ITI Jahrbuch / Yearbook 2016

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In Zusammenarbeit mit wissenschaftlichen und kulturpolitischen Institutionen aus Ländern Ost-, Mittelost- und Südosteuropas wird das deutsche Zentrum des Internationalen Theaterinstituts (ITI) in den nächsten Jahren einen lebendigen Wissensaustausch zu Theater und Theatralität entlang des 23. östlichen Längen-grades zwischen Helsinki und Athen anregen und begleiten. Das Projekt „Passage 23°E“ will gemeinsam mit den Kooperationspartnern durch den Aufbau einer digitalen Wissensplattform und die Entwicklung nachhaltiger Arbeits- und Forschungsbeziehungen ein Gegengewicht setzen zu dem in West-Europa verbreiteten Wissens-, Erfahrungs- und Interessendefizit an Theater und Theatralität in Ost-, Mittelost- und Südost-Europa. Die kroatische Dramatikerin Ivana Sajko, der serbische Choreograf Saša Asentić und der slowenische Performancekünstler Janez Janša sprachen über die Theaterlandschaft ihrer Länder während der „Langen Nacht des Osteuropäischen Theaters“, zu der das ITI vom 8. auf den 9. Juli 2016 als dem öffentlichen Auftakt des Projekts „Passage 23°E“ ins Kunstquartier Bethanien eingeladen hatte. Mit Filmen zum Theater, im Gespräch mit Künstlern und Experten und den Dokumentationen herausragender Inszenierungen konnten Zuschauer Fragen nach den kulturellen Grundlagen Europas ergründen und diskutieren.

KROATIEN – GEMEINSAM IM WIDERSTAND

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Ivana Sajko

unächst einmal gibt es in Kroatien, wie wahrscheinlich in vielen Ländern, einige Nationaltheater, einige Stadttheater und außerdem die unabhängige freie Theaterszene. Wie so oft ist die freie Szene am spannendsten, aber dennoch hat in den vergangenen fünf, sechs Jahren in Kroatien ein großer Umbruch hinsichtlich der Arbeitsweise der Nationaltheater stattgefunden. So wurde zum Beispiel im letzten Jahr der Intendant des Jugendtheaters in Zagreb, das eine Mischung zwischen HAU und Schaubühne ist, [...] Intendant des Zagreber Nationaltheaters. Ganz plötzlich wurde eine Institution, für die sich bis dahin kaum jemand interessiert hatte, hochinteressant, und es gab dort neue Formate, wie ein philosophisches Programm, bei dem jeden Monat mit einem anderen radikalen Denker Diskussionen über gesellschaftliche und politische Fragen geführt wurden. [...] In Rijeka wurde Oliver Frljicˇ Intendant des dortigen Nationaltheaters, ein wirklich radikaler und provokanter Autor. Es hat sich in den kroatischen Institutionen also wirklich etwas getan [...], die freie Szene hat sich weiterentwickelt. Diese Szene bildete sich in den 90er Jahren, während des Kriegs. Das Theater war damals absolut konservativ und der einzige Ort, an dem ein reflektiertes Theater stattfinden konnte, war die freie Szene. Damals entstanden „Das Theater, das ich die NGOs, die freien interessant finde, ist Gruppen, eine ganze entweder in seiner Szene bestehend aus Struktur oder in seiner Organisationen, ZeitSprache radikal, oder schriften, internatibahnbrechend in seinen onalen Netzwerken Erscheinungsformen.“ und Festivals. Die Festivals waren besonders wichtig, denn sie boten die einzige Möglichkeit, zu sehen, was in der internationalen Theaterwelt wirklich passiert. [...] Das Theater, das ich interessant finde, ist entweder in

seiner Struktur oder in seiner Sprache radikal, oder bahnbrechend in seinen Erscheinungsformen. Ein Theater, das engagiert ist, das sich mit gesellschaftlichen und politischen Problemen auseinandersetzt. Also, was bedeutet es, sich in Kroatien mit politischen Problemen auseinanderzusetzen? [...] Der Krieg in den 90er Jahren ist natürlich allgegenwärtig und immer präsent. Aber nicht viele Künstler beschäftigen sich so leidenschaftlich damit wie zum Beispiel Oliver Frljicˇ, der sich diesem Thema ganz und gar verschrieben hat und nicht davon lassen kann. [...] Dann gibt es Künstler, die sich mit der politischen Lage auseinandersetzen, mit der Armut, die in Kroatien ein sehr, sehr großes Problem ist. Diese Armut ist vielleicht nicht auf den ersten Blick offensichtlich, aber wenn man eine Jugendarbeitslosigkeit von 52% hat und viele Leute, die zwar Arbeit haben, aber nicht genug zum Leben verdienen, dann ist das ein enormes Problem. [...] Und wir haben eine ganz junge Generation, die sich nicht mit lokalen Belangen auseinandersetzen möchte, sondern sich stattdessen dafür interessiert, was in Europa vor sich geht: Sind wir ein Teil Europas? Auf welchem Weg ist Europa? Wie geht es weiter mit dem Kapitalismus? Warum hat Griechenland solche Schwierigkeiten? Wieso verhalten sich die Amerikaner so, wie sie sich verhalten? Wie konnte es zum Brexit kommen? Und so weiter. [...]

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ast alles, was in der kroatischen Theaterszene derzeit läuft, würde ich sagen, ist geprägt vom Kampf gegen die rechte Regierung, die wir jetzt haben. [...] Als kroatische Kulturschaffende fühle ich mich immer verpflichtet, das zu erwähnen, denn einige wissen ja vielleicht Bescheid über die politische Lage in Kroatien, über die rechte Ideologie, die in allen gesellschaftlichen Bereichen durchgesetzt werden soll, und es liegt mir wirklich am Herzen, darauf hinzuweisen, dass die Theaterleute und Kulturschaffenden im Allgemeinen wirklich vereint sind in ihrem Widerstand dagegen, das zeigt sich bei zahlreichen Aktionen. [...] Das ist eine Einheit, wie ich sie lange nicht mehr verspürt habe, und ich bin wirklich stolz, dieser Szene anzugehören und gemeinsam Widerstand zu leisten gegen das, was man als das große Übel bezeichnen könnte, das wir alle gegenwärtig in Europa wahrnehmen.

JAHRBUCH ITI YEARBOOK THEATERLANDSCHAFTEN

DIE FREIE SZENE ZWISCHEN POLITIK UND ÜBERLEBEN


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