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Sie geben den Geflüchteten ein Gesicht
Im Buch «Mutter, mach dir keine Sorgen, das ist eine ganz andere Welt» erzählen elf junge Geflüchtete, die minderjährig und ohne ihre Familie in die Schweiz gekommen sind, von ihren Fluchtgründen und den Herausforderungen, hier Fuss zu fassen. Einer von ihnen ist Ali. Bernhard Brack, Sozialarbeiter bei der Katholischen Kirchgemeinde, hat die Geschichte des jungen Afghanen aufgeschrieben.
Ali ist in Ghazni, einer Stadt in Afghanistan, aufgewachsen. Eines Nachts kam der Vater nach Hause. Er war verletzt, hatte Blut an den Hosen und sagte: «Wir müssen weg». Auf der Flucht wurde Ali von seiner Familie getrennt und er reiste als Vierzehnjähriger allein weiter in die Schweiz. Seither lebt er als vorläufig aufgenommener Geflüchteter im Kanton St.Gallen.
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Ali ist einer von mehreren tausend Kindern und Jugendlichen, die in den letzten Jahren wegen Krieg und Gewalt ihre Heimat verlassen haben, um in einem anderen Land Schutz zu suchen. In der Schweiz werden sie unbegleitete minderjährige Asylsuchende (UMA) genannt. In einem neuen Buch, das vom Solidaritätsnetz Ostschweiz und der Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht Ostschweiz herausgegeben wurde, werden elf dieser jungen Geflüchteten von elf Autorinnen und Autoren porträtiert. Zudem gibt es Fachtexte zu Herkunft und Fluchtrouten, zur UN-Kinderrechtskonvention und zur Betreuung von UMA. In den Porträts erzählen die Jugendlichen von ihren Fluchtgründen und den prägenden Erfahrungen, die sie unterwegs gemacht haben, von der Ankunft in der Schweiz und den Chancen und Schwierigkeiten, hier Fuss zu fassen.
Boxen als grosse Leidenschaft
Einer, der seine Geschichte erzählt, ist Ali. Aufgeschrieben hat sie Bernhard Brack. Der Sozialarbeiter der Katholischen Kirchgemeinde hat den Jugendlichen mehrmals getroffen. Ali wohnte damals, im Herbst 2019, in einer Rheintaler Gemeinde mit zwei anderen gleichaltrigen Afghanen. Brack hat ihn in der WG besucht, mit ihm Kabuli gegessen, ein traditionelles afghanisches Gericht mit Reis, Karotten, Weinbeeren und Hühnerschenkeln, und auch über die Flucht gesprochen. «Ich war überrascht, wie faktenbezogen er von Grausamkeiten erzählte, wie den Toten, die er im Meer schwimmen sah, bei denen es mir kalt den Rücken runterlief», sagt Brack. «Das zeigt mir aber vor allem, dass er einen Teil seiner traumatischen Erlebnisse abspalten musste, um überhaupt einigermassen weiterleben zu können.»
Brack fragt den Jugendlichen, ob er mit seinen Mitbewohnern über das, was sie auf der Flucht erlebt haben, spreche. «Nein, nie», antwortet Ali und fügt an, dass er dann über Persönliches reden müsste, und das mache er vielleicht einmal, wenn er erfolgreich gewesen sei. Eine Aussage, die den Autor beeindruckte. Er habe nun aber auch besser verstehen können, weshalb Ali so viel Zeit und Leidenschaft ins Boxen stecke. Nebst seiner Arbeit – er begann eine Lehre als Sanitärinstallateur, führte sie dann als Haustechniker fort – macht er jeden Tag Sport. Ali trainiert hart: morgens vor der Arbeit, abends danach sowie an den Wochenenden. Er will etwas erreichen, sowohl im Boxen als auch im Leben.
Nur eine Frau machte mit
Brack hat aber nicht nur geschrieben, sondern auch beim Gesamtkonzept mitgearbeitet. «Die Suche nach jungen Geflüchteten, die bereit waren, ihre Geschichte zu erzählen, war nicht einfach», sagt er. «Viele unbegleitete minderjährige Asylsuchende sind durch das, was in ihrem Heimatland oder während der Flucht passierte, traumatisiert. Es ist verständlich, dass manche nicht gerne daran zurückdenken oder gar darüber reden wollen oder können.» Noch schwieriger sei es jedoch gewesen, weibliche Geflüchtete zu finden. «Zum einen flüchten viel mehr junge Männer als junge Frauen in die Schweiz», begründet Brack, «und zum anderen haben junge Frauen offenbar weniger das Bedürfnis, darüber zu sprechen. Das kann auch an den kulturellen und patriarchalischen Strukturen in ihrem Heimatland liegen.»
Heimweh nach der Familie
Ali gefällt es in der Schweiz. Für die Integration würde ihm aber eine Familie am meisten helfen. Natürlich könne niemand seine Eltern oder Geschwister ersetzen, sagt er im Buch. «Aber nach der Arbeit nach Hause zu kommen und mit jemandem zu sprechen, das wäre schön.» Seine Familie hat er seit der Flucht nicht mehr gesehen. Ob er manchmal Heimweh habe, will der Autor wissen. «Am Anfang hatte ich das oft. Vor allem, wenn ich Kinder mit ihren Eltern auf der Strasse spielen sah. Dann weinte ich.» Sein grösster Wunsch ist es, die Eltern zu besuchen. Er habe jetzt vier Jahre seiner Mutter kein Geschenk mehr gebracht zum Muttertag, erzählt Ali. Das möchte er bald wieder tun.
Der Autor und der Porträtierte haben noch heute Kontakt. «Ali hält mich auf dem Laufenden», sagt Brack. «Er hat mittlerweile die B-Bewilligung erhalten, was mich sehr für ihn freut.» (lom)
«Mutter, mach dir keine Sorgen, das ist eine ganz andere Welt» – Unbegleitete minderjährige Asylsuchende in der Schweiz erzählen; herausgegeben vom Solidaritätsnetz Ostschweiz und der Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht Ostschweiz; erschienen im Limmat Verlag, seit Anfang März im Buchhandel erhältlich