücksicht auf Kultur, Herkunft und Familie. Nachtragend sind sie nicht, auch wenn einige Sprüche unter die Gürtellinie gehen. „Was Humor betrifft, sind die Jungs aus anderen Ländern eben entspannter als unsere deutschen Spieler“, sagt Ryan Granby.
Luis Callejus ist mit 1,70 Meter kleiner als die meisten seiner Mitspieler.
Nach gewonnenen Heimspielen geht das gesamte Team feiern. Am liebsten essen und trinken die Jungs dann in der Brückstraße in der Dortmunder Innenstadt. Interkulturelle Begegnungen gibt’s eben nicht nur auf dem Spielfeld.
HEUTE BLEIBEN ALLE BÄUCHE UNTER DEN TRIKOTS Ein, zwei weitere Trainingsübungen und im Anschluss das obligatorische Abschlussspiel – ganz vorbei ist das Training trotzdem noch nicht. Erst muss die Mannschaft auslaufen, dabei
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schmettern die Spieler lautstark immer wieder: „Wir werden dem RFC treu sein und es gibt nie einen anderen Verein.“ Noch schnell die Leibchen und Hütchen einsammeln, dann geht‘s ab in die Kabine. Wer nicht mithilft, dem wird eine besonders unangenehme Abreibung verpasst: Brennbauch nennen sie das hier. Bedeutet: Bauch freimachen, zehn Sekunden Klatscher einstecken, bis der Bauch die Farbe einer reifen Tomate annimmt. Heute bleiben alle Bäuche unter den Trikots, Spieler und Trainer verschwinden in der Kabine, das Flutlicht geht aus.
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Wieso war der November so warm? TEXT&FOTOANNA QUASDORF ILLUSTRATIONLYDIA MÜNSTERMANN
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-Shirt im November, Spaziergänge bei 20 Grad und die Winterjacke wieder im Keller: Der Herbst war dieses Jahr ungewöhnlich warm. Das liegt daran, dass wir eine besondere Luftdruckkonstellation hatten. Über Osteuropa lag ein sehr stabiles Hochdruckgebiet. Über West- und Nordeuropa ein Tiefdruckgebiet. Diese Hochund Tiefdruckgebiete drehten sich in unterschiedliche Richtungen und wehten so warme Luft aus dem Süden nach Deutschland. Solange diese Situation anhielt, blieb es warm. Es ist übrigens nicht ungewöhnlich, dass es um diese Jahreszeit einen hohen Luftdruck gibt. Der goldene Oktober mit relativ hohen Temperaturen im Herbst verschiebt sich manchmal auch in den November. Das nennen viele Altweibersommer. Der Name kommt von den Spinnweben: Im Herbst kühlen sich die Nächte so sehr ab, dass die mit Tau bedeckten Spinnweben an die grauen Haare von älteren Frauen erinnern. Die warme Wetterlage ist nicht direkt mit einem klimabedingten Wandel gleichzusetzen. Hier sind nämlich zwei unterschiedliche Auswertungsprozesse am Werk: die Wetterlage, die kurzfristig ist, und der Klimawandel, der langfristig ist. Dieses Jahr gab es eine außerordentlich starke Trockenheit, die bereits im Frühjahr begann. Auch der Sommer war ungewöhnlich warm – dennoch übertraf er nicht den Extremsommer von 2003. Immerhin konnte dieser Sommer klimatisch mit einem Sommer in Mittelitalien mithalten. Ein heißer Sommer macht noch keinen Klimawandel – obwohl die Daten in die allgemein und global ansteigenden Lufttemperaturen gut hineinpassen. Erst wenn sich die Anzahl derartiger Sommer in Zukunft erhöhen würde, wäre das ein weiteres Zeichen für den Klimawandel. Grundsätzlich zeigen Modellrechnungen, dass Hitzeepisoden zunehmen werden. Stärkere Hitze erhöht nachweislich die Sterbe- und Krankheitsraten in der Bevölkerung. Und die Hitze wäre vor allem in den Großstädten ein Problem. Stadtplanerinnen und Stadtplaner sollten jetzt schon für viel Grün und eine gute Durchlüftung sorgen.
Wie dieser Winter wird, ist schwierig vorherzusagen. Es gibt keinen einfachen Zusammenhang zwischen einem heißen Sommer und einem kalten Winter. Wahrscheinlich wird der Winter eher mild. Das hat aber nichts mit dem heißen Sommer zu tun, sondern mit dem Temperaturverlauf der vorigen Winter. Die klimatischen Entwicklungen zeigen, dass die Lufttemperaturen weiter steigen werden. Das liegt an den Treibhausgasen in der Atmosphäre, die zunehmen werden. Deshalb kann es sein, dass auch die Monate Oktober und November immer wärmer werden. Das sind nur allgemeine und statistische Aussagen, die nicht in jedem Jahr zutreffen müssen. Daher können wir nur abwarten, wie sich das Wetter in den nächsten Jahre entwickeln wird. Dass wir bald in Badehose vor dem Weihnachtsbaum sitzen, müssen wir allerdings nicht befürchten. Prof. Dr. Wilhelm Kuttler ist Professor (i. R.) für angewandte Klimatologie an der Uni DuisburgEssen.
KRANKE DRITTER KLASSE Zu ihr kommen jene, die oft schon längst im Krankenhaus liegen sollten: Katrin Oehlschlegel ist eine von zwei Obdachlosenkrankenschwestern in Dortmund. Sie behandelt mehr als 400 Betroffene – und es werden immer mehr, die ihre Hilfe brauchen. TEXTPAULINA WÜRMINGHAUSEN FOTOJUDITH WIESRECKER
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er zu Katrin Oehlschlegel kommt, fühlt sich in einem normalen Wartezimmer nicht erwünscht. „Nicht wartezimmerfähig“, nennt die Krankenschwester das. Ihr kleines, L-förmiges Büro in der zentralen Beratungsstelle für wohnungslose Menschen (ZBS) ist zugestellt: In der einen Ecke der Schreibtisch, darauf ein Bonbon-Glas mit Mullbinden, auf der anderen Seite Regale mit Medikamenten. „Leere Pillendosen“ und „diverse Schmerzmittel“ ist auf die Boxen geschrieben. Auf einer Krankenliege sitzt ein Mann, Torsten Kotlarski, ein Bein ausgestreckt, das andere baumelt herunter. Es ist 9.30 Uhr an einem Montagmorgen im Oktober, im Zimmer steht die Hitze, die Fenster sind beschlagen. Trotzdem trägt Kotlarski zwei Pullover übereinander. Vorsichtig krempelt er seine Hose bis zum Knie hoch. Eine faustgroße, of-
fene Wunde kommt zum Vorschein, gelb und eitrig. Die fleischfarbenen, schon verheilten Ränder ziehen sich kreisförmig um die Verletzung, verdecken an einigen Stellen ein Tattoo. Oehlschlegel beugt sich über das Bein, ein paar dunkelblonde Strähnen fallen aus ihrem lockeren Zopf. Die 51-Jährige sprüht Desinfektionsmittel auf die Wunde, drückt an ihr herum, schmiert sie mit Salbe ein. „Boah, jetzt wird mir aber schwindelig“, sagt Kotlarski und verzieht das Gesicht. „Die Arterien sind zu, eigentlich müssten Sie ins Krankenhaus“, erwidert Oehlschlegel ruhig und schiebt ihre Brille die Nase hoch. Im schlimmsten Fall würde sich die Infektion ausbreiten und eine Sepsis auslösen, eine Entzündungsreaktion im ganzen Körper. Doch Oehlschlegel weiß, dass ihr Patient nicht ins Krankenhaus gehen wird. Kotlarski ist obdachlos, will sich nicht regulär behandeln lassen – so wie viele Menschen, die auf der Straße
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leben. Also gibt es nur ein wasserfestes Pflaster und einen Verband. Drei, vier Mal wickelt Oehlschlegel ihn um das Bein.
BEHANDLUNGEN IM HINTERZIMMER Katrin Oehlschlegel ist eine von zwei Obdachlosenkrankenschwestern in Dortmund, teilt sich die Stelle mit einer Kollegin. Seit 2015 arbeitet sie in der ZBS der Diakonie in der Nordstadt, zieht Fäden, misst den Blutdruck, behandelt Wunden. „Alles querbeet, wie beim Hausarzt“, sagt sie. Vor einem Jahr hat sie eine Weiterbildung zur Wundexpertin gemacht. Außerhalb der Sprechstunden behandelt die Krankenschwester ihre Patientinnen und Patienten in Hinterzimmern von Kneipen, Suppenküchen und Übernachtungsstellen. Ihren Koffer mit Medikamenten und Verbänden hat sie immer dabei.
» Ich muss die Menschen manchmal auch zum Sterben auf die Straße schicken. « Katrin Oehlschlegel, Obdachlosenkrankenschwester
Bevor sie Obdachlosenkrankenschwester wurde, hat Oehlschlegel 18 Jahre im Johannes-Hospital in Dortmund gearbeitet, in der Onkologie. „Dort waren die Patienten ein paar Wochen auf Station und man hat eine ziemlich starke Bindung aufgebaut. Genau wie hier“, sagt sie. Einige Obdachlose kommen schon seit Jahren zu ihr, andere einmal und dann nie wieder. „Einer der schönen Momente ist, wenn Menschen, die sich eigentlich nicht behandeln lassen wollen, doch wiederkommen“, sagt die Krankenschwester. Dann erst könne sie ihnen wirklich helfen.
Haft entlassen, nach insgesamt sechs Jahren. Vom Heroin bin ich weggekommen, Kokain-Rückfälle habe ich nur noch zwei bis drei Mal die Woche“, sagt Kotlarski. Durch den starken Drogenkonsum wird das Bein nicht mehr richtig durchblutet, die Wunde kann nicht verheilen. Der Zustand verschlechtert sich. „So etwas ist schon frustrierend“, sagt Oehlschlegel. Als das Bein versorgt ist, drückt sie Kotlarski eine blaue Tüte in die Hand, vollgestopft mit warmen Klamotten für den Winter. Sofort setzt er sich eine Mütze auf: „Die is’ top.“ Er strahlt von einem Ohr zum anderen.
FRUST STEHT AUF DER TAGESORDNUNG
Im Keller der Diakonie gibt es eine Kleiderkammer, einen Aufenthaltsraum, eine Schlafstelle mit ein paar Feldbetten und Sanitäranlagen. Manchmal muss Oehlschlegel die Obdachlosen dort waschen, wenn sie zu verwahrlost sind oder es allein nicht schaffen. „Das mache ich nicht so gern“, sagt die Krankenschwester. Hemmungen habe sie ansonsten keine. Die vielfältigen Aufgaben machen den Beruf für sie erst inter-
Torsten Kotlarski lässt sich seit drei Monaten von ihr behandeln. Er muss wegen seiner Wunde am Bein fast jeden Tag kommen. „Wie eine Ersatzmama“, sagt der 46-Jährige. Oehlschlegel erkundigt sich, hört sich die Geschichten ihrer Patientinnen und Patienten an. „Ich wurde vor einem halben Jahr aus der
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essant. Sie behandelt Patientinnen und Patienten mit den unterschiedlichsten Krankheitsgeschichten, darunter häufig HIV oder Hepatitis C. Da die Menschen sich oft nicht mehr richtig pflegen und auch nicht auf die Warnsignale ihres Körpers achten, muss die Krankenschwester besonders aufmerksam sein.
TROTZ ALLEM: ANGST IST KEINE OPTION Freundlichkeit erfährt sie trotzdem nicht immer. Einige männliche Patienten hätten regelmäßig nur anzügliche Sprüche für sie übrig. „Wenn du auch obdachlos wärst, dann wärst du meine Freundin“, sei da noch harmlos. Mit manchen kann sie nicht allein in einem Zimmer sein, muss sich dann Verstärkung aus den Nachbarbüros der ZBS holen. Oehlschlegel weiß, dass in solchen Fällen nur selbstbewusstes Auftreten und eine klare Körpersprache helfen. „Angst darf man in diesem Beruf nicht
haben“, sagt sie. Die Patientinnen und Patienten respektieren sie – ein Umstand, der in diesen Kreisen nicht unbedingt selbstverständlich sei. Gerade bei Männern: Für viele ist Oehlschlegel die einzige weibliche Bezugsperson. „Jetzt setzen Sie sich erstmal hin“, sagt sie freundlich, aber bestimmt zu einem Patienten, der in dem kleinen Büro unruhig auf- und abläuft. Körperlich wäre Oehlschlegel den meisten Obdachlosen aber trotzdem unterlegen: Sie ist dünn, nicht besonders trainiert – dafür aber sehr groß. Die Krankenschwester arbeitet jeden Tag mit Menschen, die gerade das Nötigste zum Leben haben. Und meistens nicht einmal das. Sie ist berührt davon und es zeige ihr, wie „wohlhabend“ sie selbst doch sei. Ob diese Gedanken sie nach Hause begleiteten? „Nein. Man muss sich klar machen, dass man nicht jedem helfen, dass man die Menschen nicht von der Straße holen kann“, sagt
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die Krankenschwester. Geld gebe sie Obdachlosen nie, auch nicht denen, die sie kennt. Wirklich helfen könne sie nur, indem sie die Menschen mit Würde und Respekt behandle, sagt Oehschlegel. Am schwierigsten sei ihre Arbeit, wenn sie mit jungen Leuten zu tun hat. 15, 16 Jahre alt. „Vielleicht liegt es daran, dass ich selbst Kinder habe“, sagt sie. „Es ist schwierig zu sehen, dass das Leben schon vorbei ist, bevor es richtig angefangen hat.“ Mit dieser Chancenlosigkeit werde sie ständig konfrontiert. „Ich muss die Menschen manchmal auch zum Sterben auf die Straße schicken.“ Den Beruf als Obdachlosenkrankenschwester aufgeben wolle sie trotzdem nicht. Schließlich sehe sie tagtäglich, wie sie Menschen in Not helfe. Für sie ist es ein Job wie jeder andere, „nur eben abwechslungsreicher“, sagt sie trocken.
BIER VERKÜRZT DIE WARTEZEIT Katrin Oehlschlegel teilt sich mit ihrer Kollegin die einzige Stelle als Obdachlosenkrankenschwester in der Stadt. „Wir brauchen unbedingt Unterstützung“, sagt Oehlschlegel. 2014, als sie selbst noch nicht in der ZBS arbeitete, habe ihre Kollegin circa 1400 Mal behandelt. In diesem Jahr seien es bereits knapp 3000 Behandlungen (Stand Oktober 2018). Überstunden macht die Krankenschwester trotzdem nicht, häufig seien die Obdachlosen zu ungeduldig, um länger zu warten. Sie kämen dann lieber am nächsten Tag wieder. „Es werden immer mehr auf der Straße, die Hilfe brauchen“, sagt die 51-Jährige. In Dortmund sind aktuell etwa 400 Menschen obdachlos, heißt es aus der Pressestelle der Stadt. Laut der Bundesar-
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beitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG) sei die Zahl der Wohnungslosen seit 2016 bundesweit um 150 Prozent gestiegen, sagt Thomas Bohne von der ZBS Dortmund. Bis Ende 2018 könnten 1,2 Millionen Menschen in Deutschland ohne Obdach sein. „Der Nächste“, ruft Katrin Oehlschlegel. Meistens braucht sie gar nichts zu sagen, so fliegend ist der Wechsel. Der nächste Patient schlurft in das kleine Büro, lässt sich auf den Stuhl fallen, redet kaum. „Einmal Blutdruck messen?“, fragt Katrin Oehlschlegel. Ein Nicken. Der Mann, schwarzes Haar und Kippa, kramt seine Versicherungskarte aus der Tasche. Dass überhaupt jemand versichert ist, ist die Ausnahme. Die Medikamente und Materialien, die in den Regalen liegen, sind fast alle durch Spenden finanziert. Oehlschlegel gibt dem Mann Bluthochdruckmittel für eine Woche mit. Nach zwei Minuten schlurft er wieder raus. In der zentralen Beratungsstelle warten Menschen, die allesamt ähnliche Probleme haben. Im Wartezimmer können sie in Ruhe ihr mitgebrachtes Bier zu Ende trinken oder mit Freundinnen und Freunden quatschen. „Wir müssen den Obdachlosen so viele Hürden wie möglich nehmen, damit sie sich behandeln lassen“, sagt die Krankenschwester. Es ist 14 Uhr, vor der Tür ist mittlerweile keine Schlange mehr zu sehen. Nach sieben Patientinnen und Patienten ist Katrin Oehlschlegels Arbeitstag aber noch nicht vorbei. Jetzt geht es zur Frauenübernachtungsstelle am Ostentor, danach ins Café Berta in der Nordstadt. Zwischen 17 und 18 Uhr kann sie nach Hause gehen. Feierabend: Wenigstens was das angeht, hat sie einen ganz normalen Job.
GRENZERFAHRUNGEN Von Beginn an ist Sebastian Heinze dabei: 2016 besuchte er zum ersten Mal mit „Grenzenlose Wärme“ ein Geflüchtetenlager in Griechenland. Mittlerweile leitet die Dortmunder VolunteerGruppe. Hier spricht er über seine Erfahrungen in den Camps. TEXTPIA STENNER FOTODANIKA JURISIC & GRENZENLOSE WÄRME
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Geflüchtete in Velika Kladuša: Das Camp im Norden Bosniens ist zum illegalen Transitzentrum geworden.
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erlassene und vermüllte Hafengebäude, in denen obdachlose Geflüchtete hausen. Riesige, kunterbunte Käfige, in denen 80 Kinder auf einmal bespaßt werden wollen. Überfüllte Flüchtlingscamps, in denen sich Container an Container reiht. Das sind nur einige der Bilder, von denen Sebastian erzählt, wenn er über seine ersten drei Reisen mit „Grenzenlose Wärme“ spricht. Sebastian studiert soziale Arbeit. Die Initiative haben er und seine Kommilitoninnen und Kommilitonen an der Fachhochschule Dortmund gegründet (siehe Seite 26). Diesen Sommer wollte er dann endlich „mal wieder ein bisschen zur Ruhe kommen“ und das erste Mal seit Langem Ur-
laub machen. Mit seinem Kumpel Max ging es auf einen dreiwöchigen Roadtrip quer über den Balkan. Doch wieder war das Ziel Griechenland. Zwischen ein paar Tagen Auszeit arbeiteten die beiden ehrenamtlich mit Geflüchteten.
AUS BEGEGNUNGEN WERDEN FREUNDSCHAFTEN Erst zwei Tage in Bosnien, dann eine Woche in Griechenland: „So ganz kann man dann doch nicht loslassen“, sagt Sebastian. Loslassen von den Geschichten, die er gehört hat, Distanz gewinnen zu den oft schwierig zu verarbeitenden Erfahrungen. Doch es seien gerade die Gespräche – egal, ob mit Freiwilligen, Geflüchteten oder Einheimischen –
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durch die er unglaublich viel gelernt habe. „Über die Leute, die da unten sind, was das für ein Schlag von Menschen ist, was unter den Geflüchteten für Stimmungen herrschen, wo die herkommen und was deren Fluchtgeschichten sind.“ Und aus einigen Begegnungen sind irgendwann Freundschaften geworden. Über kaum befahrbare Schotterpisten führte der Roadtrip Sebastian zurück zu einem dieser Freunde, der mittlerweile in Velika Kladuša im Norden Bosniens eine eigene Nichtregierungsorganisation (NGO) leitet. Nur einige bewaldete Hügel trennen das 45.000-EinwohnerStädtchen von der kroatischen Grenze und damit von der EU. Velika Kladuša ist zum illegalen Transitzentrum gewor-
den. Für Geflüchtete aus dem gesamten Nahen Osten, Nordafrika, aber auch aus Pakistan und Bangladesch. „Geflüchtete – das ist ein relativ komischer Begriff, wenn man mal darüber nachdenkt. Die sind geflüchtet aus ihrem eigenen Land, wollen aber auch aus Bosnien flüchten, um in die EU reinzukommen.“ Dreckig, heruntergekommen und hässlich sei das Camp dort, und illegal eben noch dazu. Ehrenamtliche Helferinnen und Helfer und Geflüchtete flicken die provisorischen Zelte aus Kanthölzern und Plastikplanen alle paar Wochen. Das Lager liegt im Tal und der Boden ist lehmig. „Ein Regen, dann kannst du da schwimmen gehen, dann hat sich das. Dann kannst du wieder anfangen, alles neu zu bauen.“ Für die Nächsten, die ankommen, oder für die, die an der kroatischen Grenze wieder umkehren müssen. Mit Handys, die die kroatische Grenzpolizei zertrümmert hat, ohne GPS, ohne Kontakt zur Familie. So erzählt es Sebastian. Ein Mann sei mit einer zerstörten Beinprothese ins Camp zurückgekehrt. Die Grenzpolizei habe ihm seine Prothese abgenommen und ihn damit verprügelt. „In Velika
Nur provisorisch: Die Zelte im Camp bestehen oft aus Kanthölzern und Plastikplanen.
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Kladuša merkt man, wie die Abschottungspolitik der EU funktioniert“, sagt Sebastian.
AM STRAẞENRAND STEHEN AUSGEBRANNTE PANZER Die Gewalt der kroatischen Polizei werde im ganzen Land propagiert und die Bevölkerung Kroatiens stehe voll und ganz dahinter. Der Hass gegenüber Ausländerinnen und Ausländern nehme in dem Balkanstaat zu – „wie fast überall in der EU“. Ein schwieriges Thema für Sebastian als angehender Sozialarbeiter. „Die Geflüchteten stehen da quasi mit Nichts vor dem Abgrund, in den sie reinspringen wollen, und erzählen dir das Blaue vom Himmel über Europa. Und du denkst dir: ‚Wenn ihr wüsstet, was da gerade in Europa los ist, dann würdet ihr euch das anders überlegen.‘“ Sebastian versucht, den Geflüchteten so ehrlich wie möglich von Europa zu erzählen. Aber man könne stark depressiven und traumatisierten Menschen auch nicht alle Illusionen nehmen. In Bosnien gebe es mit Ausländerhass weniger Probleme. „Die Herzlichkeit
und die Gastfreundschaft der Menschen dort ist sehr, sehr toll.“ Einmal in der Woche verteile ein Restaurant Essen an Geflüchtete. „Die eigenen Kriegswirren, die man da in den Neunzigern erlebt hat, sind noch präsent. Man sieht da noch ausgebrannte Panzer am Straßenrand und im Wald liegen Sprengfallen.“ Das zeige aber auch, wie überfordert das Land schon mit den eigenen Problemen ist. Die Lage für Geflüchtete mache das nicht besser. „Es ist unmöglich, dort langfristig zu bleiben, aber das will ja auch keiner“, sagt Sebastian. Sebastians Roadtrip endete in Larisa, dem größten Camp in Zentralgriechenland. Hier sitzen die Menschen teilweise mehrere Jahre fest, bis ihr Asylverfahren abgeschlossen ist. „Das Camp sieht nicht schön aus, aber es könnte schlimmer sein.“ In Larisa gibt es keine Zelte, sondern Container mit Dusche, WC und Kochecke, die sich vier bis fünf Personen teilen. Das mache es humaner als manch anderes Camp.
» DANN HALT EIN JAHR SPÄTER «
Der Boden im bosnischen Lager ist lehmig – ein Regenschauer und alles muss neu gebaut werden.
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Vieles laufe dennoch schief: Ab September, nach den Sommerferien, sollten die Flüchtlingskinder aus Larisa in eine öffentliche Schule gehen. „Dann hieß es von den Behörden, ihr braucht
» Die Geflüchteten stehen da quasi mit Nichts vor dem Abgrund, in den sie reinspringen wollen, und erzählen dir das Blaue vom Himmel über Europa. Und du denkst dir: Wenn ihr wüsstet, was da gerade in Europa los ist, dann würdet ihr euch das anders überlegen. « Sebastian Heinze studiert soziale Arbeit an der FH Dortmund und engagiert sich ehrenamtlich für Geflüchtete.
keinen Schulbus zu organisieren, wir haben das verpennt.“ Die Schulcontainer, die im Camp stehen, werden nicht benutzt, weil Lehrpersonal fehle. Die Behörden wollten den Ehrenamtlichen das Unterrichten nicht überlassen. Im Sommer sollten einige Bewohnerinnen und Bewohner des Camps für ihr Asylverfahren nach Athen gebracht werden. Die Stadtverwaltung von Larisa habe sich um den Transport kümmern wollen. „Dann ist aber kein Bus gekommen und die Termine sind geplatzt. Neue Termine gibt es dann halt ein Jahr später.“ Für die Asylbewerberinnen und Bewerber bedeute das: ein Jahr länger ausharren in Larisa, wo Drogenmissbrauch und Alkoholabhängigkeit unter Geflüchteten an der Tagesordnung sind. So erzählt es Sebastian. Eine Kleinigkeit bringe das Fass schnell zum Überlaufen, „und die rasten komplett aus, dann gibt es Proteste und Sitzstreiks. Und freiwillige Helfer werden nicht mehr ins Camp gelassen“. Ohne die Freiwilligen laufe in Griechenland nichts. „Sich auf die griechische Regierung verlassen: Das kann man vergessen“, sagt Sebastian. Wie verschiedene Medien berichten, hat die EU die Gelder an NGOs, die in Griechenland aktiv sind, gekürzt. Seit gut einem Jahr werden sie direkt an Griechenland ge-
zahlt. Das Land wollte die Flüchtlingshilfe selbst in die Hand nehmen und die Organisationen zogen sich nach und nach zurück. Nun sei Griechenland aber völlig überfordert, sagt Sebastian. „Es läuft drunter und drüber in den Camps.“ Man habe nicht damit gerechnet, dass wieder mehr Menschen kämen.
BALANCEAKT ZWISCHEN NÄHE UND DISTANZ Die Lage habe sich im April zunächst entspannt, Flüchtlingslager seien geschlossen worden. In Larisa waren nur noch 600 Menschen. „Als ich dann im September da war, waren wieder 1500 im Camp, vor zwei Wochen sind noch mal 200 dazu gekommen. Da hat die Regierung dann aus dem Nichts ein paar zusätzliche Container herangekarrt.“ Aber viele Ehrenamtliche aus dem Ausland kommen nicht mehr, denn in den Medien sei es leise geworden um dieses Thema. Sebastian spricht nach wie vor von zumeist katastrophalen Zuständen in griechischen Flüchtlingscamps. Er steht in engem Kontakt zu anderen Freiwilligen überall im Land. Aus anderen Camps wird erzählt, dass es Menschen gebe, die lieber im Mittelmeer ertrunken wären, als in den Lagern zu sein. Auf Sebastians Startseite bei Facebook reihen sich
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Bilder von gekenterten Booten an Fotos von hungrigen Kindern, die sich hinter Zäune drängen, um einen Becher Orangensaft zu bekommen. „Und das ist Europa und das ist das, was Europa nach außen trägt. Es ist zum Haareraufen.“ Es ist nicht das Europa, das sich die Geflüchteten vorgestellt haben. Sebastian erinnert sich an ein Gespräch mit einem Syrer, irgendwo in einem leerstehenden Hotel. „Er war fest davon überzeugt, in einer Woche nach Deutschland fliegen zu dürfen“, erinnert sich Sebastian. „Da musste ich erstmal schlucken. Ich weiß halt, wenn ich in einem halben Jahr wiederkomme, wird er immer noch hier sitzen.“ Im Studium der Sozialen Arbeit sei eines der ersten Dinge, die man lerne, das Nähe-Distanz-Verhältnis zu wahren. In solchen Fällen sei es trotzdem hart, die Erlebnisse nicht mit nach Hause zu nehmen. „Du gehst da unten in die Zelte und in die dunklen Lagerhallen. Die Leute laden dich zum Essen ein, geben dir da ihr letztes Hemd. Und du fährst irgendwann einfach wieder. Du bist zurück in Deutschland, sperrst dein Auto ab, schließt deine Wohnung auf und lässt dir ein heißes Bad ein. Und du weißt: Die 500 Leute, die du in den letzten Wochen kennengelernt hast, können das jetzt nicht machen.“
Für ein warmes Miteinander Seit zwei Jahren fahren Studierende der FH Dortmund nach Griechenland und helfen dort Geflüchteten. Entstanden ist daraus das Hilfsprojekt „Grenzenlose Wärme“. Im Dezember wird sich wieder eine Gruppe auf den Weg machen. TEXTSARAH NIESIUS FOTOMALINA RECKORDT
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ir wollen einfach da sein und aushelfen, wo Not am Mann ist“, sagt Ilayda Bostancieri. Die Studentin ist Mitglied des Hilfsprojekts „Grenzenlose Wärme“. Dessen Ziel ist es, für Freiwillige an der Küste Griechenlands eine Stütze zu sein und somit auch Geflüchteten zur Seite zu stehen. Das Projekt hat sich vor zwei Jahren aus dem dualen Studiengang „Soziale Arbeit mit dem Schwerpunkt Armut und (Flüchtlings-)Migration“ an der Fachhochschule Dortmund gegründet. Ilayda ist 23 Jahre alt, studiert im fünften Semester und ist Gründungsmitglied der Initiative. „Viele von uns arbeiten auch hier in Dortmund mit Geflüchteten. Wir wollten sehen, welchen Weg die Menschen zurücklegen müssen, bis sie hier sind“, sagt sie. Vor Ort schließt sich die Gruppe verschiedenen Hilfsorganisationen und Camps an. Bereits vor der Abfahrt klären die Studierenden ihre Einsatzorte ab. „Inzwischen sind wir gut vernetzt“, sagt Ilayda.
TEAMARBEIT STEHT AN OBERSTER STELLE Richtig in Fahrt kam das Projekt Ende 2016. „Damals schrieb eine Kommilitonin in unsere Uni-WhatsApp Gruppe, dass sie über Silvester nach Griechenland fahren wolle. Sie fragte, ob wir Spenden hätten, die sie mitnehmen kann“, erzählt Ilayda. Bei Spenden sollte es nicht bleiben: Innerhalb von sechs Wochen fanden 16 Studierende zusammen und organisierten ihren ersten Einsatz. Seither finanziert sich die Gruppe über Privatspenden, die sie durch Spendenaufrufe oder Sammelund Verkaufsaktionen an der Fachhochschule einnehmen. Mittlerweile engagieren sich 25 Mitglieder. Das Projekt teilt sich bis heute in
drei Teams auf. Das Team „Transporter“ fährt Hilfsgüter und Sachspenden nach Griechenland. Dort warten Helferinnen und Helfer vor Ort, die das zweite Team bilden. Diese sind in zahlreichen Camps tätig und bereiten alles für die Ankunft der Transporter vor. Team „Rückendeckung“ besteht aus Helferinnen und Helfern, die in Deutschland bleiben und mithilfe eines Rund-um-die-Uhr Telefondienstes für alle Projektteilnehmerinnen und -teilnehmer erreichbar sind. Sollte es im Ausland zu Notfällen wie Unfällen oder Krankheit kommen, kontaktiert das Team „Rückendeckung“ Freundinnen und Freunde sowie die Familie und kümmert sich um alle Notstände. Mittlerweile plant das Projektteam der FH seine sechste Tour an die Küste Griechenlands. Mit einem Team aus acht Studierenden geht es Ende Dezember für zwei Wochen wieder los. Als Ziel der nächsten Fahrt stehen Thessaloniki oder Larisa auf dem Plan. Wo sie hinfahren, entscheidet das Projektteam je nach Bedarf kurz vor der Abreise mit Ehrenamtlichen vor Ort. Für Ilayda zählt in diesen Zeiten besonders der Zusammenhalt des Projektteams: „Wir schauen, dass wir alle gemeinsam in Hostels oder Ferienwohnungen untergebracht werden, sodass wir abends einfach zusammensitzen können. So können wir über das reden, was wir am Tag gesehen und erlebt haben.“ Manchmal sei es aber auch leichter, mal nicht über die Erlebnisse zu sprechen. Auf der Packliste für die Fahrt im Dezember steht an erster Stelle warme Kleidung für die Geflüchteten. Die Helferinnen und Helfer verteilen Spenden und bereiten Mahlzeiten in der Großküche zu. Bei der Spendenausgabe packen sie Essenspakete oder füllen die Regale
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Ilayda Bostancieri hat die Initiative mitgegründet.
in den Kleiderkammern auf. In handwerklichen Projekten verbessern die angehenden Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter die Infrastruktur in den Camps. Und auch in der Kinderbetreuung engagieren sie sich.
STUDIERENDE BAUEN BRÜCKEN Michel Boße ist Koordinator des Studiengangs und vom Engagement der Studierenden beeindruckt: „Studienanfänger kommen alle mit einer ähnlichen Haltung an die Fachhochschule. Sie sind weltoffen und wollen Menschen mit Migrationshintergrund unterstützen.“ Immer wieder würden angehende Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter neben Studium und Arbeit bemerkenswerte Dinge auf die Beine stellen. Neben der Wissenschaft der Sozialen Arbeit, gibt es an der FH Unterricht in Psychologie, Medizin, Erziehungs- oder Rechtswissenschaften. Michel Boße erklärt: „Wir müssen die Ausbildung von zukünftigen Sozialarbeitern fördern. Unsere Studierenden spielen eine zentrale Schlüsselfunktion. Sie lernen, Brücken zu bauen.“
⁄⁄ KURTSMITTEILUNG
Was soll der Quatsch? In jedem Heft schreiben wir einen Brief. Dieses Mal an den Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-Westfalen Armin Laschet und seinen Stellvertreter Joachim Stamp. Unsere Autorin fordert: Kippt das geplante Hochschulgesetz für NRW! Wer mehr Freiheit für Studierende will, sollte keine Anwesenheitspflicht anordnen. TEXTJESSICA EBERLE FOTOMALINA RECKORDT & ONLYYOUQJ/FREEPIK
BYE,BYE KOHLE!
Bevölkerung im Ruhrgebiet Quelle: Regionalverband Ruhr
1961 5,67 Mio.
Mit dem Beginn der Kohlekrise Ende der 1950er Jahre begann im Ruhrgebiet auch der Strukturwandel. Am 21. Dezember schließt das letzte Steinkohlebergwerk der Region: ProsperHaniel in Bottrop. Eine Ära geht zu Ende.
1980 5,40 Mio.
2000 5,36 Mio.
2018 5,05 Mio. Prognose 2030 4,80 Mio.
Bruttoinlandsprodukt (BIP) im Ruhrgebiet in Euro Quelle: Regionalverband Ruhr
RECHERCHEJULIAN NAPIERALA GRAFIKANNEKE NIEHUES
Bundesrepublik 149 Mio.
1991 100.000 Mio.
Ruhrgebiet 123 Mio.
2004 125.000 Mio.
2016 160.000 Mio.
BR 70 Mio.
Ruhrgebiet 55 Mio. BR 21 Mio. Ruhrgebiet 15 Mio.
1957
2006
1990
Geförderte Steinkohle in Tonnen Bundesrepublik = Ruhrgebiet, Ibbenbüren, Aachen (bis 1996), Saar (bis 2012)
Quelle: Bundesagentur für Arbeit/Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, 2017
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BR 3,7 Mio.
2017
Ruhrgebiet 2,7 Mio.
BIP pro Kopf deutscher Metropolregionen in Euro Quelle: Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung der Länder, 2016
63.695
München Stuttgart
54.351
Frankfurt am Main
54.121 52.616
Hamburg
49.418
Rheinland 36.912
Berlin-Potsdam
Startup-Gründungen in Deutschland
32.500
Ruhrgebiet
W NR
Belegschaft der Steinkohleförderung im Ruhrgebiet
Quelle: Deutscher Startup Monitor 2018, initiiert und herausgegeben vom Bundesverband Deutsche Startups e.V.
19 % esamt: insg
Quelle: Statistik der Kohlenwirtschaft e.V.
1957 500.000
Digitalisierungsgrad
von Unternehmen in unterschiedlichen Regionen. Folgende Indikatoren zu einem Index verrechnet: Digitale Infrastruktur, Computernutzung und Breitbandanschluss, IT-Fachkräfte, Social-Media-Aktivitäten, Nutzung von IT- und Cloud-Diensten und E-Commerce Quelle: IW Consult, 2018
Deutscher Durchschnitt 1990 100.000
2006 25.000
1
Ländliche Region 2017 5.000
0,86 29
Ruhrgebiet
1,17
1,23 Metropolregion
UNTER STROM
Sie sind schnell, leise – und die Zukunft: Elektrofahrzeuge verändern den Motorsport. Auch Studierende der Universität Duisburg-Essen tüfteln an einem E-Rennwagen. TEXTANNINA HÄFEMEIER FOTOMALINA RECKORDT
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rgendetwas fehlt in dieser Autowerkstatt. Auf den ersten Blick scheint alles ganz normal: Meterlange Regale mit Geräten und Bauteilen ziehen sich durch die Halle. „Aerodynamik“ und „Antriebsstrang“ steht an den Fächern. Nach Benzin riecht es allerdings nicht. Dabei entsteht hier in Duisburg ein Rennwagen. Nur soll dieser sich mit Strom fortbewegen, ganz ohne Benzin. Die Form ist schon zu erkennen, Reifen und Lenkrad sind montiert. Noch schrauben die Studierenden der Universität Duisburg-Essen in der Werkstatt an ihrem Auto. Im Sommer soll es für das E-Team bei Rennen an den Start gehen.
IHRE NAMEN VERDANKEN DIE E-AUTOS DER A40 Seit ihrer Gründung im Jahr 2010 baut die Gruppe ausschließlich elektrische Rennwagen. Ein Großteil der Mitglieder studiert Maschinenbau, Elektrotechnik, Wirtschaftsingenieurswesen oder Betriebswirtschaft. Mit dem Projekt sollen die Studierenden praktische Erfahrungen sammeln. Leistungspunkte bekommen sie nicht, stattdessen opfern sie ihre Freizeit. In den acht Jahren entstanden so zwei Autos: Typ A40-01 und A40-02. Jetzt planen sie den dritten Typ, A40-03. Ihre Namen verdanken die Fahrzeuge der Autobahn A40, die die beiden Standorte der Universitäten in Essen und Duisburg verbindet.
Das Team arbeitet mit Hochdruck. Erik Nelles und Ivanse Appiagyei knien mit einem kleinen, kastenförmigen Gerät neben dem rechten Vorderreifen. Ivanse nimmt ein paar Kabel in die Hand, steckt jeweils ein loses Ende in das Gerät, befestigt das andere im Fußraum des Wagens. „Damit messen wir die elektrische Spannung auf den Bremsen“, erklärt Erik. Das sei wichtig für den Schutz des Fahrers, des Autos und der Batterie. Solchen Herausforderungen müssen sich auch professionelle Mannschaften im elektrischen Rennsport stellen. In den vergangenen Jahren hat die Sparte immer mehr Zulauf bekommen. Die
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Gründung der Formel E im Jahr 2014 war ein Meilenstein. Sie bildet das Gegenstück zur großen Formel 1.
FORMEL E IST DIE NEUE FORMEL 1 Bekannte Autohersteller sind inzwischen ebenso vertreten wie prominente Rennfahrer. Mercedes stieg in diesem Jahr aus der traditionsreichen Deutsche Tourenwagen-Masters (DTM) aus, um an der Formel E teilzunehmen. In der kommenden Saison wird mit Felipe Massa ein langjähriger Formel 1-Fahrer an den Start gehen. Der Trend reicht sogar über die Formel E hinaus: 2019 sollen bei der MotoE erstmals elektrische
oder konzentriert bei der Arbeit in der Werkstatt. „Prinzipiell kann aber jeder mitmachen, der sich für einen unserer Arbeitsbereiche interessiert“, sagt Adrian. Wichtig seien vor allem Disziplin, Zuverlässigkeit und die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen. Nur so seien die Herausforderungen zu meistern. Die Gruppe trifft sich wöchentlich, vor Beginn der Rennsaison basteln die Mitglieder aber fast täglich an ihrem Auto. Neben Bereichen wie Fahrwerk- oder Rahmenbau, die auch bei Wagen mit Verbrennungsmotor eine entscheidende Rolle spielen, müssen die Studierenden vor allem den elektrischen Antrieb weiterentwickeln. Das heißt, zum Beispiel die Lebensdauer der Batterie zu verlängern. „In der Disziplin Endurance muss sich das Fahrzeug auf Langstrecken behaupten“, sagt Adrian. Das Elektroauto müsse sein Ziel erreichen, bevor die Batterie leer ist.
DIE PRAKTISCHE ARBEIT AM E-AUTO ERGÄNZT DIE THEORIE
Motorräder gegeneinander antreten. Außerdem lief dieses Jahr in Deutschland die weltweit erste elektrische KartMeisterschaft.
Mitglied werden.“ In diesem Semester gebe es für Vorstellungsgespräche sogar zu viele Bewerber. Deshalb soll zunächst eine Vorauswahl getroffen werden.
Das E-Team der Universität hat etwa 45 Mitglieder. Jeweils zu Semesterbeginn suchen sie Verstärkung unter den Studierenden. Jedes Jahr gibt es deutlich mehr Interessenten, als die Gruppe aufnehmen kann. Deshalb müssen sie sich bei Adrian Kornblum bewerben. Er studiert Wirtschaftsingenieurwesen und stellt das Personal des E-Teams zusammen. „Normalerweise gibt es Vorstellungsgespräche“, erklärt Adrian. „Die Auserwählten sind zunächst Anwärter und können nach drei Monaten festes
Damit Interessierte wissen, worauf sie sich einlassen, gibt das E-Team kurz vor der Bewerbungsphase eine Info-Veranstaltung im Duisburger Audimax. Die Reihen sind schon vor Beginn besser gefüllt als in vielen Vorlesungen. Während noch die Stimmen und das Lachen der Studierenden durch den Hörsaal hallen, wird das Licht gedimmt, an der Wand erscheint ein Video. Laute Rockmusik dröhnt aus den Boxen, dazu sieht man Szenen von jungen Menschen mit schnellen Autos auf der Rennstrecke
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Lucas Heupner unterstützt das Team im Bereich Aerodynamik. Der Maschinenbau-Student interessiert sich eigentlich mehr für Verbrennungsmotoren. Doch seine Kenntnisse könne er auch bei Elektroautos gut anwenden. Wie viele andere Mitglieder sucht er beim E-Team die Praxis als Ergänzung zur Theorie in seinem Studium. „Als ich vor einem Jahr hier angefangen habe, hatte ich keine Ahnung von Elektromotoren.“ In der Werkstatt macht sich Lucas an einer riesigen Arbeitsplatte aus Glas zu schaffen. Mit einem schmalen Pinsel verteilt er darauf eine grüne Paste. Dann greift er nach einer Poliermaschine. Das weiße Fließ an der Unterseite dreht sich wie eine Kreissäge. Lucas setzt das Fließ auf das Glas auf, führt es mit kreisenden Bewegungen über die Paste. „Das funktioniert wie Schmirgelpapier“, erklärt er. „Wenn später das Carbon auf der Platte verarbeitet wird, dürfen keine Rückstände mehr vorhanden sein. Dafür eignet sich Glas als Unterlage am besten.“
den Bildschirm seines Laptops. Nach ein paar Klicks erscheint dort ein digital gezeichneter Heckflügel. „Jetzt wollen wir mal sehen, wie er auf die Windverhältnisse reagiert.“ Ein paar Klicks später schieben sich bunte Pfeile über den Bildschirm. In fließenden Bewegungen gleiten sie von links nach rechts und umschließen dabei den Heckflügel. Was professionelle Autohersteller in einem Windkanal testen, muss Jakob am Computer simulieren.
Durch Staubkörner könne das Material seine Festigkeit verlieren. Carbon kommt beim Bau von Elektroautos häufig zum Einsatz: Felgen, Bremsen und andere Bauteile werden daraus gefertigt. Das Material ist besonders leicht – und das Fahrzeug damit besonders schnell.
UNTERNEHMEN SCHÄTZEN DIE PRAKTISCHE ERFAHRUNG Neben den technischen Experten, die für die Entwicklung des Rennwagens verantwortlich sind, und Professoren, die bei Bedarf Ratschläge geben, kümmern sich andere im Team um finanzielle Fragen wie Kostenplanung und neue Einnahmequellen. Die Universität fördert das Projekt zwar, aber um alles abzudecken, ist die Gruppe auf Sponsoren angewiesen. Das sind vor allem Firmen, die darauf hoffen, langfristig selbst von dem Projekt zu profitieren. „Manchmal fragen Unternehmen bei uns an, ob jemand Interesse an einem Praktikum hat“, sagt Adrian. Dort wisse man die zusätzliche Praxiserfahrung der Studierenden zu schätzen. Auch Jakob Pullen erhofft sich bessere Einstellungschancen. Der angehende Wirtschaftsingenieur blickt konzentriert auf
Dass es sich hier um ein elektrisches Fahrzeug handelt, ist seiner Meinung nach ein Vorteil: „Elektroautos sind die Zukunft – gerade für Ingenieure.“ Verbrennungsmotoren seien in ihrer Entwicklung nämlich schon sehr ausgereift. „Im elektrischen Bereich gibt es deutlich mehr Potential“, meint Jakob. Potential, das er bei der Entwicklung des neuen Rennwagens nutzen kann. Wie gut die Gruppe gearbeitet hat, wird sich im Sommersemester zeigen. Dann beginnt für das E-Team die Rennsaison. Formula Student Electric (FSE) heißt der internationale Wettbewerb, bei dem Jahr für Jahr etwa 200 studentische Gruppen an den Start gehen. 65 davon kommen aus Deutschland. Obwohl die Rennen der FSE weltweit laufen, hat das Team aus Duisburg und Essen bisher nur in Europa daran teilgenommen. Länder wie Brasilien und Australien seien ihnen bisher zu weit weg gewesen, meint Adrian. Irgendwie müsse man das Auto schließlich noch transportieren. Das macht die Gruppe mit Kleintransportern. In Deutschland, Ungarn, Spanien und Italien waren sie schon dabei. Die Kosten dafür variieren, manchmal sind es insgesamt 10.000 Euro für ein Rennen. Das Geld kommt hauptsächlich von der Uni. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer zahlen jeweils
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150 Euro Eigenanteil. Bis zu 4000 Euro kann ein Team bei einem Wettbewerb gewinnen. Das beste Ergebnis erreichte das E-Team in Tschechien, wo es 2016 den sechsten Platz belegte.
DAS E-AUTO SCHAFFT BIS ZU 120 KILOMETER PRO STUNDE Das Rennen selbst verläuft mit Elektromotoren deutlich ruhiger als mit Verbrennungsmotoren. Abgesehen von einem leisen Surren bewegen sich die Fahrzeuge fast geräuschlos über den Asphalt. Auch das Fahrgefühl sei anders, erklärt Adrian. „Die Beschleunigung geht sofort von null auf bis zu 120 Kilometer pro Stunde, je nachdem, wie stark ich das Pedal durchdrücke.“ Deshalb müsse man bei der Bedienung sehr vorsichtig sein. Und wer darf das Auto im Sommer bei den Rennen fahren? Das entscheidet das E-Team in einem eigenen kleinen Wettbewerb. „Im Frühjahr gehen wir alle zusammen auf die Kartbahn“, sagt Adrian. „Wer dort die beste Zeit hat, darf für unsere Mannschaft an den Start gehen.“ Die Karts sind natürlich auch elektrisch.
⁄⁄ SPECIALOPS
She sees them rollin‘... Sofia Moysidis klappt die Schranke herunter, kurz danach rasen die Darstellerinnen und Darsteller auf Rollschuhen an ihr vorbei. Sie sorgt bei Starlight Express dafür, dass das Publikum nicht unter die Rollen gerät. TEXTLENA HEISING FOTOLENA HEISING & MEHR-BB ENTERTAINMENT GMBH
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sie wieder, wenn die ersten Loks die Ziellinie erreicht haben. Sofia kennt Starlight Express in- und auswendig: „Ich kann schon fast mittanzen“, erzählt sie lachend. Das hat sie ihrer Mutter zu verdanken: Die arbeitet hinter der Bühne als Dresserin und hilft den Darstellerinnen und Darstellern in ihre Kostüme. Sofia durfte sich schon als Fünfjährige ins Musical setzen. 14 Jahre später gab ihre Mutter dort Sofias Bewerbung ab.
enn das Licht ausgeht, die Musik ertönt und die Zuschauerinnen und Zuschauer sich zurücklehnen, ist Sofia im Arbeitsmodus. Denn wenn die Züge durch die Menge rauschen und manche von ihnen entgleisen, liegt es in Sofias Hand, echte Unfälle zu verhindern. Immer wieder steht sie auf und klappt die Rampe herunter, wieder hoch, und später wieder runter. Ein Nebenjob bei Starlight Express in Bochum – was für viele Musical-Fans ein Traum ist, ist Sofia Moysidis Routine. Die Geschichte vom Wettrennen der internationalen Züge um die liebenswerte, rostige junge Lokomotive Rusty, macht Bochum zum Aufführungsort des erfolgreichsten Musicals Deutschlands. Dort arbeitet Sofia seit vier Jahren im Vorderhaus. Wenn sie Dienst hat, steht sie entweder hinter der Bar, im Souvenirshop oder zeigt den Besucherinnen und Besuchern ihre Plätze.
Sofia bekommt den Mindestlohn: insgesamt 450 Euro im Monat. Dafür ist sie bei zwei bis drei Vorstellungen im Monat dabei. „Ich bin damit aufgewachsen. Ich sage immer, ich habe die Show schon mehr als 1000 Mal gesehen, aber das ist vielleicht doch etwas übertrieben“, sagt sie. Sofia hat ihr ArchäologieStudium fast abgeschlossen. Dennoch würde sie danach am liebsten weiter bei „Starlight Express“ arbeiten. Als Kind konnten Sofia und ihre Schwester nicht genug kriegen von den Songs. „Wir haben alle CDs und Kassetten rauf und runter gehört. Meiner Mutter ist es schon aus den Ohren herausgekommen.“ Auch wenn sie heute nicht mehr so ein Fan der Show ist wie früher, guckt sie sich „Starlight Express“ trotzdem noch gerne an. „Man wird wirklich in eine andere Welt hineingezogen. Und es ist so bunt – man kriegt alles in den Kopf hineingeballert, was es in der Musical-Welt gibt.“ Weil sie jede Bewegung kennt, achtet Sofia dabei auf ganz andere Details als die Besucherinnen und Besucher. „Gerade wenn andere Darsteller auf der Bühne stehen, ist es interessant, genauer hinzuschauen, denn jeder stellt die Charaktere anders dar.“
Die 23-Jährige freut sich, wenn sie für die Banden in der Halle eingeteilt ist. Sobald die Show beginnt, setzt sich auch Sofia erst einmal hin – allerdings nur auf die Treppe. Geht das erste Wettrennen der Eisenbahnen los, verwandeln sich die Gänge zwischen den Zuschauertribünen in Renngleise, auf denen die Darstellerinnen und Darsteller auf Rollschuhen entlang preschen. Damit niemand im Weg ist und entgleiste Rollschuhfahrerinnen und -fahrer nicht ins Publikum stürzen, gehen vor jedem Rennen die Barrieren hoch. Die Schranken an den Treppen werden per Hand verschlossen. Hier kommt Sofia ins Spiel: Sobald das Signal für das nächste Rennen ertönt, steht sie auf, klappt die Schranke herunter und öffnet
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as, was andere wohl kaum bemerkt hätten, sieht Emma* sofort: Ein Grundstück am Rande der Siedlung, direkt am Feld, ist auffallend grün und zugewuchert. Die Bäume sind so dicht, dass kaum ein Sonnenstrahl durch die Wipfel dringt. Die Büsche entlang des schier endlosen Zaunes wurden so lange nicht geschnitten, dass nicht mehr zu sehen ist, was hinter ihnen liegt. Nur ein wuchtiges Schiebetor mitsamt Einfahrt lässt erahnen, dass auf diesem Grundstück ein Haus steht. Das Anwesen ist verlassen, es ist ein „Lost Place“. Verlassene Orte faszinieren Emma. Mit 14 Jahren war sie zum ersten Mal an einem „Lost Place“, einer leerstehenden Zeche. Heute ist sie 29 und Ausflüge an Orte, die die Natur schleichend zurückerobert, sind für sie zur Leidenschaft geworden. Fabriken, in denen seit Jahrzehnten die Maschinen stillstehen, Schwimmbäder mit staubtrockenen Becken und Villen mit Gärten so groß wie Fußballfelder: Mit ihren Freunden sucht Emma diese Orte, fotografiert
sie und teilt sie dann anonym auf ihrer Facebook-Seite. „Ich halte mich dabei an einen Verhaltenskodex: Es wird nichts hinterlassen außer Fußabdrücken und nichts mitgenommen außer Fotografien und Erinnerungen“, sagt sie. Es ist 17 Uhr, die Novembersonne steht tief und blendet durch die Autoscheiben. Draußen ist es klirrend kalt. Emma und ihr Freund Jens*, der neben ihr am Steuer sitzt, sind unterwegs zu einem „Lost Place“. Sie parken in einem gepflegten Wohngebiet am Ortsrand. Die Gehwege sind gefegt, die Hecken gestutzt, die Klingelschilder glänzen. Nur ein Grundstück, das abseits liegt, passt bei genauem Hinsehen nicht ins Bild. Mit der Zeit hat Emma einen Blick dafür entwickelt, wo ein „Lost Place“ auf sie warten könnte. Wenn ein Ort grüner ist als gewöhnlich, ist das ein gutes Zeichen. Stehen vor dem Haus keine Mülltonnen, hat sie meist Erfolg. Die werden abgeholt, sobald niemand mehr für sie zahlt. Das Grundstück zu betreten ist eine Herausforderung – niemand darf
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Emma und Jens dabei beobachten. Mit ihrem Hobby machen sie sich strafbar. Emma weiß das. Betritt sie unerlaubt ein Grundstück, begeht sie Hausfriedensbruch. Deshalb tragen Emma und Jens in dieser Geschichte andere Namen als in Wirklichkeit. Angezeigt wurde die junge Frau noch nie, sagt sie. Vorsichtig ist sie trotzdem.
EMMAS AUSFLUG MUSS GEHEIM BLEIBEN Emma und Jens laufen um das Grundstück herum, bis sie auf einen Trampelpfad stoßen, der durch ein großes Loch im Zaun in einen verwilderten Garten führt. Zu fast jedem „Lost Place“ gibt es einen solchen Schleichweg; in der Regel hat jemand den Ort bereits zuvor entdeckt. So ist auch Emma auf die Idee gekommen, ihr Interesse zum Hobby zu machen. Ein Freund hatte damals Fotos von leerstehenden Gebäuden auf seinem privaten FacebookAccount hochgeladen. Emma fragte, ob sie ihn auf seinen Entdeckungstouren begleiten könne. Das ist mehr als vier
ZWISCHEN SCHUTT UND SCHERBEN Sie dringen in verlassene Gebäude ein und suchen nach längst vergessenen Geschichten: „Urban Exploring“ heißt diese ungewöhnliche Leidenschaft. Eine junge Dortmunderin macht sich für dieses Hobby strafbar. TEXTKARLA KALLENBACH FOTOPRIVAT
Jahre her. Seitdem sind sie und ihr Kumpel gemeinsam unterwegs. Ihre Entdeckungen dokumentieren sie auf der Facebook-Seite „Lost Places Dortmund“. Mittlerweile verfolgen mehr als 16.500 Menschen die Streifzüge von Emma und ihren Freunden. Sie ist die einzige Frau der Gruppe. „Es kamen immer mehr Nachrichten von Leuten, die auch dabei sein wollten“, sagt sie. Inzwischen betreiben bis zu sieben Mitglieder die Seite, alle im Alter zwischen Mitte 20 und Mitte 30. „Lost Places“ zu erkunden wird auch „urbexen“ genannt, eine Kurzform für „Urban Exploring“. In den vergangenen zwei Jahren seien diese Ausflüge zu einem Trend geworden. Emmas Vorteil dabei: Sie kann mit Gleichgesinnten die Adressen spannender Orte austauschen. Zurück bei der alten Villa, ein weitläufiges, eingeschossiges Anwesen. Emmas Fotos zeigen: Seine guten Tage hat es hinter sich gelassen. Die hölzernen Dachvorsprünge schimmeln vor sich hin und sind an manchen Stellen aufgeweicht zu Boden gefallen. Zwischen den
Steinplatten der Gehwege wuchert Unkraut. Trotz der vernachlässigten Fassade lässt sich erahnen, dass die Besitzerinnen und Besitzer sehr wohlhabend gewesen sein müssen. Neben dem Haus steht eine breite Garage. Auch ein separates Schwimmbad ist auf den Fotos zu sehen, die Emma aufgenommen hat.
EIN NEUER TREND: » URBAN EXPLORING « Sie war vor ein paar Monaten schon einmal hier und hat sich genauer umgesehen. „Die Terrassentür stand einfach offen. Es war überhaupt kein Problem, in das Haus zu kommen“, sagt sie. Das Haus sei sogar noch eingerichtet gewesen, wenn das Inventar auch zerwühlt war. Das Werk von Diebinnen und Dieben, vermuten Emma und Jens. In der Küche lagerten Lebensmittel, im großen Wohnzimmer standen Ledersofas und Regale voller Bücher. Über dem Esstisch hing ein Kronleuchter, in den Schränken Designermäntel. Ein dunkelblauer, verstaubter Mercedes mit LederInterieur stand noch in der Garage. Im
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Gegensatz zu Emma kennt Jens das Haus noch nicht. Sie will es ihm zeigen, gerade weil die Geschichte des Anwesens für die Urbexerin so packend ist. Zurückgelassen wurden das Haus und all die Habseligkeiten darin offenbar wegen Familien- und Erbstreitigkeiten. So steht es in einem Abschiedsbrief, den Emma bei ihrem ersten Besuch im Haus fand. Eine pflegebedürftige, mit 91 Jahren verstorbene Dame, hatte vor ihrem Tod scheinbar lange Zeit allein in dem Haus gelebt. Sie wünschte sich, ihre Tochter würde das Grundstück nach ihrem Tod übernehmen, obwohl die beiden sich überworfen hatten. Der Brief ist auf das Jahr 2011 datiert – passiert ist seitdem nichts. Der Wunsch der früheren Besitzerin wurde offenbar nicht erfüllt. All das macht das Haus für Emma zum perfekten „Lost Place“. Sie hält nichts davon, in Gebäude einzusteigen, die erst seit wenigen Wochen leer stehen. Viele "Urban Explorer" machten das in letzter Zeit immer häufiger. Sie und viele andere Urbexerinnen und Urbexer nennen diese Szene „Immo be-
xen“. Der Name passt, die Objekte sind teilweise noch im Internet auf Immobilienwebsites zu finden. Diese Gebäude haben meist eine Zukunft, stehen zum Verkauf und werden dann mutwillig aufgebrochen. Die Geschichte eines ehemaligen VierSterne-Hotels im Bayerischen Wald, das bis dahin ein Jahr leer stand und verkauft werden sollte, hat Emma besonders verärgert: „Es war noch voll möbliert und in einem guten Zustand. Jemand hat es im Internet entdeckt und ist eingestiegen.“ Die Adresse verbreitete sich in der Szene. „Ein Jahr später ist das Hotel nicht wiederzuerkennen.“ Zu den Immo Bexern gesellten sich wohl Vandalinnen und Vandalen, die Möbel in die Gänge warfen, mit Motorrädern durch die Lobby rasten und Scheiben einschlugen. Entsprechende Videos kursieren im Internet. Mit solchen Vorfällen möchte Emma nicht in Verbindung gebracht werden. Um gegen diese Entwicklung anzukämpfen, haben sie und die meisten anderen Betreiberinnen und Betreiber von „Lost-Place-Seiten“ sich dazu entschieden, im Internet keine Ortsangaben zu ihren Entdeckungen zu machen. Adressen tauschen – das macht Emma nur mit Menschen, die sie gut kennt. Sie versteht unter einem „Lost Place“ einen Ort, der langsam verfällt, wo dicke Staubschichten die Möbel überziehen
und an den Wänden die Farbe abblättert. Wenn diese Orte zerstört werden, verlieren sie für Emma ihren Charme. Sie möchte an Orte kommen, die noch eingerichtet sind, wo sie in die Schränke schauen und spannende Geschichten entdecken kann – wie eine Schatzsucherin.
EMMA UND JENS MÜSSEN UMKEHREN Viele Gebäude können über Jahre in Vergessenheit geraten, weil die zuständigen Kommunen keine genaue Kenntnis darüber haben, wie viele Häuser momentan leer stehen oder verwahrlosen. Die Besitzerinnen und Besitzer melden den Leerstand nicht immer. Die Stadtverwaltungen greifen – auch in Dortmund – erst dann ein, wenn sich jemand beschwert oder Gefahr von einem Grundstück ausgeht. Urbexerinnen und Urbexer begeben sich in jedem Fall in Gefahr. Oft richten sich Obdachlose in den „Lost Places“ ein. Einmal sei Emma in einer Fabrik auf das Lager eines Obdachlosen gestoßen. Neben einer Matratze, Trinkwasser und Orangen, habe sie auch einen Tisch mit Spritzen und einer Axt vorgefunden. „Die Axt habe ich dann mitgenommen und woanders in der Fabrik abgelegt. Ich hatte echt Angst, der Besitzer könnte, vielleicht vollgepumpt mit Drogen, in der Nähe sein und mich
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verfolgen“, sagt Emma. Besondere Ausrüstung hat sie auf ihren Touren nicht dabei, nur eine Taschenlampe trägt sie immer bei sich. Als Emma und Jens dem Haus der alten Dame näherkommen, wird ihnen klar, dass sie das Gebäude heute wohl nicht werden betreten können. Offenbar hat sich doch ein Nachfahre gefunden, der Interesse an dem Anwesen zeigt: Alle Fenster und Türen sind mit Spanplatten verrammelt. Nirgendwo findet sich ein Schlupfloch. Der „Lost Place“ ist dicht. Emma und Jens kehren um, laufen durch das hohe Gras zurück zum Trampelpfad und weiter ins Wohngebiet, das sich nur wenige Meter entfernt wie eine ganz andere, neue, penibel geordnete Welt vor ihnen auftut. Das war wohl nichts. Die Sonne ist inzwischen fast untergegangen. Als Emma und Jens am Auto angekommen sind, ist es so kalt, dass ihr Atem in der Luft in Form kleiner Wölkchen sichtbar wird. Ein bis zwei Mal im Monat zieht Emma los, um verlassene Orte zu entdecken. „Lost Places Dortmund“ heißt mittlerweile „Lost Places Dortmund +“. Nur eine Stadt genügt Emma und ihren Freunden nicht. Das „+“ soll zeigen, dass sie mittlerweile auch Orte in der Umgebung aufsuchen. Auch dort hinterlässt Emma nichts als Fußspuren und nimmt nichts mit außer Fotos und Erinnerungen.
⁄⁄ KURTUNTERWEGS
Kleine Auszeit So vergeht das Semester: KURT lenkt euch ab von Hausarbeiten und Klausuren. Beim Kinoplakat-Flohmarkt könnt ihr eure Filmhelden in Pappe und Lebensgröße erstehen, die ArtNight fördert euer künstlerisches Talent und für Musik sorgt Walking on Rivers. TEXTSARAH NIESIUS FOTOARTNIGHT GMBH & JENNIFER BERGSIEK
MALEN WIE BANKSY Was? Einmal genau so arbeiten wie der berühmte britische Street-Art-Künstler Banksy: Bei der ArtNight ist das möglich. Innerhalb kurzer Zeit kreieren Laien ihr eigenes Werk, eine professionelle Künstlerin hilft. Für den kreativen Abend sind keine Vorkenntnisse nötig, das Material ist im Preis inbegriffen. Die ArtNight läuft im Übrigen jede Woche mit wechselnden Themen. Wo? Vino/Pieroth Wine Store, Westfalendamm 176a Wann? 15. Januar, von 19 bis 21 Uhr Wie viel? 34 Euro Web? artnight.com
OPEN STAGE AM HAFEN Was? Musikerinnen und Musiker haben am Dortmunder Hafen die Möglichkeit, vor Publikum zu performen. Egal, ob DJs oder Singer-Songwriter – auf der Bühne der TYDE STUDIOS darf jede oder jeder mal ran. In entspannter Atmosphäre können sich Musikfans zurücklehnen und bei Bier oder Cola dem Sound der Newcomer lauschen.
STÖBERN IM KINO Was? Filmfans können in der Schauburg nette Erinnerungen an ihre Leinwandhelden ergattern. Beim Kinoplakat-Flohmarkt gibt es für wenig Geld Aufsteller, Banner und Fotos. Vom Klassiker bis zum aktuellen Blockbuster ist an den Ständen in den Kinosälen alles dabei. Die Einnahmen werden gespendet.
Wo? TYDE STUDIOS, Mathiesstraße 16 Wann? 20. Dezember, Beginn: 21 Uhr Wie viel? Eintritt frei Web? tydestudios.com
Wo? Lichtspiel und Kunsttheater Schauburg, Brückstraße 66 Wann? 5. Januar, von 11 bis 13 Uhr Wie viel? Eintritt frei Web? schauburg-kino.com
LOCAL FOLK HEROES Was? Die Dortmunder Indiefolk-Band Walking on Rivers stellt ihr erstes Album „Off The Trails“ vor. Im Junkyard feiert die Gruppe ihr Debüt und lädt zum Mitsingen und Tanzen ein. Die Jungs haben schon 100 Festival- und Clubshows hinter sich. Schnell sein lohnt sich: Das letzte Konzert im Club Oma Doris war ausverkauft. Wo? Junkyard, Schlägelstraße 57 Wann? 22. Dezember, Beginn: 19 Uhr Wie viel? 11 Euro zzgl. Gebühren Web? walkingonrivers.com
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⁄⁄ KURTSTRIP
Von 8 Bit zu Virtual Reality Wer ins Dortmunder Binarium geht, trifft dort auf Super Mario, Sonic und Co. Das Museum der digitalen Kultur schickt seine Besucherinnen und Besucher an verschiedenen Konsolen auf binäre Zeitreise. Autorin Kimberly hat sich für uns durch die Jahrzehnte gezockt. TEXTKIMBERLY BECKER FOTODANIELA ARNDT
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inmal in die Spielkassette pusten, den Schalter des Nintendo 64 hochschieben und warten, bis „It´s a me, Mario!“ ertönt. So lauscht man den Geräuschen von Super Mario, seinen Gefährtinnen und Gefährten, während die pixeligen 2D-Figuren durchs Bild sprinten und goldene Münzen aufsammeln. Ein Relikt aus Zeiten, in denen die Grafik noch nebensächlich war und ein 5-Megabite-Speicher das Zeug zum Meilenstein in der Entwicklung hatte. Das deutsche Museum der digitalen Kultur, Binarium, ist als VideospielMuseum bekannt. Inhaltlich behandelt es aber ein viel größeres popkulturelles Erbe: den Computer und seinen Einfluss auf die Gaming-Kultur. Hier trifft 2D auf 3D, 8-Bit auf Virtual Reality, die neueste Playstation auf einen Commodore 64 – ein Spaß für eingefleischte Zocker und jene, die es werden möchten. Ich gehöre zur ersten Gruppe und wenn ich sehe, wie ein kleiner Junge gespannt über die Schulter seines Vaters schaut und mit seinen kleinen Händen nach dem Joystick greift, ist mir klar: Der Gaming-Nachwuchs ist gesichert. Neben skurrilen Limited Editions verschiedener Videospiele bietet das Bina-
rium auch analoge Eindrücke: Es gibt eine Ausstellung mit von Hand gezeichneten Bildern. Die Künstlerinnen und Künstler sind wohl selbst VideospielEnthusiasten, illustrieren sie ihre Lieblinge doch in verschiedenen Szenarien. Im Erdgeschoss neben dem Eingang des Museums befindet sich das Café Netzwerk, das namentlich zwar gut zum Museum passt, im Vergleich aber weniger bunt und außergewöhnlich wirkt.
passe ich keine Etappe dieser Zeitreise und erhalte viele Informationen: Wer hat den ersten Computer erfunden? Was hat E.T. zum schlechtesten Spiel aller Zeiten gemacht? Fragen, die das Binarium mit großen, illustrierten Plakaten und seltenen Ausstellungsstücken beantwortet, mit Donkey Kongs elektronischen Trommeln zum Beispiel.
Obwohl unzählige Videospiele auf Bildschirmen in der Dunkelheit flimmern, behalte ich im Binarium den Überblick. Weiße Punkte auf dem Boden und gemalte Schatten bekannter VideospielFiguren an der Wand weisen mir den Weg. Raum für Raum – einer ganz im Stil der 80er gehalten – entwickeln sich Konsolen, Speicherplätze und Spiele weiter. Dank Mario, Sonic und Co. ver-
Nachdem ich mich durch die Geschichte der PCs und Konsolen gelesen habe, komme ich in der Gegenwart an: Räume voller Spiele, die geradezu darauf warten, „erlebt“ zu werden. Mario auf der Wii, Minecraft auf dem Computer oder Tekken auf der Playstation. Zum Schluss probiere ich noch eine VirtualReality-Brille aus. Obwohl es seinen Reiz hat, das Gefühl für die Wirklichkeit zu verlieren, siegt für mich der Charme der Videospiel-Vergangenheit.
Wo? Hülshof 28, 44369 DortmundHuckarde Wie? Vom Hauptbahnhof mit der U-Bahn-Linie U47 Richtung Westerfilde, Ausstieg Huckarde Bushof. Von dort aus circa 3 Gehminuten bis zum Binarium. Oder mit den Bus-Linien
410, 447, 461, 462, 465 bis Huckarde Bushof Wann? Von Dienstag bis Sonntag, 10 bis 17 Uhr, montags ist das Museum geschlossen Wie viel? 8 Euro Eintritt, eine Führung in der Gruppe kostet 40 Euro
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Sudoku
Impressum
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REDAKTIONSLEITUNG
Julia Knübel, Sigrun Rottmann
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REDAKTION
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CHEFIN VOM DIENST
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ADMINISTRATION & TECHNIK
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Lydia Münstermann
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Janis Beenen, Timo Halbe
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LAYOUT & GRAFIK
Stephan Kleiber, Svenja Kloos, Anneke Niehues, Sophia Sailer, Martin Schmitz, Laura Spilker, Wenke Wensing TEXTREDAKTION
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TEXTCHEFS
FOTOREDAKTION
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ILLUSTRATION
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Judith Wiesrecker
Daniela Arndt, Sven Dröge, Ingo Hinz, Malina Reckordt, Judith Wiesrecker
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REDAKTIONSASSISTENZ
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KRÜMELMONSTER VOM DIENST
Julius Kleiber
Stephan Kleiber
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Uni-Center, Vogelpothsweg 74, Campus Nord, 44227 Dortmund
Viktoria Degner
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Prof. Dr. Wiebke Möhring (V.i.S.d.P.)
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PROJEKTLEITUNG
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Institut für Journalistik, TU Dortmund
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HERAUSGEBER
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Erik Acker, Kimberly Becker, Julian Bethke, Jessica Eberle, Lukas Erbrich, Lilian Fiala, Mona Fromm, Patrick Große, Max Grote, Alina Häfemeier, Lena Heising, Karla Kallenbach, Julian Napierala, Sarah Niesius, Cedrik Pelka, Hannah Steinharter, Pia Stenner, Henrik Wittenborn, Paulina Würminghausen
DRUCK
Lensing Druck GmbH & Co. KG Feldbachacker 16 44149 Dortmund
ID-Nr. 1876420
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