9 minute read

Eltern-Kind-Bindung

Eltern-Kind-Bindung Die ersten Jahre prägen ein Leben lang

“There is no such thing as a baby” Donald Winnicott

Advertisement

(Nichts ist ansatzweise mit einem Baby vergleichbar)

Was ist Bindung?

Unter dem Begriff Bindung versteht man ein dem Menschen angeborenes Bedürfnis, enge Beziehungen zu Mitmenschen aufzubauen, die von intensivsten Gefühlen geprägt sind. Ohne Anerkennung und Fürsorge ist ein Neugeborenes nicht überlebensfähig. Erst durch seine Mitmenschen versteht es sich allmählich selbst.

Dr. Anhalt erklärt Bindung als ein ”eigenständiges Motivationssystem, das ein elementares evolutionäres Verhalten darstellt – von der Geburt eines Menschen bis zu seinem Tod”.

In den ersten Monaten geschehen nahezu alle Erfahrungen, die der Säugling erlebt, mithilfe seiner Bindungsperson. Dies können eine (bestensfalls die Mutter) oder auch mehrere (bspw. die Eltern) sein. Bindungspersonen stellen eine sogenannte “externe Regulationshilfe” dar, es wird von außen durch ihre Fürsorge vermittelt, gesteuert und gestaltet, was der Säugling erfährt und verinnerlicht. Bindung kann sozusagen als “biologische Anpassungsausrüstung” verstanden werden.

Der Optimalfall

Die Bindungsperson bietet eine bedingungslose Bindungsbeziehung an, sie ist für das Kind emotional verfügbar. Dies zeigt sich in Feinfühligkeit auf die kindlichen Bedürfnisse sowie in Zuverlässigkeit. Dadurch wird emotionale Sicherheit angeboten und externe Hilfe zur Regulation. Das Baby lernt durch die feinfüh- Wenn etwas schief läuft ligen Reaktionen der Bindungs- Bindung zeigt sich in unterschiedperson, sich selbst zu verstehen. lichen Varianten. Dies wurde in Je besser dieses Wechselspiel ater John Bowlby als biologisches zwischen Bindungsperson und Phänomen, insbesondere an Baby gelingt, umso größer ist die Kriegsweisen, intensiv erforscht. psychische Stabilität für den Rest seines Lebens. Da Bindung ein Innerhalb der ersten Monate elementares evolutionäres Ver“organisiert” das Baby mit seihalten darstellt, zeigen auch prin- ner wichtigsten Bezugsperson ein zipiell alle Kinder von Geburt an interaktives Bindungssystem. Die die Bereitschaft, sich an eine oder Erfahrungen, die es dabei macht, mehrere Personen zu binden. wirken sich auf seine weitere EntJe sicherer die Bindungserfah- dungsperson stets feinfühlig rearung, umso weniger bedrohlich giert und dem kleinen Menschen erscheint die “Welt da draußen”. dadurch emotionale Sicherheit Sicher gebundene Menschen füh- vermitteln können, so wächst nun len sich im Laufe ihres Lebens ein sicher gebundener Mensch in sozialen Beziehungen wohl. heran, der neugierig auf die Welt Sie genießen es, von anderen geworden ist und unternehmungsgebraucht zu wer- lustig seine Umgeden und können leicht vermitteln, Sicher bung erforscht. wenn sie etwas von gebundene Ist es der Bindungsanderen brauchen. Menschen person nicht gelungen, emotionale Ist beim Kleinkind das Bedürfnis nach fühlen sich Sicherheit zu vermitteln, so hat das Baby Bindung ausrei- im Laufe auch nicht gelernt, chend befriedigt, so kann im nächihres Lebens sich selbst zu verstehen, geschweige sten Entwicklungs- in sozialen denn das Verhalten schritt die Umwelt erkundet werden Beziehungen anderer richtig zu interpretieren. Ele(Exploration). Beim Erkunden der Welt wohl. mentarste Bedürfnisse wurden nicht (ab dem 2. Lebensjahr intensiver) erfüllt. bleibt das Kind jedoch stets im den 1950er Jahren von dem Psychiwicklung massivst aus. Hat die BinKontakt mit der Bindungsperson, Die Erfahrung von Vernachläsüberprüft dies mit Blicken und sigung, Verwahrlosung oder immer wieder aufgesuchtem kör- emotionaler Kälte kann zu Binperlichem Kontakt (soziale Verge- dungsstörungen führen. Ebenso wisserung). eine Traumatisierung, die schon

während der Schwangerschaft im Mutterleib stattgefunden hatte, aber auch lange Klinikaufenthalte und frühe chronische Erkrankungen können den natürlichen Bindungsprozess erschüttern.

Vier Bindungsstile

Bolwby konnte zwischen vier verschiedenen Bindungsstilen unterscheiden, die bis heute an ihrer Aktualität nichts eingebüßt haben.

Im Optimalfall ist das Kind sicher gebunden. Studien zufolge trifft dieser Bindungsstil auf etwa 50 bis 60 Prozent aller Kinder zu.

Bei unsicher gebundenen Menschen spricht man von einer Bindungsstörung. Bei der Störung werden von Bolwby drei Varianten beschrieben, die zu unterschiedlichen Langzeitfolgen führen können. Der Ursprung einer Bindungsstörung liegt in der Vernachlässigung durch die Bindungsperson(en). Darunter versteht man ein ständiges, wiederholtes Unterlassen von fürsorglichem Verhalten gegenüber dem Baby durch die Eltern, bzw. sorgeberechtigten Personen.

Etwa 25 % sind unsicher-vermeidend gebunden. Dies bedeutet, die Bindungsperson vermittelt dem Kind, dass es mit Stress alleine zurechtkommen muss. Empfindet das Kind ein starkes Bedürfnis nach Schutz, so wird dies zurückgewiesen bzw. gar nicht wahrgenommen. Folglich zeigt auch das Kind nur sehr wenig Bedürfnis nach Nähe und Zuwendung, wobei es aber ein intensives innerliches Erleben von Stress aushalten muss. Rund 15 % sind unsicher-ambivalent gebunden. Dies bedeutet, die Bindungsperson reagiert auf kindliche Bedürfnisse unklar, einmal wird Schutz angeboten, ein anderes Mal wird das Kind zurückgewiesen. Der kleine Mensch reagiert dann stets mit einem besonders intensiven Klammern an seine Bezugsperson, was ihm aber dennoch keine Entspannung bringt.

10 % sind unsicher-desorganisiert gebunden. Dies bedeutet, dass die Bezugspersonen selbst traumatisiert sind und daher auf kindliche Bedürfnisse buchstäblich aus dem eigenen Trauma heraus – da es ihnen selbst passiert ist – nur mit seelischer und/ oder körperlicher Misshandlung des Babys reagieren. Kinder mit diesem Bindungsstil zeigen lebenslang keinerlei Resilienz

gegenüber psychischen Erkrankungen, oft ist ein Abgleiten in die Pathologie die traurige Folge.

So überrascht es nicht, dass eine Bindungsstörung nach dem ICD10 eine voll ausgebildete psychische Störung darstellt. Die Bindungsstörung verhindert, sichere Bindungen zu anderen Menschen aufzubauen und kann den Grundstein für spätere Persönlichkeitsstörungen legen.

Langzeitauswirkungen

Eine unsichere Bindung ist nicht unbedingt die Folge von “böser Absicht” – meist ist sogar das Gegenteil der Fall. Hin und wieder spielen Schicksalsschläge eine wichtige Rolle, wie früher Verlust von Bindungspersonen (aufgrund von ernsthafter Erkrankung oder Tod), Beziehungsabbrüche der Eltern aufgrund von Trennung oder Scheidung. Psychische Erkrankungen der Bindungspersonen können ebenso unsichere Bindungsstile zur Folge haben. Auch der Faktor “Überbehütung” muss berücksichtigt werden – zu intensives Behüten kann das Kind in seinem angeborenen Explorationsverhalten einschränken und sich so lebenslang als Angststörung manifestieren.

Aktuell wird zwischen einer reaktiven (F94.1) und einer

enthemmten Bindungsstörung

(F94.2) unterschieden.

Reaktive Bindungsstörung

Bei der reaktiven Störung haben die Betroffenen kaum einen Zugang zu ihren Gefühlen, da sie nicht die Erfahrung machen konnten, dass die Bindungsperson versteht, was sie benötigen. Oft sind sie sich über die eigenen Gefühle im Unklaren und verhalten sich daher in Beziehungen widersprüchlich. Experten sprechen hier von einer “Mentalisierungshemmung”, man hat keinen Zugang zu seiner subjektiven Innerlichkeit. „Mentalisieren“ hingegen beschreibt die Fähigkeit, das eigene Verhalten und das Verhalten anderer Menschen durch Zuschreibung mentaler Zustände zu interpretieren – dies wird durch die Störung verhindert.

Aggressives und ängstliches Verhalten wechseln einander bei der reaktiven Form der Bindungsstörung ab und lassen die Betroffenen somit befremdlich auf andere Menschen wirken.

Im Kindesalter ist bei dieser Störung zu beobachten, dass diese Kinder absurde Beziehungsmu-

ster von Annäherung und Vermeidung zeigen. Im sozialen Spielen mit anderen sind sie deutlich beeinträchtigt, wirken furchtsam und ängstlich, gleichzeitig aber auch selbst- und fremdaggressiv, sind eventuell übervorsichtig und leiden an einem Gefühl ständiger Bedrohung, das sie “eingefroren” erscheinen lässt. In schwerwiegenden Fällen kann auch das körperliche Wachstum eingeschränkt sein. Von dieser Variante sind vor allem jüngere Kinder betroffen.

Im Erwachsenenalter wirkt sich diese Störung hinderlich auf die Paarbeziehung aus.

Enthemmte Bindungsstörung

Die enthemmte Bindungsstörung wird als Folgeentwicklung aus der reaktiven Störung betrachtet, sie macht sich ab dem 5. Lebensjahr bemerkbar. Bei dieser Störung zeigen betroffene Kinder ein Unvermögen, in sozialen Beziehungen zu differenzieren. Das Bedürfnis nach Aufmerksamkeit ist unstillbar, ob positiv oder negativ, darin wird nicht unterschieden. Auf Beziehungsangebote wird in einer unangemessenen, schwer vorhersagbaren Art reagiert, manchmal klammern sich diese Kinder wahllos an andere Menschen, wobei sie distanzlos wirken, ein anderes Mal zeigen sie gar keine Reaktion auf Kontaktangebote.

Bindungsstile in der Paarbeziehung

Dank Bolwbys Differenzierung in drei verschiedene Stile der unsicheren Bindung können lebenslange Prognosen der Persönlichkeitsentwicklung getroffen werden. Mitunter werden Bindungsstile in der Paarbeziehung offensichtlich.

Menschen, die eine unsichervermeidende Bindung entwickelt haben, wirken fälschlicherweise oft als “pflegeleicht”, da sie schon als Baby ihren permanent

erlebten Stress ständig mit sich alleine ausmachen mussten. Sie sind “pseudounabhängig”, reagieren auf Beziehungsangebote oft ablehnend und (über-)betonen ihre Selbstständigkeit.

Erwachsene, die unter einer unsicher-ambivalenten Bindungsstörung leiden, geben sich und ihren Mitmenschen keinen Raum, sich weiterzuentwickeln. Emotionale Abhängigkeit kann das Grundthema ihrer (Paar-) Beziehungen sein. Man wünscht sich, dass der Partner ständig bei einem bleibt, muss dieser (wenn auch nur berufsbedingt) außer Haus, so konfrontiert ihn der Betroffene, der sich im Stich gelassen fühlt, mit permanenten Schuldgefühlen. Doppelbotschaften stehen an der Tagesordnung.

Erwachsene Menschen mit einem

unsicher-desorganiserten Bin-

dungsstil hatten meist selbst traumatisierte Eltern und eine dementsprechende Kindheit erlebt. Sie leiden an unverarbeiteten Erfahrungen, stehen unter ständiger Alarmbereitschaft und können sich nicht selbst beruhigen. Oftmals entwickeln sie Pathologien und dysfunktionale Kompensationsstrategien.

Prävention

Aus meiner Sicht ist die Erstmaßnahme Aufklärungsarbeit. Schon werdende Eltern sollten über die Bedeutung von Bindung informiert werden. Es ist mittlerweile auch neurobiologisch bestätigt, dass die Erlebnisse im Zeitraum von der zweiten Schwangerschaftshälfte angefangen bis zum 18. Lebensmonat unglaublich wichtig sind – ein Zeitraum, der vor dem uns vertrauten ”Denken” stattfindet und daher noch immer unterschätzt wird. Was hier passiert, prägt den Menschen ein Leben lang, frei nach dem Motto: “Ich fühle, also denke und lebe ich”, wie es der Psychotherapeut und Heilpraktiker Breitenberger treffend formuliert. Hilfreich sind beispielsweise videounterstützte Maßnahmen. Das bedeutet, die Bindungsperson (im Idealfall die Mutter) wird dabei gefilmt, wie sie mit ihrem Baby in unterschiedlichen Situationen umgeht. Beim gemeinsamen Anschauen des Videomaterials bekommt sie die Rückmeldung, was gut gelingt und was ausbaufähig ist. Weiters gibt man ihr “Rüstzeug” mit, woran es zu erkennen wäre, was das Baby gerade braucht und was die richtige Verhaltensreaktion darauf sein sollte.

Empfehlenswert wäre es darüber hinaus, auch Kindergärtner und Lehrer dahingehend zu schulen, Bindungsstörungen frühestmöglich zu erkennen und angemessen darauf zu reagieren. Liegt eine Bindungsstörung vor, so ist die Bindungsperson in den Behandlungsprozess unbedingt miteinzubeziehen.

Bindung ist ein natürlicher Prozess

Bindung ist ein natürlicher Prozess, daher möchte ich dazu ermutigen, auf den “eigenen Bauch” zu hören. Kein Baby schreit zum Vergnügen oder um jemanden zu ärgern, dahinter steckt immer und in jedem Fall ein Grundbedürfnis, das es feinfühlig zu stillen gilt.

Ist man als Bindungsperson selbst ständig unsicher, wie man richtig reagieren soll, so möchte ich dazu einladen, sich schnell Unterstützung zu holen wie beispielsweise eine Psychotherapie. Durch die Bewusstmachung des eigenen Bindungsstiles kann vieles (womöglich etwas Belastendes) aufgedeckt werden.

Und bitte vergessen Sie niemals - was man in den ersten Monaten seinem Baby mitgibt, wird es sein Leben lang prägen. Wie schon 1949 von dem Kinderarzt und Psychoanalytiker Donald Winnicott erkannt: “There is no such thing as a baby”.

Dr. Maria Fessl

Systemische Familientherapeutin, Leitung Kinderhilfswerk Linz, Universitätslehrbeauftragte, Referentin, Trainerin

maria.fessl@kinderhilfswerk.at

Autor

Quellen: • Julius H., Gasteiger-Klicpera B.,

Kißgen R. (Hg.) (2009): Bindung im Kindesalter. Diagnostik und

Interventionen. Göttingen: Hogrefe. • Suess G., Scheurer-Englisch H., Pfeifer

W. (Hg.) (2001): Bindungstheorie und

Familiendynamik. Anwendung der

Bindungstheorie in Beratung und

Therapie. Gießen: Psychosozial. • Buchheim A. (2011): Sozio-emotionale

Bindung, in: Schiepek G. (22011):

Neurobiologie der Psychotherapie.

Stuttgart: Schattauer, 339 – 349.

Online-Quellen: • Anhalt U. (2019): Bindungsstörung – Definition, Ursachen und

Therapie. www.heilpraxis.net • Breitenberger M. (2012): Neurobiologische

Bestätigung der Bindungstheorie. www.praxis-breitenberger.de • Brisch K.H. (o.J.): Stationäre Intensiv-

Psychotherapie von psychosomatisch kranken, früh traumatisierten Kindern und Eltern. www.khbrisch.de • Brisch K.H. (2015): Bindung und

Bindungsstörungen – Bedeutung für Diagnose, Beratung und

Therapie. www.khbrisch.de • Brisch K.H. (2015): Bindung und

Trauma.www.khbrisch.de • Ziegenhain U. (o.J.): Kleinkindzeit, Eltern-

Kind-Bindung und Bindungsstörungen. www.uniklinik-ulm.de

This article is from: