
in memoriam Dris. Gerald Pump



3 Zum Geleit
4 Vorwort
6 Der Mensch und Gott
9 Des Kaisers neue Kleider
23 Gesellschaft im Wandel
26 Kommunikation im Wandel
40 „Gott“ von Ferdinand von Schirach aus der Sicht eines Hausarztes
54 Genie und Blödheit
60 Seisachtheia
68 Gerald Pump – ein Pionier der Sozialpsychiatrie
72 Der assistierte Suizid
77 Der Professor – ein Nachruf
SämtlichebishererschieneneAusgabenderVoitsbergerManuskripte sindimInternetunterwww.voitsberger-manuskripte.atabrufbar.
Mit dem Erscheinen der 20. Ausgabe der „Voitsberger Manuskripte“ wird aucheinegroßeÄra„In Memoriam Dr. GeraldPump“reflektiert.
Mit dem Start der „Voitsberger Humanismus-Gespräche“, die von Dr. GeraldPump1993initiiertwurden,hat man sich auf niveauvoller Ebene einer breiten Themenlandschaft gewidmet.
EswurdeüberdievielenJahrehinweg mit der Voitsberger Bevölkerung über Philosophie, Theologie, Soziologie, Kunst, Architektur, Literaturgeschichte undvieleanderenBereichedesLebens diskutiert.
Die Ergebnisse dieser vielschichtigen Diskussionen wurden in den „Voitsberger Manuskripten“ zusammengefasst und von den Herausgebern, Dr. Wolfgang Klobassa und Prof. Dr. Gerald Pump, veröffentlicht.
Die Zielsetzungen der „Voitsberger Manuskripte“sindfestgeschrieben,und wennausdermedialenKommunikation verstärkt eine persönliche entsteht, dannerfülltdieseZeitschrifteinenganz wichtigenBeitrag.
Die vorliegende Ausgabe der Voitsberger Manuskripte schließt an den Kreis eines wichtigen und bedeutenden Auftrags: „Betrachtungen überMenschen“.
Im November 1994 erschien die erste Ausgabe des von Prof. Dr. Gerald Pump und Dr. Wolfgang Klobassa initiiertenundgestaltetenMagazins.
WieauchmeinemAmtsvorgänger,dem 2017 verstorbenen Regierungsrat Helmut Glaser, war es mir in meinen Jahren als Bürgermeister der Stadt Voitsberg ein Anliegen, die damit gesetzte Initiative,eineinterdisziplinäre Plattform zu schaffen, in deren Mittelpunkt der Mensch in seinem Verhältnis zum Mitmenschen und zur Gesellschaftsteht,positivzubegleiten.
Viele namhafte Persönlichkeiten und Experten,obBischofDr.JohannWeber oder Univ.-Prof. Dr. H.G. Zapotocky warenderEinladunggefolgtundhatten sich bereit erklärt, zu den verschiedenstenThemenPerspektiven zu öffnen und damit inhaltlich neue, interessante und für die Region geradezu einmalige Dimensionen zu schaffen.
Mag.(FH)BerndOsprian BürgermeisterderStadtVoitsberg
Dipl.Päd.ErnstMeixner AltbürgermeisterderStadtVoitsberg
EswarimOktober2002,alswirmitder 19. Ausgabe der Voitsberger Manuskripte einen vorläufigen Schlussstrich gezogen hatten. Ein Schlussstrich, den zu ziehen uns beidennichtleichtgefallenwar
Das Heft war zum zehnjährigen Bestehen des PSZ Voitsberg und aus Anlassdesam14.und15.Juni2002im Volkshaus Voitsberg stattfindenden „II. Internationalen medizinisch-kulturphilosophischen Symposions“ unter dem Titel ‚Wege zur Person‘ erschienen.
„Wir“–daswarendamalsDr.Wolfgang Klobassa und Dr. Gerald Pump. Im Rahmender„VoitsbergerManuskripte“ waresunsjedenfallsgelungen,einefür die Region völlig andere und neue Diskussionsebene aufzutun. Im Zuge zweier Symposien, zu welchen international anerkannte Fachleute auch aus dem Ausland zur interdisziplinären Diskussion und zu Vorträgen von hoher Qualität nach Voitsberg geholt werden konnten, zu denen es damals gelungen war, den großen Saal der Voitsberger Stadtsäle zu Fachvorträgen und Diskussionen übervollzubesetzen,konntebewiesen werden, dass das Potenzial für interdisziplinäre Diskussionen auch in der Weststeiermark durchaus vorhanden ist und vielleicht nur darauf wartet,angesprochenzuwerden.
Trotz aller Erfolge haben wir damals beschlossen, das Projekt vorerst nicht fortzuführen – nicht zuletzt auch aus dem erheblichen Aufwand sowohl der Veranstaltungen wie auch der Heftreihe. Wir hatten uns aber fest vorgenommen, die Heftreihe später, vielleichtnachunseremPensionsantritt, wieder aufzunehmen: fernab vom „Müssen“undgeprägtdurchs„Wollen“. VielleichtsogarwiederVeranstaltungen zu organisieren. Es hätte ja ein drittes interdisziplinäres Symposion geben können.Wirhattennochvielvor.
Essollteanderskommen.
Das, was wir, Gerald und ich, geplant und so oft beim wöchentlichen gemeinsamen Mittagessen, meist mittwochs oder freitags, besprochen hatten, sollte sich in dieser Form nicht mehrverwirklichenlassen.
Ein grausames Schicksal war es, das diese Pläne durchkreuzt hat: wenige Wochen nach Antritt seines Ruhestandes wurde Gerald mit einer medizinischen Diagnose konfrontiert, über deren Konsequenzen gerade er, der Fachmann, bestens Bescheid wusste. Geradezu als self-fulfillingprophecy ein Befund jener Art, die er am meisten gefürchtet hatte. Und den erdennochmitgeradezubewundernswerter, fast schon unheimlicher Gelassenheit,angenommenhat.
„Schau, das soll jetzt so sein. Ich habe meinLebengelebt.Undwirhabenauch viel gemeinsam erlebt“ waren seine WorteinseinemkleinenWohnhausam Zirknitzberg, an die ich mich sehr gut erinnernkann.
Der in diesem Heft veröffentlichte Beitrag ist ein Fragment aus dem Nachlass.
Das vorliegende Heft soll – im Sinne Geralds – eine Fortsetzung der „Manuskripte“ sein – vielleicht ein Geschenk aus Anlass seines bei ErscheinendieserAusgabenurwenige Tage zurückliegenden Geburtstags: er hat sich eine Fortsetzung jedenfalls gewünscht.Unddaranauchgearbeitet.
Vielleicht ist es ja nicht nur eine einmalige Fortsetzung, sondern eine Wiederaufnahme. Es gibt Zeichen dafür.
Dr.WolfgangKlobassa
Dr. Erich Linhardt
Der Mensch ist von Gott gut geschaffen
Der Mensch ist, wie die gesamte Schöpfung, aus Liebe von Gott ins Dasein gerufen worden. Weil Gott ihn aus Liebe erschaffen hat, ist der Mensch wichtig, wert- und würdevoll; Gottkönnte gar nichts Unwesentliches undUnwürdigeserschaffen.Erentzieht denUrgrundmenschlichenSeins,seine Liebe,demMenschennie,dieserbleibt deshalb unbegrenzt wichtig, wert- und würdevoll.
Die Bedeutung des Menschen kommt auch im Alten Testament in den Psalmen zum Ausdruck, wenn es dort heißt: “WasistderMensch,dassduan ihndenkst,desMenschenKind,dasdu dich seiner annimmst? Du hast ihn nur wenig geringer gemacht als Gott, hast ihn mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt“ (Psalm8).
Der Mensch ist, wie die gesamte Schöpfung, gut erschaffen. Im Buch Genesis,demerstenBuchderHeiligen Schrift, heißt es am Ende des Schöpfungsberichtes: „Gott sah alles an, was er gemacht hatte: Es war sehr gut“(Gen1,31).
DerMenschistMannundFrau
Der Mensch ist als Mann und Frau erschaffen. „Gott schuf also den Menschen als sein Abbild… als Mann undFrauschufersie“(Gen1,27). Beide gemeinsam sind der Mensch. Beide sind gleich wichtig und wertvoll, was sich unter anderem auch darin zeigt, dass nur beide gemeinsam Leben weitergeben können. Gott hat den
Menschen aus Liebe ins Dasein gerufen,unddieseristohneGottauch nie vollkommen und in seinem Leben entfaltet. Der Mensch und alles Sein sind gut erschaffen, das heißt, sein Lebenwargut.
DerMenschbrauchtGottnicht
DieProblemedesMenschentratenauf, alsersichvondem,ohnedenernicht ganzseinkann,vonGott,getrennthat.
Die Geschichte vom sogenannten Sündenfall will das darstellen. Der Mensch,derGeschöpfist,wollteselber sein wie der Schöpfer und meinte daher, diesen nicht zu brauchen. Er widersetzt sich einer gleichsam „unbedeutenden Vorschrift“, die Früchte von einem bestimmten Baum nichtzuessen.DadurchlehnterGottab und trennt sich von ihm. Schon kurz danach merkt er aber, dass ihm jetzt etwasfehlt.InderHeiligenSchriftheißt esdiesbezüglich,dassAdamsah,dass er nackt war. Körperlich nackt war er auch vorher, aber er merkt jetzt, dass ihm Entscheidendes für sein gutes Lebenfehlt:dieBeziehungzuGott.Der Mensch fühlt sich seelisch nackt und sucht in seinem Inneren Antworten, er sucht nach dem Sinn, den der Glaube gibt.
Der Mensch strebt nach mehr, er möchte besser, schneller, größer sein und alles lenken. Dieses Sein-Wollen wieGott,zuglauben,allesinderHand habenzukönnen,prägtdenMenschen bisheuteundmachtihmgleichsamdas Leben schwer. Alle Auseinander-
setzungen, Kriege und Streitereien habenimMachtstrebenihrenUrsprung wie auch schon der in der Bibel berichtete erste Brudermord. Wenn wir glauben, dass Gott alle Menschen aus Liebe erschaffen hat, dann sind wir alle gleich wichtig und wertvoll und sollen das einander auch zugestehen.DieseHaltungwürdedem BöseninderWeltkeineChancegeben.
InJesusistGotteinMenschgeworden, umunszuzeigen,wiewirmiteinander umgehen sollen. Dadurch sollen die Liebe und das Gute im Leben immer mächtiger bleiben als alles Widerwärtige.EsistdasKlein-werdenKönnen voreinander, das Jesus uns durch sein Leben zeigt. Den (die) anderenhocheinschätzen,weilwirvor Gott alle groß, und zwar gleich groß sind.
Das soll uns zeigen und zum Nachahmen anregen, auch andere Menschen,denenwirbegegnen,höher einzuschätzen als uns selbst. Diese HaltungistinderheutigenZeitziemlich unattraktiv, wäre jedoch aus meiner Sicht ein wesentlicher Beitrag für Frieden.
Deshalb wird Gott in seinem Sohn Jesus klein, unser aller Diener und identifiziert sich mit jedem Menschen, wennersagt:„WasihrdemGeringsten getan habt, habt ihr mir getan“. Diese Demut bringt Frieden und Freude.Wir vermögensieauseigener Kraftnichtzuleben,weilwirohneGott KraftnichtdazuimStandesind.
DerMenschvonGottumworben
GottwillunsergutesLeben,weilwirihm wichtig sind und Wert und Würde haben.ErversuchtunsmitseinerKraft und Liebe wieder anzustecken, die gebrochene Verbindung zu ihm wiederherzustellen. Wenn wir dieses Angebotannehmen,dasunsbereitsin der Taufe geschenkt wird, kann seine Liebe uns immer mehr erfüllen, das Böse in unseren Herzen verdrängen, und diese Liebe auch für andere spürbar werden lassen. So kann auch jedereinzelnevonunsdieWeltbesser werden lassen. Es ist dies, so glaube ich,dereinzigeFortschritt,denesgibt. Dieser bewirkt weit mehr, als alle EntwicklungenauftechnischemGebiet, alle Verhandlungen und Verträge, weil der Mensch für das Böse nicht mehr „zurVerfügungsteht“.
Jeder Mensch sehnt sich nach Wertschätzung, nach Angenommen und Beachtet werden, insgesamt ausgedrückt nach Liebe. Ohne Liebe kannder Mensch nichtleben, undwer sie empfängt und weiterschenkt, kann das Leben als ein erfülltes erfahren. Probleme und Schwierigkeiten im Leben sind nicht weg, aber mit dem BlickderLiebekönnenwirihnenanders begegnen,siemiteinandertragenoder auch ihr Entstehen verhindern. „Die Liebeerträgtalles…,hältallemStand“, schreibt der Apostel Paulus an die Gemeinde in Korinth (1Kor13,..). Nach Liebe sehnt sich jede und jeder, aber diese ist nicht herstellbar oder erzwingbar. Der Mensch muss sich damitbeschenken lassen,damitersie
andern weiterschenken kann, er muss sieinsichtragen.MitdemBeispielJesu willunsGotthelfenzuverstehenworauf es im Leben ankommt: Uns von dem anstecken zu lassen, der, wie wir als Christenglauben,dieLiebeist,nämlich von Gott. Ohne ihn ist und bleibt die Welt lieblos und dadurch auch heillos. Wenn sich jeder Mensch nach Liebe sehnt, dann ist jeder und jede auch schonvondemimInnerstenangerührt, der ihn aus Liebe erschaffen hat und dersichihmauchnichtentzieht.Inaller Freiheit lässt Gott den Menschen auf das Angebot reagieren. DerletzteundtiefsteSinndesLebens istdieLiebezuleben.SieistdieKraft, dieallesbereichertundallemSinngibt. Wir alle brauchen den, der die Liebe selbstist-Gott.
Dr. Erich Linhardt war seit 1997 Pfarrer in Voitsberg,von2008bis2015Dechantdes Dekanats Voitsberg. Er wurde 2015 zum Generalvikar der Diözese Graz-Seckau bestellt.
In Anlehnung an Hans Christian AndersensMärchen„DesKaisersneue Kleider“ reflektiert dieser Beitrag das zunehmend dominierende Spannungsverhältnis zwischen äußeremScheinundinnererSubstanz in der heutigen Gesellschaft. Im Mittelpunkt stehen die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Strukturen, die von Oberflächlichkeit und Selbstdarstellung geprägt sind, während tiefere Werte und authentischeInhalteindenHintergrund treten.
MeinKind,essindallhierdieDinge, Gleichwohl,obgroße,obgeringe, ImWesentlichensoverpackt, DassmansienichtwieNüsseknackt.
Wiewolltestdudichüberwinden, KurzwegdieMenschenzuergründen. Dukennstsienurvonaußenwärts. DusiehstdieWeste,nichtdasHerz.
WilhelmBusch(1832-1908)
Eswirdaufgezeigt,wiesozialeMedien, Politik und Wirtschaft den äußeren Schein über das tatsächliche Sein stellen und wie dieser Trend zu einer Entfremdung von Authentizität und Integritätführt–sowohlaufindividueller als auch auf gesellschaftlicher Ebene. Das Märchen fungiert dabei als Parabel, in der der Kaiser für Entscheidungsträger steht, die mehr Wert auf ihr Image als auf Substanz legen, während die schweigende MehrheitdieTäuschungakzeptiert,aus Angst,ausgeschlossenzuwerden.
Der Beitrag argumentiert, dass eine Rückbesinnung auf die christlichabendländischen Werte wie Nächstenliebe, Solidarität, Verantwortung und Demut in Kombination mit den Idealen der Aufklärung – Vernunft, Kritikfähigkeit und Mut zur Selbstbestimmung –unerlässlich ist, um diesen gesellschaftlichen Fehlentwicklungen entgegenzuwirken. Nur durch eine SynthesedieserbeidenTraditionslinien kann eine nachhaltige und zukunftsorientierte Gesellschaft
entstehen, die auf Authentizität, Verantwortung und langfristige Werte setzt.
Des Kaisers neue Kleider – Ein MärchenvonzeitloserRelevanz
Das Märchen „Des Kaisers neue Kleider“ von Hans Christian Andersen, erstmals1837veröffentlicht,beschreibt auf eindrucksvolle Weise die verführerische Macht des äußeren Scheins und die tief verwurzelte Angst derMenschen,derRealitätinsAugezu blicken. Im Zentrum der Geschichte steht ein Kaiser, der so stark auf sein äußeres Erscheinungsbild bedacht ist, dass er sich von zwei Betrügern ein Gewandwebenlässt,dasangeblichnur von klugen und für ihre Ämter geeignetenPersonengesehenwerden kann. Die Kleider, die diese Scharlatane anpreisen, existieren jedoch in Wahrheit gar nicht. Trotz dieseroffensichtlichenTäuschungführt die Furcht der Menschen vor sozialer Ächtung und der Stigmatisierung als „dumm“ oder „unfähig“ dazu, dass weder der Kaiser noch seine Berater und Untertanen die Wahrheit auszusprechenwagen.
Dieses kollektive Schweigen erreicht seinenHöhepunkt,alsderKaiserinder vermeintlichen Pracht seiner unsichtbaren Gewänder öffentlich auftritt. Getrieben von der Angst, als unfähig zu gelten, loben die Höflinge und das Volk die nicht existenten Kleider in den höchsten Tönen. Die Realität,dassderKaiserinWirklichkeit nackt ist, bleibt unausgesprochen, bis ein unschuldiges Kind den Mut aufbringt, die offensichtliche Wahrheit zuverkünden:„Abererhatjanichtsan!“
Mit diesem simplen Ausruf wird die Illusion, der die gesamte Gesellschaft zum Opfer gefallen ist, abrupt entlarvt. Und obwohl der Kaiser tief in seinem Inneren die Wahrheit erkennt, beschließt er dennoch, die Prozession fortzusetzen und die Illusion des Scheins aufrechtzuerhalten, um sein Ansehennichtzugefährden.
Dieses Märchen ist weit mehr als nur eineunterhaltsameErzählungausdem 19. Jahrhundert; es stellt eine tiefgreifende Allegorie dar, die das menschlicheBedürfnisbeleuchtet,sich an den äußeren Schein zu klammern, um unangenehmen Wahrheiten aus dem Weg zu gehen. Die zeitlose Relevanz dieser Erzählung zeigt sich heute in nahezu allen Bereichen der modernenGesellschaft–insbesondere in der Politik, der Wirtschaft und den sozialen Medien. Viele Entscheidungsträger unserer Zeit sonnensich,ähnlichwiederKaiserim Märchen, im Glanz des Scheins, währenddieSubstanz,dieAuthentizität und die Werte zunehmend verloren gehen. Es fehlt nicht nur an der ehrlichenSelbstreflexion,sondernauch an der Bereitschaft, die Realität anzuerkennen und daraus Konsequenzenzuziehen.
Im Märchen ist es das unschuldige Kind,dasalsKorrektivfungiertundden Mut aufbringt, den Schein zu durchbrechen und die Wahrheit auszusprechen. Doch gerade der Junge, der die Wahrheit ohne Furcht vor sozialem Druck offenlegt, ist in unserer heutigen Gesellschaft selten geworden. In einer Welt, die von Oberflächlichkeit und der Angst vor gesellschaftlicher Ächtung geprägt ist,
wird der Mut, den Schein zu hinterfragen,zunehmendrar.
Schein und Sein – Eine Begriffsbestimmung
Die Lehren aus Andersens Märchen sind tief in der menschlichen Natur verwurzelt und bleiben auch über die Jahrhunderte hinweg aktuell. Doch die Problematik des Spannungsverhältnisses zwischen äußerem Schein und innerer Wahrheit wurde nichtnurvonAndersenaufgegriffen.
Der Dichter und Satiriker Wilhelm Busch, der wenige Jahrzehnte nach Andersenschrieb,formulierteinseinem Gedicht„ScheinundSein“eineähnlich tiefgehende Beobachtung über die menschliche Natur. Obwohl aus der gleichen Epoche stammend, besitzt auchdiesesGedichteinenachwievor zeitlose Gültigkeit und liefert uns eine wertvolle Reflexion über das Wesen desMenschenundseineoftmangelnde Fähigkeit, hinter die Fassade zu blicken.
Busch mahnt in seinem Gedicht, dass das Wesen der Dinge und der Menschenofttieferverborgenliegt,als es der erste Anschein vermuten lässt. Wie im Märchen „Des Kaisers neue Kleider“sehenwiroftnurdas,wasuns präsentiertwird–denSchein–undes fällt uns schwer, die innere Wahrheit, das„Sein“,zuergründen.
Diese Einsicht ist nicht nur eine literarische Reflexion, sondern eine grundlegendeWahrheit,dieauchheute vonzentralerBedeutungist.
Wilhelm Buschs Gedicht illustriert in poetischer Form den grundlegenden
KonfliktzwischenäußererErscheinung undinnererWahrheit.Der„Schein“,wie ihn die deutsche Sprache und Kultur begreifen, ist vielschichtig und häufig negativ konnotiert. Schlägt man den Begriff im Duden nach, finden sich Definitionenwie„deräußereAnschein“ oder „etwas, das aufgrund einer Täuschung für wirklich gehalten wird.“
In zahlreichen Redewendungen wie „denScheinwahren“oder„mehrSchein als Sein“ wird der Schein als etwas betrachtet,dastäuscht,irreführtunddie wahre Beschaffenheit einer Sache verdeckt.
Im Gegensatz dazu steht der Begriff „Sein“,derals„dasExistierendesideell und materiell Vorhandenen“ definiert wird. Während der Schein oft nur eine flüchtige, oberflächliche Erscheinung darstellt,verkörpertdasSeindiewahre Essenz einer Sache – das, was tatsächlich ist, unabhängig davon, wie es nach außen hin erscheint. In der Philosophie ist dieser Gegensatz ein zentralesThema,dasvonDenkernwie Platon über das Mittelalter bis hin zu den modernen Existenzphilosophen wie Martin Heidegger immer wieder aufgegriffenwurde.
Die Unterscheidung zwischen Schein und Sein ist also eine zeitlose philosophischeFragestellung,diedurch literarische Werke wie Andersens Märchen oder Buschs Gedicht anschaulich verdeutlicht wird. Doch in der modernen Welt hat sich diese Problematik in dramatischer Weise weiter zugespitzt, insbesondere durch den Einfluss der sozialen Medien und der omnipräsenten digitalen Selbstinszenierung. Was früher als Authentizität und Wahrhaftigkeit galt,
wird heute oft dem äußeren Anschein geopfert. Diese Verschiebung hin zu einer oberflächlichen, auf den Schein fokussierten Gesellschaft hat weitreichende Konsequenzen, die sowohl auf individueller als auch auf gesellschaftlicherEbenespürbarsind.
Während das Sein die Substanz, die Wahrheit und die Realität verkörpert, hat sich der Schein – insbesondere in den letzten Jahrzehnten – zu einem gesellschaftlichen Leitprinzip entwickelt. Authentizität und Integrität weichen zunehmend der Inszenierung und dem Drang, sich in der bestmöglichen Weise nach außen darzustellen. In einer Welt, in der der äußere Anschein zur zentralen Messlatte für Erfolg und Anerkennung geworden ist, verliert das Sein, das, was wirklich von Bedeutung ist, also immermehranGewicht.
Die Akteure des Märchens in der heutigenGesellschaft
Das Märchen „Des Kaisers neue Kleider“ bietet nicht nur eine eindrucksvolle Parabel über das Spannungsverhältnis zwischen Schein und Sein, sondern stellt auch eine differenzierte Analyse der unterschiedlichen gesellschaftlichen RollenundMechanismendar,diedazu beitragen,dassdieIllusiondesScheins aufrechterhalten wird. Die verschiedenenAkteuredesMärchens–derKaiser,dieBerater,dieHöflingeund dasschweigendeVolk–spiegelndabei zentrale Elemente moderner gesellschaftlicherStrukturenwider und fungieren als Metaphern für die komplexen Interaktionen zwischen
Macht, Manipulation und sozialer Konformität.
Der Kaiser, als zentrale Figur des Märchens, repräsentiert die politische und wirtschaftliche Elite unserer Zeit. Wie der Kaiser, der sich in seinem Eitelkeitsstreben und seiner Selbstinszenierung verliert, so fixieren sich auch viele Entscheidungsträger in der Gegenwart zunehmend auf ihre Außenwirkung und die öffentliche Wahrnehmung.IneinerGesellschaft,in der politische Programme und wirtschaftliche Strategien häufig wenigerdurchihrentatsächlichenInhalt und ihre langfristigen Auswirkungen bewertet werden, sondern vielmehr durch ihre mediale Inszenierung und ihre Wirkung auf die öffentliche Meinung, tritt die Substanz hinter dem Scheinzurück.DieMachthaber–seien es politische Führer, Unternehmensvorstände oder öffentliche Figuren – streben in vielen Fällen nicht danach, tiefgreifende und nachhaltige Lösungen zu finden, sondern konzentrieren sich auf die Aufrechterhaltung eines positiven Images, das sie als erfolgreich, kompetent und populär erscheinen lässt. Dabei bleibt die inhaltliche Substanz oft auf der Strecke, und der kurzfristige Erfolg, gemessen in Wählerstimmen, Aktienkursen oder medialer Aufmerksamkeit, wird über langfristige Strategien und nachhaltige Verantwortunggestellt.
Die Berater und Höflinge des Kaisers symbolisieren jene Kräfte in der Gesellschaft, die bewusst oder unbewusst die Illusion des Scheins stützenundfördern.DieseAkteure,die imMärchen,dienichtexistentenKleider
loben,obwohlsiewissen,dasssienicht real sind, stehen für all jene, die aus Opportunismus, Angst oder persönlichem Nutzen heraus die Illusion des Scheins mittragen. In der heutigen Gesellschaft sind dies oft die Medien, bestimmte Institutionen sowie Teile der intellektuellen und akademischen Elite, die durch ihre Berichterstattung oder ihre öffentliche Kommentierung dazu beitragen, dass die Fassade aufrechterhalten wird. Anstatt kritische Fragen zu stellen und bestehende Narrative zu hinterfragen, passensiesichdemgesellschaftlichen Konsensan,umnichtausdersozialen und beruflichen Gemeinschaft ausgeschlossen zu werden. Dieses Verhalten wird nicht nur durch individuelle Ängste motiviert, sondern auch durch strukturelle Anreize in modernen Medien- und Kommunikationssystemen,dieoftdazu führen, dass das Aufdecken unbequemer Wahrheiten mit Sanktionen, Kritik oder sozialer Ausgrenzung verbunden ist. Hier zeigt sich, wie stark der soziale Druck auf KonformitätundAnpassungauchheute nochist.
Das Volk im Märchen – das schweigende Kollektiv, das die Wahrheit zwar erkennt, sich jedoch nicht traut, sie offen auszusprechen –steht damals wie heute sinnbildlich für die breite Masse der Bevölkerung in modernen Gesellschaften. Diese Gruppe beobachtet und erkennt durchaus die Widersprüche und Leerräume, die zwischen der öffentlichen Darstellung und der tatsächlichen Realität bestehen. Die Oberflächlichkeit politischer Programme,derMangelanSubstanzin
wirtschaftlichen Strategien und die Inhaltsleere der sozialen Medieninszenierungen werden von vielen wahrgenommen. Doch aus Gründen der Bequemlichkeit, der ResignationoderderAngstvorsozialen Konsequenzen ziehen es die meisten vor zu schweigen und sich der Illusion des Scheins anzuschließen. Die Bereitschaft, sich mit der Realität auseinanderzusetzen und aktiv Verantwortung zu übernehmen, nimmt ab. Stattdessen zieht sich ein Großteil derGesellschaftinsPrivatezurückund überlässt die gesellschaftliche Gestaltung denjenigen, die den äußeren Schein wahren wollen. Diese PassivitätunddaskollektiveSchweigen ermöglichen es denMachthabern, ihre Fassade der Kompetenz und Kontrolle aufrechtzuerhalten, ohne auf wesentliche, tiefgreifende Kritik oder Gegenmaßnahmenzustoßen.
SchließlichistesimMärchendasKind – eine Figur, die ohne Vorurteile, sozialen Druck oder Angst vor Repressionenagiert–,dasdenMuthat, den Schein zu durchbrechen und die Wahrheit offen auszusprechen. Das Kind verkörpert das notwendige KorrektivineinerGesellschaft,dievon Oberflächlichkeit und sozialer Konformität geprägt ist. In unserer heutigen Welt ist diese Rolle des Jungen, der den Mut hat, die Realität anzusprechen, jedoch zunehmend selten geworden. Es fehlt an Menschen,diebereitsind,densozialen Druck und die gesellschaftlichen Erwartungen zu überwinden und die offensichtlichen Widersprüche zwischen Schein und Sein offen zu benennen. Dies gilt besonders in Zeiten, in denen der äußere Schein
durch moderne Kommunikationsmittel wie soziale Medien immer weiter verstärkt und propagiert wird. Diejenigen, die den Mut haben, den Schein zu hinterfragen, laufen Gefahr, ausgegrenzt oder angefeindet zu werden, was dazu führt, dass der Scheinweiterhinunangefochtenbleibt.
Diese gesellschaftliche Struktur, in der der Schein den Diskurs dominiert und die Wahrheit oft hinter Fassaden verborgen bleibt, ist also nicht nur ein literarisches Phänomen aus Märchen und Gedichten, sondern eine Realität, die sich auf allen Ebenen moderner Gesellschaften zeigt. Um diese Problematikzuvertiefen,lohntessich, einen detaillierten Blick auf die aktuellen Entwicklungen in Politik, Wirtschaftund Gesellschaft zuwerfen, in denen der äußere Schein zunehmenddasSeinverdrängtunddie Substanz von Entscheidungen und HandlungenindenHintergrundtritt.
Die Oberflächlichkeit der modernen Gesellschaft:SozialeMedien,Politik, WirtschaftundFamilie
Die gegenwärtige Gesellschaft ist zunehmendvoneinerOberflächlichkeit geprägt, die sich in nahezu allen Bereichendesöffentlichenundprivaten Lebensmanifestiert.DieseEntwicklung ist maßgeblich durch den Einfluss moderner Technologien, insbesondere dersozialenMedien,verstärktworden. Plattformen wie Instagram, Facebook undTikTokbieteneineBühne,aufder das Selbst in einer ständigen Inszenierung zur Schau gestellt wird. Dabei kommt es nicht auf die tatsächliche Substanz einer Person
oderihrerÜberzeugungenan,sondern vielmehraufdieArtundWeise,wiesie sich nach außen hin inszeniert. Die äußere Wahrnehmung, gemessen an der Zahl von Likes, Followern oder Kommentaren, wird zum neuen Gradmesser für Erfolg und Anerkennung.
DieserTrendzurdigitalenInszenierung hattiefgreifendeAuswirkungenaufdas gesellschaftlicheSelbstverständnisund führtdazu,dassAuthentizität,Integrität und substanzielle Auseinandersetzungen zunehmend in den Hintergrund treten. Besonders bei Kindern und Jugendlichen zeigt sich dieser Druck, dem äußeren Schein gerecht zu werden, in erschreckender Weise. Junge Menschen wachsen heuteineinerWeltauf,inderderWert einer Person zunehmend an ihrer Außendarstellung in den sozialen Medien gemessen wird. Der Drang, einemidealisiertenBildzuentsprechen – sei es durch Aussehen, Verhalten oder sozialen Status – führt zu einer EntfremdungvomeigenenSelbst.Viele Jugendlichefühlensichgezwungen,in einer ständig optimierten, digital inszenierten Welt mitzuhalten, was häufig zu psychischen Problemen wie Unsicherheiten, Ängsten, Depressionen oder einem gestörten Selbstwertgefühlführt.
Diese Entwicklung hat auch direkte AuswirkungenaufdieFamilienstruktur. Eltern,dieselbstineinerWeltleben,in derderäußereScheindominiert,geben diesen Druck oft unbewusst an ihre Kinder weiter. Viele Familien stehen unter dem Druck, nach außen hin perfekt zu wirken, sei es durch materielle Statussymbole, beruflichen
Erfolg oder die Darstellung eines vermeintlich perfekten Familienlebens indensozialenMedien.DieseDynamik führt zu einer Oberflächlichkeit in den familiären Beziehungen, in der echte Kommunikation und authentische zwischenmenschliche Bindungen zunehmendvernachlässigtwerden.Der Fokusliegtnichtmehraufdeminneren ZusammenhaltderFamilie,sondernauf der Außendarstellung. Die Folge ist eine zunehmende Isolation der einzelnen Familienmitglieder, die sich von den realen Problemen und Herausforderungen des Lebens abkapseln,umnachaußenhindasBild einer perfekten Familie aufrechtzuerhalten.
Diese Oberflächlichkeit in der Familie spiegelt sich oftmals auch in der Erziehung wider. Kinder und Jugendliche lernen, dass es wichtiger ist, wie sie nach außen hin wahrgenommen werden, als wer sie tatsächlich sind. Diese Erziehung zur äußeren Perfektion und zur Selbstinszenierung führt dazu, dass junge Menschen häufig den inneren Bezugzusichselbstundzudenwahren WertendesLebensverlieren.DieFolge ist eine Generation, die sich mehr mit dem Bild beschäftigt, das sie in den sozialen Medien abgeben, als mit der Entwicklung echter persönlicher und moralischerWerte.
Auch in der Politik lässt sich diese zunehmende Oberflächlichkeit beobachten. Politische Entscheidungsträger agieren in einem Umfeld, das durch mediale Inszenierungengeprägtistundindem das kurzfristige Erreichen von Popularität und die Pflege eines
positiven Images mehr Gewicht haben alssubstanziellepolitischeProgramme. Populistische Slogans und einfache, leicht verständliche Botschaften ersetzeninvielenFällenkomplexeund tiefgreifende Diskussionen über die wirklichen Herausforderungen unserer Zeit. Die globalen Probleme – wie der Klimawandel, die Migrationskrise, geopolitische Konflikte oder wirtschaftlicheUngleichheiten–werden häufignuroberflächlichundsymbolisch behandelt. Anstatt nachhaltige und langfristige Strategien zu entwickeln, um diese drängenden Fragen anzugehen, konzentrieren sich viele Politiker auf Maßnahmen, die in der Öffentlichkeit gut ankommen und ihre Popularitätkurzfristigsichernsollen.
Diese Tendenz zur Oberflächlichkeit hat nicht nur das politische Handeln erfasst, sondern auch den politischen Diskurs selbst verändert. Politiker agieren zunehmend wie Influencer, deren Hauptanliegen darin besteht, ihr Image zu pflegen und eine bestimmte öffentlicheWahrnehmungzuerzeugen, anstatt sich mit den komplexen, oft unangenehmen Realitäten auseinanderzusetzen, die mit der Lösung tiefgreifender Probleme verbunden sind. Die soziale Medienkultur, die das politische Leben durchdringt,schaffteineAtmosphäre,in der es vorrangig um das „Medienspektakel“ geht – der äußere Schein, der in den Medien vermittelt wird, ist wichtiger als die tatsächlichen politischenInhalte.
Auch in der Wirtschaft spiegelt sich dieserTrendwider.Besondersdeutlich wirddiesineineroftmalsfehlgeleiteten Startup-Kultur,dieindenletztenJahren
stark von einem kurzfristigen Erfolgsdenken geprägt wurde. Der Fokusliegthierbeihäufignichtaufder Schaffung von Unternehmen, die langfristig bestehen und nachhaltig Wertschöpfung generieren, sondern vielmehr auf schnellen Profiten und einem möglichst baldigen „Exit“. Startups werden gegründet, um kurzfristige Gewinne zu erzielen, ohne dabei auf Nachhaltigkeit oder die SchaffunglangfristigerArbeitsplätzezu achten. Dieser Ansatz steht im deutlichen Gegensatz zu traditionellen Familienunternehmen, deren Geschäftsmodelle oft auf Stabilität, Langfristigkeit und die Sicherung über Generationen hinweg ausgelegt sind. Während Familienunternehmen traditionell einen wichtigen Beitrag zur wirtschaftlichen und sozialen Stabilität geleistet haben, geraten sie zunehmend unter Druck durch neue Geschäftsmodelle,dieaufkurzfristigen Erfolg abzielen, aber wenig Rücksicht auf die langfristigen Folgen für die Gesellschaftnehmen.
Die zunehmende Oberflächlichkeit in der Wirtschaft hat weitreichende KonsequenzenfürdieGesellschaft.Sie führt zu einer Kultur des kurzfristigen Denkens, in der schnelle Gewinne wichtiger sind als nachhaltiges Wirtschaften. Unternehmen orientieren sich zunehmend an kurzfristigen Renditezielen, was auf lange Sicht zu Instabilität und einer Erosion wirtschaftlicher Werte führt. Die Verdrängung von Beständigkeit und Substanz zugunsten von kurzfristigem Erfolg gefährdet nicht nur die wirtschaftliche Stabilität, sondern auch den sozialen Zusammenhalt. Eine Gesellschaft,dieprimäraufdenSchein
setzt, vernachlässigt langfristige VerantwortungundverliertdenBlickfür das,wasvonbleibendemWertist.
Insgesamt zeigt sich, dass in vielen Bereichen der modernen Gesellschaft der äußere Schein zunehmend die Substanz verdrängt. Die Diskurse verflachen, und die tiefere inhaltliche Auseinandersetzung mit komplexen Themen wird durch oberflächliche Darstellungenersetzt.Anstattsichden Realitäten und ihren Herausforderungen zu stellen, wird versucht, Probleme durch Inszenierungen und äußere Darstellungen zu überdecken. Diese Entwicklung hat tiefgreifende Auswirkungenaufdasgesellschaftliche Leben,dasiezueinerEntfremdungder MenschenvonderWirklichkeitführt.Es entsteht eine Kultur der Passivität, in der der Wunsch nach einem makellosenImageundnachöffentlicher Anerkennung oft wichtiger ist als die aktive Auseinandersetzung mit den realen Herausforderungen der Gegenwart.
Das Korrektiv: Rückbesinnung auf christlich-abendländischeWerteund dieIdealederAufklärung
Zusammengefasstlässtsichfesthalten, dass die gegenwärtigen gesellschaftlichen Tendenzen –gekennzeichnet durch Oberflächlichkeit, den Verlust von Substanz und eine zunehmende FokussierungaufSelbstdarstellungund äußeren Schein – zu einer tiefgreifendenEntfremdungführen.Die Dominanz des Scheins über das Sein spiegelt sich wie gezeigt in allen
Bereichen wider: von der oberflächlichen Selbstdarstellung in den sozialen Medien bis hin zu populistischen, kurzsichtigen politischen Entscheidungen und der wirtschaftlichenJagdnachkurzfristigen Gewinnen.IneinersolchenUmgebung wirdesimmerschwieriger,sichaufdas Wesentliche zu konzentrieren und auf langfristige, nachhaltige Lösungen hinzuarbeiten.
DieseEntwicklungen,dieimvorherigen Abschnitt ausführlich beschrieben wurden, verdeutlichen die Dringlichkeit einesKorrektivs,dasderzunehmenden Oberflächlichkeitentgegenwirktunddie Rückkehr zu einem ethisch fundierten und intellektuell ehrlichen Diskurs ermöglicht. Die Frage stellt sich: Wie kann eine solche tiefgreifende gesellschaftliche Transformation gelingen? Die Antwort liegt nicht in technokratischen oder bürokratischen Reformen, sondern vielmehr in einer Rückbesinnung auf jene Werte und Ideale, die über Jahrhunderte hinweg dieGrundlagefürdasgesellschaftliche undkulturelleGefügeEuropasbildeten: dieWertedeschristlichenAbendlandes unddieIdealederAufklärung.
Diese beiden Traditionslinien – tief in der europäischen Geschichte verwurzelt – können als mächtige Korrektivinstanzen fungieren, um der EntfremdungdesmodernenMenschen von der Substanz entgegenzuwirken. SiebietendasethischeFundamentund die intellektuellen Werkzeuge, die notwendig sind, um eine Geisteshaltung zu fördern, die den gegenwärtigen Trend zur Oberflächlichkeit und Kurzfristigkeit umkehrt und den Weg zu einer authentischen und verantwortungs-
vollen Gesellschaft ebnet. Wie der JungeimMärchen,derdenMuthat,die Wahrheit über den nackten Kaiser auszusprechen,sokönnendieseWerte das notwendige Rüstzeug und die Klarheit bieten, um den Schein zu durchbrechen und die Gesellschaft wieder auf Substanz und Inhalte auszurichten.
Christlich-abendländische Werte als moralischesFundament
Die Werte des christlichen AbendlandeshabenüberJahrhunderte hinweg den moralischen und sozialen RahmenEuropasgeprägt.DieseWerte bieten Orientierung und Stabilität in Zeiten der Unsicherheit und des Wandels. Sie beruhen auf zentralen Tugenden wie Nächstenliebe, Solidarität,VerantwortungundDemut–Werte, die in einer zunehmend fragmentierten und individualisierten Gesellschaft dringend wiederbelebt werdenmüssen.
Nächstenliebe ist das Herzstück des christlichen Wertesystems. Sie bedeutet, dass der Einzelne sich nicht nur um sein eigenes Wohl kümmert, sondernauchumdasWohlanderer.In einer Zeit, in der Egoismus und Individualismus dominieren, stellt die Nächstenliebe eine notwendige RückbesinnungaufdieBedeutungdes Gemeinwohls dar. Sie fordert den Menschenauf,dieBedürfnisseanderer zu erkennen und zu handeln, um das soziale Gefüge zu stärken. Nächstenliebe ist das Gegenmittel zur Selbstinszenierung, da sie den Fokus vonderSelbstdarstellungaufdasWohl derGemeinschaftverlagert.
Solidarität bautaufderNächstenliebe auf und betont die wechselseitige Verantwortung innerhalb der Gesellschaft. Solidarität geht über individuelleHilfsbereitschafthinausund fordert, dass alle Mitglieder einer Gemeinschaft sich aktiv für das Wohlergehen der anderen einsetzen. Diese wechselseitige Verpflichtung ist besonders in Krisenzeiten entscheidend, sei es angesichts globaler Herausforderungen wie dem Klimawandel oder sozialer Ungleichheiten. Solidarität ermöglicht es, langfristige Lösungen zu finden, indem sie den gesellschaftlichen ZusammenhaltstärktunddieResilienz gegenüberäußerenEinflüssenerhöht.
Verantwortung ist ein weiterer zentraler Wert des christlichen Abendlandes. Sie fordert, dass jeder Einzelne für sein Handeln und dessen Konsequenzen einsteht. In einer Gesellschaft, die zunehmend von kurzfristigen Gewinnen und Erfolgen geprägt ist, erinnert gelebte Verantwortung daran, dass nachhaltigesHandelnnotwendigist,um langfristige Stabilität zu gewährleisten. Verantwortungbedeutet,sichnichtnur um die unmittelbaren Folgen des eigenen Handelns zu kümmern, sondern auch die langfristigen Auswirkungen zu berücksichtigen –sowohl auf individueller als auch auf gesellschaftlicherEbene.DieseTugend mahnt zur Weitsicht und ist damit ein entscheidendes Korrektiv zur gegenwärtigen Orientierung auf schnelleErfolge.
Demut schließlich stellt das Bewusstsein der eigenen Begrenztheit und die Anerkennung der Bedürfnisse
anderer in den Vordergrund. In einer Zeit,dievonSelbstherrlichkeitundder InszenierungvonErfolgdominiertwird, istDemuteinenotwendigeTugend,die esermöglicht,dieeigenenSchwächen undGrenzenzuerkennenundanderen mit Respekt zu begegnen. Demut fördertdieBereitschaft,sichnichtüber andere zu erheben, sondern sich auf Augenhöhezubegegnen.Siebildetein Gegengewicht zur Arroganz und Überheblichkeit,diedurchdieFixierung aufdenäußerenScheinverstärktwird. Demutermöglichtes,denBlickvonder oberflächlichenSelbstdarstellunghinzu einerauthentischenWertschätzungder Mitmenschenzulenken.
Diese vier zentralen Tugenden des christlichen Abendlandes bieten das notwendigemoralischeFundament,um den gesellschaftlichen Zusammenhalt und das Verantwortungsbewusstsein zu stärken. In einer Zeit, die von Oberflächlichkeitundeinerkurzfristigen Orientierunggeprägtist,schaffendiese Werte die Grundlage für eine langfristige, substanzielle gesellschaftlicheEntwicklung,dienicht nur auf den Schein, sondern auf das Seinabzielt.
Die Ideale der Aufklärung: Vernunft, Kritikfähigkeit und der Mut zur Selbstbestimmung
Neben den moralischen Werten des christlichen Abendlandes spielen die Ideale der Aufklärung eine entscheidende Rolle, um die gegenwärtigen gesellschaftlichen Herausforderungen zu bewältigen. Die Aufklärung, die im 18. Jahrhundert Europaintellektuellundkulturellprägte,
brachte Werte hervor, die auch heute vonzentralerBedeutungsind:Vernunft, Kritikfähigkeit und der Mut zur Selbstbestimmung.DieseIdealebieten die intellektuellen Werkzeuge, um den Schein zu hinterfragen, falsche Narrative zu durchbrechen und fundierte, langfristige Entscheidungen zutreffen.
Vernunft ist das zentrale Ideal der Aufklärung. Sie fordert, dass menschliches Handeln auf rationalen Überlegungen, logischer Analyse und fundierten Erkenntnissen basiert. In einer Welt, die zunehmend von emotionalen Appellen, populistischen Parolen und oberflächlichen Inszenierungen geprägt ist, stellt die Vernunft einen entscheidenden Gegenpoldar.SiebietetdieGrundlage, umkomplexeProblemeinihrerTiefezu durchdringen und nachhaltige Lösungen zu entwickeln, die nicht nur kurzfristige Erfolge versprechen, sondern langfristige Stabilität sichern. Vernunft fördert eine Perspektive, die nicht auf den schnellen Effekt abzielt, sondern auf die substanzielle Auseinandersetzung mit den realen HerausforderungenunsererZeit.
Kritikfähigkeit isteineweiterezentrale Tugend der Aufklärung. Sie ermöglicht es, bestehende Strukturen, Normen und Überzeugungen kritisch zu hinterfragen, anstatt sie als gegeben hinzunehmen.IneinerGesellschaft,die zunehmend von Konformität und sozialem Druck geprägt ist, ist die Kritikfähigkeit ein unverzichtbares Werkzeug, um den Schein zu durchbrechen und zur wahren Substanz vorzudringen. Es bedarf der Fähigkeit und des Mutes,
gesellschaftliche und politische Strukturen zu hinterfragen und unbequeme Wahrheiten zu benennen, um den Diskurs zu vertiefen und langfristige Lösungen zu finden.
Kritikfähigkeit ist das Mittel, um der Oberflächlichkeit entgegenzuwirken und den Weg zu einer fundierten, nachhaltigenGesellschaftzuebnen.
Sapere aude –„HabeMut,dichdeines eigenenVerstandeszubedienen“–ist vielleicht der wichtigste Leitsatz der Aufklärung. Dieser Grundsatz von Immanuel Kant mahnt dazu, sich nicht von äußeren Einflüssen, sozialem Druck oder medialen Inszenierungen leiten zu lassen, sondern den Mut zur intellektuellen Unabhängigkeit aufzubringen. In einer Zeit, in der der Schein oft wichtiger erscheint als das Sein,fordertdieserGrundsatzdazuauf, den eigenen Verstand zu nutzen, um den Schein zu hinterfragen und nach der Wahrheit zu suchen. Der Mut zur Selbstbestimmung ist entscheidend, um in einer Gesellschaft, die von Oberflächlichkeit und Konformität geprägt ist, authentische Entscheidungen zu treffen und sich nicht zu sehr von den Erwartungshaltungen und den Vorgaben anderer beeinflussen zu lassen.
Die Ideale der Aufklärung bieten also das intellektuelle Werkzeug, das notwendig ist, um den Schein zu durchbrechen und zu einer fundierten, wertebasierten Gesellschaft zu gelangen. Sie ermöglichen es, die Oberflächlichkeit und die kurzsichtigen Handlungsweisen zu überwinden und eine langfristige, nachhaltige Perspektive einzunehmen, die auf
rationaler Analyse und intellektueller Redlichkeitbasiert.
Die Synthese von christlichabendländischen Werten und den IdealenderAufklärung
Eine werteorientierte, zukunftsfähige Gesellschaft lässt sich also durch die SynthesedieserbeidenTraditionslinien –derchristlich-abendländischenWerte und der Ideale der Aufklärung –verwirklichen. Während die christlichabendländischen Werte das notwendige moralische Fundament liefern,dasdensozialenZusammenhalt stärkt und langfristige Verantwortung fördert,bietendieIdealederAufklärung die intellektuellen Werkzeuge, die erforderlich sind, um gesellschaftliche Entwicklungen kritisch zu hinterfragen, rational zu reflektieren und fundierte, zukunftsorientierte Entscheidungen zu treffen.
Diese Synthese stellt jedoch kein abstraktes Gedankenkonstrukt dar, sondernbildeteinekonkreteGrundlage füreineGesellschaft,diewiederzuden Grundprinzipien von Substanz, Authentizität und Verantwortung zurückkehrt. Die christlichen Werte schaffen die ethische Orientierung, die unverzichtbar ist, um das Gemeinwohl indenVordergrundzurückenundeine tragfähige, soziale Kohärenz zu gewährleisten. Sie fördern die soziale Verantwortung des Einzelnen gegenüber der Gemeinschaft und fordern ein langfristiges Denken, das überkurzfristigeindividuelleInteressen hinausgeht.
Gleichzeitig befähigen die Ideale der Aufklärung die Gesellschaft, den
Scheinzudurchschauenundsichnicht von oberflächlichen Inszenierungen oder populistischen Tendenzen leiten zu lassen. Sie rüsten uns intellektuell aus, um Realität von Illusion zu unterscheiden, komplexe Herausforderungen analytisch zu durchdringen und Entscheidungen auf einer rationalen, fundierten Grundlage zutreffen.
Diese Ideale sind essenziell, um den gesellschaftlichen Diskurs zu vertiefen und nachhaltige Lösungen zu entwickeln, die nicht nur kurzfristigen Erfolg versprechen, sondern langfristige Stabilität und Gerechtigkeit gewährleisten.
Zusammengefasst eröffnet eine Vereinigung dieser beiden Traditionslinien – auch wenn es historisch und philosophisch durchaus Spannungen zwischen den beiden Traditionen gegeben hat – die Möglichkeit, eine Gesellschaft zu schaffen, die den Schein überwunden unddasSeinindenMittelpunktgestellt hat. Diese Synthese bietet das Potenzial, eine kulturelle und soziale Rückbesinnung zu bewirken die gleichzeitig in hohem Maße vorwärtsgerichtet ist und dadurch den Weg zu einer zukunftsfähigen und authentischen Gesellschaft ebnet –einer Gesellschaft, die nicht ausschließlich von den oberflächlichen Anforderungen der Gegenwart, sondernvontiefverwurzeltenethischen und intellektuellen Prinzipien getragen wird.
Ein abschließender Appell: Verantwortung übernehmen, statt abzuwarten
Der Wandel, den unsere Gesellschaft dringendbenötigt,wirdnichtvonselbst geschehen. Es ist eine Illusion zu glauben, dass tiefgreifende Veränderungen automatisch eintreten oder von politischen Institutionen und Autoritätenvonobenherabangeordnet werdenkönnen.DerÜbergangzueiner Gesellschaft, die auf Substanz, Authentizität und fest verankerten Werten basiert, verlangt aktive Mitgestaltung und persönliches Engagement. Wir sind alle gefragt, Verantwortungzuübernehmenunddie notwendigen Schritte einzuleiten, statt aufäußereImpulsezuwarten.
Wie der Junge im Märchen „Des Kaisers neue Kleider“, der den Mut hatte, die offensichtliche Wahrheit auszusprechen,müssenauchwirbereit sein,denScheinzudurchbrechenund uns den Realitäten zu stellen. Dabei gehtesnichtnurdarum,Missständezu erkennen, sondern auch darum, den Mut zu haben, aktiv zu handeln und Veränderungen anzustoßen. Passivität und Resignation dürfen nicht die Antwort auf die gegenwärtigen Herausforderungen sein. Vielmehr sollten wir als mündige Bürger die Verantwortung annehmen, unseren eigenen Beitrag zu leisten, indem wir danach streben die beschriebenen Werte und Ideale in unseren täglichen Handlungenzuverankern.
Veränderung erfolgt nicht nur durch große Umbrüche oder weitreichende Reformen. Sie beginnt im Kleinen – in den alltäglichen Entscheidungen, die wir treffen. Jeder von uns trägt die
Möglichkeit und die Verantwortung, in seinemunmittelbarenUmfeldspürbare Veränderungenzubewirken.Esliegtin unserer Hand, einen Unterschied zu machen. Es liegt an jedem Einzelnen vonuns.
1. Andersen, Hans Christian: Des Kaisers neue Kleider. In: Gesammelte Märchen. Reclam, Stuttgart,2019.
2. Busch, Wilhelm: Schein und Sein. In: Gesammelte Werke: Humoristischer Hausschatz Reclam,Stuttgart,2020.
3. Dudenredaktion: Duden – Die deutsche Rechtschreibung. 28. Auflage. Bibliographisches Institut,Berlin,2020.
4. Heidegger,Martin: SeinundZeit Neuauflage. Suhrkamp Verlag, FrankfurtamMain,2019.
5. Kant, Immanuel: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: Kritik der praktischen Vernunft und andere Schriften Reclam,Stuttgart,2018.
6. Platon: Das Höhlengleichnis. In: Politeia – Der Staat. Übersetzt und kommentiert von Rudolf Rufener. Neuauflage. Meiner Verlag,Hamburg,2018.
7. Papst Benedikt XVI. (Joseph Ratzinger): Einführung in das Christentum. Neuauflage. Herder, Freiburg im Breisgau, 2018.
8. Papst Franziskus (Jorge Mario Bergoglio): EvangeliiGaudium–Über die Verkündigung des Evangeliums in der Welt von heute. Herder, Freiburg im Breisgau,2013.
Dr. Jürgen Götzenauer arbeitet seit 2019 als selbstständiger Unternehmensberater mit den SchwerpunktenStrategie,Organisation und Innovation. Er verfügt über mehr als 20 Jahre Erfahrung in Führungspositionen in Wirtschaft und Industrie, zuletzt als Mitglied der Geschäftsleitung einer internationalen Unternehmensgruppe im Bereich der Hochtechnologie. Studien der Technischen Informatik und Betriebswirtschaft in Deutschland und Österreich. Promotion in Wirtschaftswissenschaften in London. Management-Ausbildung an der renommierten Wharton School der UniversityofPennsylvaniaindenUSA. Er ist Mitglied im St. Georgs-Orden –Ein europäischer Orden des Hauses Habsburg-Lothringen.
DDr. Michael Lehofer
„Eigenartigerweise glauben Menschen seit Menschengedenken, dass die Lebensbedingungen ihrer Kindheit und Jugend naturgegeben und richtig sind, während die gesellschaftlichen Veränderungen, die im Laufe ihres Lebens passieren, ein Vorbote der DestruktionderWeltdarstellt.“
Es ist nicht leicht, als Zeitgenosse gleichzeitig Historiker zu sein. Obwohl wir zu wissen glauben, dass die Interpretation von Zeitgeistphänomenen, die wir ja jeden Tag erleben,eineinfachesUnterfangensei, kannmandasposthocregelmäßigals Irrtum beurteilen. Ein schönes Beispiel bietet die Kunstgeschichte: Zahlreiche zuihrerZeitbedeutendeundberühmte Künstler sind heute unbekannt, während viele Mauerblümchen währendihrerLebzeitenheutenachwie vorweltberühmtsind.Natürlichgiltdas nichtfürjedenundalles.Faktumbleibt undist,wirtununsbeiderBeurteilung derJetztzeitimmensschwer.
Der Philosoph und Psychotherapeut Paul Watzlawick zitierte gerne alte TextewiedenausderKeilschrift(2000 v. Chr.): „Unsere Jugend ist heruntergekommen. Die jungen Leute hören nicht mehr auf ihre Eltern. Das EndederWeltistnahe.“
Er wollte damit zeigen, dass der Kulturpessimismus durch die ganze Menschheitsgeschichte ein durchgängiges Phänomen von Zeitgenossen in der Beurteilung ihrer Umwelt ist. Eigenartigerweise glauben Menschen seit Menschengedenken, dass die Lebensbedingungen ihrer KindheitundJugendnaturgegebenund richtig sind, während die gesellschaftlichen Veränderungen, die im Laufe ihres Lebens passieren, ein Vorbote der Destruktion der Welt darstellt.
Wenn man die Beurteilung von Freunden und Bekannten der Veränderungen durch die
Digitalisierung anhört, kann man diese uraltenPhänomenewiederfinden.
Unter Digitalisierung versteht man die Entwicklung von Maschinen, welche Nervenzellen in ihrer Funktion unterstützen.InunseremKörpergibtes zwei Formen von erregbaren Zellen, nämlich Muskelzellen und Nervenzellen. Die Maschinen, die für die industrielle Revolution im 19. Jahrhundert typisch waren, wie die Dampfmaschine, unterstützten die Muskelzellen. Wenn ich mit einer Eisenbahn fahre oder mit einem Auto, dann erspare ich mir die muskuläre Arbeit des Gehens. Die digitalen Unterstützungen erweitern quasi das Gehirn bis hin zur künstlichen Intelligenz.
Die gesellschaftspolitischen Veränderungen während der industriellen Revolution lassen im Nachhinein den Schlusszu,dasszuAnfangskeinesfalls der große Wohlstand für alle ausgebrochen ist. Ganz im Gegenteil! Wenige bereicherten sich auf Kosten vonvielen.ErstdieGegenbewegungen wie der Feminismus, der Sozialismus und alle seine Abkömmlinge und viele andere mehr, konnten den durch die neuen maschinellen Möglichkeiten erarbeiteten Wohlstand auf eine breite Bevölkerungsschichterweitern.
Ähnliches erleben wir nun mit den digitalen Möglichkeiten der Lebensvereinfachung. Vorerst kann manbemerken,dasseseinigewenige gibt,diedadurchsteinreichwerdenund die neuen Möglichkeiten für die persönliche Erweiterung des Einflusses, sprich Macht, nützen. Die digitale Welt und damit auch die
sozialen Medien sind weitgehend eine unkontrollierte Parallelwelt, die neben allenVorteilenzweifelsohne(noch)eine TreibervonUngerechtigkeitist.
AberauchindiesemFallwirdesdazu kommen, dass langsam aber sicher Gegenbewegungen (die man in Ansätzenbereitsbeobachtenkann)die Angelegenheit unter Kontrolle bringen wird. Die Beschleunigung, welche durch die digitalen Werkzeuge mitbedingtist,machtdieAufgabenicht leichter. Jedoch scheint sie trotzdem bewältigbar.
Grundsätzlich wird heute sehr viel beklagt und bejammert. Das Jammern ist ein Versuch, in einer orientierungslosen Welt durch BesserwissenpersönlicheOrientierung zu imitieren. Die einen jammern über die Welt wie sie ist und die anderen jammernüberdie,diejammern.
Wesentlich ist die Eigenschaft der Ambiguitätstoleranz. Darunter versteht man die Fähigkeit, das Unvorhersehbare annehmen und ertragen zu können. Stattdessen flüchten wir uns in Meinungen. Je weniger man von etwas wissen kann, desto mehr Meinungen haben wir darüber. Genau das ist die Fehlorientierung. Wir sollten in der Wahrnehmung bleiben und uns die Meinungenersparen.
Bleiben wir wachsam. Dann sind wir geschützter vor Fehlentwicklungen als unsinMeinungenundVorstellungenzu flüchten. Die sozialen Medien und die anderenPhänomenederDigitalisierung haben zweifelsohne starke Veränderungen mit sich gebracht und
werden diese noch weiter generieren. Unsere Aufgabe ist es, mit den Phänomenen kreativ zurechtzukommen. Dafür haben wir unsere Energie einzusetzen, statt die immergleicheKulturkritikanzubringen.
Univ.Prof.DDr.MichaelLehoferhatan der Universität Graz (Dr.med) und Salzburg(Dr.phil)promoviert,seit2017 isterärztlicherDirektordesLKHGrazII undLeiterderAbteilungfürPsychiatrie und Psychotherapie 1, darüberhinaus als Autor und Vortragender tätig; seit 2020 ist er Aufsichtsratsvorsitzender desUniversalmuseumsJoanneum
Dr. Wolfgang Klobassa
Von der analogen in die digitale Welt.
„DerMenschwillimmer,dassalles anderswirdundgleichzeitigwiller, dassallesbeimAltenbleibt“ (PauloCoelho,*1947)
Eine persönliche Betrachtungsweise hat es meist in sich, wenig wissenschaftlich zu sein. Das ist auch im Folgenden so, soll aber dem Beitrag für dieses Heft keinen Abbruch tun –haben wir es uns doch von Anfang an zum Zielgemacht,„Betrachtungenüber Menschen“ darzulegen – und dazu gehört auch eben auch Persönliches, Unwissenschaftliches.
AlsKindeinerdurchmehrereGenerationen hindurch dem Bergmannsstand angehörigen Familie mag man vielleicht zumThema „Kommunikation“,vorallemin Ansehung zwischenmenschlicher Kontakte, einen differenzierten Zugang haben; vielleicht war dieser Umstand, waren die daraus gewonnenen ErfahrungenundErlebnisseaucheinwenig bestimmend für mein späteres Kommunikationsbedürfnis.
Meine ersten – erinnerungsfähigenLebensjahre verbrachte ich, dem BerufsbildmeinesVatersalsBergingenieur entsprechend, in einem Bergbauort, hoch über jeglicher Zivilisation: in Kärnten, am „Magnesitbruch“oberhalbvonRadenthein. SchondieAuffahrtwarabenteuerlich:eine schmale, sich steil bergauf windende Straße, in den engen Kurven „Achtung“Tafeln mit einem aufgemalten Totenkopf, der vor dem Abgrund warnen sollte. Die sind heute weg, wie ich aus Anlass eines Besuchs feststellen konnte. „Vorsicht, Abgrund!“ steht noch an einer Stelle. Der Ortselbstbestandauszwei,dreiHäusern, eines davon das „Ingenieurshaus“. Und den Bergwerksanlagen natürlich. Mit einer Materialseilbahn, ähnlich jener, die in unseremBezirkKohleundAscheführten–nurebenfürMagnesit.KeinWirtshaus,kein Kaufhaus, keine Kirche. Nichteinmal eine Kapelle. Kein Arzt, kein Pfarrer. Und – bis auf einen Berufskollegen meines Vaterskeine Nachbarn. Eigentlich gar keine Menschen, soweit ich mich erinnere – bis auf die gleichaltrige Tochter des
Wohnungsnachbarn, mit der ich gemeinsam die gesamte Bettwäsche meiner Eltern und die der Nachbarsfamilie über das Balkongeländer in den Garten geworfenhabe(mancheEreignissebleiben unbeschadet ihrer Irrelevanz in Erinnerung). Ja, wenig Menschen - dafür vielAlmboden,dersichzurVegetationszeit rotmitAlmrauschüberzog.UndKühe.Vor denen hatte man damals übrigens noch weniger Angst als heute. Aber vielleicht sindKüheheutewilder.
NochlangenichtwarderAllgemeinheitdie Zeit fürs Fernsehen reif, auch wenn es damals schon in seinen Anfangsschuhen steckte, zumindest über provisorische Sender in Graz, Linz, Salzburg und Wien. Einuraltes,kleinesRöhrenradio,dasmeine Mutter schon in ihrer kleinen Wohnung in Graz besessen hatte, war das Ohr in die Welt. Aus Holz, vorne, am Lautsprecher, Stoff. „Minerva Super Baby“ hat es geheißen und auf Mittelwelle fand der KontaktzurAußenweltstatt.Krachend,mal besser, mal schlechter verständlich, weit wegvonHighFidelityundallem,wasdann so dahergekommen ist. Und „warm“ musste es werden – wie das halt bei Röhrenradiossowar.
Telefon? Gab es, ja: ein werksinternes Netz,dasgeradeeinmaldasBergwerk,die beiden „Ingenieurswohnungen“ und die Seilbahnstation verbunden hatte. Kein Post-Netz, nichts nach außen. Keine Privatgespräche – und ich glaube nicht, dass die Menschen damals wirklich Bedürfnis nach Telefongesprächen in die Welthinaushatten.DieKommunikationder Menschen war auf das Persönliche beschränkt: man hat miteinander gesprochen,diepersönlicheBegegnungin einem sehr beschränkten Kreis gesucht –und auch gefunden. Es war völlig normal, sich gefühlt ständig wechselseitig zu besuchen, Karten zu spielen, gemeinsam zu feiern. Für mich war die etwa gleichaltrige Tochter der Nachbarfamilie
Spiel-undAnsprechpartner–ohneHandy, ohne Videospiele, ohne irgendwelche „Games“. Kindergarten gab’s übrigens keinen.
Nichteimal eine reguläre Postzustellung war da: die Post kam, wenn’s welche gegeben hat, mit der Materialseilbahn und war dann halt irgendwann „oben“ abzuholen. Mit der Seilbahn kam übrigens auch der Einkauf, der vorher auf einen ZettelgeschriebenzuTalgeschicktwurde. Undwenn’sblödherging,dannkamergar nicht: dann war er nämlich irgendwo unterwegs in der Luft hängen geblieben, wenn die Bahn zu Betriebsschluss abgeschaltet wurde. Pech gehabt - vor allem,wenndasamSamstagpassierteund der ohnehin bescheidene Wochenendeinkauf dann irgendwo zwischen Tal- und Bergstation in einer Gondel hoch auf den Seilen schaukelte. Man hat auch das mit Fassung getragen, ohne Kriseninterventionsteam. Und man kam gar nicht in die Gelegenheit, genervt „zweiteKassa!“zurufen.
Vorschuljahre ohne TV und ohne technischen Firlefanz: Wir waren aber deshalb nicht unglücklich und ich habe diese Zeit nicht als „entbehrungsreich“ in Erinnerung - es war eben so: Es war ganz normal. Und es war kein Druck da, gegen irgendwelche elektronischen Geräte zu gewinnen,irgendeinePunktezahlzuhalten oder Mails zu checken – eine Erfahrung, dieerstvielspäterkommensollte.
Die strenge Abgelegenheit des MagnesitbruchswarmitderausdemBeruf meinesVatersalsBergingenieurbedingten ÜbersiedelungaufdenKnappenberg,einer kleinen Bergbausiedlung oberhalb von Hüttenberg im Kärntner Görtschitztal, vorbei – besser: entschärft, denn natürlich war es wieder ein Bergbauort, an den wir zogen,undnatürlichwareswiederumnicht gerade das Zentrum des ländlichen Treibens.AberesgabineinerBarackeein MilchgeschäftundeineArtImbisstand,und
es gab einen Konsum. In dem meine Mutter, die es vordem zwangsläufig gewohnt gewesen war, ihren Einkauf schriftlich zu ordern, auch gleich die Hürden des persönlichen Einkaufs zu meistern hatte. Als in der Steiermark geborene Lehrerin noch dazu fremdsprachig, auf Kärntnerisch nämlich:
„Ich hätte bitte gerne Bohnenschoten“ –
„Woos wuin seii?“–„Bohnenschoten bitte“ –„???“ -(zweiteVerkäuferin:)„Ah,mei,de Dame maaant Straankalaan“. Und es gab einen Friseur – in dem ich meinen ersten professionellen Haarschnitt verpasst bekam.Lautplärrendübrigens.
Es gab einen Postbus – gelb mit schwarzem Dach und einer Riesenschnauze -, der regelmäßig nach Hüttenberg fuhr und sein Ankommen kurz vor dem Ort am Berg an einer Kehre mit lautenGehupe–einemPosthorn-Folgeton - ankündigte. Als Vorbote der modernen Jingles vielleicht. Wenn man nicht mit der „Brems‘“ ins Tal oder zurück auf den Berg fuhr: mit den beiden Schrägaufzügen, die dasBergwerkmitdemBahnhofderlängste eingestellten Görtschitztalbahn in Hüttenberg verbunden hatten, immer mit einemkleinenFußmarschverbunden.
Und einen Bäcker gab es, der mit einem abenteuerlichen Fahrzeug, dessen Front gleich auch die Fahrzeugtür war und die irgendwie nach vorne aufgeklappt wurde, frisches Gebäck zustellte, so ein- oder zweimal die Woche. Und wieder war es meine Mutter, die sich hier ordentlich ins Fettnäpfchen der interkulturellen Kommunikation setzte. Im Geschäft, in Hüttenberg, von der Bäckerin gefragt, ob sie vielleicht einen Allerheiligenstrietzel vorbestellen wollte, meinte sie nur kurz „Danke,dashatmeinMannschonallesmit demDagovausgemacht“.
Ja, der Dagov, der Bäckermeister selbst. Oben, am Bergwerk, hatte es einfach geheißen „Der Dagov kommt“. Oder: „War der Dagov schon da?“ Blöd nur, dass
Dagov nicht der Vorname war, wie das meine Mutter dachte. Dagov, wohl eher: Tagoff, das war der gar nicht böse gemeinte Rufname des Bäckers, mit dem ihndieBergleutebedachthatten:Teigaffe.
Was heute als Ehrenbeleidigungsprozess vor Gericht enden würde, hat damals für Heiterkeit gesorgt. Allseits nämlich. Auch beimTagoff.UnddieStrafewarjaohnehin die Peinlichkeit, das Gefühl meiner Mutter wahrscheinlich, am besten gleich im Allerheiligenstrietzelteig versinken zu wollen.
Das Telefon war über eine Vermittlung schon mit der Außenwelt verbunden und man konnte, auch wenn’s nicht gerne gesehenwurde,dieGroßelterninEisenerz anrufen. „38“ hatten wir als Telefonnummer. Und ein schwarzer, großer Bakelit-Apparat mit einer Wählscheibewardas,indemesabundzu unheimlich klickte. Die Kommunikation hatteeinneuesNiveauerreicht.
Aber das sollte noch getoppt werden: der Hüttenberger Gendarmeriepostenkommandant, der mit seiner Familie heroben in der Bergbausiedlung lebte, hattesichdenLuxuseinesFernsehgerätes geleistet: eine große Kiste mit einem orangen Schutzschirm vor dem eigentlichen Bildschirm. Ein Fernsehgerät kostete damals rund 6.000,- Schilling, das war etwa das Vierfache eines durchschnittlichen Monatseinkommens. Am Gerät, obendrauf, ein beleuchtetes Segelschiff.Echtschön,ja!
UndwirKinderdurftenjeweilsamMittwoch um 17 Uhr mit dem Rudi, dem Sohn des Beamten, Kasperl schauen. Eine Sensation, mit der das Fernsehzeitalter auch über uns am Berg hereingebrochen war: der Zeiger der am Bildschirm eingeblendeten Uhr bewegte sich zu einer wiederkehrenden Melodie, die ich heute noch im Ohr habe, gegen 17:00 zu, wir saßenerwartungsvollimHalbkreisvordem
Fernsehgerät, um gespannt den Abenteuern von Petzi und Kasperl zu folgen. Während im Hinterhof des Hauses das kurz vorher geschlachtete Schwein zum Ausbluten kopfüber und aufgeschlitzt aufgehängt war. Eine Idylle. Auch das habenwiralsKinderunbeschadetertragen.
Radio und Fernsehen als Mittel moderner Kommunikation. Freilich noch bescheiden undharmlos.NachwievorstanddasRadio im Mittelpunkt der medialen Errungenschaften. „Wunschkonzert“ am Nachmittag. Mit „Grüßen von Karl und Maria mit dem kleinen Toni an den Opa in Leoben, dem noch ein langes Leben und viel Gesundheit beschieden sei“. Radiound Fernsehwerbung gab’s übrigens seit 1959 – freilich noch nicht in jener verblödenden Penetranz, die sie heute entfaltet.
Auch wenn er erst nach und nach leistbar wurde, seit 1955 gab es den „Österreichischen Rundfunk“ als Versuchsprogramm, dann ab Jänner 1957 regelmäßig, ab 1959 sogar an jedem Wochentag. Nach und nach kamen sie in die Wohnungen, die Fernsehgeräte. Schwarz-weiß natürlich, mit dem signifikanten weißen Punkt, zu dem das BildbeimAbschalteninsichzusammenfiel. Mit Heinz Conrads. Und dem Messeprogramm. Mit dem Testbild, der Bundeshymne vor Sendeschluss, an den sich ein flimmerndes Bildschirmnirwana anschloss. Später dann sollten die „modernen“ Fernsehgeräte erkennen können,wenndasFernsehsignaldurchdas Sendeschluss-Flimmern abgelöst wurde und sich dann selbstständig ausschalten, aber bis dahin solle es noch ein wenig dauern. Vorerst war noch die natürliche Intelligenzgefordert,zuerkennen,wannes Zeit war, das Gerät auszuschalten. Eine Eigenschaft, die übrigens mittlerweile zur Gänzeabhandengekommenscheint.
100.000 Fernsehgeräte gab es 1959 übrigens in Österreich. „Hier ist der
Österreichische Rundfunk mit seinem Fernsehprogramm. Sie empfangen uns über die Sender …“ war regelmäßig vor Programmstart zu hören. „Programmstart“ und „Sendeschluss“ – zwei Anachronismen, mit denen heute niemand mehr etwas anfangen kann. 1961 kam dann das zweite Fernsehprogramm dazu, täglich ausgestrahlt dann aber erst ab 1969. Fernsehen und Radio – das war damals meist nicht „NebenbeiBerieselung“, sondern im Vordergrund: Fernsehen um des Fernsehens willen, RadiohörenumdesHörenswillen.
Lesen und schreiben lernte ich nun in der VolksschuleamKnappenberg.Mit„Dortwo Tirol an Salzburg grenzt, des Glockners Eisgefilde glänzt“ lernte ich die Kärntner Landeshymne und natürlich zahlreiche andere Kärntnerlieder, „Turnen“ hat mir schon damals keinen Spaß gemacht und über den Religionsunterricht samt Vergatterung der ganzen Klasse zum halbjährlichen „Beichten“ vor Ostern und Weihnachten will ich mich gar nicht auslassen. Heute noch kann ich die in der kleinen „Barbarakirche“ im lateinischen Ritus gelernten frommen Dialoge auswendig:wirwusstenzwarnicht,waswir da eigentlich sagen, aber wir haben’s halt auswendig vor uns hergebrabbelt. Im Dialog mit den Sprüchen des Pfarrers, die wirauchnichtverstandenhatten.
Handy, Videospiele und andere elektronische Versuchungen gab’s noch immernicht.Kommunikationwurdegelebt. Und ausgelebt: quer über Felder, Wiesen und Wälder. Was für uns Kinder damals völlig normal war, würde heute wohl in siebenundzwanzig Besitzstörungsverfahren, dem Einschreiten der Polizei und der Jugendwohlfahrt, einem mehrseitigen ArtikelineinerbeliebigenBoulevardzeitung und vielleicht auch einem Bericht in „Steiermark Heute“ enden. Und was wir damals „Indianer“ gespielt haben, würde heute als „kulturelle Aneignung“ verpönt
und unser „Räuber und Gendarm“ als Vorstufe einer kriminellen Entwicklung mit dem dringenden Bedarf behördlichen Einschreitensverbundenwerden.Nein,wir konnten noch nicht an der tollen virtuellen Welt teilnehmen, wir kannten kein Facebook, kein Instagram. Unsere Welt war real und unsere Sinne wurden durch tatsächlichErlebtesgeschärft,Erfahrungen durch reale Widrigkeiten zurechtgestutzt. Wir durften es als selbstverständlich erfahren,wieSalbeiriecht,wieklebrigPech istundvorwelchemGetiermansichbesser in Acht nehmen sollte. Und das Hätschipetsch (Hagebutten) Kerne haben, die kräftig jucken, wenn man sie sich gegenseitigindenKragensteckt.
Real waren auch das gelebte Brauchtum: von den Bergmannsbräuchen, etwa dem Hüttenberger Reiftanz oder der Barbarafeier,bishinzudenvonchristlicher Tradition geprägten Festen. Kleine Höhepunkte, an denen man einfach mitgemacht hat – eine Art Kommunikationsplattformfüralle.
Noch in der Volksschulzeit war es wieder soweit:Ortswechsel.Diesmal–wiekönnte esandersseinwiederaneinenBergbauort – nach Eisenerz. Eine „richtige“ Stadt. Damals zumindest: gut 13.000 Einwohner hattederOrt.Miteigeneninnerstädtischen Buslinien. Zwei Kinos. Einer Bühne im „Gewerkschaftshaus“. Einer Vielzahl von Gasthäusern. Freilich: um dorthin zu kommen,musstemanersteinmalüberden Präbichl.JenerPass,derdamalsnochauf einer abenteuerlichen Straße zu überqueren war – im Winter oft tagelang gesperrt. Dann konnte man auf die Bahn ausweichen – die „Erzbergbahn“, eine Zahnradbahn, auf der Dampflokomotiven (bisMitteder70erJahreübrigens)Erzzüge über den Pass schleppten. Drei Personenzugpaarefuhrentäglichüberden Pass,fürdie21kmvomVordernbergnach Eisenerz waren zwei Stunden Fahrzeit am Plan.05:28istmitnochdieAbfahrtszeitdes
ersten Zuges aus Eisenerz nach VordernberginErinnerung.UnddieWinter waren„richtige“Winter:mitSchneemassen über Waggonhöhe. Ohne Dampfschneefräse,ohneeineVielzahlvon Arbeitern, die dem Weiß mit Schaufeln entgegenrückten, war nichts mehr zu machen.Undmitunterauchsonicht:dann war Eisenerz eben tagelang nicht zu erreichen.
Die Bahn ist mittlerweile eingestellt (bzw. nur noch im Touristenbetrieb mit Schienenbussen, wie wir sie auch aus unserer Region, der Weststeiermark, kennen). Heute leben in Eisenerz nicht einmal mehr 4.000 Menschen. Und so sieht’sdortheuteauchaus.
NichtnurdietechnischenFortschritte,auch die Größe der Stadt brachten eine andere ArtderKommunikation:Nochimmerhatten wir ein „Werkstelefon“, das vom Bergbaubetrieb unterhalten wurde. „283“ warunseredamaligeTelefonnummer–und wennmaneine„0“vorwählte,kamman,so man Glück hatte und die Leitung frei war, ins öffentliche Postnetz. Damit war schon einmal ein weiterer Schritt zur uneingeschränkten Kommunikation mit Gott und der Welt gesetzt – ohne Vermittlung! Später bekamen wir dann zusätzlich noch ein „Post-Telefon“: mit Tasten statt einer Wählscheibe und in hundekackebraun gehalten. Ein „ViertelAnschluss“wardas.Diesesausgestorbene Wortbedeutetenichtsanderes,alsdassan der gleichen Leitung eben vier Teilnehmer hingen.ÜbereinRelaiswurdedann,wenn gerade niemand anderer von den vier MitstreiterneinGesprächführte,nachdem AbhebendesHörersdiefreieLeitungdem eigenen Gerät zugewiesen – und die anderendreiwarendamitblockiert,bisman auflegte. Geduld war mitunter angesagt („Jetzt quatscht der no immer!“). Noch später konnte man dann auch andere Farben des Gerätes wählen –vorzugsweise rot, grün, blau und ocker –,
dann gab es auch gegen Aufpreis eine Tastatur mit Wahlwiederholung. Und als direktenVorläuferdesMobiltelefonskonnte man als Sonderausstattung ein zehnMeter-Kabel bestellen: die grenzenlose Freiheit des Telefonierens war in Sicht. Im zehn-Meter-Radiuszumindest.
Das Telefongespräch wurde zunehmend auch zur privaten Unterhaltung salonfähig.
Die Hausfrauenrunde, die sich in Einzelgesprächen formierte, wechselseitig über die Eigenschaften der jeweils gerade nichtamZweier-GesprächTeilnehmenden informierte und die Gerüchteküche am Brodeln hielt, der Teenager, der – am bestenunterVerwendungdeszehn-MeterKabels ein wenig abgesetzt vom Rest der Familie–denoderdieAngebeteteansülzte oder schlussendlich tatsächlich zum Informationsaustausch: man konnte zu Hause bleiben und dennoch mit anderen aktivinKontakttreten.EineneueStufedes Dialogswargefunden.
Ab 1969 gab’s dann Farbfernsehen. Riesige,gefühlttonnenschwereDinger,bei denen man anfangs die Farbe noch händisch mischen musste. Die erste Farbsendung war übrigens das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker vom 1. Jänner 1969, anfangswurdenureinTeilderSendungen inFarbeübertragen,wassichaberschnell ändernsollte.
EbensoschnellwurdedasFernsehen–vor allem in Farbe – zum ernsthaften Konkurrenten der Kinos. Die sich freilich damit behalfen, das zu zeigen, was das Fernsehen nicht nach Hause bringen durfte: Und so feierten Oswald Kolles „Aufklärungsfilmchen“ im Eisenerzer „Lichtspieltheater“ im Krumpental, in dem mein Onkel „Operateur“ war - wie der Filmvorführer genannt wurde, was dem Beruf gleich eine exklusiveren Touch verliehen hatte -, fröhlich-anrüchige Urständ‘, während das katholisch dominierte „Tonkino“ unweit des Theodor-
Körner-Platzes eher auf Western und Crime setzte. Und auf Kulturfilme, die sich Massen von Schülern in „Filmtagen“ zwangsweise ansehen mussten: „In den Schuhen des Fischers“ habe ich auf diese Weisegefühlthundertmalgesehen,„Alexis Zorbas“kannichnochnachsingen.
Apropos Schulen: Overhead- und Filmprojektor waren das Um und Auf der Medienerziehung: Klassenzimmer verdunkeln, Filmprojektor hereinrollen und schnarrend irgendeinen Lehrfilm in schwarz-weiß abspielen. Moderner Unterricht in den sechziger- und siebziger JahrenmitdemimmererhofftenAbenteuer eines Filmrisses oder dem Durchbrennen derProjektorbirne.
Und noch immer gab es keine „sozialen Medien“. Wer mit andern kommunizieren wollte, der musste das noch immer persönlich machen. Von Angesicht zur Angesicht – da beschimpft man sich dann in der Regel auch weniger als dies in der Abstraktheit „sozialer Medien“ üblich ist. Aber auch das sollte dann erst später kommen. Vorläufig war das Maximum an Anonymität und Unpersönlichkeit das Telefongespräch. Überhaupt, solange es nochkeineRufnummernkennunggegeben hatte…
Meine Gymnasiumszeit habe ich in Eisenerz verbracht. Ein Gymnasium ohne Internet. Ohne elektronische Begleiterscheinungen – anfangs noch mit dem „Aristo“-Rechenschieber, später kamen dann die ersten Taschenrechner –mitroten,spätergrünenGlühfaden-Zahlen anstelle der heute üblichen Displays. Verwenden durften wir sie ohnehin nicht. Und der Betriebsrat der BergbaugesellschafthatteeineAktionzum Einkauf verbilligter Taschenrechner gestartet. Sauteuer waren sie dennoch, klobig ebenso, und gerade einmal die Grundrechnungsarten beherrschten sie. Von Texas Instruments die mit den roten Zahlen, von Canon die mit dem grünen
Display, glaube ich mich zu erinnern. Bekommen habe ich übrigens keinen: weder den von Texas Instruments noch denvonCanon–damalsmusstemansich nämlich die Schulutensilien noch selber kaufen,vondenSchulbüchernangefangen bis hin zu diversen Hilfsmitteln. Dafür hat man auch noch etwas gelernt und die Schule mit der Fähigkeit, sinnerfassend lesen zu können, abgeschlossen. Und Schulbücher stellten noch einen Wert dar. Einigehabichnochheute.
Fernsehen war mittlerweile selbstverständlich geworden, der Plattenspieler war in die Mehrzahl der Haushalte eingezogen und der Kassettenrecorder hatte den Einstieg zu dem geschaffen, was heute selbstredend konsumiertwird:nämlich,allesjederzeitzur Verfügung zu haben. Auch wenn’s vorerst auf Musiksendungen beschränkt war, gerauschthatteundsichdieMagnetbänder der Kassetten oftmals verhedderten. Und der dämliche Moderator immer wieder ins Musikstück, das man gerade aufgenommen hatte oder besser: aufnehmenwollte,hineinredete.
Kommunikation hatte immer noch etwas Persönliches: immer noch war das reale Zusammentreffen zum Gedankenaustausch (freilich auch zu anderen Blödheiten) im Vordergrund: die „modernen Kommunikationsmittel“ –damals also ohnehin nur das Telefonwarenprimärwillkommen,sichirgendwozu verabreden (Jahrzehnte später sollte das, technisch perfekter gehandhabt, dann „Flashmob“ heißen), die Kommunikation fanddannabervorzugsweiseimGasthaus statt. In Lokalen mitunter, in denen uns unsere Eltern oft lieber nicht gesehen hätten und in denen wir uns als pubertierende Jugendliche schon ganz groß und g’scheit fühlen durften. Das war die Zeit der Bars, der Discos und der einfachen Wirtshaustische. Sogar in der von Bergen eingeschlossenen
Bergmannsstadtgabessiehinreichend,all diese Lokale. Manche mit „automatischer Kegelbahn“. In denen man auch die Zeit verbringen konnte, in der man gleich im Rudel die Schule geschwänzt hatte. Nein, ichglaubenicht,dassunsalsJugendlichen damals etwas gefehlt hat. Auch fernab dieserLokalenicht.
Obwohl es schon seit 1946 erste Autotelefone gegeben hatte, kam die kommerzielle Mobiltelefonie erst in den frühen siebziger-Jahren in die Gänge. Als PioniergiltdabeiMotorola,ab1974gabes in Österreich das „B-Netz“, die Mobiltelefonewarenurhässlich,klobigund geradezu unerschwinglich. 1974, das war meine Zeit beim Bundesheer: mit Telefonen, die noch Kurbeln hatten. Mit Funkgeräten, die ein eigenes Fahrzeug benötigten, meterhohen Antennen und weit, weit weg von jeglicher heute gewohnten modernen Kommunikationstechnik. Der „Fernschreiber“ war damals Standard, und es war schon ein Luxus, wenn das Empfangsgerät A4-Blätter statt nur Streifen, die dann auf A4-Blätter geklebtwerdenmussten,ausdruckte.Aber immerhin habe ich dort Maschinschreiben gelernt–aufuraltenFunkfernschreibern.
Aber der Fortschritt war nicht mehr aufzuhalten: das Mobilnetz wurde ausgebaut, das „C-Netz“ vom „D-Netz“ abgelöst, die Telefone immer kleiner, leistungsfähiger und vielseitiger, die analoge Datenübermittlung, bei der sich noch jedermann mit einem geeigneten Gerät in fremde Gespräche einklinken konnte, durch die digitale Übertragung ersetzt, ab 2019 wurde auf das „5G“-Netz umgestellt.DasTelefonwaramWeg,zum ständigen Begleiter zu werden. Paradox: versuchte man zuerst, die Geräte immer mehrzuverkleinern,sowarbaldwiederein gegensätzlicher Trend erkennbar: größere Bildschirme,bessereSichtbarkeit,bessere Bedienbarkeit – die aufkommenden Dienstleistungen forderten eine bessere
Visualisierung auf den dann schon gebräuchlichenSmartphones.
Aber zurück: Ich war zwischenzeitig nach Graz gezogen und hatte mein Studium abgeschlossen – ebenso noch ohne jegliche digitale Unterstützung. Die UniversitätsbibliothekwarderInbegriffvon „analog“, das Wissen stand noch in Regalen und war recht klobig, Evidenzen wurdenperKarteikartegeführt.Eswaraber auch niemand da, der einen an der Hand genommen und mit vorgegebenen Lehrveranstaltungen durch ein plug-andplay-Studium geführt hätte: wie in der UnibibliothekdieBüchermusstemanauch die Organisation und den Ablauf seines Studiums selbst in die Hand nehmen. Und noch immer war die Kommunikation real, zwischen Menschen im direkten Treffen. Abundzumehroder wenigerverständlich - Stichwort Studentenlokale. Ja, gab’s auch.
Meine Jahre bei Gericht hatten mir einen Einblick in die Welt des Beamtentums gewährt. Es waren interessante Erfahrungen, die sich da gewinnen lassen konnten: Erfahrungen, in denen sich das spätereWissenumdasFunktionierenoder Scheitern staatlicher Einrichtungen gründen.Undsoganzandersalsjene,die mir meine späte Mittelschulzeit und die Studienjahrevorhergezeigthatten:Seitder siebentenKlasseimGymnasiumwaresfür mich selbstverständlich gewesen, arbeiten zu gehen – erst im Baugewerbe, dann in einem großen Stahlwerk in der Betriebselektrik: Branchen, in denen man lernt, dass Anpacken gefragt ist, man durchaus auch schmutzig werden kann, Arbeit auch etwas Gefährliches sein kann, der Acht-Stunden-Tag eine segensreiche Begrenzung darstellt, das Leben kein Ponyhof und die Mama nichtzur Stelle ist. Wie ein System fernab privatwirtschaftlicher Vorgaben funktioniert –dasdurfteichdannbeiGerichterfahren. Natürlich war alles noch analog,
Verhandlungen und Protokolle wurden mitstenographiert (ja, ich habe in der Schule noch Steno und übrigens auch Kurrentschrift gelernt) und dann in Maschinschrift übertragen, ab und zu gab es schon elektrische Schreibmaschinen. Das juristische Wissen war nicht in Datenbanken,sonderninBücherngefasst. Und wenn man Präjudizien suchte, konnte man nicht in irgendeine Maske ein Suchwort eintippseln, sondern schlug in Entscheidungssammlungennach.Prägend ist mir noch eine Anweisung eines mir vorgesetzten Richters in Erinnerung: „Herr Kollege, da haben wir eine Klage bekommen: Die Beklagte heißt ‚Bumm & Summ GmbH‘ – gehens schnell ins Firmenbuchraufundschaunsnach,obdie wirklich so heißt, vielleicht heißens ‚Summ &BummGmbH‘,dannwär‘manämlichnet zuständig“. Es gab auch interessante und lehrreiche Tage: meine Zeiten am heute längst aufgelassenen Bezirksgericht Eisenerzetwa,einem„einspännigen“(also nurmiteinemRichterbesetzt)Gericht,das dennoch in der Person des einzigen Richters die gesamt Palette menschlicher Regelungsbedürfnissezubewältigenhatte. Und irgendwann waren dann die Weichen in die Privatwirtschaft umgelegt: in die Anwaltschaft.
Zurückzur„Kommunikation“(wirsprechen hier von einer Zeit, in der die heutigen MittvierzigergeradeeinmalindenWindeln lagen):derFernschreiberwurdedurchdas Telefaxgerätabgelöst–anfangsmiteinem Modem, das sich lautstark mit quietschenden und rülpsenden Tönen mit der Gegenstelle verbunden hatte, der Kopiererwarnichtmehrmiteinerstechend riechendenFlüssigkeitzubefüllensondern hatte„Kartuschen“,dieimmereinfacherzu tauschen waren, die Schreibmaschinen hatten bereits ein Diskettenlaufwerk, das allerdings in seinen Dimensionen einem MikrowellenherdalleEhremachte.Unsere ersten beiden Schreibmaschinen mit dann nur mehr 5 ¼ Zoll-Diskettenlaufwerk und
einzeiligem Display hatten je 60.000,Schilling gekostet – das war damals viel Geld. Geliefert hat sie ein engagierter RosentalerBüroausstatter,dermittlerweile schonlängstvonderBühneverschwunden ist. Und was die persönliche Kommunikation anlangt ist mir ein hier in der Weststeiermark wohl ebenso gewohnt gewesenes wie auch für die Weststeirer gewöhnliches Ereignis in besonderer Erinnerung:
VonderStadtaufsLandgewechseltwurde mir eine Kirtagveranstaltung in Köflach als „Must“ empfohlen: Magdalenakirtag. Dort treffesichalles,wasRangundNamenhat. Damüssemanhin,unbedingt.Kirtaghatte ich noch aus Eisenerz in Erinnerung: den Oswaldikirtag. Mit Marktstandln, türkischem Honig und Glumpert, das es zu kaufen galt (meine Mutter hatte dort Badeschlapfen für meinen Vater erstanden. Im Plastiksackerl verpackt waren dann zwei linke, einer in Größe 38 undeinerinGröße42),sonstaberwarder Markttag in meiner Erinnerung eher unauffällig.Soähnlichhatteichesauchfür Köflach erwartet. Was ich erleben durfte, war wirklich einzigartig und hat mich auch inderAnnahmebestätigt,dassReinhardP. Gruber seinen Hödlmoser wohl hautnah erlebt haben muss. Zugegeben, ich hatte mirdiesesrustikale Ereigniserstamfrühen Nachmittag gegeben, was für die dort Anwesenden aber augenscheinlich bereits als fortgeschrittene Stunde galt: es war beeindruckend, wirklich. Eine Stadt voller Bierbänke und Biertische, an denen man den stündlichen Verfall der örtlichen Prominenz miterleben durfte – und es war alles da, was Rang und Namen hatte und noch stehen oder wenigstens sitzen konnte. Ja, Marktstandln gab es natürlich auch. Aber vor allem Welschriesling und Bier. Ja, da musste man hin. Unbedingt. Und völlig schmerzbefreit selbst mit dem Auto nach Hause fahren - das sind dann die meisten dann auch noch. Ähnliche kulturelle Großereignisse durfte ich dann
noch in Voitsberg mit seinen Stadtfesten erleben – die übrigens heute als müder Abklatsch mit dieser damaligen Demonstration weststeirischer Trinkfestigkeitnichtsmehrgemeinhaben.
Wir hatten uns mittlerweile an das Mobiltelefon gewöhnt. An die ständige Erreichbarkeit, die vielleicht anfangs noch als toll empfunden worden sein mag. Und sotrendy,einklasserBursch,warmanmit einem dieser anfangs noch ziemlich unhandlichen Ungetüme, bei denen man noch die Antenne ausziehen musste. Dennoch fand noch hinreichender persönlicher Austausch statt – an der Theke der zahlreichen Wirtshäuser etwa (Voitsberg konnte vom Bahnhof bis zum Hautplatz mit gut 20 Wirtshäusern aufwarten!),undandenTischen,aufdenen noch nicht pro Person mindestens ein Mobiltelefon abgelegt war. Was aus Platzgründen auch schwer möglich gewesen wäre – nicht, weil die Tische so klein, sondern weil die Handys so groß waren.VondenälterenLesernerinnertsich vielleicht noch jemand – war im Raum ein Radio angestellt, so konnte man einen eingehendenAnrufamMobiltelefonanden typischen Störungen im Radio schon erkennen, bevor es noch am Telefon läutete.
Im Büro hatte der Computer die Schreibmaschine abgelöst, das Betriebssystem war von DOS nach Windows gewechselt. 1 MB an Speicher war schon recht ordentlich und 4 MHz Prozessorgeschwindigkeitschongut.
Beim „Stadttor“ in Voitsberg bildeten sich jedes Wochenende Trauben von Menschen,dieStadtlebte.InKöflachgab‘s dasRedBull,inVoitsbergdasLaBoheme. Das Bedürfnis, stundenlang an seinem Handy herumzudrücken, das hatte niemand. Gegenseitig drückte man sich: die einen in romantischer Umarmung, die andereneinBierglasinsGesicht.
Seit 1969 war in den USA an einem Netzwerk zur Verbindung von Rechnern gearbeitet worden, aber erst Mitte der neunziger Jahre etablierte sich mit dem World Wide Web das Internet als Verbindung von Firmen- und Privat-PCs undsetztedamiteinedigitaleRevolutionin Gange-zunächstsehrzumLeidwesender Herausgeber diverser Enzyklopädien: der vierundzwanzigbändige Brockhaus mit Goldschnitt und Ledereinband war wie Meyers Enzyklopädie zur Flohmarktware degradiert, die Zeit der Suchmaschinen begann: Altavista, Yahoo, Netsearch. Das WissenwaramWeginsWohnzimmer.Die Blödheitebenso.
Die Kommunikation war anfangs noch etwasholprig,dieSMS-Diensteteuer.Was sichmitdemE-Mailgründlichändernsollte: plötzlich waren Unmengen digitaler Daten blitzschnellvoneinemOrtzumanderenzu übertragen. Informatives und Gewolltes ebensowieeineVielzahlanDatenmüll.
Gegen Ende der neunziger Jahre war es uns als Anwaltsbüro gelungen, das ORFMonopol auszuhebeln und konnten wir unser Kommunikationsbedürfnis nicht nur im vordem gegründeten lokalen Printmedium „Der Weststeirer“, sondern in einerGesellschaftmitdemweststeirischen Kabel-TV und Radiopionier Franz Scherz auch on Air mit „Radio West“ und „WKKLokal-TV“ ausleben – als damals noch selbständige, auf den lokalen Bereich beschränkte und auch privat finanzierte Medien;eineZeit,inderwirlernendurften: wirkönnenZeitung,wirkönnenRadio,und wir können Fernsehen. Eine Zeit voller Erfahrungen und Abenteuer, die ich nicht missen möchte. Auch wenn sämtliche Gesellschafter des „Weststeirers“ schon längst das Pensionsalter überschritten haben und dieser daher - mangels Nachwuchs - derzeit nur noch in sozialen Medien präsent ist, und Radio West wie auch WKK-Lokal-TV, das damals differenzierte Sparten bediente und aus
demStudioinVoitsberg-erstinderConrad v Hötzendorfstraße dann vom Hauptplatz aus-echtes,moderiertesundinformatives Lokalprogramm geboten hatte längst in fremden Händen liegt und heute mit unserem ursprünglichen, engagierten und facettenreichenLokalradiound-Fernsehen ausdemunmittelbarenUmfeld garnichtzu vergleichen ist. Aber dieses Schicksal erfährt ja auch der „große“ Rundfunk, wie etwaÖ3:vomdifferenziertenProgrammmit unterschiedlichsten, moderierten Sendungen zum einheitlichen SendebreiFormat mit Dauerberieselung, mehr oder weniger sinnbefreitem Dreingequatsche und Werbung. Nein, das ist nicht mehr Radio. Bis auf Ö1, aber das ist eben ein wenig eine Anachronismus, den nur Leute hören und verstehen, die in der Schule mehr gelernt haben als ihren Namen zu tanzenundzusingen.Alsoeigentlichkaum nochjemand.
Webbasierte Anwendungen waren zum Standard geworden und aus dem Alltag nicht mehr wegzudenken: Datenbanken statt Bücher, Information auf Knopfdruck. Auch im Büro: Grundbuch, Firmenbuch, eine Vielzahl elektronischer Register, in Österreich schließlich – für jeden Bürger –dieIDAustriaalsGrundvoraussetzungzum Überleben. Als Grundvoraussetzung zum Überleben? Sollten hier nicht die Alarmglockenbimmeln?
2013 erklärte der (deutsche) Bundesgerichtshof in einem Schadenersatzprozess das Internet als „Lebensgrundlage von Privatpersonen“ (deren Ausfall Schadenersatzansprüche begründen könne). Heute, mehr als zehn Jahre später, ist in weiten Bereichen der „zivilisierten Gesellschaft“ ein Leben ohne digitaleKommunikationfaktischnichtmehr möglich und wird vielmehr auch in staatlichen Bereichen geradezu vorausgesetzt – wie immer man diesen Umstanddannauchwertenmag.
Ab 2007 wurde mit dem Smartphone, das praktisch überall die bisherigen Mobiltelefone ablöste, nicht nur der FotobranchederGarausgemacht,sondern sorgte für die Bereitstellung von WebInhalten auch auf Mobilgeräten: war es bisher nur die ständige Erreichbarkeit per Telefon,sostandennunauchelektronische Medien, Datenbanken, schlichtweg so gut wie alle Dienste des WWW am Handy zur Verfügung: der „Digital Lifestyle“ war geboren, mit dem Aufkommen der „sozialen Medien“ und der MessengerDienste war das ständige Starren auf den Bildschirmpraktischsalonfähiggeworden.
Mit der Einführung des IOT – des Internet oft hings - haben wir uns daran gewöhnt, dassderStaubsaugerundderKühlschrank mit uns spricht, der Drucker selbst Toner nachbestellt und unser Haus in seiner technischen Ausgestaltung ein Eigenleben entwickelt hat, indem es für uns entscheidet, ob es jetzt warm genug ist oder die Rollläden abzusenken sind. Die künstlicheIntelligenz,diejanochgarnicht richtig ausgegoren ist, wird weiter ihren Beitragzueinerraschenundumfassenden Neugestaltung vieler Bereiche beitragen. Vielleichtmehr,alsunsdannliebseinwird.
Unabhängig von den unzähligen Möglichkeiten des Missbrauchs und krimineller Machenschaften – man denke an „Phishing“ oder „Scam“ – erweist sich die grenzen- und schrankenlose Kommunikation in mehrfacher Hinsicht als problematisch:
Datenschutz, Kommunikation und Information–einGegensatz?
Zunächst bewegen sich sämtliche Angebote des Internets im ständigen Spannungsfeld zwischen Datenschutz und Informationsbeschaffung, wobei hier auch von technischer Seite weitläufige Möglichkeiten bestehen, Daten abzurufen, zuspeichernundzuverknüpfen,ohnedass rechtlicheVorgaben–etwadieEinwilligung
zu Cookies oder restriktive Datenschutzbestimmungen – hier wirklich AbhilfeschaffenoderSchutzbieten.Wobei Datenschutz freilich ein Ansinnen ist, das von vielen Nutzern, die etwa täglich ihr Mittagessen oder ihre Befindlichkeit einschließlich ihrer privaten Urlaubsfotos im Netz posten, damit auch gleich unterlaufen wird und das Bewusstsein, mit demPosteneinesBildes,dasauchandere Personen zeigt, gleich selbst eine Datenschutzverletzung zu begehen, wenig ausgeprägtist.
ImstetigenWiderstreit-zunehmendaktuell -stehtdasRechtaufDatenschutzmitdem Recht auf Erfassung von Daten im öffentlichen Interesse – man denke hier etwaanVideoaufnahmeninBahnhöfen,UBahn-Stationen oder auf öffentlichen Plätzen.1) Eine strikte Auslegung der dazu bestehenden Vorschriften schränkt das Bestreben, Daten zur Erhöhung der Sicherheitvorbeugendzuerfassen,massiv ein, wogegen dann die Verwertung allenfallsauchunzulässigerweiseerfasster Daten zu Beweiszwecken durchaus zulässig sein kann.2) Praxis ist es, die fehlende Überwachung des öffentlichen Raums immer dann lautstark zu beklagen, wenn Messerstecher oder ähnliche Gestalten unerkannt ihr Unwesen getrieben haben, wogegen die Rechtsprechung sogar automatisierte Parküberwachungssysteme in Autos („Sentry-Modus“)3) wie auch sogenannte Dashcams als unzulässige Videoüberwachung des öffentlichen Raumsbeurteilt.4)
Bestehen einerseits – vor allem durch die Einbindung der Künstlichen Intelligenz –unglaubliche Manipulations- und Steuerungsmöglichkeiten, so ist durch Querverknüpfungen und Datenabgleich selbst auf der Basis objektiv harmloser Daten die Erstellung von Benutzerprofilen ohne besonderen Aufwand möglich und damit der Weg zum gläsernen Menschen
geschaffen.5) Und da das Internet ja bekanntlichnichtsvergisstkannhierschon ein spezieller Datensatz für den Einzelnen fatalsein–auchwennerwomöglichsogar unrichtigist.AusgutemGrundwurdedazu das „Recht auf Vergessen (werden)“ postuliert – die Löschung von Daten, die irgendwann einmal im Internet erfasst wurden.6) Am Papier und in der Theorie zumindest.
Es kann weiters kein Zweifel darin bestehen, dass die Möglichkeiten der Digitalisierung von staatlicher Seite unterschätzt wurden und regulative Eingriffe, soweit sie mit Grundsätzen der westlichen Demokratien überhaupt vereinbar sind, kaum mehr wirksam möglich sind. Soweit der Staat selbst als Diensteanbieter auftritt fällt auf, dass man sich vom althergebrachten Formular(un)wesen nur schwer trennen zu kann oder will, sodass staatliche Angebote im Regelfall wenig benutzerfreundlich bis unbrauchbar sind – man denke an die Peinlichkeiten um das „Kaufhaus Österreich“7) oder die mehrfachen Anläufe zurIDAustria.
MachtdasNetzsüchtig?
Darüber liegen zahlreiche und unterschiedliche Studien vor, ein Suchtpotenzialistzumindestanzunehmen. Seit 2022 ist die Internetabhängigkeit im Diagnosekatalog der WHO als Krankheit enthalten, wobei im Extremfall die virtuelle WeltzunehmendzueinemErsatzfürreale sozialeKontaktewird.DieFolgeistsoziale VerarmungundIsolation.DieSymptomatik ähneltanderenSuchtkrankheitenbishinzu Entzugserscheinungen, beobachtet werden etwa bei Jugendlichen Identitätsfindungsprobleme. Besonders gefährdet sind depressive und einzelgängerisch veranlagte Menschen, insgesamt wird eine Realitätsflucht begünstigt, narzisstisch veranlagte Persönlichkeiten befriedigen ihren Machtanspruch, Erfolge auf sozialen
Medien – und liegen diese auch nur darin, sich vermeintlich in einer Diskussion behauptet zu haben - werden dann unscharf in die Realität zur Abgrenzung und Findung der eigenen Persönlichkeit übertragen,wasfatalseinkann. 8)
Verändert das Netz soziale Kontakte? Nun gibt es einige Leute, die ich durchaus schätzengelernthabe,dieichjedochnicht kennen würde, hätte es da keine Ansätze übersozialeMediengegeben.Fürden,der ein Café besucht, dort vier (mehr oder weniger)Jugendlichesieht,diegemeinsam am Tisch sitzen, wobei jeder von ihnen in sein Handy starrt und darauf herumdrückt, erübrigtsichdieFragenachderÄnderung des sozialen Verhaltens. Nach einer McKinsey-Studie glauben übrigens 69% derUser,dasssozialeMediendenNutzern schaden.9) Ein wesentlicher Faktor ist die Beeinflussung der Erwartungshaltung von Usern, die Gesehenes unkritisch übernehmen, als gegeben betrachten und ihrerLebenshaltungzugrundelegen.10) Das „checken“ neuer Nachrichten, neuer KommentareoderneuerPostingswirdzum andauernden Druck, der es nichteinmal mehrzulässt,dasHandybeiseitezulegen undsichseinemGegenüberzuwidmen.
VerändertdasNetzdieArbeitswelt?11)
Zweifelsohne: wie verschiedene Branchen mit der digitalen Revolution einfach weggefallen sind und mit zunehmender Intelligenz der Angebote auch noch wegfallen werden, so ist die Bewältigung moderner Dienstleistungen ohne webbasierte Anwendungen schlichtweg undenkbar – einerseits aus den Kommunikationsanforderungen, andererseits aus der Vernetzung der Unternehmen. Und natürlich sind auch vieleBerufeneudazugekommen:jene,die tatsächlich aus den EDV- und ITLeistungennotwendigerweiseentsprungen sind,unddannjene,diemansonotwendig braucht wie eine ordentliche
Sommergrippe: Influencer zum Beispiel.12) Viele von ihnen hätte man früher als „Schnorrer“abgetan.
BrauchenwirdasNetz?
Damitkommenwirwiederzurpersönlichen Betrachtungzurück:
Ja,ichzumindestbrauchees.Beruflichaus der mannigfaltigen Vernetzung von Datenbanken ohnehin. Und privat ebenso: zur Informationsbeschaffung. Freilich mit dem ständigen wachsamen Feedback: stimmt die erhaltene Information wirklich? GibtesdazuseriöseQuellen?Esistsomit der Einzelne gefordert, das erhaltene Wissen immer wieder einer Überprüfung zuzuführen – womit freilich viele an ihre Grenzen stoßen, zumal die Recherche dazu durchaus wissenschaftliche Züge annehmen kann und künstliche Intelligenz in Wort und Bild das Zeug in sich hat, uns Dingevorzulullen,die’snichtgibt.
Vor allem außerhalb des ohnehin definierten beruflichen Bereichs ist das Ziehen von Grenzlinien, das Setzen von Limits, unerlässlich: was das Ausmaß der Nutzung von Onlinediensten anlangt ebenso wie die Preisgabe persönlicher Informationen. Und bei entsprechender Rückversicherung wird man bald zur Fragestellungkommen:
„Muss ich wirklich der Welt mein Abendessen zeigen? Interessiert es mich jetzt wirklich, was der User Anton B. zu einem von ihm selbst aufgeworfenen Problem zu sagen hat? Muss ich dem Kommentar des mir unbekannten Berthold C. entgegentreten und da was dazuschreiben? Würde ich mit Cäcila D., die gerade eine Diskussion anzettelt, auch privatdarübersprechen?“
IndenmeistenFällenwirddieAntwortwohl ein Nein sein. Das führt dann aber dazu, dass ich das Internet dazu nicht brauche
und mich vielleicht besser dem realen Lebenwidmenmöge.
Aus dem Vergleich meiner beruflichen Tätigkeit zu analogen Zeiten mit dem digitalen Heute – fernab aller „früher-waralles-besser-Schwärmereien“ (es war nämlich nicht „besser“, es war „anders“)drängtsichmirfreilichzunächsteineFrage auf: wo bitte ist all die Zeit geblieben, die wir uns durch die Vorzüge der digitalen Abläufeersparthaben?AlsAntwortdarauf bleibt wohl nur die Erkenntnis, dass wir es verstanden haben, uns in mindestens jenem Ausmaß, als wir etwas vereinfacht haben, uns gleichzeitig wiederum Selbstbeschränkungen durch überbordende Anforderungen und Regulierungen aufzuerlegen: dass der VerwaltungsaufwandzueinemimVergleichzu „früher“ überdimensionalen Faktor anerlaufen ist, kann niemand ernsthaft bestreiten. Womit wir – als Gesellschaftselber schuld sind, wenn uns keine Zeit mehr bleibt: Präferenzen setzen wäre angesagt.
Wenn wir keine Zukunft wollen, in der uns zwar das Auto beim Einsteigen begrüßt, uns der Kochtopf auffordert Wasser nachzugießen und die Liftkabine beim Hochfahren erklärt, dass wir jetzt aufwärts fahren, in der wir also mit den Dingen sprechen,unsaberdann–vonMenschzu Mensch - sonst nicht mehr viel zu sagen haben, dann ist es höchst an der Zeit, die persönlichenLimitszuüberdenkenundder natürlichen Intelligenz den Vorzug vor der künstlicheneinzuräumen–zumindestdort, wo wir uns unser persönliches Umfeld bewahrenwollen.
Und wenn wir keine Zukunft wollen, in denen uns zwar alles zur Verfügung steht, wir aber eigentlich nichts mehr an Persönlichem haben,dannsolltenwiruns wieder ein wenig besinnen: es gibt auch eine reale Welt. In der man mit Menschen kommunizierenkann.Wiefrüher.
Denn wenn wir nur noch mit Gegenständen, also mit Robotern, sprechen,dannlaufenwirGefahr,selbstzu Roboternzuwerden.
Undichdenke,daswollenwirnicht.
1) Gerhartl, Gesetzliche Regelung der Videoüberwachung,jusIT2010/44
2) Vrba in Vrba (Hrsg), Schadenersatz in derPraxis(50.Lfg2024)
3) BVwG 0/1000 = ZIIR 2024, 290 (Thiele)
4) VwGH 04 Ro 0011/2015 = ZIIR 2017, 22(Thiele)
5) Dablander, Künstliche Intelligenz und Datenökonomie (07.10.2024, Lexis Briefingsinlexis360.at)
6) EuGH C 129/21 = jusIT 2022/95 (Thiele)
7) Der Standard, 24.06,2022, Geflopptes Digitalprojekt: Kaufhaus Österreich sperrtmit1.Julizu
8) Roland Mader/Oliver Scheibenbogen, Always on, Verführung und Gefahr digitalerMedien,maudrich2023
9) McKinsey&Company, Gen Z mental health: The impact of tech and social media,2023
10) Haese, I. (2020).Smartphone kids. Digitale Fürsorge in Zeiten der Unsicherheit (1.Aufl.). Heidelberg, Berlin:Springer.
11)Wirtschaftsdienst 2017, Heft 7, Arbeiten 4.0 – Folgen der DigitalisierungfürdieArbeitswelt
12) Alicia Joe, Falsche Vorbilder – wie InfluencerunsereKindermanipulieren, YES2023
ÜberdenAutor
Mag. Dr. Wolfgang Klobassa ist seit 1984 Rechtsanwalt (Semlitsch-Klobassa-Theissl Rechtsanwälte GmbH) in Voitsberg und war Mitbegründer des „Psychosozialen ZentrumsVoitsberg“
Dr.
Werner Begusch
Ein medizinischer Faktencheck und eine
Ich verdanke Ferdinand von Schirach, dass ich selbst mit dem Schreiben begonnen habe. Mein Deutschprofessor im Gymnasium war AutorkunstvollerRomanegewesen,er hattemireingutesGefühlfürSprache attestiert. Er hatte mich ermuntern wollen,unterdieLiteratenzugehen,ich wurde aber Praktischer Arzt. Den verrückten Traum, mich doch noch in meinem Leben schriftstellerisch zu betätigen, begann ich zu hegen, als michdieKriminalgeschichtenSchirachs begeisterten. Wenn dieser seine reichhaltigen Erfahrungen als Strafverteidiger zu spannenden, durchkomponierten Short Stories verarbeitet,warum,sostellteichesmir großkopfigvor,sollichnichtÄhnliches mit den meinen als Kleinstadtarzt wagen? Eines Tages riss mich das SchicksaleinerKrebspatientinineinen soheftigenGefühlssturm,dassichgar nicht anders konnte, als damit anzufangen. Religiöse Ärzte beten in solchenFällen,dasistzumZweckder Emotionsabfuhr nicht einmal so blöd. Ich allerdings will wissen, logisch analysieren und sauber gewonnene Erkenntnisse zu neuen Ideen synthetisieren,nichtglauben.
Die sprachliche Dichte, Präzision und reflexive Intelligenz meines Vorbildes bleiben für mich unerreichbar. Alle Sätze in Schirachs Werken sind durchdacht wie die Schachzüge eines internationalenSpitzenspielers.Ichdarf michgarnichterstverleitenlassen,das bei meinen Schreibversuchen nachzuahmen. Umso schmerzlicher enttäuschte mich das Theaterstück „Gott“, welches den assistierten Suizid
und die Sterbehilfe thematisiert. In vielen saturierten klassischen Industrieländern, merkwürdigerweise fastnurinsolchen,stehtdiesesernste SujetaufderpolitischenTagesordnung, auch in Deutschland und Österreich sind bereits liberale Regelungen in Kraft. Wikipedia führt außerhalb der Ersten Welt nur zwei (für die Verhältnisse dieses Kontinents) kleineresüdamerikanischeStaatenmit legaler ärztlicher Sterbeassistenz an, aber kein einziges afrikanisches und keinasiatischesLand.
„Gott“ spielt ausschließlich im HighSociety-Milieu. Interessiert das Thema hauptsächlich Satte, die nicht viele andere Probleme haben? Das Stück hinterlässt bei mir den Eindruck von Vanity Fair. Der ehemalige Stararchitekt Gärtner will sein Leben zwei Jahre nach dem qualvollen VersterbenseinerEhefrauElisabethan einem Gehirntumor beenden; zweiundvierzigJahrehatteermitihrein privilegiertes, glückserfülltes Leben geführt. Anstatt seinen „selbstbestimmten Tod“ (zur Entzauberung dieses heutzutage propagiertenEuphemismuskommeich noch) auch eigenverantwortlich in die Hand zu nehmen, in aller Stille, macht er sich öffentlich wichtig. Körperlich ist er trotz seiner achtundsiebzig Jahre gesund, ob er seelisch so gesund ist, wie es dem Publikum untergejubelt wird, damit werden wir uns befassen.
SowohldiezuständigestaatlicheStelle (in Deutschland gibt es das) als auch Gärtners Hausärztin haben die Verschreibung von Pentobarbital in tödlicher Dosis abgelehnt. Gärtner
kämpft,fürsichundfürandere,umdas Recht, auch ohne unheilbare ErkrankungeinletalesMittelvoneinem Arzt zu erhalten, vor einer Ethikkommission wird sein Fall im Stil eines Gerichtsprozesses verhandelt. DieJuristinundEthikerinKellerplädiert gegen, Gärtners Rechtsvertreter Biegler für Gärtners Anspruch auf das Todesmedikament.
SchirachweistindemDramaauf,welch brillanter Jurist er ist. Verhandelt wird das ethische Problem, nicht die Gesetzeslage: SOLL ein Arzt einem Lebensmüden ein Präparat verschreiben, welches ihm einen „friedlichen“ Tod ermöglicht? Ist es moralisch sogar geboten? Als ich Medizin studierte, bestimmten in Österreich Persönlichkeiten wie der leidenschaftliche Selbstmordverhüter Erwin Ringel den Diskurs, man hätte denjenigen, der an solches Tun überhaupt nur denkt, österreichisch saloppformuliert,fürnichtganzdichtin der Marille gehalten. Heute ist die viel zitierte Mitte der Gesellschaft allen tödlichen Ernstes dazu bereit, dieses bislang nicht existierende Problem sachlich zu erörtern, im Stil von DancingStarslässtSchirach,nachdem Sachverständige und Anwälte ihre Argumente dafür und dagegen vorgetragen haben, das Theaterpublikum darüber abstimmen, obGärtnerdasMittelerhaltensoll.Der Zeitgeisthatsichgeändert.
Der ehemalige Architekt wird befragt, warum er sterben möchte. Elisabeth fehltihm:„Sieistwegundichbinnoch
da, das ist nicht richtig“. Gärtner schließt auch jeden künftigen Lebenssinn aus. Der Trauernde hat Gesprächstherapie versucht, und ihm sind antidepressive Medikamente verschriebenworden,erstereshatnicht funktioniert, die Pillen lehnt er ab. Gärtner empfindet weiters Angst vor demAltersverfall,demerzuvorkommen will.
Ich weiß bis jetzt nicht wirklich, wie es sichanfühlt,nichtmehrlebenzuwollen. Dochdarfichjanichtdenhochmütigen Fehler begehen, dies für mich für alle ZeitenundSituationenauszuschließen. Im Gegenteil: Ich habe täglich mit tragischenPatientenschicksalenzutun undkämpfegegendieVersuchungan, darüber zu stehen. Die Geschichten meiner Patienten werden meine Geschichte sein, das halte ich mir vor Augen. Meine Mutter ist furchtbar an einem Gehirntumor verstorben, es ist mein Alptraum, dass sich diese Katastrophe bei meiner Frau wiederholt. Werde auch ich eines Tages die Empfindung kennenlernen, sterben zu wollen? In jungen Jahren schwätzenvieleleichtfertigdahin:Älter als zum Beispiel siebzig will ich gar nicht werden. Das ist töricht. Niemand kann wissen, wie sehr er sich in entfernterer Zukunft an sein Leben klammern wird. Niemand kann aber auch garantieren, dass er es in allen künftigenSituationentunwird,wenner esheutetut.DieFragediewirunshier stellenwollen,istabereineandere:Wie gesund ist Herr Gärtner psychisch, unabhängig davon, welche Lebensperspektiven für ihn nach seinem schweren Schicksalsschlag realistischsind?
Ich bin erstaunt darüber, dass die Hausärztin dem Suizidkandidaten seelische Gesundheit bescheinigt –obwohl versucht worden ist, seine Krankheit zu behandeln. Welche Ärzte bitte verschreiben Tabletten gegen Depressionen jemandem, der an gar keinen leidet? Wie aus dem Hut gezaubert werden zwei Kurzgutachten präsentiert, ein Psychologe und ein Psychiater bekräftigen Gärtners psychischeGesundheitebenfalls.Mich reizt dessen Verhalten in dem Bühnenstückallerdingszusoetwaswie einemGegengutachten.
Ist sein Trauerprozess nach dem Ableben seiner Ehefrau gesund? Das ist unmöglich. Unmöglich nach seinen Schockerlebnissen, unmöglich nach derHilflosigkeit,derersichausgesetzt sah. Im ersten Jahr nach der Traumatisierung durch den Tod des EhepartnerssteigtdasSterberisikobei Männern über sechzig um 70% im Vergleich zur normalen Alterskohorte, bei Frauen um 27%. Trauer ist wie Entzug von Drogen, sie verursacht körperliche Schmerzen. Von einer posttraumatischen Belastungsstörung sollte ausgegangen werden. Trauer ist selbstverständlich keine Krankheit, dochdieBefindlichkeitdesTrauernden indemStückalsgesundzubezeichnen ist so abstrus, wie jemandem Gesundheitzuattestieren,dersichmit den komplizierten Folgen eines polytraumatisierenden Verkehrsunfalls abplagt.Sehrleichtverfestigtsichsolch intensive Trauer zu einer ausgewachsenen Depression. Es gibt für depressive Verstimmungszustände standardisierte Fragebögen. Ich habe dasVerhaltenderBühnenfigurmitzwei
häufig verwendeten DepressionsSkalenabgeglichen,einergeriatrischen des Klinikums von Bochum und der bekannteren von Hamilton, derselben, die auch Professor Pump gerne verwendet hat. In ersterer erreicht Gärtner elf von fünfzehn Punkten, von einer schweren Depression wird ab zehngesprochen:Gärtnerhatvielevon seinen Tätigkeiten und Interessen aufgegeben; er empfindet sein Leben als leer; ihm ist langweilig; meist ist er unguterLaune;erbefürchtet,dassihm Schlechtes zustoßen wird; er ist im Alltag unzufrieden; er ist lieber zu Hause,stattauszugehenundetwaszu unternehmen, das interessiert ihn überhauptnichtmehr;erfindetesnicht wunderbar, jetzt zu leben; er fühlt sich so, wie er jetzt ist, eher wertlos; er empfindetseineLagealshoffnungslos; und er glaubt auch, die meisten Leute habenesbesseralser.Dieseelffürein depressivesZustandsbildsprechenden Punkte gehen eindeutig aus dem Text des Theaterstückes hervor. Die Frage nach Selbsttötungsplänen stellt der BochumerTestgarnicht,HerrGärtner wäre laut diesem also selbst dann schwerkrank,wennergarkeineIdeen und Pläne diesbezüglich verfolgen würde. Schwerer zu beurteilen ist sein psychischer Gesundheitszustand anhandderSkalavonHamilton,welche auch ausdrücklich nach Suizidalität fragt: abgeprüft werden dieselben Symptome, aber auch die Schlafqualität,fürdiesichimStücktext kein Hinweis findet, sowie körperliche Symptome, hier spricht der Text nur vage von Alterswehwehchen. Auch nach Hamilton lässt sich aber eine mindestens mittelschwere Depression diagnostizieren.
Selbsttötungsakten geht so gut wie immer das „präsuizidale Syndrom“ voraus: Einengung, Todesphantasien, Selbstaggression.Entscheidendistder BegriffderEinengung(ErwinRingelhat diesen Ausdruck geprägt). Sie spielt sichaufvierGebietenab:
1.DiesituativeEinengung,dasheißt, dass der vor dem Suizid stehende Mensch sich real in einer tristen Lage befindet (oder auch wähnt!). Schwere Krankheit, Pleite, Kündigung, Verhaftung nach begangenem Verbrechen, das versteht jeder. Zu leben hat Gärtner nur noch wenige Jahre, ohne die geliebte Ehepartnerin, eine rapide Verschlechterung seines nochpassablenGesundheitszustandes ist eine sehr wahrscheinliche Perspektive.
2.DiedynamischeEinengung.Sieist wichtig,siebedeutet,ichzitiereRingel, „dass Affekte und Emotionen in eine einzige Richtung gelenkt werden und ausreichende Gegenregulationsmaßnahmen versagen“. Bei der HauptpersondesKammerspielsistdas sehr deutlich erkennbar: Gärtner schließt ausdrücklich aus, dass er in seinem Leben noch einmal Sinn oder gar Glück erfahren könnte. Seine Welt wird bald untergehen (situative Einengung), aber er pflanzt keinen Apfelbaum, es sei denn, man sieht seinen spektakulären Kampf für Euthanasie vor der Ethikkommission als solchen an, was der Leser selbst beurteilenmag.
3. Einengung der zwischenmenschlichen Beziehungen: Entweder vereinsamt der Suizidkandidat oder die
Beziehungen sind durch Entfremdung entwertet.
4. Einengung der Wertewelt: Immer mehr Lebensgebiete werden uninteressant, gleichgültig. Das bringt Gärtner im Stück ununterbrochen zum Ausdruck, es gilt auch für die Beziehung zu seinen Kindern und Enkelkindern.
Der Begriff der Einengung hat Kritik erfahren. Gibt es nicht auch andere Formen von Einengung als die depressiven, die zum Selbstmord führen? Fanatische Religiosität zum Beispiel kann auch Einengung bedeuten, sie wirkt dem Suizid in der Regel entgegen, wenn auch nicht immer, der Maniker ist in die Gegenrichtung eingeengt und setzt dadurch leichtsinnige Akte. Und schließlich geht jeder von uns mit Tunnelblick durch sein Leben, eine vollkommene Übersicht über alle Möglichkeiten ist ausgeschlossen, sie wäre sogar eine Form von Wahnsinn.
Aufgabe des Arztes oder Psychotherapeuten ist jedoch, den Klienten aus der Einengung herauszuführen, auf Apfelbäumchen hinzuweisen, die gepflanzt werden können. In ausgeprägten Einengungszuständen muss der Patient nicht nur von der Selbsttötung abgehalten werden, er ist zu überzeugen, überhaupt keine Entscheidungen zu treffen, die seinem Leben eine bedeutsame Wendung geben: Er soll keinen Kredit aufnehmen; er soll nicht die Wohnung wechseln;ersollseineBeziehungnicht beenden, aber auch nicht heiraten; er
soll nicht nahestehenden Personen etwas Wichtiges raten usw. Zum präsuizidalenSyndromzählenauchdie Selbsttötungsphantasien, über diese verliere ich keine Worte. Die Aggressionen eines Suizidkandidaten richtensichgegenihnselbst,imStück beeindruckt aber eine Passage, wo Gärtner den ärztlichen Sachverständigen feindselig attackiert. Ich will seine Vorwürfe gegen die Ärzteschaft nicht auf mir, als einem Arzt,sitzenlassen,ichwerdesieweiter untenzurückweisen.AberindieserWut auf Medizinerarroganz keimt vielleicht ein Ansatz dafür, dass Gärtner doch kein hoffnungsloser Fall ist, ja von seiner Suizidalität geheilt werden könnte. Ich würde ihm raten, genau diesen Hass auf Ärzte ordentlich auszuleben.
Dieses medizinisch-psychologische Mini-Gutachten von einem nicht beeideten Halbsachverständigen erhebt keinen Anspruch darauf, vor einem seriösen Gericht anerkannt zu werden. Aber den Fachgutachter, der die Traumatisierung, die Depression und die massive Einengung von Gärtners Psyche übersieht und ihn saloppfürgesunderklärenwürde,den möchteichgesehenhaben.EinAspekt hat mich sehr erschüttert: dass weder SchirachselbstnochdenRezensenten des Stückes noch einem Großteil des Publikums–mehrheitlichhatesimmer dafür gestimmt, Gärtner die Todespille zu geben - die schwere psychische Erkrankung des Protagonisten aufgefallen ist. Fangen wir mit dem Autor an: Hat er ungenügend recherchiert? Hat er die Hauptperson seines Kammerspiels wider besseres
Wissen für gesund erklärt, war er also unehrlich? Plausibel ist, dass er von medizin-, besonders psychiatriekritischemGedankengutbeeinflusstist. Als Vorbereitungslektüre zu meiner Kritik habe ich Jean Amérys „Hand an sichLegen“aufmerksamdurchgelesen, der Auschwitz-Überlebende, der sich wenigeZeitnachderPublikationdieses Buches aus dem Fenster gestürzt hat, hat einen beredten Advocatus diaboli abgegeben. Nicht haltbar ist Amérys Behauptung, Depression wäre gar keine Krankheit. Aber warum ist den Kritikern und dem Publikum die Behauptung, Herr Gärtner wäre gesund, nicht als der schlechte Witz aufgefallen,dersieist?Nichteinmaldie Vereinigung der deutschen Suizidhelfer, die bald nach Erscheinen von „Gott“ ihre Kritik in einem offenen Brief geäußert hat, hat dies in Frage gestellt. Der ehemalige Architekt ist „gesund, aber lebensmüde“, heißt es stereotyp, wenn das Stück in den Medien vorgestellt wird. Dieser Satz beunruhigt mich. Offenbar wird davon ausgegangen,dassmanineinemAlter vonweitübersiebzigsogutwieimmer nicht mehr leben möchte. Dann ist es das gute Recht jedes Menschen, endlich sterben zu dürfen. Dieses Postulat einer natürlichen, gleichsam physiologischen Lebensmüdigkeit in einem so fortgeschrittenen Alter entsprichtabernichtderWirklichkeit,es ist eine Klischeevorstellung, eine Ideologie. Und zwar eine ziemlich bösartige. Das Tückische an solchen Klischees und Ideologien ist: Sie sind so irreführend, dass nicht einmal das Gegenteildavonwahrist.ZudenZeiten von John Brown und Abraham Lincoln schallte der Ruf durch die Südstaaten,
dassdieafrikanischstämmigenSklaven Sklaven bleiben wollen, es gab in der Tat nicht wenige, die sich vor der versprochenen Freiheit fürchteten. Frauenwollennichtberufstätigsein,es ist zu viel Belastung für sie, tönen die Gegner des Feminismus – viele Hausfrauen sind wirklich zufrieden. Industriearbeiterwollennichtsanderes, als am Fließband zu stehen. Und so weiter, das sind die Ideologeme, die ungerechte Gesellschaftsverhältnisse stabilisieren. Und es schwadronieren häufig siebzig- bis neunzigjährige DamenundHerren,dassesdasBeste für sie ist, wenn sie endlich verscheiden, und viele glauben es ihnengern.Willmansieloswerden?Ich allerdings erlebte in meiner ärztlichen Laufbahn Personen dieses Alters, die dieser Schablone gründlich widersprachen. Ein Mann von zweiundachtzig, der übers ganze Gesichtstrahlte,weilervomDarmkrebs geheilt war. Eine neunzigjährige ExLehrerin, die mit mir über die AuferstehungdesFleischesdiskutieren wollte, auf die sie sich freute. Ein ehemaliger Bergarbeiter, 85, war glücklich, dass man ihn wiederbelebt hat. Und die, die unentwegt raunzen, dass sie genug haben von ihrem Leben? Vom Altern allein wird man nicht lebensmüde, es ist immer eine Depression oder eine sehr leidvolle Krankheit im Spiel. Warum höre ich dieses „Ich will sterben“ heute viel seltener als vor drei Jahrzehnten, als ich mich mit Vertretungen auf meine Tätigkeit als niedergelassener Allgemeinarzt vorbereitete? Heute gibt es die „selektiven SerotoninWiederaufnahmehemmer“, Depressionsmedikamente, die gerade bei
besonders lebenserfahrenen Leuten hervorragend wirken. Die können solche Jammereien umgehend beenden.Esisteindrucksvoll.
EstretendreiSachverständigefürdas Ethische vor die Kommission. Ein Verfassungsjurist erläutert, wie es in Deutschland zur Legalisierung der Suizidhilfegekommenist.Einsichtigist mir, dass die Beihilfe zu einer Handlung,dienichtstrafwürdigist,auch nicht ungesetzlich sein kann. Eine Textstelle sprang mir ins Auge: Wenn mandenfreienWillenernstnimmt,darf das Recht nicht einmal einen Unterschied machen zwischen dem Suizideinesgesundenjungenunddem eines kranken alten Menschen. Und hier komme ich zu einem für die medizinische Sicht auf den ärztlich assistierten Suizid entscheidend wichtigen Punkt, welcher auch sehr heikelist:DieNaturwissenschaftistsich weitgehend darin einig, dass der „freie Wille“ eine Illusion ist. Ich kann diejenigen dabei beruhigen, denen die personale Freiheit und Würde des Menschen in einem Rechtsstaat am Herzen liegt, mir tut sie das sogar besonders: mit Sigmund Freud lässt sich sagen, dass eine Illusion nicht dasselbe wie ein Irrtum ist. Ist die Aussage falsch, dass die Sonne im Osten auf- und im Westen untergeht? Für einen Touristen genügt dies, ein Reisemanager wirbt, ohne zu lügen: Genießen Sie die atemberaubenden Sonnenuntergänge in der Karibik! Anders der Astronom: Er kann sein Metier nicht ohne die Tatsache betreiben, dass sich in Wahrheit die Erde um ihre Achse dreht. Und das demonstriert auch den Unterschied
zwischen dem Juristen und dem Mediziner. Für ersteren ist der freie Wille unentbehrlich, das leuchtet ein. Der Arzt ist aber Naturwissenschaftler, er findet sich in einer Position wieder, die der des Astronomen entspricht: HinterdemAnscheinderWillensfreiheit stehen physikalische und chemische Prozesse, die sich streng naturgesetzlich, das heißt an sich willenlos vollziehen. Etwas überspitzt formuliert: Es gibt Willensfreiheit, sie besteht aber aus Determinismus. Jetzt protestieren manche im Namen der Quantenmechanik: Herrscht im subatomaren Bereich nicht unbegründbarer Zufall, der nur Wahrscheinlichkeitsgesetzen gehorcht? Dieser Zufall ist aber durch nichts steuerbar, auch er ist willenlos. Gewichtiger ist ein zweiter Vorbehalt: Esistnichtmöglich,perfektzumessen, zu beobachten, es schleichen sich unvermeidlich Fehler ein, außerdem können kleine Ereignisse dramatische Auswirkungen nach sich ziehen. Da sich diese Ungenauigkeiten bei komplizierten Prozessen summieren, lässtsichderMenschbeiallerstrengen Naturgesetzlichkeit dennoch nicht ausrechnen. Die Wissenschaft fasst dieses Phänomen mit einem Begriff zusammen,derzueinemModevokabel geworden ist: Chaos-Physik. Diese steht hinter der Willensfreiheit. Jeder niedergelassene Praktiker kann vom störrischen Willen seiner Patienten viele Lieder singen, trotzdem arbeitet derArztgleichsamhinterdenKulissen dieserFreiheit,obereswillodernicht. Den Patienten vom Gegenteil dessen zu überzeugen, was er möchte, ja ihn zu manipulieren (man nennt das Nudging),gehörtsehroftzurHeilkunst.
Es gibt antidepressive Medikamente, die die Suizidgefährdung anfangs erhöhen, wer ist im Unglücksfall verantwortlich? Wirklich der „selbstbestimmte“ Patient allein? Oder doch der Arzt? Dritte Personen? Und das ist der nächste wichtige Punkt: FreierWilleisteineIllusion,abererist trotzdemreal. Unbeeinflusster Wille ist eine Unmöglichkeit. 99,9 Prozent und mehr der von uns getroffenen Entscheidungen sind von anderen Personen beeinflusst. Für die gänzlich autonomeSelbstbestimmung,wiesiein Gesetzen zur Sterbeassistenz beschworen wird, bedeutet das ein Problem. - Nach dem Verfassungsjuristen Litten tritt der Ärztekammerpräsident Sperling auf und dannderBischofThielalsVertreterder Kirche. Ich will zuerst von letzterem sprechen, er trägt die bedenkenswertestenjuristischenEinwändegegen die ärztliche Suizidhilfe vor: Wenn ein Zurechnungsfähiger Anspruch auf Sterbehilfe hat, würde das diejenigen, die nicht Herren ihrer Sinne sind, aber unter unaushaltbaren Krankheitssymptomen leiden, nicht diskriminieren? Was ist dann mit dem Gleichheitsgrundsatz? Wenn dann fremdePersonenabschätzen,wasder WillederWillenlosenwäre,landetman wieder beim „unwerten Leben“ der Nationalsozialisten. Thiel beschwört unermüdlich, dass das Leben ein Gottesgeschenk ist, zu dem auch das Leiden gehört. Philosophisch ist es auch für Nichtchristen und Nichtbuddhisten, sofern sie ihre fünf Sinne beisammenhaben, nur allzu einsichtig, dass Leben zum beträchtlichen Teil aus Leid besteht, unvermeidbar. Für ärztliches Handeln
und ärztliche Ethik kann daraus aber keine Richtschnur abgeleitet werden, es ist nicht Aufgabe des Heilkundigen, dem Patienten den Sinn des Leidens auseinanderzusetzen, sondern es zu bekämpfen und zu lindern. Der Ärztekammerfunktionär tritt in der zeitlichen Reihenfolge schon vor dem Bischof auf, von Biegler und dann von demihnaggressivanfallendenGärtner selbst wird er auseinandergenommen, diskussions-technisch deklassiert. Hier möchte ich ausführlich antworten, fast PunktfürPunkt,denndafühleichmich persönlichherausgefordert.Bieglerhat recht mit manchem, was er gegen Sperling vorbringt. Aber Schirach scheint einem generellen Missverständnis dessen aufzusitzen, was ärztlicheTätigkeitist.SeinTheaterstück ist zwar Literatur, man muss nicht davon ausgehen, dass sich der Autor mit dieser in meinen Augen unsachgemäßenÄrztekritikidentifiziert.
Ein Anwalt muss weiters auch manchmal populistisch werden. Die Anwürfe bleiben aber unbeantwortet, und ich will das Stück mit meiner Entgegnung gleichsam ergänzen. Ich bin arrogant und respektlos, wenn ich keine Suizidhilfe betreibe beziehungsweise von ärztlicher Seite keine zulassen will, ich halte mich für Gott–daslasseichnichtsostehen.
Sperling, Präsident der Bundesärztekammer und Sachverständiger aus medizinischer und medizinethischerSicht,bautseinenAuftrittvor derKommissionaufeinemmoralischen Absolutismus auf, der sich noch dazu auf einen uralten Text beruft, den hippokratischen Eid. Moralische Werte sind aber etwas, was sich nicht
mathematisch oder naturwissenschaftlichbeweisenlässt.Isteswirklich schlimm, wenn ein Arzt auch den Tod des Patienten herbeiführt, um ihn von seinenSchmerzenzubefreien,sofragt Biegler. Dem Ärztekammerfunktionär fälltdannnichtsein,alssichweiterauf das Prinzip der Lebensheiligkeit zu versteifen, er dreht sich argumentativ imKreis.WoraufBieglermitUmfragen kontert, nach denen eine Bevölkerungsmehrheit befürworten würde, dass Ärzte bei Suiziden Schwerstkranker assistieren. Weil Sperling das Pferd beim Schwanz aufzäumt und mit Moral beginnt, rennt er ins offene Messer. Und weil er sich nicht in vorderster Linie an Faktizität hält, entgeht ihm auch eine Tatsache, die für die Beurteilung des Ethischen sehrwesentlichist.Ichhätteanseiner StellenichtvonBeginnwegmitMoral, sondern mit der Logik des Heilberufes argumentiert. Ein Arzt ist kein Moralpriester und kein Moralrichter. Wenn Ärzte das doch sind, sind sie sogar immer Pharisäer, da ist dem Tenor des Theaterstückes recht zu geben. Aber orientieren wir uns an einem konkreten Beispiel: Wenn ein Alkoholiker die Ordination eines niedergelassenen Praktikers betritt, verhält dieser sich anders als ein Gastwirt. Der füllt den Saufsüchtigen ab, ohne Moralbedenken, wäre eine absolute Ethik das entscheidende Kriterium, müssten sofort alle Wirtshäuser zugesperrt werden, desgleichenalleTabaktrafiken.EinArzt versucht den Alkoholkranken über Gefahren für Gesundheit und Leben aufzuklären und ihn zu einer Entzugsbehandlungzumotivieren.Der Patient hat alle Freiheit, zu sagen, er
säuft sich lieber tot. Die Rolle des Arztes ist dann aber zu Ende, er verkauft dem Patienten nicht aus Gründendes„Respekts“denStoff,den erbegehrt.Wasnichtausschließt,dass der Herr Doktor in seiner Freizeit mit dem Trunkenbold die nächste Spirituosenbude aufsucht, Dienst ist Dienst,undSchnapsistSchnaps,guten Eindruck macht der Mediziner damit nicht, aber es ist nicht verboten. Die BerufslogikdesMilitärshatmirmalein Leutnant des österreichischen Bundesheeres erklärt, ihr dürft euch festhalten: „Wir wollen unsere Feinde nicht töten, sondern nur vernichten!“ In OsteuropaläuftgeradeeinKrieg,wenn ich, sagen wir mal, ukrainischer Panzergrenadier bin und eine JavelinBatterie bediene, erfordert meine Aufgabe,dassjederSchusseinTreffer wird, auch wenn es ethisch falsch ist, dass der russische Panzersoldat im T 72 verbrennt. Brechen die feindlichen Tanks durch, so habe ich in meinem Job versagt. Ganz anders, wenn ich Militärarzt in derselben Armee bin und verwundete russische Gefangene behandle,ichhabedannversagt,wenn es mir nicht gelingt, sie zu retten, zumindest laut Genfer Konvention. Besonders anschaulich lässt sich Berufslogik jedoch gerade am Beispiel von Juristen erläutern: Staatsanwälte strebendiehöchstmöglicheBestrafung einesDelinquentenan,Strafverteidiger arbeiten dann richtig, wenn Vergewaltiger freigesprochen werden (Schirach hat darüber eine brillante Kurzgeschichte verfasst, gleich in seinem ersten Buch!). Was ist die AufgabeeinesArztesangesichtseines Selbstmörders?ErfälltihmindenArm, undzwarimmergegenseinenaktuellen
Willen,Selbstbestimmunghinoderher. AkutsuizidalePersonenhabeichschon oft,inZusammenarbeitmitderPolizei, in die geschlossene Abteilung der Psychiatrie eingewiesen, zu dieser Praxis stehe ich, sie ist völlig gerechtfertigt, da der Suizidär im Zustand seiner massiven Einengung vermindert zurechnungsfähig ist. Personen, die über längere Zeiträume hinweg an Suizid denken, muss ich in Zusammenarbeit mit Psychotherapeuten aus ihrer Einengung herauszuführenversuchen.
Und ich würde mit der Logik meines Berufesbrechen,wennichineinemFall den Feuerwehrmann, im anderen aber den Pyromanen abgebe. Der Schlüsselbegriff ist wiederum die Einengung: Es ist in der Wissenschaft umstritten, ob jede Selbsttötung einer Depressionentspringtoderobesauch denreiflichüberlegtenBilanzsuizidgibt.
Auch dem Bilanzselbstmord liegt aber Einengung zugrunde, und zwar aus einem trivialen Grund: weil Menschen im Leben immer verschiedengradig eingeengt sind. Deswegen darf es keine Rolle für den Arzt spielen, wie „rational“einSterbewunschist,ärztlich handelt er nur dann, wenn er der Einengung entgegenwirkt. Wann soll einArzteinemSelbstmörderindenArm fallen, wann nicht? Soll, wie in Schirachs Stück der Verfassungsrechtler Litten erläutert, eine Prüfung darüber entscheiden, ob ein Sterbewunsch „ernst gemeint ist“, ob er „gut überlegt“ ist, ob er „von Dauer“ und „nicht von Dritten beeinflusst“ ist? Dass vor allem letzteres ist eine Fiktion ist, habe ich erläutert.DasösterreichischeRechtist
daschonklarer:EsgibteineListevon unheilbaren Krankheiten und Leidenszuständen, bei denen der Patient eine Sterbeverfügung erlassen kann, zwei Ärzte müssen nur bestätigen, dass der Zustand des Patienten „aussichtslos“ ist. In beiden Fällen ist das aber erstens Entmündigung durch eine Expertokratie, wo es um „Selbstbestimmung“ gehen soll. Zweitens wird Einengung gleichsam staatlich als zutreffend beglaubigt. Ein Steven Hawking hätte unter Anwendung dieses Instrumentariums von einem Arzt zum Suizid geführt werden können, ehe er die Chance ausüben hätte können, seine bahnbrechendenErkenntnisseüberdie Strahlung Schwarzer Löcher zu entwickeln. An diesem Punkt kommen wir zur Ethik: Meine Ausführungen dürfen keineswegs in dem Sinn missverstanden werden, dass es nicht respektableGründedafürgebenkann, nicht mehr weiterleben zu wollen. Hawking hegte einen starken Todeswunsch und verfügte über zumindest gut klingende Gründe, Gärtner hat sie sogar auch. Aber der Mensch und das Leben lassen sich eben (Chaostheorie!) nie verlässlich ausrechnen,wiediejenigenmeinen,die die„Rationalität“einesSuizidsanHand irgendwelcher standardisierter Entscheidungsbäume oder gar Algorithmen und dergleichen (in Hinkunft Künstliche Intelligenz?) abschätzen wollen. Hawking traf ganz zufällig die Frau, die seinem vermeintlich hoffnungslosen Leben wieder Bedeutsamkeit verlieh. Das hätteunterbleibenkönnen,vielehätten dann, wenn er euthanasiert worden
wäre, gesagt: Es war das Beste für Steven, dass er gestorben ist. Auch in Gärtners Leben könnte jederzeit ein unverhofftes Ereignis eintreten, welches ihn veranlasst, seinen Todeswunsch abzublasen. Jeder Todeswunschistreversibel,derTodist es nicht. Das ist das Faktum, welches dieethischenÜberlegungenbestimmen muss. Die Wahrscheinlichkeit zukünftigen Lebensglückes und Lebenssinnsmagnochsogeringsein, derTodiststetszuhundertkommanull Prozent das Ende des Individuums, nicht zu neunundneunzig komma neunundneunzig Prozent. Wer bei einem Suizid assistiert, beschwört etwas Irreparables herauf, er teilt implizit die Anschauung, dass Sterben für den Suizidanten das alternativlos, unverrückbar Beste sei. Das ist viel drastischer, als den Suizidär zu „respektieren“:Wasfallenwill,dassoll manstoßen–istesSchirachbewusst, dass es genau das ist, was er zur Diskussion stellt? Josef Goebbels schrieb dieses Nietzsche-Zitat in sein Tagebuch an dem Tag, an dem Hitler dieTschechoslowakeiliquidierte.
Gärtners projektierter Suizid findet in derBerufslogikeinerheilendenPerson keinen Platz. Das Theaterstück endet mit Bieglers Plädoyer, er erzählt die rührselige Geschichte des französischen LinksintellektuellenEhepaares Gorz, welches gemeinsam in den Tod gegangen ist. Mein GegenbeispielistSimonedeBeauvoir: Zwei Jahre lang hat sie sich nach Sartres Tod durch ähnliche Seelenzustände wie Gärtner gequält, schlimmernoch,siesoffsichihreLeber kaputt. Doch von einem Moment auf
den anderen, blopp, war diese Phase zuEnde.SieteilteihrerAdoptivtochter Sylvie mit, dass sie wieder leben will. Sie unternahm mit ihr Reisen in die Vereinigten Staaten und nach Ungarn, sie engagierte sich in Mitterrands Regierung ehrenamtlich für Frauenrechte. Sie starb wenige Tage, nachdem die Sozialisten in Frankreich abgewählt worden waren, das war zu vielfürsie,dawolltesienichtmehr.
Ich möchte meinen Essay nicht beenden, ohne auf weitere Angriffe zu antworten, die Biegler und anschließendGärtnerselbstgegendie Ärzteschaft richten. Der Anwalt hat leider recht damit, dass die Palliativmedizin nicht zu hundert Prozent funktioniert. Es gibt Schmerzzustände, gegen die auch Morphium nicht mehr hilft, seit einigen Jahren ist die intrathekale Anästhesie eine Option, die wirklich jede Art von Schmerz beendet. Sie ist aber nicht jedermannsSache,dasiediesenauch dann unterbindet, wenn er biologisch sinnvoll ist. Morphium stillt aber nicht nurSchmerz,esversetztdenPatienten auch in Zustände seelischer Harmonie – und da frage ich mich, ob die Palliativmedizindiesbezüglichbisheute nicht zu wenig ehrgeizig ist. Warum werden Schwerkranke und Sterbende nicht ganz gezielt euphorisiert? So intensiv, dass es ihnen trotz aller sonstigen Qualen einen Grund zum Leben verschafft? Hochinteressante Perspektiven bietet auch die psychedelische Schiene: Psilocybin ist inderLage,radikaldieAngstvor dem Todauszuschalten.Esistsehrschwer zudosieren,undichhabenichtvor,es imFalldesFalleseinzunehmen,mirist
das Risiko eines Horrortrips von 1% immer noch zu hoch. Aber vielleicht entwickelt die Forschung Designerpräparate, die berechenbar genug sind für einen medizinischen Einsatz?WerSterbe-oderSuizidhilfein Anspruch nimmt, ist seelisch völlig gebrochen, und auch das will ich als Arzt nicht zulassen. Sollen Patienten überhaupt über die Hoffnungslosigkeit ihrerLageaufgeklärtwerden?
Nächster heikler Punkt: BehandlungsabbruchunterscheidetsichdemWesen nach von der gezielten Herbeiführung des Todes. Nicht die „Aktivität“ oder Nichtaktivität des Arztes ist das Kriterium, sondern was als Erfolg der Maßnahme anzusehen ist: Selten kommt es, wie Palliativmediziner mir erzählt haben, vor, dass Behandlungsabbrüche überlebt werden. Das gilt dann aber nicht als Misserfolg des ärztlichen Tuns, ÄhnlichesgiltfürdieTriage.
Dann noch ein Wort zum Begriff Selbstbestimmung: Mir kommt das Wort vor wie Orwellscher Newspeak. Mit einer Phrase, die nach Freiheit, nach Demokratie, nach mündiger Bürger klingt, wird das Grauenhafte verschleiert. Es geht aber bei der Sterbehilfe gar nicht um Selbstbestimmung, sondern um AnspruchsdenkenwievonSäuglingen: RichtigeMänner,heißtesineinemmit JosefHaderinderHauptrollebesetzten FilmüberdasThema,lassensichnicht von einem Arzt umbringen, sie schießen sich eine Kugel in den Kopf. Dasist„grausamerIrrsinn“,wieBiegler an einer Stelle anmerkt, aber erstens trägtder,derüberseineigenesLeben
bestimmt, auch selbst die Verantwortung dafür, zweitens ist es nicht wahr, dass Do-it-yourselfSuizidmethoden immer riskant und brutal sind. Das Internet ist voll von Ratschlägen für „sanftere“ Wege zum „selbstbestimmten“Ende,manbraucht nur die Webseiten einschlägiger Sterbehilfe-Vereinigungen aufzurufen. Bei Amazon sind ganze Handbücher erhältlich. Nicht alle Suizidwilligen sind körperlich dazu in der Lage, ihre Absichtauszuführen,undichhabegar nichts gegen die Straffreistellung der Suizidhilfe per se. Sie lässt sich nicht einmal verhindern, schenke ich einem Freund eine Flasche polnischen Wodka, habe ich keine Kontrolle darüber,obersieaufeinmalaustrinkt. Nur: Suizid ist keine medizinische Handlung.
Es gibt in der kurativen Medizin überhaupt keine „Selbstbestimmung“, weil weder der Arzt noch der Patient etwas bestimmen. Der Patient hat ein gesundheitliches Problem, der Arzt verfährt nach der State-of-the-ArtVorschrift, nach der so genannten Indikation. Der Patient kann ablehnen, wasderArztvorschlägt,dassistseine Freiheit. Für den Tod als Therapie kennt die Humanmedizin (im Gegensatz zur Tiermedizin) deshalb keine Indikation, weil eine solche das menschliche Leben auf Medizin reduzieren würde. Sie ist herausgefordert, etwas Besseres als den Tod allemal zu finden, wie es im Märchen von den Bremer Stadtmusikanten heißt. Und das kann sie allemal, vor allem wenn man bedenkt, dass die unerträglichsten Beschwerden sich gar nicht bei
Palliativpatienten finden, sondern bei Unfallopfern. Ethische Doppelstandards funktionieren in der Medizin auch nicht. Es sind nicht Indikationen haltbar, die der eine Mediziner mit seinem Gewissen vereinbaren kann, der andere nicht. Schirach will eine pluralistische Ethik gesetzlich verankern, in der Gläubige des fliegenden Spaghettimonsters ebenso zu ihrem Recht kommen wie Nihilisten; in der Medizin ist das abstrus.
Gärtnerkannberuhigtsein,ichwillihn nichtzueinemKlempnerschicken.Die Installateure wären entrüstet, wenn ihnen die Aufgabe übertragen wird, Todeswillige zu euthanasieren. Wer kann es noch tun, das Militär, die Polizei? Die reißen sich darum auch nicht. Oder gar die Kirche? Warum sollen wir Ärzte uns den Schwarzen Peter zuschanzen lassen? Es wird schwierig. Bin ich wirklich so arrogant, dass ich meine Meinung alsArzt über die meiner Patienten stelle? Warum habenwirÄrzte,wieGärtnermeint,so wenigVertrauenzuihrenPatientenund zur Mehrheit der Gesellschaft? Eben weil es unser Beruf ist, nicht zu vertrauen. Wir müssen stattdessen hinterfragen. Respektvoll hinterfragen, ja. Aber Schirach selbst hat die sehr treffenden und berechtigten Begriffe Schwarmdummheit und Schwarmbösartigkeit geprägt, der Beifall der Mehrheit zur Suizidassistenz und EuthanasieistkeinArgument.Nichtdie Volksmehrheit, sondern die Wissenschaftleitetuns,diesermüssen wir vertrauen, weil wir nichts Besseres zur Verfügung haben. Es wird auch Medizinausgeübt,diewissenschaftlich
nicht faktenbasiert ist, ich habe von dieser Art Heilkunde keine hohe Meinung. Außerdem kennen wir Ärzte unsere Pappenheimer: Patienten wollen sich Krankenstände erschwindeln. Patienten sind tablettensüchtig. Patienten begehren Renten.AnderesindebenderAnsicht, dassesdasBestefürsieist,wennsie sterben, und sie sempern. Wir sind verpflichtet, zu allen menschlich zu sein: Das beinhaltet aber, dass wir ihnenzuverstehengeben,dasssiesich irren können, und auch uns das einzugestehen,dasswirnichtunfehlbar sind. Und genau deswegen, weil wir Zweifel, und seien es Restzweifel, am Patienten und an uns selbst, niemals ignorierenundbeiseiteschiebendürfen, dürfen wir uns nie, nie zu so etwas Zweifelbefreitem hergeben, Patienten tödlicheMittelzugebenoderihnenbei der Selbstauslöschung behilflich zu sein. Unser Beruf beinhaltet durchaus gottähnlicheVerantwortung,aberohne dasswirübergöttlicheMachtverfügen. Das ist dieAbsurdität, die Verrücktheit unsererProfession.Schirachweißsehr genau, wie verrückt so eine Verantwortung ist, das hat er mit seinem Theaterstück „Terror“ eindrücklich gezeigt. „Gott zu sein“ maße ich mir erst dann an, wenn ich keine Zweifel mehr zulasse. Ja, diese Versuchunggibtes.
Aus der Perspektive der Philosophenstube mag es sich klar anhören: Jedes Leben gehört einem selber. Was ist dann mit anderen Personen, die einem Verstorbenen nahestehen? Ich beschließe meinen Text mit der Schilderung eines persönlichen Erlebnisses: Samstag-
abend-Bereitschaftsdienst, das Handy scheppert,eineKrisenintervention.Der Sohn eines schon seit drei Jahren verwitweten Familienvaters hat sich gerade das Leben genommen. Der katholische Pfarrer und eine Psychologin sind vor Ort, ich soll dazukommen.Ichbetreteeinwinziges, schmutziges Kellerzimmer, Gerümpel im ganzen Raum, Schimmelduft, das Licht kommt von einer matten Funzel. Der Vater des Selbstmörders sitzt zusammengesackt auf einem Klappstuhl,verbirgtseinGesichtinden Händen und winselt. Ähnlich einem getretenen Hund, nur unheimlicher, pianissimo, monoton. Zwei junge Frauen legen ihre Arme auf seine Schultern, der Pfarrer,die Psychologin und ich stehen gemeinsam im Hintergrund,niemandsagteinWort.Mir fällt genau jetzt ein schreckliches Erlebnis meines Großvaters aus dem Zweiten Weltkrieg ein. Während der InvasionderAlliierteninderNormandie lag die Infanterieeinheit, in der er diente, mehrere Stunden lang unter Artillerie-undMaschinengewehrfeuerin Deckung, niemand konnte reagieren, die kleinste Bewegung hätte den Tod bedeutet. Und so war es bei dem verzweifelten Familienvater auch: NiemandbrachteeinWortheraus,weil jedes, das ausgesprochen worden wäre, falsch gewesen wäre, alle spürten das. UnsereAnwesenheit war alles,waswirtunkonnten.EinMuckser, undmanistabgeschossen.Todistnicht Friede.EristGewalt.
Ich muss zu denen, die nahestehende Menschen durch Suizid verlieren, genausoloyalseinwiezudenen,dieihr Leben (das nur ihnen gehört, ich
bestreite das nicht) nicht mehr lebenswertfinden.Ichmuss.
ÜberdenAutor:
Dr. med. Werner Begusch ist Arzt für AllgemeinmedizininVoitsberg
Prof. Dr. Gerald Pump
Wie kam die Blödheit in unser Land?
WiekamdieBlödheitinunserLand?
DerLegendenachüberdieEinwohner derStadtSCHILDA:
Ursprünglich-unddasistinteressantwaren die meisten Bürger dieser ehrsamenStadtklugundweise,sodass sie bei den Großen, den Fürsten, Königen, Staatslenkern der Welt ungeheuer geachtet und angesehen waren. Sie schlichteten Streitigkeiten, ebneten Kriegsparteien den Weg zum Frieden, sanierten Staatshaushalte und verhalfen der Gerechtigkeit zum Siege. Ein goldenes Zeitalter hätte für die Erde anbrechen können, wenn es da nicht die Unzufriedenheit der Zurückgelassenen gegeben hätte, die sich über die Abwesenheit der Ihrigen kränkten,zumalauchinderStadtselbst ohnedieAusgesandtenallesdenBach hinunterlief (jaja, das waren noch Zeiten, als die Frauen ohne Männer nichtlebenkonnten).
„BlödheitistaucheineGabeGottes.
Mandarfsieabernichtmissbrauchen “
PapstJohannesPaulII
AlsoordnetederAltenratderStadtan, alle Ausgesandten zurückzuberufen, um hinfort alleine für die Stadt Schilda tätig zu sein. Um jedoch auswärtigen Verpflichtungen nicht mehr nachkommen zu müssen, wurde beschlossen,derWeisheitzuentsagen. InderTatkonntemanimLaufederZeit immer eigenartigere Verhaltensauffälligkeiten der Schildbürger feststellen,welchedannspäteralsihre Streichebekanntwurden.
Zum Beispiel das Erbauen eines dreieckigen Rathauses ohne Fenster, dieBeseitigung desBeleuchtungsproblems durch Transfer des SonnenlichtesmittelsTruhenetc.,etc.
Ihrer letzten und größten Blödheit war es dann zu verdanken, dass die Stadt
Schilda durch einen selbstverschuldetenBrandvernichtetwurde
DaraufhinwandertendieÜberlebenden dieserTragödieinalleWeltaus,einige nach Wien, nach Graz, natürlich auch sehr viele nach Voitsberg, viele nach Washington, Moskau, ebenso sehr, sehrvielenachBrüssel.
Wiesagteschoneinstensderdamalige Bundeskanzler Sinowatz: “Die Dinge sind sehr kompliziert!” Damit hat er auch wahrlich recht, wenn es um IntelligenzundDummheitgeht.
Wir brauchen eine Ausgangsdefinition, zumindestfürdenHausgebrauch:
Alsdann: Als Dummheit bezeichnet mandieUnfähigkeitzurzweckmäßigen Lösung der Lebens- , Berufs- (und erweitert sozialer und politischer) Aufgaben.DasMittel,dessenmansich zur Lösung einer Aufgabe bedient, nennt man: Das Denken. Die Verstandestätigkeit wäre unter anderemdieBereitschaftWesentliches von Unwesentlichem zu trennen, Begriffe zu bilden, sie miteinander mit Vorstellungen zu erfassen, um daraus ein Urteil abzuleiten. Zusätzlich das Gedächtnis. Es gibt Gedächtnisleistungen ohne Intelligenz, aber keine IntelligenzleistungenohneGedächtnis.
Das wichtigste Werkzeug der Intelligenz ist die Sprache und die Fähigkeit zur Kommunikation. Verkomplizierend, als zusätzliche Faktorenwirken-positivodernegativgenetische, biographische, kulturelle, psychosozialeundvermutlichregionale Faktoren. (Anmerkung: Auf die psychiatrisch-psychologisch psychodynamische Bewertung des Ausgangsthemas muss wegen der
Kürze der Lebenszeit verzichtet werden.)
Unter demregionalen Aspekt verstehe ich die merkwürdige, wissenschaftlich nicht nachzuvollziehende Tatsache, dass z. B. kommunal-gesellschaftlich politischeAbläufe ineinerRegion,zum Beispiel der Weststeiermark, dann in Köflach als Blödheit, in Voitsberg aber alsdasGegenteildargestelltwerden.
Hinzu kommen - damit möchte ich mit derTheorieenden-Konstrukte,welche man in Individual- und Massendummheit differenziert. Böse Menschen haben schon immer versucht, die Religion als Massenverdummung darzustellen (Opium für das Volk, Karl Marx). Der gute Karl würde sich wohl vor lauter Lachen im Grab umdrehen, sollte er von den religiösen Weltaktivitäten der heutigenZeiterfahren.
In der Folge möchte ich Ihnen angemessenkurzausdemLebenslauf einigerechtenGeniesberichten,damit wirsehen,dassauchhoheIntellektuelle in ihrem Leben nicht von Dummheit undderdarausabgeleitetenBlödheiten verschontwordensind-seiesdurchsie selbst inszeniert, über Partner, die Presse,dieGerüchtederFeinde,oder über Aussagen "wohlwollender Freunde",aberauchdurchKrankheit.
Die Blödheit des Einzelnen ist eher harmlos, wenngleich für ihn fatal. Erst durchmanipulativesVerhaltenzueiner Bezugsgruppe ähnlich gestimmter Typen erzielt die Blödheit ihr hohes MaßanEffizienzundDestruktivität.
Mahler, weltberühmter Komponist, Dirigent,WienerHofoperndirektorund Gropius,diesergenialeArchitekt-was verbindetdiebeiden?
Wie das halt schon des öfteren vorgekommen ist, die Ehegattin Mahlers,Alma.
Man muss wissen, Mahler hat viel zu tun, er hat zu arbeiten, er sollte Symphonien komponieren (letztendlich schafft erneuneinhalb, immerhin mehr alsBeethoven)-erhateinenHangzum Perfektionismus,seinTageszeitplanist penibeleinzuhalten.
Im Ausseerland lernt er die bedeutend jüngereAlmakennen.Beidewarenmit dem Velociped (Fahrrad) unterwegs. Alma, aus einer Künstlerfamilie stammend, war hochgebildet, etwas zickig-hysterisch und fühlte sich berufen, dem Künstler eine Muse zu sein (nicht zum letzten Mal in ihrem Leben).InderdamaligenZeithattedie Muse die Aufgabe das Genie zu inspirieren,ihnsexuellzubeflügeln,bei ihmzu sein,wenneranDepressionen litt, ihm lästige organisatorische Aufgaben abzunehmen, sich um die gemeinsamenKinderzukümmernund Zukunftsplänezuentwickeln.
AlsowurdeAlmavonihremGatten,um sich zu erholen, auf Kur geschickt. In das weststeirische Tobelbad. Dort weilte eben auch der berühmte deutscheArchitektGropius.Mansetzte sich zusammen, tafelte miteinander, blickte sich tief in die Augen, ging spazieren-undlandeteletztendlichim Bett.
Dasgingnuneinezeitlangsoweiter,bis GropiuseinesTageseinenLiebesbrief an Alma dummerweise an Gustav Mahler adressierte. Alma legte den Brief, der die Handschrift ihres Geliebtenaufwies,ohnenachzudenken zur Post ihres Gatten auf das Klavier. Die folgenden üblen Turbulenzen führtendazu,dassAlmadieBeziehung zuGropius(vorerst)beendete,umihren schwer kranken Mann nicht zu belasten.BeiseinemBegräbnishatsie sich jedoch nicht blicken lassen und späterGropiusgeheiratet.(Eswarnicht ihreletzteEhe.)
Bewertung: Blödheit aufgrund einer Freud‘schenFehlleistung
Er galt und gilt als einer der größten Denker und Philosophen deutscher Zunge. Einige Referenzen: STEFAN ZWEIG: Der klarste, wissende Geist, derjeunterunsgewaltethat.THOMAS MANN: Goethe und Nietzsche führten die deutsche Sprache zur Vollendung. In seinen Schriften finden sich Ausdrücke wie "Herrenmoral" und "Übermensch", die faschistische Ideologenjubelnließen.Jedochspielen sie in dem über 8000 Seiten umfangreichen Gesamtwerk eine untergeordneteRolle; eherschonsein Bestreben, Gott und die mit ihm verbundenen Lehren radikal und konsequent anzugreifen, um sie zu vernichten. Viele Freunde hat er nie gehabt. Am 4. November 1888 vollendet er sein letztes Werk "Ecce Homo" bei klarem Verstand, am 5.
Dezember schickte er die Korrekturen an seinen Verleger. Danach beginnt schleichend der Wahnsinn. "Ich werde behandelt wie ein Prinz - ich bin es vielleichtauch."
1. Jänner 1889 - Nietzsche spricht auf derStraßeFremdeanundsagt:"Ichbin Gott" oder "Ich bin der Tyrann von Turin". In einer Turiner Zeitung wird festgehalten, dass am 3. Jänner 1889 ein Prof. Nietzsche aus Basel auf ein Pferd zugelaufen wäre, das vom Kutscher gepeitscht wurde, dem Ross um den Hals gefallen sei, es mit „Bruder“ angesprochen habe und danachzusammengebrochenwäre.
OberwirklicheinPferdumarmthat,ist unklar.Tatsacheist,dasserKlaviermit den Ellenbogen spielte oder nackt vor einem Bekannten tanzte, bevor er in das Jenaer Irrenhaus kam. Aus dem Klinikbericht:ErschlugFensterein,trat Mitpatienten, machte Bocksprünge, schliefmeistnebenseinemBett,aßKot und trank Urin, sich selbst nannte er "HerzogvonCumberland".
Auf Wunsch seiner Mutter wird er gedämpft entlassen, verbringt die siebenJahrebiszuihremTodeumhegt inihrerObhut.Danachübernimmtseine SchwesterdiePflegedesWrackes,das einmal Friedrich Nietzsche hieß, hüllt ihn in weiße Gewänder. Sie veranstaltetemusikalischeAbende,bei deneneinBlickaufdenWahnsinnigen gestattet war, der nur noch stumm, feindselig, verblödet im Rollstuhl hockte, seinem Tod entgegendämmernd.
Bewertung: Progressive Paralyse, damals unheilbares Endstadium der Geschlechtskrankheit Syphilis, einher-
gehend mit tiefer Verblödung. (Die eigentliche Blödheit des Genies dürfte dabei ursächlich der Bordellbesuch in Jena gewesen sein, bei dem er sich angesteckthatte).
Eines muss uns schon klar sein - das GenievondenbeidenwarWagner,der anderenurKönig.
Wagner war vielleicht der genialste Komponist der Musikgeschichte, hatte aber sehr merkwürdige Charaktereigenschaften und Lebensansichten.LegendärwardieAnhäufung seinerSchuldenunddie"Begleichung" derselbigen. Berühmt: die Flucht vor seinen Gläubigern aus Riga über die Ostsee mit erster Ehefrau und Hund. (Wagner war ein Hundenarr und Papageienliebhaber - Hunde und Papagei waren die einzigen, welche ihm beim Komponieren Gesellschaft leisten durften. Der Papagei konnte sogar kurze Passagen aus seinem Werkkrächzen.)
Kaum ein Mensch hat so viele Schnorrbriefe an Freunde, Verwandte, eigentlich an jeden, der etwas hatte, geschrieben, auch dann, als er schon angesehenundberühmtwar.Eswarfür ihnabsolutunfassbar,wenneinersein geborgtesGeldzurückhabenwollte.Er ließ sich buchstäblich von seinen Gönnern und Anhängern aushalten, wenn es um seine Domizile ging. Herr WesendonckkannwohleinLieddavon singen, hatte er für den Meister ein Haus in der Nachbarschaft adaptiert. Zum Dank sind in der Folge "echte"
Wesendoncklieder entstanden, inklusive einem Liebesverhältnis mit der Herrin des Hauses, Mathilde Wesendonck.
Hier kommt nun der homophile König LudwiginsSpiel.FürihnistWagnerund seine Musik dem lieben Gott ebenbürtig, man trifft sich, schreibt einander Briefe, die heute wegen der gegenseitigen Verherrlichungen recht schwülstigundeigenartigerscheinen.
Aus dem Briefwechsel: Ludwig an Wagner: “Ein und All! Inbegriff meiner Seligkeit... Erhabener, göttlicher Freund... Wonne meines Lebens… O
Heiliger, ich bete Dich an.”Wagneran Ludwig: “Mein angebeteter, engelsgleicher Freund!” undsoweiter undsoweiter.
Wagner hat eine neue Geldquelle gefundenundlässtsievieleJahrelang sprudeln. Ludwig, von Haus aus eine problematische Persönlichkeit, gerät wegen seines Anspruches absoluter Regierungsmacht und seiner größenwahnsinnigen, geldverschlingenden Monsterbauten immer mehr in das Visier seiner Gegner. Beamte, Presse und die manipulierte Öffentlichkeit bringen es zuwege, dass Wagner aus München gehenmuss.
Über sein Leben hin hat Ludwig II Wagner die Treue gehalten, seinen Ruhm und seine Ökonomie gemehrt. FürihnselbsthatesdasSchicksalnicht gut gemeint. Nicht nur wegen seiner gigantischenStaatsausgabenwurdeer fürverrückterklärt,alsKönigabgesetzt, unter Kuratel gestellt und ist unter bis heute nicht geklärten Umständen im Rahmen eines Spazierganges mit
seinem Leibpsychiater im Starnberger Seeertrunken.
Bewertung: Die Blödheit des Königs liegt im Abhängigkeitssyndrom gegenüber RichardWagner.Fürdenin seiner Persönlichkeit gestörtenKönig, der offensichtlich gegen Ende seines Lebens auch noch psychotisch wurde, wardieseBeziehungfatal.
Dummheit und Blödheit sind universell und Bestandteil des menschlichen Lebens. Warum gibt es so wenige Genies?EinerspeziellenTheorienach, weildieBlödendenAufstiegderGenies zumeist verhindern und blockieren, da sie sich selbst für die wahren Genies halten.
Wie auch immer: der Text sollte versöhnlich enden. Wie soll man sich gegen Dummheit wehren? Mit zwei Eigenschaften, welche auch für unser Leben bestimmendseinsollten:
MITHUMORUNDEINEMGEWISSEN MASS AN KRITISCHER BEOBACHTUNGSGABE UNSERER UMWELT UND UNSEREM SELBST GEGENÜBER.
ZumAutor
Prof.Dr.GeraldPumpwarFacharztfür Psychiatrie und Neurologie in Voitsberg, Gründer und Mehrheitsgesellschafter des Psychosozialen Zentrums Voitsberg, Autor und Vortragender
Der vorliegende Text ist ein Fragment ausdemNachlass.
Alexandra Schlack
ZumInhalt
Schulden hat niemand gerne. Sie beeinträchtigen nicht nur die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und die Möglichkeit, am Leben, das nun einmal mit Konsum verbunden ist, teilzunehmen, sondern sie belasten auch die Psyche Nicht die Staatsschulden, nicht die Unternehmensverbindlichkeiten, sondern die Schulden „des kleinen Mannes“, der Privatperson, sollen im folgendenGegenstandderBetrachtung sein.
Als Schulden bezeichnen wir Verbindlichkeiten des Einzelnen gegenüber einem oder mehreren Gläubigern.AuswelchemGrunddiese Verbindlichkeiten entstehen, mag vorweg außer Betracht bleiben Solange die Höhe der Schulden die Schuldentragfähigkeit nicht übersteigt, eralsoinderLageist,seineSchulden samtZinsenausseinemVermögenzu tragen ohne in seiner Existenz gefährdet zu sein, wird der Schuldner für seine Gläubiger nicht auffällig werdenundmitseinemSchuldenstand und Schuldendienst (also der Rückzahlung) wohl gut zurechtkommen. Das Eingehen von Schulden ist grundsätzlich auch nicht verwerflich und Bestandteil des Wirtschaftslebens: gut 40% jener Österreicher, die sich Wohnen im Eigentumleistenkönnen(dassindnicht ganz 50% aller Hauptwohnsitze) nehmen Kreditfinanzierungen für ihre Wohnung in Anspruch. Quer über die gesamte Wohnlandschaft (also
einschließlich Miet- oder Genossenschaftswohnungen) nimmt jeder fünfte HaushalteinenKreditauf.
SchuldenalsKrise
ProblematischwirddieSituationfreilich dann, wenn die Schulden aus dem EinkommenoderVermögennichtmehr bedient werden können – wobei die Krisenaturgemäßschondannbeginnt, wenn das Einkommen zur Schuldentilgung nicht mehr hinreicht undmitdemGriffindieSubstanz,also insVermögen,kalkuliertwerdenmuss.
Werden Schulden zum Problem, so entwickelt sich daraus ohne entsprechende Gegenmaßnahmen (sofern diese überhaupt greifbar sind) rascheineSpiraleannegativenFolgen: Liquiditätsengpässe führen nicht nur zur Säumnis in Bezug auf die ursprüngliche Verbindlichkeit sondern schnell zu Verzug bei anderen anstehenden Zahlungen, sodass aus einer Vielzahl von Verpflichtungen praktisch ein Domino-Effekt entsteht –die Folge sind erst Mahnungen, dann gerichtliche Betreibungen, schließlich ein Schuldenszenario, in dem die ursprüngliche Verbindlichkeit in einem Berg von Schulden geradezu verschwindet: Mahn-, Prozess- und Exekutionskosten,Zinsenundnatürlich Kapitalrückzahlungenwerdenzueinem unübersichtlichen Knoten. Daraus wiederläuftderSchuldnerGefahr,den Überblick über seine Verbindlichkeiten zu verlieren – was auch regelmäßig passiert.
EineebensoinderPraxisimmerwieder beobachtete Folge: der Schuldner resigniert gegenüber seinen Verbindlichkeiten, kümmert sich um
derenErledigungüberhauptnichtmehr. gerätnochtieferindenSchuldensumpf undentwickeltunterdemDruckseiner Verbindlichkeiten, der ihn regelmäßig auch aus Bereichen der Konsumwelt ausschließt,psychischeStörungen.Die Schuld an seiner Situation schiebt der Schuldner dann typischerweise auf andere, er vernachlässigt sich selbst und öffnet, wiederholt festzustellen, nicht einmal mehr seine Post: immer wiedersindFällen,indenendanndoch irgendwie, meist durch das Eingreifen Dritter, eine Aufarbeitung der Situation inAngriffgenommenwird,stapelweise ungeöffnete Mahnschreiben und Gerichtspostaufzufinden.
Schuldenschließensomitnichtnurden Schuldner durch Verlust seiner Kaufkraft vom Allgemeinleben aus (regelmäßigsindjaauchEintragungen indiverseBonitätsdatenbankenerfolgt), sondern sie beeinträchtigen auch die psychischeGesundheitdesSchuldners undoftauchseinerFamilie.
Schulden haben aber auch Auswirkungen auf die Gläubiger: nicht nur, dass einerseits ein Forderungsausfall droht, wird andererseits durch die Auskoppelung des Schuldners aus dem Wirtschaftskreislauf (er kann ja nichts mehr konsumieren) auch die laufende Absatzmöglichkeit gemindert. Womit wirwiederbeiAnfangsind:
Schuldenhatniemandgerne.
HistorischerAnsatz:Schulderlass
Seit alters her ist somit die Frage, ob und unter welchen Bedingungen dem Schuldner ein Erlass seiner
Verbindlichkeiten eingeräumt werden soll,amTisch.
Einen eigenwilligen Zugang zum ThemaeinesSchulderlassesweistuns die Bibel. Eigenwillig, weil offenkundig schondamalsein„Ausländer-Problem“ bestanden hatte: „Alle sieben Jahre sollst du ein Erlassjahr halten. So aber soll’s zugehen mit dem Erlassjahr: Wenn einer seinem Nächsten etwas geborgthat,dersoll’sihmerlassenund soll nicht eintreiben von seinem Nächsten oder von seinem Bruder; dennmanhateinErlassjahrausgerufen demHerrn.VoneinemAusländerdarfst du es eintreiben; aber was du deinem Bruder geborgt hast, sollst du ihm erlassen“1) Nach diesem Konzept hatten, freilich beschränkt auf die Angehörigen ihres Volkes, alle Israeliten jeweils alle sieben Jahre die Möglichkeit eines vollständigen Schuldenerlasses. Schon damals wurdealsnegativeFolgekritisiert,dass Israeliten mit schlechter Bonität bei herannahen des Erlassjahres keine Kreditemehrbekamen.
Seisachtheia, der Titel dieses Beitrages, stammt aus dem Altgriechischen; das Wort bedeutet „Lastabschüttelung“. Mit seinen ReformenversuchteSolon594v.Chr. einenSchulderlasszurAbwehrsozialer Spannungen durchzusetzen; dieser bezog sich vor allem auf den damals schwer verschuldeten Bauernstand, wobeiallerdingsdavonauszugehenist, dass es sich dabei weniger um einen Schuldennachlass sondern um eine Entschuldung gehandelt hatte: nach demWiderstandderAristokratieseidie Begleichung der Verbindlichkeiten zumindest teilweise durch den Staat
erfolgt,wobeiSolonsTextenurnochin Fragmenten vorhanden sind. Aristoteles berichtet dazu: „Er [Solon] erließauchGesetzeundverkündetedie Tilgung der Schulden, sowohl der privaten wie auch der öffentlichen. Diese Tilgung nennt man Lastenabschüttelung, da man buchstäblich die Schuldenlast abschüttelt“. 2)
Einbringung durch staatlichen
Zwang: Exekutions- und Insolvenzverfahren
Das Rechtssystem der Moderne kennt Zwangsmittel, die dem Gläubiger zur Einbringung seiner Forderungen offenstehen. Im Regelfall wird die Betreibung von Schulden dann, wenn außergerichtlich keine Lösung erfolgt, imWegederEinzelexekutionerfolgen: der jeweilige Gläubiger erwirkt gegen den Schuldner einen „Exekutionstitel“, also ein Gerichtsurteil oder einen Zahlungsbefehl,aufgrunddessendann Exekutions-, also Einbringungsmaßnahmen getroffen werden.DasExekutionsrechtbietethier einePalettevonMöglichkeiten,vonder „Fahrnisexekution“, bei der das bewegliche Vermögen des Schuldners verwertet wird, über die „Gehaltsexekution“, die Versteigerung oder Verwaltung von Liegenschaftsvermögen bis hin zur „Gesamtvollstreckung“.
Haben die Schulden ein bestimmtes Ausmaßerreicht,sowirdimWegeder Einzelexekution letztlich kein auch für den oder die Gläubiger befriedigendes Ergebnis erreicht werden und letztlich die Betreibungskosten die
eingebrachten Forderungsbeträge übersteigen oder zumindest in der Erfolgsrelation nicht mehr weiter sinnvoll machen – was in vielen Verfahren in der Praxis an der Tagesordnungist.
Dazumussmanauchwissen,dassdas Gesetz zum Schuldnerschutz Einschränkungen in der Exekutionsführung vorsieht: bestimmte Gegenstände sind der Pfändung entzogen,demSchuldnerhatauchsein Existenzminimum zu bleiben – ein Betrag der beispielsweise bei einem Nettoeinkommen von € 1.500.- bei einem Alleinverdiener ohne Unterhaltspflichten€1.444,-beträgt.Ist derSchuldneraberverheiratetundhat SorgepflichtenfürzweiKinder,soistbis zueinemBetragvon2.149.-/Monatkein exekutiver Abzug möglich. Darüberhinaus sind verschiedene Exekutionsmittel nur in gewissen zeitlichenAbständenmöglich–dashier im Detail anzuführen würde den Rahmensprengen.
Zurück an den Start: „Schuldenreset“?
„Wonichtsist,hatderKaiserdasRecht verloren“ lautet ein Sprichwort. Wenn nun praktisch ohnehin kein Betreibungserfolg mehr möglich ist –zurückandenStart?
„Privatinsolvenz“ – der Weg aus der Krise?
EindurchdenGesetzgeberverordneter Schulderlassistjedenfallseinmassiver Eingriff in Gläubigerrechte und die Rechtssicherheit. Mit der Einführung
der „Privatinsolvenz“ sieht auch die österreichische Rechtslandschaft eine Seisachtheia, eine „Lastenabschüttelung“vor.
Schuldner, die kein Unternehmen betreiben (die Betrachtung der Unternehmensschulden schließen wir ausdiesemBeitragaus) könnenihren Gläubigern in einem gerichtlichen Schuldenregulierungsverfahren einen Zahlungsplan vorschlagen: dieser ist nicht an eine bestimmte an die Gläubiger auszuzahlende Mindestquote gebunden, er muss nur mindestens der Einkommenslage der nächstendreiJahreentsprechen.
Bei unserem Alleinverdiener aus dem obigen Beispiel wäre der aufzubringendeBetragalsomindestens €2.352,-(€56,-monatlicherAbzugx14 Bezüge x3 Jahre). Hätte er also € 100.000,- an Schulden, so müsste er damiteineQuotevon2,352%anbieten, das heißt, jeder Gläubiger erhält auf seineForderunglediglichdiese2.352% und muss den Rest abschreiben: die Zahlungsfrist dafür darf maximal fünf Jahre dauern, der Schuldner ist mit Erfüllung seiner Quotenzahlung entschuldet. Allerdings bedarf ein solcher Zahlungsplan der Zustimmung der Mehrheit der Gläubiger; liegt so eine Zustimmung vor, dann gilt diese aber auch für die überstimmten Gläubiger. Mit anderen Worten: die Mehrheit der Gläubiger bestimmt über dieEntschuldungdesSchuldners.
Kommt ein Zahlungsplan nicht zustande, weil er etwa unzulässig ist oder eben von den Gläubigern nicht angenommen wurde, gelangt der Schuldner ins „Abschöpfungsverfahren“; auf die Dauer von drei
Jahren (in besonderen gesetzlichen Fällen fünf Jahren) werden die pfändbaren Bezüge des Schuldners „abgeschöpft“ und an die Gläubiger verteilt. Ist nichts abzuschöpfen, weil der Schuldner etwa zu wenig verdient oderentsprechendeUnterhaltspflichten hat, so wird auch nichts an die Gläubigerverteilt:wieauchimmer- das Gericht erteilt am Ende des Abschöpfungsverfahrens dem Schuldner die „Restschuldbefreiung“: er ist entschuldet, egal welche Quote (vielleicht auch gar keine) an die Gläubiger verteilt werden konnte: Die Gläubiger haben hier kein Zu- oder Abstimmungsrecht, die Entschuldung istpraktischeineFolgedesZeitablaufs. Seisachtheia!
2023 wurden in Österreich rund 8850 Privatinsolvenzen eröffnet, im den erstendreiQuartalen20246.692Fälle; die durchschnittliche Verschuldung beträgtdabeiaktuellrund114.000,-und ist daraus für 2024 ein Forderungsvolumen von rund 1,048 Milliarden Euro zu erwarten.3) Statistisch werden mehr Männer als Frauen insolvent, der Hauptanteil liegt inderAltersgruppezwischen40und59 Jahren,hochauchderAnteilder25bis 40-jährigen.
67% der Privatinsolvenzen enden mit einemZahlungsplan,31%kommenins Abschöpfungsverfahren.
KritikanderderzeitigenRegelung
InderKritikstehtvorallem
die (nur) dreijährige Entschuldungsdauer,
der (nur) dreijährige Beobachtungszeitraum für die „Angemessenheitsprüfung“
das Fehlen einer Mindestquote und
geringe Anforderungen zum „Wohlverhalten“desSchuldners.
Überblickt man die Insolvenzursachen im Privatbereich, so steht das „persönliche Verschulden“ im Vordergrund - die Überschätzung der eigenen Leistungsfähigkeit oder ein „überbordendesKonsumverhalten“.
Aus Gläubigersicht ist die Entschuldungsdauer von drei Jahren inakzeptabel,daes„denverschuldeten Menschen sehr leicht gemacht wird, ihre Verbindlichkeiten relativ rasch wieder loszuwerden, obwohl ‚persönliches Verschulden‘ die dominierende Insolvenzursache ist“, wobei sich die Quotenanbote in der laufenden Periode verschlechtert haben. 4)
Die ursprüngliche Intention des Gesetzgebers, für den Schuldner eine Entschuldungsvariante unter maximaler Anstrengung seiner Ressourcen und dementsprechend auch eine faire Quote für die Gläubiger zu schaffen, wurde im Zuge der Novellierungen unter EU-Vorgaben aufgeweicht: war ursprünglich noch eine mindestens 10%ige Quote aufzubringen und die Angemessenheitsprüfung auf fünf Jahre erstreckt, so wurde die Mindestquoteüberhauptfallengelassen und die Angemessenheitsprüfung von fünf auf drei Jahre reduziert, auch die Tilgungsdauer im AbschöpfungsverfahrenwurdeaufdreiJahrereduziert.
Wird die volkswirtschaftliche Komponente dabei zugunsten einer Sozialphantasie außer Acht gelassen, indem man es toleriert, eigene Verbindlichkeiten bis zum Nulltarif auf dieAllgemeinheitabzuwälzen?
Schulden lösen sich ja nicht auf, es bezahlt sie nur jemand anderer. Im Zweifel eben alle: durch Preiserhöhungen, Abgaben- und Beitragserhöhungen. Die Redensart „recht und billig“istdamitvorallemauf Schuldner umzulegen, die im Regelfall billig zu einem Recht kommen, das tatsächlich einen massiven Eingriff in die Gläubigerrechtebedeutet, die ihrer Forderung im Regelfall ja weitgehend verlustig werden - weil ihre Mitwirkung und Mitbestimmung im Abschöpfungsverfahren praktisch zu vernachlässigen ist und sich im wesentlichen auf die Geltendmachung von„Einleitungshindernissen“,dassind imGesetzgenauvorgegebeneGründe, die ein Abschöpfungsverfahren überhauptausschließen,beschränkt.5)
Eine Abschöpfung und damit eine Entschuldung kommt dann nicht in Frage, wenn der Schuldner wegen bestimmter vermögensrechtlicher Delikte rechtskräftig verurteilt ist und seineMitwirkungspflichtenverletzt,also nichtals„redlicherSchuldner“umseine Entschuldung bemüht ist: vom Schuldnerwirdsomiteingefordert,eine „angemessene“ Erwerbstätigkeit auszuüben:Weretwaohnebesondere Rechtfertigung bloß eine Teilzeitbeschäftigung ausübt, ist nicht „redlich“. Der Gesetzgeber legt nun allerdings keine Mindestquote fest, die während des Abschöpfungszeitraumes erwirtschaftet werden muss: vor der
Novelle2017warvorgesehen,dassam Ende der Laufzeit des Abschöpfungsverfahrens mindestens zehnProzenterreichtwerdenmussten. Mit der Novellierung ist diese Hürde weggefallen – damit aber auch ein Leistungsanreiz, den die Rechtsordnung in anderen Gebieten, etwa im Unterhaltsrecht, sehr wohl ansetzt („Anspannungstheorie“ – der Schuldner muss nach Kräften bemüht sein, seine Verbindlichkeiten, dort eben: Unterhaltsschulden, zu erfüllen). Als „Fremdkörper im Lichte der Anspannungstheorie“stehtderWegfall der Mindestquote in der Kritik; „Analysen zeigten, dass nicht selten Schuldner aus eigener Kraft deutlich mehr leisten konnten, als sie bereit gewesenwarenanzubieten“ 6)
Das derzeitige Schuldenregulierungsverfahren kehrt augenscheinlich den Leistungsanreizum:demSchuldnerist im Regelfall bewusst, dass er, soferne er nicht über die Maßen auffällig wird, jedenfalls nach Ablauf der Abschöpfungszeit seine Restschuldbefreiungerhaltenwird,gleichgültig,ob er sich in diesem Zeitraum besonders anstrengt oder aber eben einen „zumutbaren“ Job ausübt, gleichgültig, ob die Gläubiger 10%, 5% oder womöglich gar nichts bekommen: aus welchem Grund sollte der Schuldner somit seinen Gläubigern eine höhere Quote oder den Abschluss eines Zahlungsplanes anbieten, wenn er ja doch ohnehin und auch gegen den WillenderGläubigerentschuldetwird?
Im Gegenteil: der „Anreiz“ liegt auf Gläubigerseite – nämlich darin, eher einem auch unangemessenen „Zahlungsplan“ zuzustimmen, um
wenigstens irgendetwas zu erhalten, als am Ende nach Ablauf der Tilgungszeit leer auszugehen. Um die beiden Varianten am Beispiel unseres obigen Schuldners mit € 100.000,Verbindlichkeiten und € 1.500,netto/Monatzuverdeutlichen:überden Tilgungszeitraum von drei Jahren wären, wie wir berechnet haben, € 2.352.-abzuschöpfen.JederGläubiger würde also 2,35% bekommen (unter Außerachtlassung der Verfahrenskosten) und müsste seine Restforderung als uneinbringlich abschreiben. Aus € 100.000,- wären aber im selben Zeitraum fiktiv € 12.000,-anZinsenanerlaufen.Rechnet man für den Gläubiger noch die Evidenzhaltungskosten der drei Jahre hinzu, so erübrigt es sich, die Interessenslagenochweiterzuerörtern und wäre somit davon auszugehen, dass etwa in diesem Anlassfall die GläubigereinemZahlungsplan,indem siesofort5%erhalten,dieZustimmung erteilen würden. Für den Schuldner wiederumwürdedasbedeuten,einmal € 5.000,-, vielleicht von der Oma, auf den Tisch zu legen und sich damit seinerSchuldenzuentledigen.
Dass von Gläubigerseite emotional verständlich hier gerne von „gesetzlich toleriertem Betrug“ gesprochen wird (wobei das Wesen des Betruges natürlich anders gelagert ist) vermag nichtwirklichzuwundern.
Apropos Betrug: Forderungen, die aus strafbaren Handlungen entstanden sind,sindvonderRestschuldbefreiung ausgenommen. WasfürdieGläubiger ein „Hintertürl“ öffnet – nämlich notorische Schuldner, die in Kenntnis ihresfinanziellenUnvermögensweitere
Verbindlichkeiten eingehen, anzuzeigen und vor das Strafgericht zu zerren:eineVerurteilungverhindertfür den betreibenden Gläubiger die Entschuldung.
Das Arbeitsprogramm der Bundesregierung der 25. Legislaturperiode lautete in seinem Punkt1.22:
„Modernes Insolvenzrecht – Kultur des Scheiterns“
Damit bewegt sich der österreichische Gesetzgeber auf der EU-Schiene „Zweite Chance – Kultur des Scheiterns“,wobeidieserTitelohnehin selbsterklärendist.
Ergebnis
Volkswirtschaftlich gesehen ist eine „zweite Chance“ unumstritten sinnvoll, auch wenn sie vorerst zu Lasten der Allgemeinheit wie auch der Individualgläubigergeht.
Sie setzt aber eine sorgfältige Interessensabwägung zwischen dem praktisch einer Enteignung gleichkommenden Eingriff in Gläubigerrechte einerseits und dem Entschuldungsgedanken auf Seite des Verpflichteten andererseits voraus: diese Abwägung darf nicht zur Sozialphantasiewerden,siehatinihre Erwägungen auch die Ursachen des Vermögensverfalls einzubeziehen und sich am Verhalten des Schuldners, seiner Einstellung gegenüber objektiven Werten und seinem persönlichen Bemühen zu orientieren. Eine bloß auf den Zeitablauf und die Verwirklichung(bzw.Unterlassung)von Tatbeständen, die objektiv für einen redlichen Schuldner ohnedies
selbstverständlich anzusehen sein sollten kann dieser Anforderung nicht gerecht werden. Um eine für die Gläubiger vertretbare und „faire“ Lösungzufinden,wirdsomitderBegriff des „redlichen Schuldners“ zu hinterfragen und objektiven Kriterien standhaltendzudefinierensein.
Titelbild „Der Weststeirer“ 4/98
Grafik: Horst Schalk
1) Lutherbibel2017,5.Mose15
2) Dominik Lenz, SolonsSeisachtheia. Eine kleine Forschungsgeschichte vonderAntikebisheut,GRIN
3) KSV 1870, Insolvenzstatistik 1.-3. Quartal2024
4) KSV1870,Insolvenzstatistik Privatkonkurse
5) Konecny, Einleitungshindernisseim Abschöpfungsverfahren,ZIK 2023/79
6) Kantner(Hrsg), Insolvenzordnung aufBasisdesIREG2017,KSV,127 ÜberdieAutorin
Alexandra Schlack ist Geschäftsführerin des weststeirischen Inkassounternehmens„InkassoWest“
Symposion „Wege zur Person“, 2002
MMag. Michael Bukoschegg
Prof. Gerald Pump war einer der Pioniere der Sozialpsychiatrie in Österreich.GemäßdemMotto"Esgibt nur eine Psychiatrie - die Sozialpsychiatrie" hat er als niedergelassener Psychiater im Bezirk Voitsberg gemeinsam mit Prof. Zapotocky eine der ersten Beratungsstellen außerhalb eines städtischen Ballungszentrums initiiert und damit einen wichtigen Schritt zur flächendeckenden Ausrollung der SozialpsychiatrieinderSteiermark.
Oftmals ankämpfend wie ein Don Quijote der Sozialpsychiatrie gegen Vorurteile, Stigmatisierungen und bürokratische Hindernisse ist es ihm gelungen,dieSozialpsychiatriealseine anerkannte Säule in ein regionales psychosozialesNetzwerkeinzugliedern und eine Zusammenarbeit mit Behörden und Politik zu erreichen, die von Anerkennung, Wertschätzung und gegenseitigemVertrauengetragenwar. Prof. Gerald Pump hat die Beziehung zum Menschen als Person und die interdisziplinäreZusammenarbeitinder Behandlung von Menschen mit psychosozialen Problemen und psychischen Leiden als wesentlichen Wirkfaktor für den Genesungsverlauf gesehen.
Das PSZ Voitsberg konnte die Ernte dieser Pionierarbeit in dertagtäglichen Arbeit einfahren. Die Übernahme und Weiterführung dieser Geisteshaltung im PSZ Voitsberg war ihm ein besonderes Anliegen. Im PSZ wird diese Geisteshaltung als Erbschaft mit allen dort schon arbeitenden und den inzwischen noch hinzukommenden Kolleginnen und Kollegen als
lebendiges Projekt unter derärztlichen Leitung von Dr. Johann Zeiringer kontinuierliche fortgeführt. Wie sehr Prof. Pump, das PSZ, sein „Buzzerl“, am Herzen lag, zeigte er mit seinem InteresseinFormseinerPräsenzdurch regelmäßige Teilnahme an Besprechungen in denen er sich mit großem Nachdruck in all seiner fachlichen Kompetenz einbrachte. Mit seinen großzügigen Einladungen zu festlichen Anlässen vermittelte er dem ganzen Team wie wichtig ihm der Dialog mit ihm und innerhalb des Teamswar.
Prof. Dr. Gerald Pump war nach Begründung des PSZ welches er Eingangs selbst fachärztlich versorgte, übervieleJahrederderHauptzuweiser von Klientinnen und Klienten in das PSZVoitsberg.
Die fachärztliche psychosoziale Zusammenarbeitwarinderkollegialen und freundschaftlichen Weise vorbildlichundeinmaligunddasfürdie gesamte Region und darüber hinaus. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des PSZ haben in seiner Nähe unüberhörbar spüren dürfen wie sein Herz immer schon für die Sozialpsychiatrie in dieser Geisteshaltungpochte.
EinbesondererSchwerpunktgaltinder fachlichen Arbeit der Existenzanalyse. So wurden in den Voitsberger Manuskripten eine Reihe von Artikel von Alfred Längle, dem Begründer der existenzanalytischen Psychotherapie der dritten Wiener Schule, veröffentlicht. So konnte das Menschenbild der Existenzanalyse
auch in Voitsberg in eine breitere Öffentlichkeitgelangen.
Prof. Pump hat kraft seiner persönlichen und fachlichen Autorität Meilensteine in der Antistigmaarbeit geleistet. Das zeigt sich insbesondere in der Inanspruchnahme der lokalen Beratungsstelle, die noch immer weit über allen Durchschnittswerten liegt. Auch gehörte seine Praxis zu den vergleichsweise frequentiertesten in ganzÖsterreich.MancheWertedeuten daraufhin,dassdiePraxisProf.Pump gemessen an der Patientenzahl die größteniedergelasseneFacharztpraxis in Österreich überhaupt war. Prof.Pumphatzudeminsbesondereim Bereich der Suizidprophylaxe wichtige fachliche Impulse gesetzt und diese in breitenVortragstätigkeitenverbreitet.
Aus seiner Haltung zur Sozialpsychiatrieundinsbesonderezur Interdisziplinarität ist in der Region Voitsberg eine Zusammenarbeit zwischen niedergelassenem Kassenfacharzt und Psychosozialem Dienst entstanden, die in Österreich wohleinmaligist.
Dieszeigtsichinsbesondereinderüber viele Jahre dokumentierten Inanspruchnahme der Beratungsstelle, welche von fast doppelt so vielen Klienten frequentiert wird wie im landesweiten Durchschnitte. Das dokumentiert die Leistung von Prof. Pump, die Schwellenangst gegenüber der Inanspruchnahme sozialpsychiatrischer Leistungen zu senken. Dies war insbesondere auf das Wirken der Person Prof. Pump zurückzuführen, welcheeinhohesMaßanVertrauenin
die fachliche und menschliche Qualität erzeugte.
DasWirkenvonProf.Pump,auchwenn es auf eine auf erstem Blick vergleichsweise kleine Region beschränkt zu sein scheint, war exemplarisch für die Umsetzung der Grundsätze der Psychiatriereform.
Prof.Dr.GeraldPumpwarmitHerzund hoher fachlicher Autorität Facharzt in derSozialpsychiatrie.
Erhatschonfrüherkannt,dassfüreine gute Behandlung die Zusammenarbeit mit verschiedenen Professionen notwendigist.
In seiner fachlichen Konzeption standen Medikation, Gesprächstherapie und soziale Arbeit als gleichwertige Säulen in der Behandlung,BetreuungundBegleitung von Menschen mit psychischen Erkrankungen.
Im Laufe seiner über 30-jährigen TätigkeitalsFacharztundVorstandder PSZ Voitsberg GmbH ist er immer engagiert,unbeugsamundwillensstark die Anliegen der Sozialpsychiatrie eingetreten.
In seinen Vorträgen und öffentlichen Auftritten überzeugte Prof. Pump mit überragendemFachwissen,gepaartmit langjähriger praktischer Erfahrung, mit einem exemplarischen Allgemeinwissen und großer rhetorischerÜberzeugungskraft,immer gemischtmiteinerArtvonHumor,inder Bodenständigkeit und Intellektualität in grenzgenialer Weise in Einklang gebrachtwurden.
Prof. Pump hat mit Leib und Seele im ländlichenBezirkVoitsbergdurchseine Facharztpraxis und die Gründung des PSZ Voitsberg eine stabile Grundversorgung geschaffen. Bemerkenswert ist dabei sicher die Betonung der Regionalität, welche zu einerorganisatorischenKonzeptionder Sozialpsychiatrie in Form eines unabhängigen Trägers, der ausschließlich im Bereich der Sozialpsychiatrie und ausschließlich in der Region Voitsberg tätig ist. So konnte über lange Jahre ein intensiver fachlicher und persönlicher Dialog über alle Ebenen der Organisationaufrechterhaltenwerden.
DiesespezielleFormderkleinräumigen Organisation drückt sich in einer ZufriedenheitderMitarbeiterInnentrotz schwierigster fachlicher und menschlicher Herausforderungen aus, die man als exemplarisch für dieses Berufsfeld bezeichnen kann. Dadurch gelangeszudemdiefachlicheQualität beständig weiterzuentwickeln, ein Umstand, der dazu führt, dass selbst höchst komplexe psychiatrische Fälle wohnortnah betreut und langfristig stabilisiert werden können.
Neben seiner hohen fachlichen Kompetenz war Prof. Pump ein humanistisch hoch gebildeter Mensch mit einem breiten Spektrum an Interessen und Begabungen. Seine besondere Liebe galt der Literatur. Er versuchte sich selbst als Schriftsteller, verfasste Romane und Theaterstücke und gab den Anstoß zu den „Voitsberger Manuskripten“, diesich in einerReihevonAusgabenmitdiversen Themen und Fragestellungen des
menschlichen Daseins in einer immer komplexerenWeltauseinandersetzten.
Sein Tod hinterlässt eine kaum zu schließende Lücke, sein Vorbild und seineInspirationwerdenunsabernoch vieleJahrebegleiten.
Das Psychosoziale Zentrum wurde 1992 gegründet und beschäftigt aktuell 54 Mitarbeitende aus den verschiedenstenpsychosozialenBerufen.
ÜberdenAutor:
MMag. Michael Bukoschegg ist Geschäftsführer der „Psychosoziales ZentrumVoitsbergGmbH
In den Beratungsstellen für Kinder und Jugendliche,fürErwachseneundältere Menschenwerdenjährlichandie1.300 Menschen betreut. Allen Einwohnern des Bezirks steht 30 Stunden in der Woche ein Krisendienst zur Verfügung zu dem man jederzeit auch ohne Anmeldungkommenkann.
Über die mobile sozialpsychiatrische Betreuung werden aktuell rund 120 Klienten mit zum Teil schweren psychischen Erkrankungen langfristig versorgt. So können Spitalsaufenthalte und Heimunterbringungen hintan gehaltenwerden.
Prof. Gerald Pump, Stadtrat Alfred Mayer, Altbürgermeister Ernst Meixner
Im Rahmen der Tagesstruktur finden psychisch kranken Menschen einen strukturierten Tagesablauf und eine sinnvolleBeschäftigung.Aktuellwerden hier rund 30 Klienten aller Altersgruppen betreut.
Prof. Pump war es immer großes Anlagen, dass im PSZ eine Reihe von Berufsgruppen - von Fachärzten, Psychologen, Psychotherapeuten über Sozialarbeitern und Pädagogen bis zu psychiatrischen Krankenpflegern - auf Augenhöhe und in ein ständigen fachlichen Austausch zusammenwirken.
Mag. Thomas Theissl
RECHT AUF LEBEN UND RECHT AUF
AnandererStellediesesHefteswurde die Frage des assistierten Suizids aus ärztlicher Sicht behandelt. Dazu soll ganz kurz die in Österreich geltende Rechtslageumrissenwerden.
Nach § 78 des Strafgesetzbuches (StGB)istmitFreiheitsstrafevonsechs Monaten bis zu fünf Jahren zu bestrafen, wer einer minderjährigen Person, einem Menschen aus verwerflichen Beweggründen oder jemandem,dernichtaneinerKrankheit nach § 6 Abs 3 des Sterbeverfügungsgesetzes leidet oder der nicht ärztlich aufgeklärt wurde, dazu physisch Hilfe leistet, sich selbst zu töten. Voraussetzung der Straffreiheit ist somit insbesondere das Vorliegen einer„Sterbeverfügung“.1)
Dazu wurde in Umsetzung eines Verfassungsgerichtshofserkenntnisses aus dem Jahr 20192), womit die Strafbarkeit der Mitwirkung am Suizid aufgehoben worden war, 2021 das „Sterbeverfügungsgesetz“ erlassen, das die näheren Umstände einer zulässigenSuizidbegleitungregelt.
Im wesentlichen und verkürzt: das Gesetz regelt die Voraussetzung einer wirksamen Sterbeverfügung, insbesondere den Nachweis eines dauerhaften, frei und selbstbestimmt zustandegekommenen Entschlusses zur Selbsttötung. Gleich vorweg hält das Gesetz fest, dass niemand verpflichtet ist, an einer zulässigen Sterbeverfügung mitzuwirken, aber auch niemandem daraus ein Nachteil erwächst, wenn er an einer solchen (oder den dazu erforderlichen Beratungen und Hilfestellungen) mitwirkt: ein klagbarer Anspruch auf Sterbehilfe wird ausdrücklich
ausgeschlossen. Es besteht auch ein ausdrückliches Werbeverbot für LeistungenimZusammenhangmitdem assistiertenSuizid,erlaubtistaber,auf die Möglichkeit einer Sterbeverfügung hinzuweisen.
Der Sterbewillige muss volljährig sein, sein Entschluss muss frei und selbstbestimmt zustandekommen, er muss an einer schweren, unheilbaren und letalen oder einer dauerhaften Krankheit leiden, die seine Lebensführung dauerhaft beeinträchtigt. Zwingend notwendig ist eine vorgängige qualifizierte Aufklärung durch zwei Ärzte unabhängig voneinander, wobei einer davon palliativmedizinisch fachkundig sein muss; diese müssen vor auch den freien Entschluss des Sterbewilligen dokumentieren: erweist sich im Gespräch, das bei der Person ein krankheitswertige psychische Störung vorliegenkönnte,dieerstdieGrundlage für den Sterbewunsch ist, so ist zunächst das allfällige Bestehen einer solchen Störung fachkundig abzuklären. Frühestens zwölf Wochen aberlängstensbinnenJahresfristnach der ersten ärztlichen Aufklärung kann eine Sterbeverfügung errichtet werden (in besonderen Fällen, in denen die „terminalePhase“derKrankheitbereits eingetretenist,zweiWochen).
Hier ist eine genaue Dokumentation unddieErrichtungvoreinemNotaroder einer „rechtskundigen Person der Patientenvertretung“ gefordert, die Sterbeverfügung ist samt einer umfassenden Dokumentation in einem „Sterbeverfügungsregister“ einzutragen, in der Dokumentation zur Sterbeverfügung ist bereits das zum
Tode führende, zu verabreichende Präparat anzuführen. Die Sterbeverfügung ist widerrufbar, ihre Gültigkeit erlischt ein Jahr nach ihrer Errichtung automatisch.
Dem Sterbewilligen oder der in der Sterbeverfügung genannten „Hilfe leistenden Person“ ist aufgrund der SterbeverfügungineinerApothekedas zum Tod führende Präparat auszufolgen;dieAusfolgungistvonder Apotheke an das Sterbeverfügungsregisterzumelden.3)
Damit juristisch ein „Selbstmord“ vorliegt, muss der Betroffene selbst Handansichlegen–allesanderewäre eine strafbare Fremdtötung, wobei die Umstände hier eng auszulegen sind: nichteinmal derjenige, der sich auf die Bahngleisewirft,begehtimjuristischen Sinn „Selbstmord“ - die letztkausale HandlungsetzteinDritter,nämlichder Lokführer Dass diesen mitunter keine Strafbarkeit trifft, weil er gar keine Möglichkeit hatte, das Unglück zu verhindern,interessiertjuristischfürdie Einordnung unter den Begriff „Selbstmord“nicht. 4)
Ein Rückblick in die Geschichte zeigt zunächst, dass der Selbstmord selbst grundsätzlichverpöntwar,wassichvor allem aus den damit verbundenen Folgen, etwa dem Verfall des Vermögens, ergibt. Erst 1850 wurde das Thema „Selbstmord“ samt Beihilfe dazu aus dem Strafrecht ausgeschieden und den Sanktionen der Kircheüberlassen,insbesonderedurch Einschränkungen in der Beisetzung udgl.;erst1934wurdedie„Beihilfezum Selbstmord“ sanktioniert, bis zur Aufhebungdes§78StGB(alt)wardie Mitwirkunggrundsätzlichstrafbar.
Formaljuristisch lassen sich zwei Grundsätze erkennen: das Recht auf Lebeneinerseits(Art2EMRK),unddas Recht auf Achtung des Privat- und Familienrechtes andererseits (Art 8 EMRK), womit wechselseitig die Befürworter wie auch die Gegner des assistierten Suizids ihre jeweilige Legitimationfinden.
Die Europäische Kommission für MenschenrechtehatineinemAnlassfall festgestellt,dasszwischendenStaaten kein Konsens über die Frage besteht, dem einen oder dem anderen Grundrecht Priorität einzuräumen5). In einem anderen Fall aber, dass es den Staaten obliegt, ein Kontrollverfahren einzuführen, welches zum Schutz des Lebens den tatsächlichen freien Entschluss des Sterbewilligen nachvollziehbar macht6). Wiederum in einem Anlassfall wurde entschieden, dass aus den Bestimmungen der Menschenrechtskonvention kein Recht auf straffreie Beihilfe zu Suizid abzuleiten sei7).Es liegt damit an den Einzelstaaten, jeweils dem Einzelfall angepassteLösungenzufinden.
Für Österreich wurde eine solche Lösung mit dem Sterbeverfügungsgesetz und der damit einhergehenden Änderung auch des Strafgesetzbuchs versucht. Das darin vorgesehene Procedere soll einen umfassenden Schutz der Interessen des Sterbewilligen bei gleichzeitiger Vorbeugung missbräuchlicher Anwendung und damit einen Ausgleich der widerstreitenden Interessen der PositionendesArt2EMRK unddesArt 8 EMRK bieten – was dem Formaljuristen vielleicht genügen mag,
dennocheinenweitenBereichfürKritik Raumeinräumt.
Zum einen lässt sich die Frage der Erforschung des Willens des Betroffenen wohl kaum mit absoluter Sicherheit bewerkstelligen – ein Umstand, dem der Gesetzgeber ja schon aus seiner Einschränkung, im Falle des Verdachtes auf eine krankheitswertige psychische Störung als Grundlage des Sterbewunsches hier weitere Erhebungen zu pflegen, wobei freilich die dazu zu treffenden Veranlassungen zwar dargestellt, im ErgebnisabermitUnschärfenbehaftet sind.
Zumanderen istfestzustellen,dassdie Straflosigkeitnurdanneintritt,wennder Sterbewillige die Tötungshandlung selbst vornimmt. Soweit das Gesetz hier eine Hilfestellung zulässt, sind gleichzeitig Schranken hinsichtlich des „Helfers“ vorgesehen – so darf der aufklärendeArztnichtgleichzeitigauch „hilfeleistendePerson“imSinnedes§3 StVfG sein, er darf also weder das Präparatabholenoderbeschaffennoch Räumlichkeiten zur Verfügung stellen. Dass die Stellung des Arztes aus berufsethischer Sicht auf Probleme stoßenkannwurdeimangesprochenen BeitragdiesesHeftesbereitsdargelegt. Der Verfassungsgerichtshof hat seine Entscheidung, mit der die Strafbarkeit derBeihilfeaufgehobenwurde,mitdem „Recht auf Gestaltung des Lebens als auch dem Recht auf ein menschenwürdiges Sterben“ argumentiert8) Damit wird aber die Stellung des Dritten, der letzten Endes die Mitwirkung an der Selbsttötung unternimmt,außerBetrachtgelassen9) .
In einer Studie des Ludwig Boltzmann Instituts Digital Health and Patient Safety nach einer Umfrage unter 2000 Österreichern zum angesprochenen Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofs zeigte sich ein wesentliches Wissensdefizit hinsichtlich der Unterscheidung der verschiedenen Tatbestände im Umfeld der Selbsttötung.
Die Entscheidung des VfGH erfuhr jedoch unter den Befragten überwiegend Zustimmung: 73,6 % der Befragtengabenan,dieEntscheidung, die Strafbarkeit der Mitwirkung amSuizidverstoße gegen das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf Selbstbestimmung und stimme mit ihren Werten überein, eine Quotevon73,9%unterstütztdiedamit einhergehende Legalisierung derBeihilfezumSuizidin Österreich10) ZurFrage,wernundieBeihilfekonkret ausüben solle, gaben 74% an, diese AufgabesollenbeidenÄrztenbleiben.
Dieser Wunsch der Bevölkerung findet in der Ärzteschaft keine ungeteilte Zustimmung; hier wird einerseits die MöglichkeiteinesstrafbarenVerhaltens befürchtet – was bei regelkonformer Vorgangsweise doch vermeidbar sein sollte-,schließlichaberinHinblickauf § 136 Abs 1 Z 2 disziplinäre Maßnahmen aus einer Berufspflichtenverletzung besorgt werden: diese liegt vor, wenn ein Arzt Pflichten verletzt, zu deren Einhaltung er „sich anlässlich der Promotion zum Doctor medicinaeuniversaeverpflichtet“hat.11)
Die Einschätzung der Zulässigkeit seinesTunswirddort,wonichtohnehin eindeutige gesetzliche Vorgaben die Grenze ziehen, dem Arzt vor dem
Hintergrundseinesjeweiligenethischen Grundkonsenses vorbehalten bleiben: es wird wenig hilfreich sein, festzustellen, dass sogar das Legen einer Leitung zur intravenösen Einnahme des letalen Präparats zwar einephysischeUnterstützungimSinne des§78StGBist,dieseMethodeaber ausdrücklich durch § 3 StVfG-Präp-V erlaubtist12)
Letztlich bleibt es, auf das Diskrimierungsverbot des Sterbeverfügungsgesetzeszuverweisen:niemand darf wegen der (zulässigen) Hilfeleistung, ebenso aber niemand wegen der Ablehnung einer solchen benachteiligt werden, womit dem ärztlichen Gewissensspielraum vor dem Hintergrund des gesetzliche RahmesRaumeingeräumtist.
1) Strafgesetzbuch,BGBl.60/74,§78
2) VfGH G139/2019vom 11.12.2020, Birklbauer, Teilweise Verfassungswidrigkeit der Mitwirkung amSelbstmord,JSt2021,10
3) Sterbeverfügungsgesetz, BGBl. 242/2021
4) Birklbauer, Mögliche Grenzen straffreier Suizidunterstützung – ein Ausblickauf2022,JSt2021,555(556)
5) EKMRBsw497/09vom19.7.2012
6) EGMRBsw31322/07vom20.1.2011
7) EGMRBsw2346/02vom29.4.2002
8) VfGH11.12.2020,G139/2019,RZ65
9) Gamper, Gibt es ein „Recht auf ein menschenwürdiges Sterben“? Zum Erkenntnis des VfGH 11.12.202,G 139/2019,RdM2021,48(50)
10) Doppler/Kletecka-Pulker/Völkl Kernstock/Eitenberger/Ruf/Teufel/Kag er, Repräsenta-tive Studie zum meinungsbild der Bevölkerung bezüg-
lich Neuregelung der Beihilfe zum Suizid,JMG2022,87
11) Birklbauer, Ärztliche Suizidassistenz alsDisziplinarvergehen,JMG2024,65
12)Verordnung des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz betreffend die Festlegung von Präparaten im Sinne des Sterbeverfügungsgesetzes (Sterbeverfügungs-Präparate-V –StVf-Präp-V),BGBlII16/2022
ZumAutor:
Mag. Thomas Theissl ist seit 2023 Rechtsanwalt (Semlitsch-KlobassaTheissl Rechtsanwälte GmbH) in Voitsberg
AlsSohneinesZahnarztesundeiner Lehrerin in Voitsberg 1952 geboren, schloss Gerald Pump 1979 sein Studium zum Doktor der Medizin an der Universität Graz ab. Nach einer weiteren Ausbildung zum Facharzt für Psychiatrie und Neurologie an der damaligen Neuropsychiatrischen Universitätsklinik Graz ließ sich Dr. Pump als Facharzt in seiner Heimatstadt Voitsberg nieder. ProfessorDr.GeraldPumpistam10. September2023verstorben.
Schon bald nach Eröffnung seiner Ordination in der Voitsberger Conrad-vonHötzendorf-StrassesollteDr.GeraldPump zu einer treibenden Kraft nicht nur im medizinischen Bereich, sondern auch im kulturellen Bereich werden: neben seinem EngagementimGesundheitsbereichsetzte Dr. Gerald Pump mit den ins Leben gerufenen „Voitsberger Humanismusgesprächen“ einen neuen kulturellen Akzent, um der Bevölkerung die Möglichkeitzugeben,sichmitThemenaus Kunst, Kultur, Medizin, Philosophie und Theologieauseinanderzusetzen.
Als Gesellschafter der Zeitungsverlagsund Medien GmbH, also des „Weststeirers“, rief er gemeinsam mit Dr. Wolfgang Klobassa die „Voitsberger Manuskripte“ ins Leben – eine vielbeachtete interdisziplinäre Fachzeitschrift, in der namhafte Autoren aus demIn-undAuslandzuWortkamen.
Als Arzt war Dr. Pump die bestmögliche VorsorgeundmedizinischeVersorgungder PatienteneinbesonderesAnliegen,daser auch in zahlreichen Engagements durchzusetzen versuchte: den Anfang bildeten aus seinem Fachwissen und der Kenntnis um die tatsächlichen Probleme derMenschenentstandeneAnlassgruppen – nur beispielsweise etwa die Gründung einer Bezirksgruppe für Schlaganfallpatienten, für Epilepsiekranke, oder für Angehörige von Schlaganfall- und Demenzpatienten – letzteres in der Erkenntnis,dassesgeradediepflegenden
Angehörigen sind, die in ihrer Aufgabe oft alleingelassenwerden.
Der „Weststeirische Gesundheitstag“, die „VoitsbergerGesundheitswege“solltendas Gesundheitsbewusstsein der Bevölkerung verstärken, zahlreiche Seminare und dann zwei international beachtete Kongresse folgten.
Ein besonderes Anliegen war die „extramurale“ Versorgung psychisch erkrankter Patienten – also einer Behandlung und Versorgung außerhalb stationärer Einrichtungen im persönlichen Umfeld:WurdedieseAufgabeerstineinem dazueingerichtetenTrägerverein,derunter Einbindung von Sozialarbeitern und psychologisch geschulten Mitarbeitern unterDr.GeraldPumpmitderVoitsberger Psychologin Dr. Cornelia Raschl und Anwalt Dr. Wolfgang Klobassa mit breitem fachlichem Spektrum ausgestattet war, bewältigt, so kam es in weiterer Folge zur Gründung der „Psychosozialen Zentrum Voitsberg GmbH“, deren Mehrheitsgesellschafter Dr. Gerald Pump war: das – kurz – „PSZ“ hatte Dimensionen angenommen, die im Rahmen eines Vereins nicht mehr zu bewältigen waren und ist heute zu einer festen Einrichtung des Bezirks Voitsberg mit gut fünfzig Mitarbeitern und tausenden von Patientenkontaktengeworden.
Seine Idee, in Voitsberg eine Fachhochschuleeinzurichten,warpolitisch nicht durchzusetzen, auch wenn vor dem Hintergrund des PSZ zur praktischen Ausbildung die Verbindung mit einer theoretischen Fachausbildung geradezu auf der Hand gelegen wäre und Voitsberg damit als Ausbildungsstätte eine Vorreiterrolle einnehmen hätte können: anderswo haben sich aus solchen Ansätzen Universitäten entwickelt. Hier in derWeststeiermarkebennicht–einPunkt, den Dr. Gerald Pump, seiner Heimatstadt forthin verübelte: als überaus engagiertem und initiativem Menschen konnte dem mittlerweile zum Professor ernannten Mediziner die Ablehnung dieses
Jahrhundertprojektes auch nicht nachvollziehbarsein.
Trotz seiner zahlreichen Funktionen und Engagements fand Prof. Pump dennoch Zeit, sich auch literarisch mit mehreren Essays und zwei Büchern – dem „Kater vom Herzogberg“ und „Wege der Revolution“–zubetätigen.
Mit seinem Ableben nur wenige Monate nach seinem Pensionsantritt verliert die Region einen besonderen Menschen, dessen Wirken seine Zeit jedenfalls überdauernwird.
Viele schöne und interessante Momente haben wir mit Dir, lieber Gerald, als unser Freund und Mitgesellschafter erlebt. Wir durften Dich als Menschen kennenlernen, derstetsfüralledawar,stetseineLösung parathatteundimmerwiederneueAnsätze einbrachte.Gemeinsamhattenwirnochso viel vor, nach Deiner Pensionierung: die Wiederauflage und Fortführung der „Voitsberger Manuskripte“, die Wiederaufnahme der von Dir schon in der Vergangenheit eingeführten Seminare und Kongresse, und noch so viel mehr. Die Herausgabe eines der Region angepassten „Traktats über die Blödheit“ solltedabeidasGeringstesein.
DasSchicksal–eingrausamesSchicksal–wollteesanders.MitDirverlierenwirnicht nur einen außerordentlichen Begleiter, sondern auch jene Perspektiven, die in den gemeinsamen Vorhaben gelegen waren – ein Umstand, dem wir entsprechen werden.
Wir werden Dich als engagierten Freund, als außerordentlichen Menschen in Erinnerung behalten.
Zeitungsverlags- und MedienGmbH „Der WESTSTEIRER“
(Der vorliegende Nachruf erschien in der Ausgabe 2/23 des Weststeirers)
Impressum:
Eigentümer, Herausgeber, Verleger und verantwortlich für den Inhalt: Dr. Wolfgang Klobassa, Kirchengasse 5, 8570 Voitsberg
Erscheinungsort Voitsberg
Druck: Druckhaus Moser, Voitsberg
Umsetzung Webseite voitsberger-manuskripte.at: DI(FH) Dr. Jürgen Götzenauer
DIE HERAUSGABE DIESES AUSGABE WURDE ERMÖGLICHT MIT UNTERSTÜTZUNG DURCH
SEMLITSCH-KLOBASSA-THEISSL RECHTSANWÄLTE GMBH
UND DI (FH) DR. JÜRGEN
UNTERNEHMENSBERATUNG & PROJEKTENTWICKLUNG