kreuz&quer Ausgabe Winter 2010

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Reportage

X Eine Begegnung

I

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Armut in Lateinamerika

m Westen von Lateinamerika, in einer Stadt in etwa so groß wie Dresden, zwischen Pazifikküste und Kordillerenkette, sitzt ein Mädchen unter einem Sonnenschirm im Außenbereich eines Cafés mitten in der Fußgängerzone. Hier sind alle möglichen Gesellschaftsschichten unterwegs, betrachtet man die sich dort tummelnden Leute. Diejenigen, deren Augen hinter großen schwarzen Sonnenbrillengläsern nicht erkennbar sind, schlendern umher mit modischem Outfit und zahlreichen, beschrifteten Shoppingtüten, die sowohl eine Auszeichnung für den erfolgreichen Kauf darstellen als auch die Preisklasse abschätzen lassen. Dagegen weniger extravagant wirkende, irgendeiner modernen Strömung angepasste

Jugendliche bilden bei den Sitzbänken kleine Grüppchen. Ein etwas schäbig angezogener, bärtiger Mann versucht voller Enthusiasmus, die Vorbeiziehenden von seinem lyrischen Talent zu überzeugen und verteilt auf kleinen Zetteln selbstgeschriebene Gedichte. Er versucht sich sein Geld auf ähnliche Weise zu verdienen wie der Gitarrist, an dessen wettergegerbten Fingern, die sich schnell über die Seiten bewegen, man Dreck unter den Fingernägeln sieht. Er sitzt an der Ecke und führt hier und da einen Plausch mit Passanten, die Geld in seinen Hut werfen. Das Mädchen im Café würde sich selbst wohl in der Mitte einordnen. Sie hat keine Probleme, ihren Cappuccino mit extra viel Schaum zu bezahlen, aber sie kann ihn sich auch nicht jeden Tag leisten. Doch worauf bezieht

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sie sich mit der Formulierung „Mitte“? Die Mitte zwischen Minenbesitzer und Arzt? Die Mitte zwischen Arzt und Straßenverkäufer? Die Mitte zwischen Straßenverkäufer und Straßenfeger? Die Mitte zwischen Haus mit Garage und 2-Zimmer-Wohnung, oder die Mitte zwischen 2Zimmer-Wohnung und einer Bude aus Pappkarton? Die Mitte eben. Nicht schlecht, aber auch nicht unübertrefflich gut. Endlich kommt die Bestellung; der Cappuccino wird begleitet von einem Glas frischem Trinkwasser zum Nachspülen. Während sie vorsichtig an der Schaumkrone nippt und den Duft des Kaffees genussvoll einatmet, merkt sie, wie ein Schatten auf sie fällt. Sie wendet den Kopf zur Seite, wo ganz plötzlich, als hätte der Strom der Passanten ihn ausgeschieden, ein Mann


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