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Dieser Job ist genau mein Ding“

Justin Borrmann hat auch ohne eine Ausbildung einen Arbeitsplatz gefunden, der ihm sichtlich Spaß bereitet.

Wenn man als Kunde des Inklusionsunternehmens paso doble Glück hat, dann kann es passieren, dass ein Deutscher Meister den Rasen mäht oder beim Umzug hilft. Denn Justin Borrmann ist nicht nur seit anderthalb Jahren Mitarbeiter beim Radeberger Inklusionsunternehmen, sondern auch sportlicher Titelträger. „Die Arbeit, die Betreuung hier und der Sport machen mich zu einem sehr glücklichen Menschen”, beschreibt der 21-Jährige seine drei persönlichen Säulen, die ihm Halt und Sicherheit geben.

Rückblende: Kurz nach seiner Geburt diagnostiziert die Ärzteschaft eine schwere Diabetes, die dann auch zu einer Epilepsie führt. In den folgenden Jahren ereilen den jungen Justin Borrmann 15 schwere Anfälle, er muss etwa 20 bis 30 Mal ins Krankenhaus. Als er elf Jahre alt ist, nimmt sein Leben schließlich eine entscheidende Wendung. „Mutti konnte die Verantwortung für mich nicht mehr länger tragen”, erinnert er sich heute, „ich zog in eine Kinder- und Jugendwohngruppe der Kinderarche Sachsen in Oberlichtenau.”

Mit viel Selbstdisziplin und mit Hilfe seiner Gesundheitsbetreuerinnen und -betreuer bekommt Justin Borrmann seine Zuckerkrankheit in den Griff: „Ich musste lernen, meine Lust auf Süßes zu zügeln, statt Cola und Limo zum Beispiel zum Wasser zu greifen.” Man spürt, dass es ein harter Kampf war, aber auch seinen Stolz, es geschafft zu haben. Justin Borrmann: „Heute gehöre ich zu den deutschlandweit fünf Prozent der Epilepsie-Betroffenen, die als geheilt gelten.”

Nach einer Definition, die Professor Dr. Peter Wolf, einer der wichtigsten Epilepsieforscher, 2004 für die Deutsche Gesellschaft für Epileptologie veröffentlicht hat, gelten Betroffene dann als geheilt, wenn sie seit mindestens fünf Jahren anfallsfrei sind – davon mindestens das letzte Jahr ohne Medikamente. Justin Borrmann: „Ich weiß gar nicht mehr, wann ich meinen letzten Anfall genau hatte. Ich denke, es ist acht Jahre her. Jedenfalls hat sich die Epilepsie mit meiner Pubertät erledigt. Sie ist ausgewachsen, sagen die Fachleute.“

Geholfen hat ihm sicher auch sein Ehrgeiz und seine Lust auf Bewegung. Als Jugendlicher merkt er, dass er ein schneller Schwimmer ist. „Fast ohne Training“, wie er es selbstbewusst reflektiert, gewinnt er einige Male Gold beim Sächsischen Special-Olympics-Schwimmfest in Riesa über die 25Meter Freistil. 2018 erschwimmt er dann sogar bei den nationalen Special-Olympics-Sommerspielen Gold

in 25Meter Freistil und nochmal Gold in 25Meter Brustschwimmen. Mittlerweile ist Justin Borrmann auf das Mountainbike umgestiegen. „Das ich selber gebaut habe”, erzählt er stolz, „dafür habe ich mir einfach ein paar YouTube-Videos angeschaut. Ich hatte ein Bild von einem Rad im Kopf und den Traum habe ich mir jetzt erfüllt.”

Mit der gleichen Zielstrebigkeit plant er auch sein Leben. Schon während der Schulzeit in der Förderschule Kleinwachau reift in ihm sein Berufswunsch. Nach mehreren Praktika im Inklusionsunternehmen paso doble ist er sich sicher: „Dieser Job ist genau mein Ding“. Nach der Schulzeit bewirbt er sich bei paso doble und wird angenommen. Er hält also direkt nach seinem Abschluss der Förderschule einen Arbeitsvertrag in der Hand.

Die Arbeit, die Betreuung hier und der Sport machen mich zu einem sehr glücklichen Menschen.

Meistens arbeitet er im Garten- und Landschaftsbau, pflegt Gärten, verschönert Grünanlagen, räumt Parks auf. „Das Schöne am Inklusionsunternehmen paso doble ist, dass es hier so viele unterschiedliche Einsatzgebiete gibt. Ich helfe also auch bei Umzügen, werde in der Gebäudereinigung eingesetzt oder auch mal beim Catering in der Küche“, erklärt Justin Borrmann und schwärmt, „bester Arbeitsplatz mit netten Kolleginnen und Kollegen und tollen Chefs.”

Dieses Kompliment gibt ihm sein Vorgesetzter zurück. Michael Voll ist Teamleiter Garten- und Landschaftsbau, Haustechnik, Logistik und Malerarbeiten – und er lobt ihn: „Justin hat in jedem seiner Praktika gezeigt, wie motiviert er ist und was er kann. Er ist einfach auf Zack. Für uns war es ein logischer Schritt, ihm einen Arbeitsvertrag anzubieten, auch wenn er keinen Berufsabschluss vorweisen konnte.“ Paso doble sei schließlich ein Inklusionsunternehmen, das sich auf die Fahnen geschrieben habe, Menschen mit Handicap zu fördern.

Nach der Arbeit führt Justin Borrmann ein eigenständiges und selbstbestimmtes Leben. Im Radeberger Ortsteil Liegau-Augustusbad – nur unweit von seinem Arbeitsplatz – wohnt er mit zwei Freunden in einer Außenwohngruppe des Epilepsiezentrums. Aber, so reflektiert Justin Borrmann, er sei dankbar, seine Gesundheitsbetreuerin Anne zu haben. Sie gibt ihm Vertrauen. Und ein Zuhause: Weihnachten hat er mit ihr und ihrer Familie in Wachau im Landkreis Bautzen gefeiert.

LEICHTE SPRACHE

Justin Borrmann arbeitet seit 1,5 Jahren im paso doble. Hier arbeiten Menschen mit und ohne Behinderung zusammen. Er hat keinen Beruf gelernt und trotzdem einen Arbeits-Vertrag. Vorher war er auf der Förder-Schule Kleinwachau.

Dann hat er im paso doble Praktika gemacht also Probe-Arbeit. Er hilft bei Umzügen, beim Saubermachen und in der Küche. Die Arbeit macht ihm sehr viel Spaß.

Heike Walter weiß, wie professionelle Reinigungen zu organisieren sind. Mit ihrem neuen Meisterinnenabschluss möchte sie nun selbst ausbilden und freut sich über Interessierte.

MEISTERIN SUCHT JUNGE TALENTE

Eigentlich sollte das Interview um 7:30 Uhr stattfinden. „Herrje, das tut mir leid, aber wir müssen das Gespräch verschieben, denn ich muss dringend im Tannenhaus aushelfen.“ Trotz Stress bleibt die Stimme von Heike Walter ansteckend fröhlich. Ein paar Stunden später schwärmt sie von ihrem Job als Teamleiterin Gebäudereinigung im Inklusionsunternehmen paso doble und von ihrem dringendsten Wunsch: „Wir wollen 2022 eine Auszubildende oder einen Auszubildenden einstellen. Darauf freue ich mich sehr. Interessierte können sich gerne bereits jetzt an mich wenden.”

Dass dies überhaupt möglich ist, hat mit Heike Walter selbst zu tun. Im Dezember 2020 hatte sie ihre Meisterprüfung erfolgreich bestanden, sodass das paso doble jetzt eine Lehrstelle für die Gebäudereinigung in Radeberg anbieten kann. „Zwei Jahre lang wurde ich neben meinem laufenden Job von der Gebäudereinigerinnung Chemnitz-Dresden zur Meisterin ausgebildet”, erzählt Heike Walter, die 2011 in der Hauswirtschaftsgruppe des Epilepsiezentrums anfing und 2014 ins Inklusionsunternehmen wechselte.

Die Qualifizierung zur Meisterin umfasste die Themenfelder Theorie, Praxis, Betriebsführung und Ausbildungsleitung. Bei der Prüfung vor der Handwerkskammer Dresden ging es darum, sich in allen vier Aufgabenstellungen zu beweisen: das Meisterstück in der Gebäudereinigung. Heike Walter: „Mit 15 anderen Meisterschülerinnen und -schülern sollten wir eine Schule in Dresden reinigen. Jeder durfte sich ein Zimmer aussuchen und dann ging es darum, eine professionelle Reinigung zu organisieren. Das heißt Aufmaß erstellen, ausrechnen, wie viel Zeit, Reinigungsmittel und anderes Material benötigt wird, um dann damit das Angebot erstellen zu können. Anhand des eigenen Angebotes musste dann das Zimmer sauber gemacht werden.”

Mit der erfolgreichen Prüfung hat Heike Walter auch den Wunsch ihres Chefs Denis Knauthe erfüllt. „Er hat mich angespornt, den Meistertitel zu machen. Mein Ziel war es dann, es bis zu meinem 50. Geburtstag zu schaffen”, ist sie sichtlich stolz. Und damit kann ihre Suche nach neuen Talenten beginnen.

Denn das Finden von Fachkräften ist auch in der Gebäudereinigungsbranche ein schwieriges Unterfangen. Heike Walter: „Wir reinigen, neben einem externen Kindergarten, in erster Linie in den Gebäuden des Epilepsiezentrums. Unser Angebot für private Haushalte müssen wir momentan leider zurückfahren, weil die entsprechende Kollegin aufhört und wir noch keinen Ersatz mit Führerschein gefunden haben. Daher ist die Ausbildung junger Fachkräfte ein wichtiger Baustein für unsere Zukunft.“

Stellenausschreibungen unter www.pasodoble.de/jobs Kontakt Heike Walter TEL (03528) 431-2383 MAIL h.walter@pasodoble.de

WÜRDIGENDE AUFMERKSAMKEIT

Um den Bewohnerinnen und Bewohnern schnellen Zugang zu Entschädigungsleistungen aus den Mitteln der Stiftung „Anerkennung und Hilfe“ zukommen lassen zu können, hat das Epilepsiezentrum die Lebensumstände in Kleinwachau zwischen den Jahren 1949 und 1989 erforschen lassen. Dadurch konnten 64 Bewohnerinnen und Bewohner mit Mitteln des Entschädigungsfonds bedacht werden – und erhielten eine öffentliche Würdigung.

„Braune Bretter kann man sehen, denn zum Sehen war’n ’se da. Braune Bretter waren in Kleinwachau ganz nah. Ich hab sie gesehen und hab mir gedacht: Braune Bretter kannst du sehen Tag und Nacht.“ Ein Gedicht, das sich Kleinwachaus Bewohnerinnen und Bewohner in den 60er Jahren untereinander zugeraunt haben. Die Verse beschreiben einen fensterlosen Raum, einen Karzer – den sie „Stübchen” nannten. Was geschah in Kleinwachau zwischen 1949 und 1989? Also in der Zeit zwischen Gründung und Ende der DDR. Gab es körperliche und seelische Gewalt und wenn ja, wie hoch war das Ausmaß? Das hat das Epilepsiezentrum mit Unterstützung der Dresdner Historikerin Bettina Westfeld und der Stiftung „Anerkennung und Hilfe“ in den vergangenen sechs Jahren erforscht. Es ging dabei nicht nur um Aufarbeitung, es ging auch um Würdigung. Hintergrund ist ein Beschluss, den Bund und Länder 2016 gefasst haben: Menschen, die in Einrichtungen der Behindertenhilfe oder Psychiatrie in Westdeutschland oder der DDR geschlagen, gedemütigt oder missbraucht wurden, sollten mit Hilfe des 288-Millionen-Euro schweren Heimkinderfonds II entschädigt werden. Mehr noch: Um die Geschehnisse in den Behinderten- und Psychiatrieeinrichtungen zu dokumentieren, wissenschaftlich zu bewerten und über mögliche finanzielle Hilfen zu entscheiden, wurde gleichzeitig von Bund, Ländern, Kirchen und deren Wohlfahrtsverbänden die „Stiftung Anerkennung und Hilfe“ ins Leben gerufen. „Die Stiftung thematisiert die Geschehnisse in betroffenen Einrichtungen öffentlich und macht somit in der Gesellschaft darauf aufmerksam. Das Leid und Unrecht wird benannt und öffentlich anerkannt. Damit soll es die von den Betrof-

Bettina Westfeld im Gespräch mit einem ehemaligen Bewohner Kleinwachaus. Bei der Würdigunsveranstaltung stellte die Historikerin ihre Aufarbeitungsarbeit nochmals vor.

fenen angemahnte gesellschaftliche Beachtung finden”, formuliert die Stiftung Mission und Vision ihrer Aufgabe.

Die Zeiträume, die aufgearbeitet wurden, unterscheiden sich in West und Ost allerdings. Für die alte Bundesrepublik gilt die Phase von 1949 bis 1975, für Ostdeutschland eben die 40-jährige Existenz der DDR. Bettina Monse, Diplom-Psychologin und Leiterin der für Sachsen zuständigen Anlauf- und Beratungsstelle der „Stiftung Anerkennung und Hilfe“ in Leipzig, erklärt: „Man ging davon aus, dass die gesellschaftlichen Veränderungen in der Bundesrepublik Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre – Stichwort 68er Bewegung – eine breite Diskussion um die Pädagogik an sich und damit auch der Behindertenpädagogik auslösten, was zu einer Veränderung der Verhältnisse in den Behinderten- und Psychiatrieeinrichtungen geführt hat. Eine vom Bundestag beauftragte Expertenkommission hatte im Oktober 1975 Leitlinien zur Reform der Psychiatrie vorgelegt, die sogenannte Psychiatrie-Enquete. Für die DDR wurde diese Zäsur erst mit dem Ende des Staates und der Wiedervereinigung gesehen.”

Historikerin Bettina Westfeld schreibt ergänzend in der Einleitung ihrer Studie der Kleinwachauer Geschichte: „Bedingt durch das Staatsverständnis der DDR waren alle Lebensbereiche, auch die der Pädagogik und des Gesundheitswesens, ideologisch ausgerichtet. Eine Demokratisierung in der Betreuung von Behinderten, beispielsweise durch die Organisation in Behindertenverbänden, wurde als ‚bürgerlich-westlich‘ abgelehnt.”

Bereits zwei Jahre vor der Gründung der „Stiftung Anerkennung und Hilfe“ hatte Kleinwachau mit der Aufarbeitung der eigenen Geschichte begonnen. Rudolf Möller, seit 1984 im Epilepsiezentrum und heute Bereichsleiter Wohnen, erinnert sich: „2015 hatte mich der damalige Geschäftsführer Martin Wallmann beauftragt, Kleinwachaus DDR-Geschichte zu beleuchten. Das, was damals bei uns passiert war, lag ihm schwer auf dem Herzen. Er brachte uns mit der Historikerin Bettina Westfeld zusammen, die schon für die Diakonie verschiedene Forschungen durchgeführt hatte.“ Westfeld, seit 2020 Präsidentin der Evangelisch-Lutherischen Landessynode Sachsens, begann im November 2015 ihre Recherchen in Kleinwachau mit Fragebögen, die an ehemalige und langjährige Bewohnerinnen und Bewohner wie auch an damals tätige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter versandt wurden. Am Ende standen schließlich 58 Befragungen für die Auswertung zur Verfügung. Autorin Westfeld in ihrem Abschlussbericht: „Darin berichten 52 Personen von Gewalterfahrungen während ihrer Zeit als Kinder oder Jugendliche in Kleinwachau. Während drei Personen ausschließlich von erlittener Gewalt durch Mitbewohnerinnen und Mitbewohner berichten, beziehen sich die übrigen Erinnerungen auch oder ausschließlich auf erlittene Gewalt durch das Pflegepersonal. Die überwiegende Mehrheit erinnert sich an Isolierungsmaßnahmen im sogenannten ‚Stübchen‘, nämlich 48 Personen.”

Biografien, denen in der Öffentlichkeit noch zu wenig Beachtung geschenkt wurde, sollten in ein würdigendes Licht der Aufmerksamkeit gerückt werden.

Zwar ist auch von Schlägen, Zwangsjacken und Medikamentenmissbrauch die Rede, aber das sogenannte „Stübchen“ ist zentraler Bestandteil der Kleinwachauer Aufarbeitung. Der unmöblierte Raum, der mit nur einer Matratze ausgestattet war, diente als „Isolierstrafe“. Bettina Westfeld: „Während die damaligen Mitarbeitenden die Ergreifung von Isolierungsmaßnahmen im „Stübchen“ häufig in Verbindung mit aggressivem Verhalten von Bewohnerinnen und Bewohnern untereinander oder gegenüber dem Pflegepersonal bringen, erinnern sich die ehemaligen Bewohnerinnen und Bewohner an überwiegend andere Gründe wie die Essensverweigerung, Verweigerung sich zu waschen oder festgelegte

Arbeiten zu übernehmen und auch an die Ablehnung des Kirchgangs.” Ein befragter Bewohner berichtete, dass er über einen Monat im „Stübchen” verbracht hatte. Fälle von sexuellem Missbrauch durch Mitarbeitende an den ehemaligen Bewohnerinnen und Bewohnern wurden, anders als in einigen anderen konfessionellen Einrichtungen in Westdeutschland, in Kleinwachau nicht dokumentiert, wohl aber gab es sexuelle Übergriffe zwischen den Bewohnerinnen und Bewohnern.

Das Leid und Unrecht wird benannt und öffentlich anerkannt. Damit soll es die von den Betroffenen angemahnte gesellschaftliche Beachtung finden.

„Bis Ende Oktober 2021 erhielten 64 Betroffene, die bis heute im Epilepsiezentrum leben, Hilfen im Wert von etwa 672.000 Euro”, berichtet Bettina Monse von der Anlauf- und Beratungsstelle der „Stiftung Anerkennung und Hilfe“ in Leipzig, „sachsenweit wurden an 2.089 Frauen und Männer etwa 20 Millionen Euro ausbezahlt.“ Der Entschädigungsfonds ist nun wieder geschlossen. Am 16. Juni 2021 fand in der Kirche in Kleinwachau die Würdigungsveranstaltung der „Stiftung Anerkennung und Hilfe“ statt, Bettina Monse: „Ziel war es, Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges aus den Biografien der Betroffenen zu verknüpfen. Biografien, denen in der Öffentlichkeit noch zu wenig Beachtung geschenkt wurde, sollten in ein würdigendes Licht der Aufmerksamkeit gerückt werden. Die Stunden in Kleinwachau waren für uns alle sehr bewegend.“

Den Geldsegen nutzen die so Bedachten unterschiedlich. „Die meisten bezahlten davon begleitete Ausfahrten zum Shoppen, in den Zoo, ins Kino oder für ein besonderes Möbelstück z. B. für Seniorensessel oder Massagesessel”, erzählt Rudolf Möller. Ein Klient aber hat sich den Wunsch erfüllt, die Welt zu sehen. Rudolf Möller: „Ich bekomme immer mal wieder eine Postkarte. Die letzte kam aus Toronto.“ Letztlich ist das Ergebnis von Studie, Aufarbeitung und Würdigung: In Kleinwachau hat es keine systematischen Misshandlungen oder Gewaltexesse gegeben, wohl aber einzelne Zwangsmaßnahmen und Gewalterfahrungen. „Wir bitten daher um Vergebung“, fasst Geschäftsführerin Sandra Stöhr auch heute noch zusammen, so wie es auch ihr Vorgänger bereits getan hat.

LEICHTE SPRACHE

In Kleinwachau haben wir unsere Vergangenheit überprüft. Einige Bewohner wurden früher bestraft. Zum Beispiel, wenn sie nicht essen wollten oder nicht arbeiten wollten. Das ist Unrecht und bedeutet: Das ist nicht richtig. Dafür bekamen jetzt 64 Bewohner eine Entschädigung. Eine Entschädigung ist zum Beispiel Geld. Mit dem Geld haben sich die Bewohner Wünsche erfüllt.

TEILHABE DARF

KEINE ILLUSION BLEIBEN Lutz Höhne leitet das neue, dreijährige Projekt im Epilepsiezentrum Kleinwachau. Seine Kollegin Silvia Gühne unterstützt ihn dabei als Inklusionsbegleiterin.

Lutz Höhne hat ein ehrgeiziges Ziel. Er will Menschen mit Behinderungen im ländlichen Raum stärker einbinden, ja etablieren. „Mehr noch: Es geht darum, dass jeder Mensch sich gleichberechtigt und unabhängig vom Grad der Behinderung an allen gesellschaftlichen Prozessen vor Ort beteiligen kann und gute Bedingungen zum Leben in seiner Kommune vorfindet”, sagt Lutz Höhne, Kleinwachaus Beauftragter für Sport und Kultur. Jetzt hat er einen starken Verbündeten dafür gefunden: die Deutsche Fernsehlotterie. Die Ausspielung, früher bekannt als ARD-Aktion „Ein Platz an der Sonne“, hat seit 1956 über 9.600 soziale Projekte im Wert von mehr als 2 Milliarden Euro unterstützt. Nun fördert die Lotterie von 2021-2024 mit fast 280.000 Euro die Pläne des Epilepsiezentrums Kleinwachau. „TIL” wird das neue Projekt abgekürzt und meint ausgeschrieben „Teilhabe für Menschen mit einer Behinderung im ländlichen Raum Dresdner Norden / Seifersdorfer Tal in den Bereichen Kultur, Bildung, Sport und Erholung durch das Schaffen einer inklusive Erlebnisregion.” Ein langer Name für etwas, was keine Illusion mehr sein soll: Inklusion auf den Dörfern außerhalb von Radeberg.

Verantwortlich für das Projekt sind Lutz Höhne als Projektleiter und seine Kollegin, Inklusionsbegleiterin Silvia Gühne. „Für die Klientinnen und Klienten, die bei uns auf dem Campus in Liegau-Augustusbad wohnen, ist es oft schwierig, Freizeitangebote in Dresden zu nutzen”, erklärt Lutz Höhne. Nicht immer könnten Begleitung und Fahrmöglichkeiten organisiert werden. Kulturelle Angebote im ländlichen Raum sind durch die Corona-Pandemie teils gänzlich zum Erliegen gekommen. Und oft ist der Zug hier wortwörtlich abgefahren. Die Anbindung an den ÖPNV ist für Menschen ohne Behinderung schon beschwerlich, ein zusätzliches Handicap setzt dem noch eins drauf. „Wir müssen für uns und alle anderen Menschen mit Handicap bei unserer Nachbarschaft für die Themen Barrierefreiheit und Teilhabe Interesse wecken und zugleich Angst nehmen”, fokussiert Höhne, der selbst auf dem Land groß geworden ist und jetzt im Dresdner Norden wohnt. „Dazu wollen wir Vereine, Museen, Schlösser, Kirchen und andere Gremien in den Gemeinden Wachau, Seifersdorf und Liegau-Augustusbad sensibilisieren, aber auch begeistern”, fügt Silvia Gühne an, „denn Teilhabe aller darf keine Illusion bleiben. Auch im ländlichen Raum nicht.”

Ziel sei es, dass bei einer Renovierung oder einem Neubau eines Vereinshauses gleich die Barrierefreiheit mitgedacht werde. Es geht aber auch um Bildung im ländlichen Raum, um Volkshochschulkurse für Menschen mit langsamen Lerntempo, um spezielle Sport- und Kulturangebote oder einfach ein Open-Air-Event, bei dem es – ganz natürlich – auch eine barrierefreie Toilette gibt. Lutz Höhne: „Mit dem Projekt wollen wir einerseits inklusive Netzwerke und Freizeitangebote aufbauen und andererseits barrierefreie Orte für die soziale Teilhabe von Menschen mit

Handicap schaffen – hier bei uns vor der Haustür.”

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