Lebensraum St.Gallen
«Viele niederschwellige Angebote» Wie beurteilen die Sozialen Dienste der Stadt St.Gallen die diakonischen Angebote der Kirchen? Wie wichtig sind diese für die Stadt? Ein Interview mit Christoph Hostettler, Abteilungsleiter Sozialhilfe der Stadt St.Gallen. Wie wichtig sind die kirchlichen Sozialdienste für die Stadt St.Gallen? Christoph Hostettler: In der breiten Öffentlichkeit ist viel zu we nig bekannt, wie viel die kirchlichen Sozialdienste leisten. Sie sind grosse Player. Nicht auszudenken, wenn es diese Angebote nicht gäbe. Wir bekommen mit, dass für manche Klientinnen und Klienten die Hemmschwelle kleiner ist, bei der Kirche Hilfe zu su chen. Es ist weniger schambehaftet. Gerade Migrantinnen und Migranten wenden sich oft nicht an die Sozialen Dienste der Stadt St.Gallen. Sie befürchten, dass sich ein Sozialhilfe-Gesuch negativ auf ihren Aufenthaltsstatus auswirkt. Sowohl die Reformierte wie die Katholische Kirche verfügen über ein starkes Netz, mit dem sie Menschen in Not auf vielfältige Weise unterstützen. Die kirch liche Sozialarbeit leistet nicht nur finanzielle Unterstützung, sondern engagiert sich auch sehr stark in der Beratung und Be gleitung. Sowohl für Einzelpersonen als auch für Familien gibt es viele niederschwellige Angebote.
Christoph Hostettler, Abteilungsleiter Sozialhilfe der Stadt St.Gallen
An welche denken Sie? Spontan fallen mir zum Beispiel die Angebote der Offenen K irche oder «FrauenLachen» ein, das Frauen im Lachenquartier Begeg nungen ermöglicht. Viele unserer Klientinnen und Klienten lei den an der sozialen Isolation, in die sie durch die Arbeitslosigkeit geraten sind. Wir machen Betroffene auf die Angebote der Kir chen aufmerksam – sie ermöglichen Gemeinschaftserfahrungen, befreien von der Einsamkeit oder helfen auch bei der Integration. Eine der Stärken der kirchlichen Sozialdienste ist sicher auch, dass man sich dort für die Menschen Zeit nimmt. Bei Bedarf macht der Sozialarbeiter auch mal einen Spaziergang mit einem Klienten. Die Herausforderung unserer Mitarbeitenden ist, jeweils den Überblick zu haben, welches Angebot für welche Person aufgrund ihrer Lebenssituation geeignet ist.
breiten, umfassenden Ansatz – und unterscheiden sich von Insti tutionen mit einem themenbezogenen Angebot wie zum Beispiel Sucht oder Erziehung. Dies ist eine wichtige Grundlage für die Zu sammenarbeit. Wo ich noch Potenzial für die Zukunft sehe: Viel leicht könnten wir den Austausch auch auf struktureller Ebene ausbauen, damit die Erfahrungen und Wahrnehmungen der kirchlichen Sozialdienste, die wie gesagt sehr nah «dran» sind, ge zielter einfliessen können. Prallen aber nicht auch mal verschiedene Ansichten aufeinander? Zum Beispiel wenn sich kirchliche Sozialarbeiter anwaltschaftlich für ihre Klienten einsetzen? Die kirchlichen Sozialarbeiter sind oft Brückenbauer zwischen Klienten und uns. Sie klären für sie ab, wo sie welche Unter stützung beantragen können. Auch bei den kirchlichen Sozial diensten arbeiten Profis. Wie wir verfügen auch diese über eine professionelle Ausbildung im sozialen Bereich. Wir begegnen uns also auf Augenhöhe. Wenn sie mal kritisch nachfragen, geschieht das auf eine sehr lösungsorientierte Weise. Es kann sein, dass man nicht gleicher Meinung ist, aber Konflikte sind mir keine bekannt. Wie hat sich die Coronapandemie auf die Zahl der Sozialhilfebeziehenden in der Stadt St.Gallen ausgewirkt? Zu Beginn der Pandemie rechneten wir mit einer grossen Zu nahme und haben uns deshalb darauf vorbereitet. Doch die grosse Zunahme ist ausgeblieben – in St.Gallen, aber auch in den ande ren Schweizer Städten und Regionen. Das liegt vor allem an den Unterstützungsmassnahmen durch den Bund. Diese konnten offensichtlich Schlimmeres verhindern. Doch keiner kann zum jetzigen Zeitpunkt sagen, wie sich die Situation entwickelt. Es hängt vom weiteren Verlauf der Pandemie ab, wie schnell sich der Arbeitsmarkt erholt. In den Medien waren in den letzten Monaten Bilder aus Genf oder Zürich zu sehen: Menschen, die bei Essenausgaben Schlange stehen … In Städten mit vielen Arbeitsplätzen in den Tourismus- und Gast ronomiesektoren hinterliess die Coronapandemie viel gravieren dere Auswirkungen auf dem Arbeitsmarkt. Zudem gibt es in Städ ten wie Genf viel mehr Sans-Papiers. Die Situation in S t.Gallen ist anders. Zudem sind bei uns Hilfsangebote wie «Tischlein deck dich» oder die Caritas etabliert. Die Coronahilfe des Kantons, die in der Stadt über die AHV-Zweigstelle beantragt werden kann, ist ein weiteres Sicherungselement für Menschen in bescheidener finanzieller Situation. (ssi)
Wie arbeiten die kirchlichen und städtischen Sozialdienste zusammen? Wir tauschen uns bei einem jährlichen Treffen mit den Beratungs stellen auf dem Platz St.Gallen aus. Auch die kirchlichen Sozial dienste sind hier immer vertreten. Das ist ein wichtiger Anlass. Ansonsten gibt es keine institutionelle Zusammenarbeit. Im All tag arbeiten wir vor allem fallbezogen zusammen: Wir überlegen gemeinsam, wie wir einen Klienten optimal unterstützen können oder wie die Kirche Leistungen finanziert, die nicht über die So zialhilfe bezahlt werden können. Ich erlebe die Zusammenarbeit als konstruktiv. Die kirchlichen Sozialdienste haben wie wir einen 4
Ausgabe Nr. 6 | 1. bis 30. Juni 2021