IPPNW-Forum 182/Juni 2025

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ippnwforum

das magazin der ippnw nr182 juni 2025 4,50€ internationale ärzt*innen für die verhütung des atomkrieges – ärzt*innen in sozialer verantwortung

- IAEO und Atomlobby: Freund & Helfer der COPS?

- Gaza: Die Mitschuld bleibt

- Wie Atomtests Generationen prägen

80 Jahre nach Hiroshima und Nagasaki: Atomwaffen gefährden unsere Sicherheit

Über d en Tag hinaus die Zukunft mitbestimmen

Möchten Sie Ihre Werte und Anliegen auch über Ihr Leben hinaus weitergeben und ein Zeichen für Frieden, Menschlichkeit und eine atomwaffenfreie Welt setzen? Mit einer Erbschaft oder einem Vermächtnis zugunsten der IPPNW können Sie Ihr Engagement dauerhaft weitertragen und Spuren hinterlassen.

Um diesen Schritt gut informiert und rechtlich sicher zu gehen, bietet das Onlineportal „Dein Adieu“ umfassende Hilfe. Auf der Plattform wird in einfühlsamer Sprache vermittelt:

Wie Sie ein rechtsgültiges Testament verfassen • Was die Unterschiede zwischen Erbschaft, Vermächtnis und Schenkung sind

• Welche Möglichkeiten es gibt, Organisationen wie die IPPNW zu bedenken • Was Sie beachten sollten, wenn Sie nahestehende Menschen und Ihre Werte gleichermaßen berücksichtigen möchten. Beispiele, Vorlagen und hilfreiche Informationen unterstützen Sie dabei, Ihre letzten Dinge in Ihrem Sinne zu regeln – einfach und transparent.

Die IPPNW ist jetzt auf „Dein Adieu“ präsent. Hier finden Sie unser Profil, wo sie erfahren, wie Ihr Vermächtnis konkret wirkt: ippnw.de/bit/adieu

Juliane Hauschulz ist IPPNW-Referentin für die Abschaffung von Atomwaffen.

Die US-Atombombenangriffe auf Hiroshima und Nagasaki im August 1945 waren verheerend. Geschätzt 240.000 Menschen starben bis Ende des Jahres 1945. Die Überlebenden, die Hibakusha, tragen bis heute die traumatischen Erinnerungen und gesundheitlichen Folgen der Strahlung.

Gerade deshalb haben sie es sich zur Aufgabe gemacht, vor den Gefahren von Atomwaffen zu warnen. Die Geschichten der Hibakusha lebendig zu halten, sei eine „Zukunftsaufgabe“, so der Hiroshima-Überlebende Kunihiko Sakuma kürzlich bei seinem Besuch in Deutschland. Wir lassen in diesem Heft 80 Jahre nach der Zerstörung von Hiroshima und Nagasaki ihn und weitere Überlebende zu Wort kommen. Ebenfalls im Mai besuchten uns Überlebende von Atomwaffentests, die bei Veranstaltungen in verschiedenen Städten von den Folgen für sich und ihre Gemeinschaften berichteten. Eindrücke von der Reise schildert Antonia Hoffmann.

Nein zum menschenverachtenden Prinzip der nuklearen Abschreckung: Die Weltgesundheitsversammlung hat im Mai 2024 die Resolution „Effects of Nuclear War on Public Health“ verabschiedet. Die WHO hat nun den Auftrag, die Auswirkungen eines Atomkrieges systematisch zu untersuchen und die Forschung auf diesem Gebiet auszuweiten. Angelika Claußen und Lars Pohlmeier berichten.

Dr. Masao Tomonaga, Hibakusha aus Nagasaki, ist Gründungsmitglied der IPPNW in seiner Heimatstadt. In einem Interview berichtet er über seine langjährige Forschung zu den Gesundheitsfolgen von Atomwaffen und die Vorbereitungen zum IPPNW-Weltkongress in Nagasaki, an denen er sich beteiligt.

„Kasachstans nukleares Erbe. Die vergessenen Stimmen der sowjetischen Atomtests“ heißt ein neues Buch, das im Juni 2025 erscheint. Auf dem Atomtestgelände Semipalatinsk (Semei) hatte die Sowjetunion zwischen 1949 und 1989 insgesamt 456 Atomwaffen getestet. Der Herausgeber Yannick Kiesel berichtet über das Buch, das eindrucksvolle Berichte von Zeitzeug*innen, wissenschaftliche Analysen und persönliche Reiseeindrücke versammelt.

Eine interessante Lektüre wünscht – Ihre Juliane Hauschulz

Dr. Lars Pohlmeier ist Vorsitzender der deutschen IPPNW.

Wir sehen mit großer Sorge, dass sich die deutsche Debatte auf Aufrüstung, NATO-Politik und atomare Abschreckung verengt.

Die Bundesregierung will gemeinsam mit der Ukraine weitreichende Waffensysteme herstellen, um Russland auf eigenem Territorium militärisch anzugreifen. Bundeskanzler Friedrich Merz hat die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern an die Ukraine nicht ausgeschlossen. In dieser dramatischen politischen Situation ist Aufrüstung nicht die Antwort. Russland ist militärisch nicht besiegbar. Jede Eskalation von westlicher Seite birgt sowohl die Gefahr einer Ausweitung des Krieges als auch der weitgehenden Zerstörung der Ukraine durch die russischen Angreifer.

Sicherheit lässt sich in unserer von Atomwaffen und zunehmend auch von „künstlicher Intelligenz“ bedrohten Welt nur gemeinsam herstellen. Auch wenn das derzeit schwierig zu erreichen scheint: Die Rolle Deutschlands muss sein, alles dafür zu tun, dass politische Akteure Einfluss nehmen auf die russische Regierung, um konstruktiven Verhandlungen zuzustimmen. Zugleich muss innerhalb der NATO ein Bekenntnis zur Einhaltung internationaler Verträge und der Einhaltung internationalen Rechts erreicht werden.

Moderatoren könnten aus dem Kreis der BRICS-Staaten wie China kommen oder aus dem Vatikan, der sich jüngst als Vermittler angeboten hat. Ohne Alternative bleibt die Rückkehr zu einer zentralen Rolle internationaler Institutionen wie den Vereinten Nationen. Die Marginalisierung der UN, für die auch der Westen verantwortlich ist, muss überwunden werden.

Es ist Selbstbetrug zu glauben, Putin sei allein militärisch unter Druck zu setzen. Es muss eine diplomatische Offensive geben, die unterstützt wird, auch wenn die EU-Staaten selbst nicht federführend bei den Verhandlungen sein sollten. Einseitig auf Aufrüstung zu setzen, hat womöglich als Ergebnis die Zerstörung der Ukraine zur Folge. Dagegen fordert die IPPNW von den EURegierungen, Europa als Friedensprojekt zu begreifen und sich umfassende Friedens- und Sicherheitskonzepte zu eigen zu machen, in denen zivile Sicherheitsmechanismen und deren Durchsetzung immer Vorrang haben. Die beiden großen Atommächte USA und Russland müssen ihre unterschiedlichen strategischen Sicherheitsinteressen in den jetzigen Verhandlungen anerkennen als Voraussetzung für einen nachhaltigen Frieden in der Ukraine. Eigene Sicherheit ist nur möglich, wenn sie die Sicherheit des Anderen einschließt.

Konzert für die unbekannten Deserteur*innen in Berlin

Zum Internationalen Tag der Kriegsdienstverweigerung fand in Berlin ein Konzert für die unbekannten Deserteur*innen statt, organisiert von Friedens- und Menschenrechtsorganisationen, darunter der IPPNW. 200 Stühle trugen die Namen von Menschen, die wegen ihrer Kriegsdienstverweigerung verfolgt werden und nicht teilnehmen konnten. Sie stehen für Hunderttausende, die weltweit den Kriegsdienst verweigern, desertieren oder sich der Rekrutierung entziehen.

Das Konzert am Brandenburger Tor wurde von Redebeiträgen aus Russland, der Ukraine, Israel und Angola begleitet. Artem Klyga aus Russland betonte: „Das Recht auf Kriegsdienstverweigerung ist kein abstrakter moralischer Grundsatz. Es ist eine Frage von Leben und Tod für Tausende von Menschen. Es ist eine Frage der Freiheit für diejenigen, die sich weigern, sich an Gewalt zu beteiligen – und die nun im Verborgenen, in Angst oder in Abschiebehaftanstalten leben.“ Or von New Profile in Israel erklärte: „Den Kriegsdienst zu verweigern, bedeutet nicht, ein Held zu sein. Wir tun es nicht, um gesehen zu werden. Wir tun es, um unsere Privilegien zu nutzen – damit die Stimmen derjenigen gehört werden, die unter der Besatzung leiden.“

An der Aktion nahmen rund 120 Menschen teil, um sich mit den Verfolgten weltweit zu solidarisieren. Die Forderung an die EU und Bundesregierung lautet, die Verfolgung von Kriegsdienstverweiger*innen umgehend einstellen und ihnen Schutz und Asyl gewähren.

Mehr dazu im Forum intern auf S. 4

Appell für eine verantwortungsvolle Asyl- und Migrationspolitik

Ein breites Bündnis von 293 Organisationen fordert die neue Bundesregierung auf, eine verantwortungsvolle Asylund Migrationspolitik zu gestalten und einen respektvollen Ton in der Zuwanderungsdebatte zu etablieren. Das Bündnis vereint Wohlfahrtsverbände, Menschenrechtsor-ganisationen und migrantische Vereinigungen. Die Organisationen appellieren, dass die Regierung Verantwortung für alle in Deutschland lebenden Menschen übernimmt. Die Ausgrenzung bestimmter Gruppen bedroht den gesellschaftlichen Zusammenhalt und stärkt antidemokratische Kräfte. „Damit muss endlich Schluss sein“, erklären die Unterzeichnenden und betonen, dass Offenheit und gleiche Rechte die Gesellschaft stärken. Das Bündnis stellt klar: „Zugewanderte und Geflüchtete sind Teil unserer Gesellschaft – sie gehören zu Deutschland.“ Statt Migration als Ursache sozialer Probleme darzustellen, müsse sich die Politik strukturellen Herausforderungen konsequent widmen. Belastungen für Kommunen und Berufsgruppen seien nicht allein durch Geflüchtete bedingt, sondern erforderten umfassende Lösungsansätze.

Gefordert werden eine funktionierende Asyl-, Aufnahme- und Integrationspolitik mit Schutz individueller Rechte, sicheren Zugangsmöglichkeiten, erleichtertem Arbeitsmarktzugang und Investitionen in die soziale Infrastruktur. Besondere Bedeutung haben Resettlement-Programme und Familiennachzug.

Den Appell finden Sie hier: ippnw.de/bit/migrationspolitik

EU beendet Wirtschaftssanktionen gegen Syrien

Die Außenminister*innen der EU-Staaten haben die vollständige Aufhebung von Wirtschaftssanktionen gegen Syrien beschlossen. Kurz zuvor hatte US-Präsident Trump bei einem Treffen mit dem syrischen Interimspräsidenten Ahmed alScharaa angekündigt, alle US-Sanktionen aufzuheben. Mit dem 2019 verabschiedeten „Caesar Act“ hatten die USA auch Firmen und Staaten aus dem Ausland sanktioniert, die mit der syrischen Regierung oder ihren Unterstützern zusammenarbeiten. Die IPPNW hatte in der Vergangenheit immer wieder kritisiert, dass die Sanktionen die Zivilbevölkerung in Syrien treffen und die humanitäre Krise in dem Land verschärfen. Laut den Vereinten Nationen leben heute über 90 Prozent der Syrer*innen unterhalb der Armutsgrenze. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation sind nur 57 Prozent der syrischen Krankenhäuser und nur 37 Prozent der Gesundheitszentren voll funktionsfähig. Die Sanktionen trafen auch die medizinische Versorgung Syriens, die vor dem Krieg zu den besten in der Region zählte. So konnten Medikamente, Ersatzteile und Software nicht eingekauft oder bezahlt werden.

„Wirtschaftssanktionen werden zunehmend als Mittel der zwischenstaatlichen Auseinandersetzungen eingesetzt und haben oft schwerwiegende humanitäre Folgen“, heißt es in einem Beschluss der IPPNW-Mitgliederversammlung vom 10. Mai 2025. Die IPPNW will sich in den kommenden Jahren mit den friedens- und gesundheitspolitischen Implikationen einseitiger Zwangsmaßnahmen auseinandersetzen.

Menschenrechte: IPPNW-Gruppe besucht den Südosten der Türkei

Vom 15. bis 28. März 2025 hat eine IPPNW-Delegation den Südosten der Türkei bereist, um sich dort mit zahlreichen Vereinen und Vertreter*innen der kurdischen Zivilgesellschaft zu treffen und sich über die menschenrechtliche Situation und die kurdische Befreiungsbewegung zu informieren sowie die solidarische Vernetzung weiterzuspinnen. Auch in diesem Jahr bereiste die Gruppe unter anderem die Städte Diyarbakir, Van, Batman sowie das Staudamm-Projekt in Hasankeyf.

Dabei wurde der fachliche Austausch zu psychosozialer und Trauma-Arbeit fortgesetzt. Während der Delegationsreise veranstaltete die IPPNW zusammen mit Vertreter*innen der Partner-Organisationen TIHV und DerMez in Diyarbakir einen Fachtag zur psychosozialen Versorgung. Dieser richtete sich an Psycholog*innen, Mediziner*innen und Sozialarbeitende, die dort für die Stadtverwaltung tätig sind. Bei mehren Workshops ging es unter anderem um Methoden zur Bearbeitung von (komplexen) Traumafolgen und die Frage, wie man über Traumata gut und menschenrechtsorientiert ins Gespräch kommen kann.

Die Zwangsverwaltung kurdisch geprägter Städte war auch in diesem Jahr ein wichtiges Thema. Seit den türkischen Kommunalwahlen 2024 hat die türkische Regierung erneut in den meisten kurdischen Provinzen Zwangsverwalter anstelle der gewählten Bürgermeister*innen eingesetzt, was zu starken Protesten in der Bevölkerung geführt hat.

Mehr auf S. 16-17

IPPNW fordert Abrüstung und Rüstungskontrolle

Die IPPNW kritisiert die stark gestiegenen deutschen Militärausgaben, die mit 88,5 Milliarden Euro nun weltweit den vierten Platz belegen – hinter den USA, China und Russland. Vor allem die Kriege in der Ukraine und Gaza haben die Rüstungsausgaben global erhöht. Die IPPNW-Vorsitzende Dr. Angelika Claußen betont: „Die Aufrüstung mit immer mehr Waffen macht die Welt nicht sicherer, sondern schürt Konflikte und Kriege. Zudem verursachen Militär und Rüstungsindustrie enorme Treibhausgase – in Übung und Einsatz. Stattdessen fordern wir neue Vereinbarungen zu Rüstungskontrolle und Abrüstung.“

Ein aktueller Bericht zeigt, dass steigende Militärausgaben oft zulasten wichtiger gesellschaftlicher Bereiche gehen, was langfristig erhebliche wirtschaftliche und soziale Folgen haben kann. Die IPPNW hatte bereits im März 2025 die zusätzlichen Aufrüstungspläne, die die neue Koalition noch mit der alten Bundestagsmehrheit beschlossen hatte, kritisiert: Die potentiell unbegrenzte Aufrüstung, verknüpft mit gedeckelten Mitteln für Infrastruktur, führe in der Zukunft zu einer Situation, in der ein vollkommen überdimensionierter Rüstungshaushalt die Gestaltungsmöglichkeiten für Soziales, Gesundheit, Bildung, Klimaschutz und viele andere wichtige Anliegen vernichtet.

Um Stabilität in Europa zu sichern, sind konkrete Vorschläge für Rüstungskontrolle und ein neuer Abrüstungsprozess erforderlich.

Neue Metastudie zur Gefährdung

Deutschlands durch Schweizer AKW

Im Juni 2025 hat der Trinationale Atomschutzverband (TRAS) eine Überblicksstudie zur Gefährdung Deutschlands durch Schweizer AKW veröffentlicht, an der die IPPNW Deutschland mitgewirkt hat. Auf Basis der Erkenntnisse der einzelnen Studien wird darin ein möglichst umfassendes Bild möglichen Folgen eines schweren Atomunfalls in der Schweiz für Deutschland gezeichnet.

Die Schweizer AKW Beznau, Gösgen und Leibstadt zählen zu den ältesten der Welt und entsprechen nicht mehr dem aktuellen Stand von Wissenschaft und Technik. Alle vier stehen nahe oder direkt an der deutschen Grenze. Dennoch streben die Betreiber und Teile der Schweizer Politik einen langen, teilweise jahrzehntelangen Weiterbetrieb an. Ein schwerer Unfall in einem Schweizer AKW hätte mit großer Wahrscheinlichkeit auch massive Auswirkungen auf Deutschland. Die potenziellen Auswirkungen eines solchen Super-GAUs sind in der deutschen Öffentlichkeit kaum bekannt. In den vergangenen Jahren haben diverse Untersuchungen und Modellrechnungen versucht, die mögliche Ausbreitung einer radioaktiven Wolke aus einem Schweizer AKW und die Belastung für Mensch und Umwelt eines schweren Unfalls abzuschätzen. Allerdings verfolgen diese Untersuchungen zum Teil unterschiedliche Ziele und gehen von sehr unterschiedlichen Annahmen aus, was die Schwere des Unfalls, die radioaktiven Freisetzungen und die Wetterlage betrifft.

„Grenzenloses Risiko: Gefährdung Deutschlands durch schwere Unfälle in Schweizer Atomkraftwerken“: ippnw.de/bit/grenzenlos

Die Mitschuld bleibt

Nun ist die Stunde der Krokodilstränen für Gaza

Die

Bilder der Toten, Verletzten,

Hungernden in Gaza sind inzwischen zu krass – und Deutschland kritisiert Israels Kriegspolitik. Diese Einsicht kommt zu spät.

Eilig verlassen nun manche das sinkende Schiff der Realitätsverleugnung, zu krass sind die Bilder der Hungernden in Gaza. Einsicht, Opportunismus, Heuchelei – da ist alles zu haben. Wer in den vergangenen 20 Monaten die Augen vor dem Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung fest verschlossen hielt, fordert nun lauthals, nicht die Augen zu verschließen. Das hat Chuzpe, Lars Klingbeil! Ich finde es allerdings eher obszön.

Krokodilstränen auch in manchen Redaktionen. Aber wo war denn in den vergangenen 20 Monaten die vermeintlich vierte Gewalt? Wäre es nicht ihre Aufgabe gewesen, die deutsche Unterstützung einer Kriegspolitik, die ihre genozidalen Tendenzen nie verborgen hat, kritisch zu befragen? Stattdessen trommelten viele lieber im propagandistischen Geleitzug.

So entstand das Bild einer formierten Gesellschaft: Deutschland einig hinter der Staatsräson versammelt, bis auf eine Minderheit migrantischer, antizionistischer Schmuddelkinder. Doch die formierte Gesellschaft ist eine Schimäre. Seit mindestens einem Jahr, womöglich schon länger, hat die deutsche Israel-Politik keine Mehrheit in der Bevölkerung. In Umfragen zeigen zwei Drittel „kein Verständnis“ für Israels Vorgehen in Gaza. Ebenso viele sind unter den Anhängern aller Parteien gegen Deutschlands militärische Unterstützung dieses Krieges. Zuletzt stieg die Kurve der Ablehnung auf 80 Prozent.

Das wirft Fragen auf, schwierige Fragen nach dem politischen Charakter Deutschlands und seiner politischen Klasse. Zunächst: Das massenhafte Nein zur offiziellen Israel-Politik bleibt ein schwei-

gender Dissens, es ändert nichts an der Marginalisierung der Opposition auf der Straße. In keinem anderen westeuropäischen Land sind die Gaza-Solidaritäts-Bekundungen so winzig wie in Deutschland. Woher rührt die Passivität? Angst vor Diffamierung? Vor dem Polizeiknüppel? Oder schlicht Trägheit?

Was die Lethargie betrifft, so befreit sie nicht von Mitschuld. Nachdem die Gefahr eines Genozids durch den Internationalen Gerichtshof als plausibel bezeichnet wurde, war Deutschland als Unterzeichner der Anti-Genozid-Konvention verpflichtet, dieser Gefahr entgegenzuwirken. Bekanntlich tat die Regierung das Gegenteil, lieferte Rüstungsgüter. Deshalb trifft sie der Vorwurf der Mitschuld zuerst, aber er trifft auch uns alle. Nach Art. 25 des Grundgesetzes steht Völkerrecht über den nationalen Gesetzen, erzeugt „Rechte und Pflichten unmittelbar für die Bewohner des Bundesgebiets“. Das öffentliche Schweigen der Vielen kommt passiver Komplizenschaft gleich. Nun gibt es gute und schlechte Gründe, wenn so viele Deutsche die offizielle Staatsräson nicht teilen. Hier der Wunsch nach Humanität und Gerechtigkeit für Palästinenser:innen, dort die alte, antisemitisch konturierte Aversion gegen Israel – und beides überlappt sich. Etwa 30 Prozent der Befragten bejahen, dass ihnen Juden unsympathischer würden durch Israels Politik. Und dass die israelische Politik ein berechtigter Grund für Feindseligkeit gegenüber Juden sei.

Deshalb hat die Kluft zwischen der Bevölkerungsmeinung und den Proklamationen der politischen Klasse auch eine bedrohliche Seite. Eines Tages könnte der Dissens nicht mehr still sein, sondern sich gewalttätig Luft machen – gegen Juden und Jüdinnen nebenan. Diese Sorge höre ich in links-jüdischen Kreisen schon lange. Doch befangen im selbstgestrickten Mythos, das purifizierte, läuternde Deutschland zu verkörpern, scheint die politische Elite unfähig, sich der tiefgreifenden Spaltung des Landes zu widmen und ihr mit demokratischen Mitteln zu begegnen – etwa durch eine offene Debatte, wie mit Israels Rechtsextremismus umzugehen sei. Stattdessen werden Pappschilder gejagt und Kunstausstellungen zensiert. Es bleibt festzuhalten, dass die autoritär vorgetragene Israel-Politik der vergangenen 20 Monate vielfältigen Schaden angerichtet hat. Zuallererst an Leib, Leben und Seele unzähliger Frauen, Männer und Kinder in Gaza. Aber Schaden auch

„ Seit mindestens einem Jahr hat die deutsche Israel-Politik keine Mehrheit in der Bevölkerung.“

für Deutschland selbst, für sein außenpolitisches Ansehen, sein Standing im Völkerrecht, seine Beziehungen zu Menschenrechtsaktivisten vieler Länder. Beschädigt ist gleichfalls die soziale Textur der Einwanderungsgesellschaft, mit tiefgreifenden, womöglich irreparablen Entfremdungen.

Und warum das alles? Für die Antwort müsste ein ganzes Bündel von Faktoren analysiert werden. Ich beschränke mich auf das Stichwort Whitewashing. Das „Märchen der Versöhnung“, von dem gerade wieder viel die Rede war, ist in der Tat ein Märchen, eine fake-history. Die Bundesrepublik unter Kanzler Konrad Adenauer erkaufte sich mit Geld und Rüstungslieferungen an Israel das Recht, von Wiedergutmachung und Versöhnung zu reden, ohne jegliches Schuldeingeständnis – ein realpolitischer Deal, um von den Westmächten rehabilitiert zu werden.

Und ähnlich wie die damalige deutsche Israel-Politik dabei half, der Auseinandersetzung mit eigener Täterschaft aus dem Weg zu gehen, soll die heutige Unterstützung Israels den Anstieg des Völkischen in Deutschland kaschieren. Aber das funktioniert natürlich nicht. Alles rhetorische Insistieren auf der historischen Schuld Deutschlands verdeckt nur überaus notdürftig die jüngere Schuld: den Wiederaufstieg faschistischen Gedankenguts nicht verhindert zu haben. Und die AfD verfolgt heute dasselbe Whitewashing-Modell wie Adenauer in den 1950ern Jahren, nämlich sich durch eine Beziehung zu Israel äußerlich vom Antisemitismus zu reinigen. So liegt in all dem eine bittere Ironie. Der einzige hohe Preis, den Deutschland je bezahlte für den Massenmord an Juden und Jüdinnen ist die selbstverordnete Zwangsehe mit einem rechtsextrem regierten Israel. Erschienen am 28.05.2025 in der taz. Abdruck mit freundlicher Genehmigung.

Offener Brief von über 1.000 Ärzt*innen und Beschäftigten im Gesundheitswesen

Gaza: Deutschland muss für Menschenrechte und Völkerrecht einstehen

Mehr als 1.000 Ärzt*innen, Angehörige anderer Gesundheitsberufe und Unterstützende haben sich in einem offenen Brief an die Bundesregierung gewandt. Sie fordern, dass Deutschland endlich glaubwürdig für Menschenrechte und das Völkerrecht eintritt und konkrete Maßnahmen ergreift, um die humanitäre Katastrophe in Gaza zu lindern.

Obwohl Bundeskanzler Merz inzwischen vorsichtige Kritik an der militärischen Offensive in Gaza äußert, bleibt die deutsche Regierung weiterhin untätig in zentralen Fragen. Sie lehnt einen klaren Stopp von Rüstungsexporten nach Israel ab. Während die Europäische Union über eine mögliche Prüfung des Assoziierungsabkommens mit Israel debattiert, stimmt Deutschland sogar gegen die Überprüfung, ob Israel die Vereinbarungen einhält. Diese Haltung sei untragbar, betont Dr. Uwe Trieschmann, Vorstandsmitglied der IPPNW: „Unser Brief soll den Druck auf die Bundesregierung erhöhen. Deutschland muss endlich aktiv werden, um gegen die humanitäre Katastrophe in Gaza vorzugehen.“

Die Ärzt*innen und Beschäftigten fordern als ersten Schritt ein sofortiges Ende aller Waffenlieferungen an Israel. Zudem muss sichergestellt werden, dass humanitäre Hilfe ungehindert in die Region gelangt. „Die derzeit nur vier unter israelischer Kontrolle stehenden Lebensmittel-Verteilstationen für zwei Millionen Menschen sind absolut unzureichend. Vor der aktuellen Eskalation gab es 400 Verteilstationen“, erläutert Dr. Trieschmann.

Charlotte Wiedemann ist langjährige Auslandsreporterin. Sie lebt als Publizistin und Autorin in Berlin.

Die Unterzeichner*innen verlangen daher einen ungehinderten Zugang für Nahrungsmittel und humanitäre Hilfe, einschließlich der Unterstützung des UN-Hilfswerks UNRWA. Besonders betroffen ist die medizinische Versorgung, die durch die zerstörte Infrastruktur und den Tod zahlreicher Gesundheitskräfte kaum noch gewährleistet ist. Deutschland könne hier konkret helfen, indem beispielsweise schwerverletzte sowie krebskranke und chronisch kranke Kinder in deutschen Krankenhäusern behandelt werden.

Den Brief finden Sie im Forum intern auf Seite 6.

Aufrüstung vernichtet Wohlstand

Warum die EU-Kriegswirtschaft Menschen arm macht

In Deutschland wird die Schuldenbremse zugunsten von Rüstungsausgaben gelockert, der Bundesrat stimmte am Freitag einer entsprechenden Grundgesetzänderung zu. Dadurch werden laut Schätzungen in den kommenden zwölf Jahren zusätzliche Schulden über 750 Milliarden Euro für Rüstung aufgenommen. Aber nicht nur Deutschland, auch die EU genehmigt ihren Mitgliedstaaten weitere Milliardenkredite für Milit ärausgaben. Um der Bevölkerung diesen Militarismus schmackhaft zu machen, wird er nicht nur mit der vermeintlich notwendigen „Kriegstüchtigkeit“ begründet. Die Aufrüstung soll vielmehr auch als ökonomischer Wachstumsmotor verkauft werden – als Mittel zur Schaffung von Arbeitsplätzen, Innovation und Wohlstand. Dazu eignen sich Rüstungsausgaben allerdings denkbar schlecht.

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat angekündigt, die europäischen Neuverschuldungsgrenzen exklusiv für Rüstungsausgaben zu lockern. Zusätzlich soll ein geplantes Paket 150 Milliarden Euro für Aufrüstung zur Verfügung stellen. Insgesamt, so von der Leyen, könnten so weitere 800 Milliarden Euro für Militärgerät mobilisiert werden. Gleichzeitig plant die Kommission, den Rüstungseinkauf zentral zu steuern und mit einer „Buy European“-Klausel sicherzustellen, dass europäische Waffenkonzerne profitieren.

Waffen statt Klimarettung

Das ist eine bemerkenswerte Kehrtwende. Noch vor wenigen Jahren hatte von der Leyen eine andere Vision für die wirtschaftliche Zukunft der EU: Der Green Deal sollte Europas „Man-on-the moon“-Moment sein, ein Projekt für grünes Wachstum und eine zivil-technologische Transformation. Jetzt stehen also statt Klimainvestitionen Waffensysteme im Zentrum der EU-Wirtschaftspolitik. Die Europäische Investitionsbank – einst als „Klimabank“ gefeiert – soll Militärprojekte finanzieren. Schuldenregeln werden nicht etwa für Klimaschutz, sondern für Rüstungskredite gelockert. Manfred Weber, CSU-Politiker und Chef der konservativen Europäischen Volkspartei, spricht offen von einer angestrebten „Kriegswirtschaft“.

Dieser neue Militär-Keynesianismus wird mit optimistischen Wachstumsprognosen untermauert. Das Institut für Weltwirtschaft (IfW) hat errechnet, dass eine Erhöhung der Militärausgaben auf 3,5 Prozent des europäischen Bruttoinlandsprodukts (BIP) das Wirtschaftswachstum um bis zu 1,5 Prozent steigern könnte. IfW-Präsident Moritz Schularick forderte daraufhin: „Aufrüsten

für den Wohlstand.“ Diese Logik macht die EU mit der Reform ihrer Schuldenregeln nun endgültig zum offiziellen Wirtschaftsprogramm – doch die versprochene Wohlstandssteigerung wird daraus nicht folgen. Ganz im Gegenteil: Die Militarisierung vertieft die wirtschaftliche Spaltung Europas, steigert die soziale Ungleichheit und verschärft bestehende Krisen.

Ein zentrales Problem der propagierten Wachstumshoffnungen liegt in der Kennzahl, auf die sich Politiker und Ökonomen berufen, das Bruttoinlandsprodukt. Diese Messgröße erfasst zwar die gesamtwirtschaftliche Aktivität eines Wirtschaftsraums, doch sie verschleiert die zentrale Frage: Wer eignet sich den geschaffenen Reichtum an? In einem kapitalistischen Produktionssystem entscheidet nicht das reine Wirtschaftswachstum, sondern die Verteilung des Mehrwerts, wer profitiert. So stieg das EU-BIP nach der Corona-Pandemie und der Energiekrise infolge des Ukrainekriegs etwa kontinuierlich an, während die EU-weiten Reallöhne sanken und Energiekonzerne Rekordprofite einfuhren.

Gutes Leben oder Wirtschaftswachstum?

Entscheidend für Wohlstandssteigerungen ist nicht das reine BIP-Wachstum, sondern ob Investitionen zur Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen beitragen. Das ist etwa der Fall, wenn sie die Grundkosten des Lebens senken. Investitionen in erneuerbare Energien beispielsweise fördern die ökologische Nachhaltigkeit, senken Energiepreise langfristig und steigern so die Kaufkraft der breiten Bevölkerung. Militärausgaben hingegen sind keine produktiven Investitionen. Zwar können staatliche Militäraufträge das BIP aufblähen, doch sie schaffen keine gesellschaftlich nutzbare Wertschöpfung. Rüstungsgüter werden nicht konsumiert oder zur Erhöhung der gesellschaftlichen Produktivkraft genutzt, außer man würde anfangen Panzer im öffentlichen Nahverkehr einzusetzen. Vielmehr verursachen sie gesellschaftliche Folgekosten, indem sie teuer gewartet, modernisiert und im schlimmsten Falle eingesetzt werden, was noch viel mehr Wohlstand zerstört.

Entscheidend ist, ob Investitionen zur Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen beitragen. Vom Aufrüstungsboom profitieren also nicht die Lohnabhängigen. Explosionsartige Aktiengewinne von Rheinmetall oder Thales zeigen, wer sich wirklich über Aufrüstung freuen darf: Rüstungskonzerne und ihre Großinvestoren. Auf Jahressicht hat der europäische Aktienindex Stoxx 600 rund zehn Prozent gewonnen, der Index der europäischen Rüstungskonzerne dagegen fast 50 Prozent.

Daran ändert auch die Schaffung neuer Arbeitsplätze nichts, mit der ebenso für Militarisierung geworben wird. Eine Studie der Unternehmensberatung EY rechnet etwa mit über 600 000 neuen Jobs durch Rüstungsaufträge in der EU. Doch das ist weniger beeindruckend, wenn man es mit dem vergleicht, was stattdessen möglich wäre: Studien zeigen, dass Investitionen in Klima, Bildung oder Gesundheit pro eingesetztem Euro zwei- bis dreimal so viele Arbeitsplätze schaffen wie Rüstungsausgaben. Militarisierung ist also kein Jobmotor, sondern eine Bremse.

Militär – längst nicht so innovativ wie angenommen

Das Gleiche gilt für den Bereich Forschung und Entwicklung: Zwar brachte die militärische Forschung zuweilen Innovationen hervor, die auch im nicht-militärischen Bereich nutzbar sind, doch wären diese Mittel in der zivilen Forschung wesentlich effizienter eingesetzt. Experten gehen davon aus, dass bahnbrechende Innovationen heutzutage kaum noch aus der militärischen Forschung zu erwarten sind. Vielmehr findet Technologietransfer schon lange hauptsächlich von der zivilen in die militärische Sphäre statt.

Noch gravierender sind die Auswirkungen der Bindung realwirtschaftlicher Ressourcen durch die Aufrüstung. Wie der Ökonom Lukas Scholle treffend beschreibt: „Eine begrenzte Anzahl von Ingenieuren baut mit einer begrenzten Menge Stahl Panzer statt Züge.“ Die Folge: Klima-, Bildungs- oder Infrastrukturprojekte, die viel wohlstandsmehrender wären, verteuern sich oder scheitern ganz, weil es an Arbeitskräften und/oder Materialien fehlt. Unter bestimmten Umständen könnte dies sogar breitere inflationäre Effekte verursachen, welche vor allem für untere Einkommensschichten mit höheren Konsumquoten katastrophal sind. Während Forderungen nach Schulden für den Klimaschutz oder soziale Projekte von neoliberalen Ökonomen regelmäßig als Inflationsrisiken verteufelt werden, trifft dies auf massive Rüstungsausgaben erstaunlicherweise nicht zu.

Die europäische Aufrüstung verschärft jedoch nicht nur soziale Ungleichheit innerhalb von Mitgliedsstaaten, sondern auch die wirtschaftliche Kluft zwischen ihnen. Da ein Großteil der europäischen Rüstungsindustrie in Europas Zentrum, insbesondere im Westen Deutschlands und in Frankreich, angesiedelt ist, fließen die Gewinne vor allem an dortige Rüstungskonzerne. […]

Südeuropäische Mitgliedsstaaten, die unter Druck stehen, ihre Militärausgaben zu erhöhen, müssen Waffen hingegen importieren, da sie über keine nennenswerte Rüstungsindustrie verfügen.

Während Deutschland und Frankreich von wachsenden Rüstungsexporten profitieren, müssten Staaten wie Portugal oder Griechenland ihre Handelsbilanzen weiter strapazieren und so einen Kapitalabfluss aus der europäischen Peripherie ins Zentrum organisieren. Das verschärft makroökonomische Ungleichgewichte, die schon lange vorherrschen und maßgeblich zur Euro-Krise beitrugen.

Profiteure Deutschland und Frankreich

Dabei gäbe es sinnvolle Alternativen: Portugal und Spanien etwa verfügen über ungenutzte Potenziale in erneuerbaren Energien wie Solar- und Windkraft und kämpfen gleichzeitig mit hoher Arbeitslosigkeit. Investitionen hier könnten Arbeitsplätze schaffen, Abhängigkeiten reduzieren und den wirtschaftlichen Abstand zum Zentrum verringern. Doch das liegt offenkundig nicht im Interesse der von Deutschland und Frankreich dominierten EU.

Anstatt dem Klimawandel und der ökonomischen Ungleichheit Europas mit Investitionen in eine sozial- ökologische Transformation zu begegnen, versuchen europäische Wirtschafts- und Politikeliten über das Feld der Geopolitik künstliche Einigkeit herzustellen. So wird nationale und europäische Einigung beschworen, um sich vor äußeren Feinden der Festung Europas zu schützen und sich zu vermeintlichem Wohlstand zu rüsten. Dabei widerspricht diese Strategie in gleich zweierlei Hinsicht den Interessen der Bevölkerung: Sie steigert das außenpolitische Eskalationspotenzial und beschleunigt die Umverteilung von unten nach oben.

Die Mischung aus wachsender Ungleichheit, sozialer Unsicherheit und Militarisierung bietet zudem einen fruchtbaren Nährboden für das weitere Erstarken rechtsextremer Kräfte. Je weiter sich die EU in diese Richtung bewegt, desto wahrscheinlicher wird es, dass jene Kräfte früher oder später die Kontrolle über eine maximal aufgerüstete Union mit hochmilitarisierten Gesellschaften haben werden – und dank veränderter Schuldenregeln auch über den finanziellen Spielraum, die Aufrüstung weiterzutreiben.

Leo Wagener hat Internationale Beziehungen in Erfurt und Groningen studiert und schließt derzeit seinen Master in Politischer Ökonomie am King’s College London ab.

Grafik: Adobe Firefly

IAEO

und Atomlobby –Freund und Helfer der COPs?

Im Juni 2025 findet die COP-Zwischenkonferenz in Bonn statt

Weitaus weniger bekannt als die COP-Klimagipfel im Herbst sind die alljährlichen Vorbereitungs- und Zwischenkonferenzen, die im Sommer am Sitz des UN-Klimasekretariats in Bonn stattfinden. Im Juni dieses Jahres nutzt die IAEO die Gelegenheit, um „innovative Finanzierungswege“ für die Erschließung „sauberer Energien wie der Atomenergie“ auszuloten.

In diesem Jahr wird die dreißigste Weltklimakonferenz, die COP30, im brasilianischen Belém stattfinden. An der COP nehmen mittlerweile 197 Staaten und die Europäische Union teil, somit gibt es 198 Vertragsparteien der Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen (UNFCCC). Bereits im Vorfeld des UN-Weltumweltgipfels in Rio de Janeiro im Jahr 1992 wurde die UNFCCC ausgehandelt und trat 1994 in Kraft. Der Gipfel von Rio gilt somit als Vorreiter aller UN-Klimakonferenzen, der COPs. Als einer seiner wichtigen Fortschritte wurde damals die vergleichsweise große Beteiligung zivilgesellschaftlicher Organisationen angesehen.

Im Herbst wird sich zeigen, wie sich die Rückkehr nach Brasilien auf den Gestaltungsspielraum der Zivilgesellschaft auswirken wird. Die COP1 fand 1995 in Berlin statt. Seither wandert der Gipfel, der mit einer pandemiebedingten Ausnahme 2020 jährlich stattfand, um die Welt. Immer wieder von großem Interesse begleitet sind die Momente der Profilierung und Ankündigung, aber auch der Aushandlung und des Protests.

Die COP21, die 2015 in Paris stattfand, ist wohl der bekannteste Gipfel, insbesondere aufgrund des regelmäßig als Referenzpunkt genommenen 1,5-Grad-Ziels.

In Paris verpflichteten sich erstmals alle Vertragsstaaten, Maßnahmen gegen den Klimawandel zu ergreifen, um die globale Erwärmung auf deutlich unter 2 °C gegenüber vorindustriellen Werten zu begrenzen und den Temperaturanstieg bis 2100 auf möglichst 1,5 °C zu beschränken. Dieses und weitere „Ziele von Paris” gelten seither als Messlatte, an der sich zeigt, dass sich die Welt gegenwärtig leider auf keinem entsprechenden Pfad befindet. Auch lassen die Pariser Kriterien in einigen Bereichen zu wünschen übrig.

Die internationale IPPNW ist seit der COP28 als zivilgesellschaftliche Beobachterorganisation akkreditiert, kann mit offiziellen Delegationen an den Konferenzen teilnehmen und weist etwa darauf hin, dass militärische Aktivitäten schon ohne Kriegseinsätze zu ca. 5,5 % der weltweiten Treibhausgasemissionen beitragen. Da die Berichterstattung über militärische Emissionen im Rahmen der UNFCCC jedoch freiwillig ist, fallen die offiziellen Daten entsprechend spärlich aus und bieten somit keine realistische Datenbasis.

Die IPPNW richtet sich mit ihren Delegationen und Partnern auch gegen die Versuche, die Atomenergie als vermeintliche Klimaretterin zu positionieren. Dafür bieten die Gipfel der Atomlobby regelmäßig Gelegenheit. Zwar nimmt die Atomenergie in

den Beschlüssen der COPs keine herausgehobene Rolle ein, sie wird aber immer wieder unter den zu fördernden „emissionsfreien und emissionsarmen Technologien“ aufgeführt. Ein besonders großer Mediencoup gelang den Initiatoren der „Declaration to Triple Nuclear Energy“ auf der COP28 in den Vereinigten Arabischen Emiraten. Unter Nutzung der Aufmerksamkeit um die COP schlossen sich im Verlauf des Gipfels letztlich 22 Länder einer Absichtserklärung an, die eine Verdreifachung der Stromerzeugungskapazitäten aus Atomenergie bis zum Jahr 2050 anstreben. Die Erklärung, die die Atomenergie ins Zentrum der Zukunftsvision einer dekarbonisierten Energieversorgung stellt, war bereits vor dem Gipfel von den USA angestoßen worden und wurde zunächst von zehn Staaten, darunter Frankreich und Großbritannien, unterstützt. Nicht dabei waren die einzigen zwei Staaten, die tatsächlich im großen Stil neue Reaktoren bauen: China und Russland. Der Aufruf, der im Wesentlichen darauf abzielt, dem wirtschaftlich strauchelnden Atomsektor neue Finanzierungswege zu eröffnen, fand kurzzeitig einige Aufmerksamkeit. Das dabei angekündigte Ziel ist jedoch äußerst ambitioniert, vergleicht man es mit dem internationalen Stand der Atomindustrie. Denn allein um die alternden Anlagen zu ersetzen, die voraussichtlich bis 2050 abgeschaltet sein werden, müssten jährlich

MAKOMA LEKALAKALA VON EARTHLIFE

AFRICA AUF DER COP28 IN DUBAI.

zehn Reaktoren neu gebaut werden – doppelt so viele wie in den vergangenen zwei Jahrzehnten. Wie der jüngste World Nuclear Industry Status Report (WNISR) zeigt, müssten zusätzlich etwa 1.000 Reaktoren gebaut werden, um die Stromerzeugungskapazität aus AKW zu verdreifachen. Das ist nicht nur unrealistisch, sondern kann als tatsächlich unmöglich angesehen werden.

Weniger bekannt als die COPs, aber ebenfalls regelmäßig Schauplatz von Greenwashing-Versuchen der Atomenergie sind die alljährlich im Juni am Sitz des UNKlimasekretariats in Bonn stattfindenden Zwischenkonferenzen. Sie dienen der Vorbereitung der Weltklimakonferenzen und sind somit ein wichtiger Bestandteil des internationalen Klimaverhandlungsprozesses. Im Rahmen des Begleitprogramms, wirbt die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEO) in diesem Jahr unter dem Titel „Auf dem Weg zu einer gerechten Energiewende: Finanzierungswege von der Kohle zu nachhaltiger Energie” für „innovative Finanzierungswege für eine gerechte Energiewende von fossilen Brennstoffen zu nachhaltigen Energiequellen in Afrika und anderen aufstrebenden Regionen, um dringende Entwicklungsziele zu erreichen”. Der afrikanische Kontinent dient mit seinen fraglos bereits ungedeckten und weiter steigenden Energiebedarfen immer wieder als Projektionsfläche.

„Seit vielen Jahren setzt sich die globale Zivilgesellschaft für einen integrierten Ansatz ein, der die ökologischen, wirtschaftlichen,

sozialen, kulturellen und psychologischen Dimensionen des Übergangs zu einer postfossilen Wirtschaft berücksichtigt. Die Forderung nach einem gerechten Übergang zu einer postfossilen Wirtschaft bedeutet, dass dieser grün, nachhaltig und sozial inklusiv sein muss. Die Option der Atomenergie ist mit diesen Forderungen nicht vereinbar.“

(Makoma Lekalakala in: „The alarming rise of false climate solutions in Africa“)

Wie wenig ernst es der IAEO mit der Erreichung der drängenden Entwicklungsziele ist, zeigt sich u.a. daran, dass sie ihre eigene Faustregel zum Verhältnis von AKW-Kapazitäten und Netzinfrastruktur nicht zu beachten scheint. Laut dieser Regel sollte ein einzelnes Kraftwerk nicht mehr als zehn Prozent der gesamten installierten Netzkapazität ausmachen. Der WNISR merkt in diesem Zusammenhang an, dass die Mehrzahl der afrikanischen Länder dieses Kriterium nicht erfüllen würde, wenn man die typische Leistung eines großen Reaktors von etwa 1.000 MW zugrunde legt. Die sich häufenden Ankündigungen neuer AKW-Projekte in verschiedenen afrikanischen Staaten sind in den wenigsten Fällen mehr als Wunschlisten der Industrie.

In Ägypten etwa führt der russische Staatskonzern Rosatom das einzige AKW-Neubauprojekt des Kontinents aus. Der Bau des El-Dabaa-Kraftwerks an der Nord-

westküste des Landes am Mittelmeer läuft seit Anfang 2024. Mit dem Abschluss des Projekts wird um das Jahr 2030 gerechnet. Schon bei der „Declaration to Triple Nuclear Energy“ und der EU-Taxonomie, nach der Investitionen in AKW und Laufzeitverlängerungen als nachhaltig gekennzeichnet werden dürfen, war zu sehen: Zentrales Anliegen der Atomkraftbefürworter*innen ist es, Finanzierungswege für die teuerste Art der Stromproduktion zu erschließen. Ob großspurige Ankündigungen im Umfeld der Klimagipfel oder vermeintlich auf Nachhaltigkeit und Reduktion von Energiearmut ausgerichtete Veranstaltungen auf den Zwischenkonferenzen – sie alle drohen, sowohl die öffentliche als auch die politische Energiedebatte in die falsche Richtung zu lenken. Zudem vermitteln sie den falschen Eindruck, Atomenergie könne eine sinnvolle, klima- und umweltfreundliche Option sein.

Report „The alarming rise of false climate solutions in Africa: The nuclear energy misadventure“ ippnw.de/bit/misadventure

Patrick Schukalla ist IPPNWReferent für Atomausstieg, Energiewende und Klima.

Foto: Bimal Khadka

Der Konflikt zwischen Kurden und türkischem Staat

Geschichte und neue Entwicklungen in der „Kurdenfrage“

Die Kurdenfrage in der Türkei ist ein komplexes Thema, das von verschiedenen Wendepunkten der Geschichte geprägt wurde. Nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches wurden die Gebiete, in denen die Kurden lebten, mit dem Sykes-Picot-Abkommen 1916 unter vier Ländern aufgeteilt. Seitdem hat die kurdische Bevölkerung in Iran, Irak, Syrien und der Türkei mit kulturellen, wirtschaftlichen, politischen und sozialen Problemen zu kämpfen.

Die junge Türkei war ein Vielvölkerstaat. Jedoch wurden nichtmuslimische Einwohner wie die Armenier und Griechen gezielt ermordet oder vertrieben. Es entstand dennoch eine Repulik und in der ersten Verfassung der Republik Türkei aus dem Jahr 1921 waren Garantien für das kurdische Volk enthalten. Nach der offiziellen Gründung der Republik Türkei im Jahr 1923 wurden diese allerdings in der zweiten Verfassung aus dem Jahre 1924 wieder zurückgenommen und die Existenz des kurdischen Volkes geleugnet.

Der Staat verfolgte nun eine institutionelle Assimilationspolitik, indem er vorschrieb, dass jeder, der in der Türkei lebte, ethnisch türkisch sei. Das löste den ScheichSaid-Aufstand von 1925 aus. Dieser war ein wichtiger Wendepunkt in der frühen Periode der Republik. Seit diesem Aufstand wurde die Kurdenfrage von Seiten

des Staates als Problem der öffentlichen Ordnung und des Terrorismus behandelt. Zudem wurden Ideologien und Erzählungen entwickelt, um die Unterdrückung zu rechtfertigen. So leugnete der Staat die Existenz der Kurden und vertrat die These, dass sie ungebildete und primitive Türken seien, die in den Bergen lebten. Es wurde behauptet, der Name „Kurde“ sei von dem Klang „kert, kort“ abgeleitet – von den Schrittgeräuschen, die diese „primitiven Stämme“ beim „Wandern in den Bergen“ machen würden.

Gründung der PKK

Der Militärputsch in der Türkei vom 12. September 1980 brachte extreme staatliche Unterdrückung auch in die kurdischen Städte im Südosten des Landes. Beispielsweise erließ die Junta ein Gesetz, das alle Sprachen außer dem Türkischen verbot. Die Inhaftierung tausender Kurden und

die schweren Folterungen dieser Gefangenen führten zur Gründung der PKK, der Arbeiterpartei Kurdistans, um die Kurdinnen und Kurden vor dem türkischen Staat zu schützen. Diese Organisation begann 1984 einen bewaffneten Kampf gegen den türkischen Staat. Damit spitzte sich das Problem zu – es entwickelte sich eine Spirale der Gewalt. Die Kurdenfrage wurde von türkischen Medien, Militärs und Politik endgültig als Terror- und Sicherheitsproblem behandelt. Anfang der 1990er Jahre wurden „aus Sicherheitsgründen“ tausende kurdischer Dörfer von der türkischen Armee niedergebrannt, und tausende von Menschen wurden vom Militär getötet. Ein Großteil der Menschen verlor Haus, Hof und Einkommen und wanderte in türkische Städte wie Istanbul, Ankara und Izmir aus.

Anläufe zum Frieden, Städtekrieg und Zwangsverwaltung

In den 2000er Jahren wurden in der Türkei unter dem Einfluss der Beitrittsverhandlungen der Türkei zur Europäischen Union verschiedene Initiativen zur kurdischen Frage ergriffen. Dies wurde von der kurdischen Bevölkerung begrüßt. Im Jahr 2013 begann ein Demokratisierungs- und Friedensprozess, der „Lösungsprozess“. Er wurde jedoch in der türkischen Ge-

DAS GEFÄNGNIS VON DIYARBAKIR. HIER KAM ES IMMER WIEDER ZU SCHWEREN FOLTERUNGEN KURDISCHER GEFANGENER.

GEDENKEN AN TAHIR ELÇI: DER VORSITZENDE DER RECHTSANWALTSKAMMER VON DIYARBAKIR WURDE 2015 KURZ NACH EINER FRIEDENSREDE ERSCHOSSEN.

sellschaft und von vielen türkischen politischen Parteien und Politiker*innen als „verräterischer Prozess“ bezeichnet, der zur Abspaltung Kurdistans führen könnte. Diese Angst wurde geschürt durch die Etablierung von autonomen kurdischen Gebieten in Nordsyrien (Rojava) und die erfolgreichen Kämpfe der kurdischen Milizen gegen den Islamischen Staat in der Anti-IS-Koalition. Die türkische Regierung unter Erdogan verlor Stimmen bei den Wahlen und beendete den „Lösungsprozess“ im Jahr 2015. Die kurdische Frage wurde erneut als Sicherheitsproblem definiert und die Konflikte nahmen zu. In den Innenstädten von Städten wie Cizre, Nusaybin, Sırnak und Diyarbakır-Sur kam es zu Kriegshandlungen. Die historischen Innenstädte wurden nach Ende der Kämpfe dem Erdboden gleichgemacht. Neben vielen türkischen Soldaten und kurdischen Militanten verloren auch Zivilist*innen ihr Leben. Menschen, deren Häuser zerstört wurden, wurden erneut zur Migration gezwungen.

Im Sommer 2016 kam es zu einem Putschversuch und bis 2018 wurde der Ausnahmezustand verhängt. Die Repression in Folge des Putsches richtete sich aber nicht nur gegen die vermeintlichen Drahtzieher, sondern ganz besonders gegen die kurdische Zivilgesellschaft. Seit 2016 wurden in drei Wahlperioden die

Personen, die bei den Kommunalwahlen in Städten mit überwiegend kurdischer Bevölkerung zu Bürgermeister*innen gewählt worden waren, wurden ohne Gerichtsbeschluss aus ihren Ämtern entfernt. An ihrer Stelle wurden von der Regierung in Ankara bestimmte und ernannte Personen eingesetzt.

Zehntausende kurdische Staatsangestellte, Dozent*innen und Studierende, Ärzt*innen, Stadtplaner*innen, Lehrer*innen und Gewerkschaftsmitglieder wurden ohne Gerichtsbeschluss entlassen. Viele zivilgesellschaftliche Organisationen, die in den Bereichen Menschenrechte, Frauenrechte, Kinderrechte und LGBTQ-Rechte tätig sind, wurden ebenfalls ohne Gerichtsbeschluss geschlossen. Auch pro-kurdische Parteien werden regelmäßig verboten, so dass immer wieder eine neue große Partei aufgebaut werden muss. Die ehemaligen Co-Vorsitzenden der Partei HDP, die maßgeblich am Lösungsprozess beteiligt war, Figen Figen Yüksekdag und Selahattin Demirtas sitzen bis heute im Gefängnis.

In den letzten Jahren haben die Kurden weiterhin ihre kulturellen und sprachlichen Rechte eingefordert. Obwohl es verschiedene Initiativen gab, insbesondere, was die Bildung in der Muttersprache und die Verwendung der kurdischen Sprache in der Öffentlichkeit betrifft, wurden in die -

sem Bereich kaum Fortschritte erzielt. Diese Situation schafft auch Hindernisse für grundlegende Rechte wie den Zugang zu Gesundheits- und Bildungsdiensten, weil beispielsweise rein kurdischsprachige Menschen türkischsprachige Ärzt*innen nicht verstehen und auch keine Dolmetscher*innen gestellt werden.

Mit den jüngsten Veränderungen in Syrien, dem Aufruf Abdullah Öcalans für Frieden und eine demokratische Gesellschaft, sowie der Selbstauflösung der PKK kommt wieder Bewegung in die kurdische Frage in der Türkei. Derzeit kann aber noch nicht von einem Friedensprozess gesprochen werden, sondern lediglich von Verhandlungen. Trotzdem ist es die aussichtsreichste Initiative für Frieden seit Jahren.

Vom 15. bis 28. März 2025 fand die IPPNW-Reise in den Südosten der Türkei statt. Berichte der Teilnehmer*innen finden Sie unter: ippnw.de/bit/tuerkei

Mustafa Altıntop hat als Sozialarbeiter für die die Türkische Menschenrechtsstiftung TIHV gearbeitet. Er war Vorstand der Menschenrechtsvereinigung IHD.

DISKUSSION AUF DEM IPPNW-JAHRESTREFFEN IN BERLIN

SWie Atomtests Generationen prägen

Überlebende von Atomwaffentests besuchen Deutschland

eit 1945 wurden weltweit über 2.000 Atomwaffen gezündet –als Atomwaffentests. Diese Tests wurden in Regionen weit entfernt von den Machtzentren durchgeführt, auf den Territorien indigener Völker, First Nations und (ehemals) kolonisierter Gemeinschaften. In Kasachstan und Maòhi Nui (dekoloniale Bezeichnung von Französisch-Polynesien) müssen unter anderem ganze Gemeinden mit den langfristigen gesundheitlichen, sozialen und ökologischen Folgen leben – oft ohne Entschädigung, Anerkennung oder medizinische Hilfe.

Die nuklearen Überlebenden Hinamoeura Morgant-Cross und Tamatoa Tepuhiarii aus Maòhi Nui sowie Aigerim Seitenova und Aigerim Yelgeldy aus Kasachstan reisten auf Einladung der IPPNW nach Deutschland, um persönlich über die Auswirkungen von Atomtests auf ihre Gesundheit, ihr Land und ihre Gemeinschaften zu berichten. Sie sprachen über ihr Überleben, ihren Schmerz – und ihren Widerstand. Ihre Geschichten zeigen, warum Atomwaffen nicht nur als strategische, abstrakte Instrumente der Politik betrachtet werden sollten – sondern als Ursache globalen Leidens und von Menschenrechtsverletzungen.

Die Sprecher*innen

Hinamoeura Morgant-Cross wurde zu einer starken Aktivistin für nukleare Gerechtigkeit, als sie erkannte, dass ihre Leukämie eine Folge der französischen

Atomwaffentests in Maòhi Nui war. Heute engagiert sie sich auf nationaler und internationaler Ebene, um Anerkennung, medizinische Versorgung und finanzielle Entschädigung für die Überlebenden von Atomtests zu erreichen. Seit 2023 ist sie auch Mitglied der Versammlung von Maòhi Nui, wo sie unter anderem eine Resolution zur Unterstützung des Vertrags über das Verbot von Atomwaffen verabschiedete. Außerdem wurde sie 2023 mit dem Nuclear Free Future Award ausgezeichnet.

Tamatoa Tepuhiarii ist ein Maòhi-Aktivist und Forscher zu den Auswirkungen der französischen Atomwaffentests in Maòhi Nui. Er hat an mehreren Konferenzen auf der ganzen Welt teilgenommen, um über das nukleare Erbe seines Landes und seiner Gemeinschaft zu sprechen. Derzeit ist er Doktorand an der Universität Hamburg und arbeitet an dem Projekt „Nuclear Justice and Gender in the Sea of Islands“.

Aigerim Seitenova ist Mitbegründerin der Qazaq Nuclear Frontline Coalition und Überlebende von Atomtests in der dritten Generation aus Semei, wo die Sowjetunion zwischen 1949 und 1989 467 Atombomben zündete. Im März 2025 veröffentlichte sie ihren eigenen Kurzdokumentarfilm „JARA – Radioaktives Patriarchat: Frauen aus Kasachstan“ über Frauen, die von den sowjetischen Atomwaffentests betroffen sind. Darin beschäftigt sie sich mit ihrer eigenen Familiengeschichte und Krankheit und enthüllt die enorme persönliche Belastung, die durch die nukleare Geschichte ihres Landes verursacht wurde.

Aigerim Yelgeldy ist eine Überlebende von Atomtests in der dritten Generation aus Semei. Obwohl Aigerim seit zehn Jahren gegen den Krebs kämpft, setzt sie sich für nukleare Gerechtigkeit ein. Sie nahm am zweiten Treffen der Vertragsstaaten des TPNW teil, um über die Folgen der Atomwaffentests und der Strahlung für ihr Leben und ihre Gemeinschaft zu sprechen. Ihre Geschichte wird auch in dem von Aigerim Seitenova produzierten Dokumentarfilm „JARA“ behandelt.

Der Student und Aktivist Yerdaulet Rakhmatulla aus Kasachstan hat die Reise mit seinem Fachwissen unterstützt und die Gruppe als Dolmetscher begleitet. Er beschäftigt sich mit globaler Sicherheit, nuklearer Abrüstung, KI-Governance und nuklearer Gerechtigkeit. Er ist Mitbegründer der Qazaq Nuclear Frontline Coalition und bringt sich aktiv in die internationale Arbeit mit Überlebenden ein.

Hamburg, Bonn, Frankfurt, Berlin

Vom 4. bis 13. Mai 2025 reisten die Überlebenden nach Hamburg, Bonn, Frankfurt und Berlin und sprachen auf Podiumsdiskussionen über die Auswirkungen von Atomtests auf ihre Gemeinschaften und persönliche Gesundheit sowie ihr Engagement im Kampf für eine atomwaffenfreie Welt. In Hamburg und Berlin wurde der Dokumentarfilms JARA – Radioaktives Patriarchat: Frauen aus Kasachstan vorgeführt, welcher die besondere Rolle von Frauen und Mädchen bei der Betroffenheit betrachtet. Wir durften uns bei vielen Ver-

Fotos: Xanthe Hall

Hinamoeura Morgant-Cross berichtet:

anstaltungen über voll besetzte Veranstaltungsräume – bei allen über reges Interesse und lebhafte Diskussionen freuen. Außerdem sprachen die Gäste bei einem Workshop der Universität Hamburg zu den langfristigen Folgen von Atomwaffentests und möglichen zukünftigen Kooperationen beim IPPNW-Jahrestreffen 2025. Auch politischen Vertreter*innen konnten die Überlebenden über die Situation in ehemaligen Testgebieten berichten: In Bonn hatten sie mit der stellvertretenden Bürgermeisterin Dr. Ursula Sautter ein motivierendes Gespräch über weibliche Perspektiven und die Probleme mit dem Recht auf Gesundheit. In Berlin führten sie einen intensiven Dialog mit Vertretern des Auswärtigen Amtes über Unterstützungsmöglichkeiten, die Deutschland bieten könnte.

Wir blicken mit Wertschätzung und Inspiration auf eine intensive, erfolgreiche Reise zurück und danken allen Beteiligten für ihr Engagement.

„Während meiner Kindheit in Tahiti stellte das Bildungssystem die französischen Atomtests als Motor der Entwicklung für unser Land dar und ließ ihre negativen Folgen völlig außer acht. Erst im Oktober 2018, als ich eine Schlagzeile in einer lokalen Zeitung las, entdeckte ich das Ausmaß der 193 Atomtests und ihrer verheerenden gesundheitlichen und ökologischen Folgen. Diese Enthüllung war ein Schock. Ich war in dem Glauben aufgewachsen, dass die französischen Atomwaffen-Experimente für unser Land von Vorteil waren und dass es sich um eine Handvoll „Tests“ handelte – höchstens drei oder fünf. Ich dachte auch, ein Atomtest sei nur ein einfacher Versuch ohne ernsthafte Konsequenzen. Ich erfuhr, dass Bomben, die 150-mal stärker waren als die von Hiroshima, in unseren Lagunen detoniert worden waren und dass die Krankheiten, von denen meine Familie betroffen war – Krebs, Schilddrüsenprobleme und die chronische myeloische Leukämie, die bei mir 2013 diagnostiziert wurde – mit diesem toxischen Erbe zusammenhängen könnten. Ich verspürte unermessliche Wut, aber auch Schuldgefühle: Warum hatte ich es nicht früher gewusst? Wie konnte ich als gebildeter Mensch so unwissend gewesen sein? Diese Fragen verfolgten mich, gaben mir aber auch die Kraft, nicht passiv zu bleiben. 2019 schloss ich mich einer Anti-AtomInitiative in Tahiti an, um aktiv zu werden, das Schweigen zu brechen und sicherzustellen, dass Polynesier*innen nicht mehr in Unkenntnis dieser dunklen Realität aufwachsen.“

„Das Gesundheitssystem in Französisch-Polynesien ist nach wie vor erschreckend unterentwickelt und liegt 30 Jahre hinter dem des französischen Festlands zurück. Patient*innen, die an Krebserkrankungen und anderen strahlenbedingten Erkrankungen leiden, fehlt die notwendige medizinische Unterstützung.“

Antonia Hoffmann studiert Mathematik in Berlin. Sie hat die Reise im Rahmen eines Praktikums mit organisiert und begleitet.

Maòhi Nui ist ein französisches Überseegebiet, jedoch mit eigener medizinischer Versorgung. Die Bevölkerung muss also auch finanziell für die medizinischen Schäden aufkommen, die die französischen Atomwaffentests verursacht haben. Häufig müssen Betroffene für eine Behandlung nach Frankreich reisen, da die medizinische Versorgung vor Ort nicht ausreichend ist. Viele sind nicht auf die kälteren Temperaturen dort vorbereitet, einige sprechen kein Französisch. Sie müssen alleine reisen und die Therapien ohne die Unterstützung durch Familie oder Freundeskreise durchstehen.

Fotos:
Xanthe Hall
„Wir müssen anerkennen, dass wir Hibakusha sind – sonst können wir

unsere Botschaft nicht an die jüngeren Generationen weitergeben.“

Kunihiko Sakuma

Weitere Fotos finden Sie bei der Internationalen Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen: www.flickr.com/icanw

Das Stigma überwinden

Die Hibakusha und ihre Botschaft an nachfolgende Generationen

Die Überlebenden der Atombombenangriffe in Japan, die sich „Hibakusha“ nennen, haben es sich zur Aufgabe gemacht, vor den Gefahren von Atomwaffen zu warnen. Indem sie ihre Geschichte erzählen, wollen sie das Vermächtnis der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki an eine neue Generation weitergeben und sie befähigen, eine Welt ohne Atomwaffen aufzubauen. Kunihiko Sakuma, Überlebender des Atombombenabwurfs auf Hiroshima, hat im Mai 2025 Berlin besucht. Im Alter von nur neun Monaten erlebte er den Atomwaffenangriff auf Hiroshima. Auch wenn er daran keine Erinnerung hat, prägte dieser Angriff sein gesamtes Leben. Familienmitglieder litten unter den Folgen der Strahlenkrankheit, mussten jedoch ihre Identität als Hibakusha geheimhalten, um ein Leben ohne Diskriminierung führen zu können. In einer Zeit wachsender globaler Spannungen sind die Stimmen der Hibakusha wichtiger denn je. Die Verleihung des Friedensnobelpreises 2024 an die Überlebenden-Organisation Nihon Hidankyo erinnert uns: Atomwaffen erzeugen katastrophales humanitäres Leid. Sie müssen ein für allemal abgeschafft werden.

Foto: Klemens Czurda
KUNIHIKO SAKUMA BERICHTET.
„Wir

haben die Bombe überlebt“

Hibakusha erzählen ihre Geschichte

Ich wurde im 1943 geboren. Die Atombombe wurde abgeworfen, als ich ein Jahr und zehn Monate alt war. Ich war zu Hause, 2,9 Kilometer vom Hypozentrum im Norden Nagasakis entfernt. Ich kann mich nicht mehr an diesen Tag erinnern. Mein Überleben verdanke ich der Landschaft von Nagasaki, die von Bergen umgeben ist. Ich wuchs damit auf, dass meine Mutter von Zeit zu Zeit von ihren Erlebnissen erzählte. […] Auf der Südseite des Ground Zero brach ein Feuer aus. Um ihm zu entkommen, überquerten die Menschen in der Nähe des Ground Zero den Berg, um in die Stadt hinunterzukommen. Auf der braunen Oberfläche des Berges sah meine Mutter, wie sich die Menschen wie Ameisen aneinanderreihten. Ihre Haare waren so blutverschmiert, dass sie nicht einmal mehr erkennen konnte, ob sie männlich oder weiblich waren. Sie waren fast nackt. Meine Mutter zitterte, als sie die schwarze Schlange von Menschen sah, die den Berg herunterkamen. Vermutlich sind viele Menschen auf dieser Bergstraße gestorben. Direkt neben unserem Haus befand sich ein leeres Grundstück, das wegen der Evakuierung von Gebäuden leer stand. Die Leichen, die auf der Straße zurückgelassen worden waren, wurden in Müllwagen auf den Platz gebracht und auf dem Boden aufgestapelt. […] Meine Mutter sagte, sie habe damals ihr menschliches Empfindungsvermögen verloren. Aus Rede auf dem “Nuclear Issues Forum” 2021, ippnw.de/bit/ masako-wada

Am 6. August 1945 fand der Atombombenangriff auf Hiroshima statt. Ich war neun Monate alt. Unser Haus lag drei Kilometer westlich des Explosionszentrums – ein einstöckiges Holzhaus. Ich schlief auf der Veranda und meine Mutter machte die Wäsche, als die Bombe abgeworfen wurde. Das Haus wurde durch die Explosion schwer beschädigt: Es war umgekippt, die Wände waren eingestürzt, Dachziegel und Fensterscheiben waren verstreut.

Glücklicherweise blieb es irgendwie bewohnbar. Meine Mutter trug mich auf ihrem Rücken aus der Gefahrenzone. Unterwegs waren wir dem strahlenden Schwarzen Regen ausgesetzt.

[…] Die Explosion verwüstete sofort die gesamte Stadt Hiroshima. Die Hitzestrahlung verursachte Feuersbrünste. Die Menschen wurden unter den eingestürzten Gebäuden zerquetscht. Sie verbrannten oder starben an den Folgen der hohen Strahlendosen. In dieser Hölle hatten meine Familienmitglieder Glück, dass sie knapp überlebten. Später, als ich elf oder zwölf war, musste ich wegen gesundheitlicher Probleme zwei Monate der Schule fernbleiben. Ich litt an Leber- und Nierenproblemen, die dazu führten, dass ich mich träge fühlte. Ich hatte keinen Appetit, und schon als Kind hatte ich Angst, dass ich sterben würde. Der Schmerz ist für mich immer noch traumatisch, wenn ich krank werde. Bei meiner Mutter, die dem Schwarzen Regen auch ausgesetzt war, wurde 1963 Brustkrebs diagnostiziert, so dass sie operiert werden musste. Sie litt weiterhin an Krankheiten unbekannter Ursache und starb 1998, nach wiederholten Krankenhausbehandlungen. Heute, 80 Jahre später, gibt es immer noch Menschen, deren Tod vermutlich auf die Auswirkungen der atomaren Strahlung zurückzuführen ist. Kunihiko Sakuma im Mai 2025 in Berlin

Jong-kuen Lee

Am 6. August war ich im Zug auf dem Weg zur Arbeit von Hera in Hatsukaichi, wo mein Haus stand. Ich passierte das Hypozentrum, zehn Minuten bevor die Atombombe abgeworfen wurde. Als ich den Blitz sah, warf ich mich auf den Boden und bedeckte meine Augen, Ohren und Nase mit meinen Händen. Als ich nach einer Weile aufschaute, konnte ich nichts sehen, weil es vollkommen dunkel war. Die Häuser um mich herum waren alle eingestürzt. [...] Ich nahm einen großen Umweg, um nach Hause zu gelangen. Wir gingen im Zickzack, um unverbrannte Gebiete oder Bereiche zu finden, wo das Feuer nachgelassen hatte. Ich sah viele sterbende Menschen und Tote. Ich lief sieben oder acht Stunden.“

Aus: „Survivor Testimonies”, Video des Hiroshima Peace Memorial Museum, ippnw.de/bit/longkuen-lee

Foto: Hiroshima Peace Memorial Musem

Meinem Vater gelang es, zu meiner Schule zu kommen und mich zu finden. Auf dem Heimweg, mein Vater trug mich auf dem Rücken, wurde ich Zeugin der Hölle auf Erden. Ich sah einen Mann mit verbrannter und abgezogener Haut, die von seinem Körper herabhing. Eine Mutter trug ein Baby, das schwarz verbrannt war und wie Holzkohle aussah. Sie selbst hatte schwere Verbrennungen am ganzen Körper und versuchte, zu fliehen, wobei sie fast auf dem Boden kroch. Andere verloren ihr Augenlicht, ihre Augäpfel traten heraus, oder sie rannten umher und versuchten zu fliehen, während sie ihre heraushängenden Eingeweide in den Händen hielten. Immer mehr Menschen versuchten, sich an uns zu klammern und riefen: „Gebt mir Wasser, Wasser, Wasser...“. Da wir nicht in der Lage waren, ihnen zu helfen, ließen wir sie einfach zurück und eilten nach Hause.

Unser altes Haus hatte sich in der Nähe des Ground Zero befunden, und nur 350 Meter davon ging ich zur Schule. […] Wären wir dort wohnen geblieben, wäre ich nicht mehr am Leben, um Ihnen diese Geschichte zu erzählen. Später erfuhr ich, dass etwa 400 Schülerinnen und Schüler meiner alten Schule von der Bombe verbrannt und sofort getötet wurden, ohne dass sie Spuren hinterließen – nicht einmal ihre Asche.

Als ich zu unserem Haus kam – 3,5 Kilometer vom Hypozentrum – fand ich das Dach von der Explosion weggesprengt und Glasscherben überall verstreut. Schwarzer Regen fiel in das Haus, Spuren davon blieben lange Zeit an der Wand zurück. Die Nachbarn unseres alten Hauses und unsere Verwandten kamen zu uns und suchten Hilfe und Schutz. Unter ihnen war auch meine Lieblingscousine – für mich war sie wie eine große Schwester. Als die Bombe explodierte, war sie zu Arbeiten in der Umgebung des Explosionszentrums abkommandiert worden. Die Hälfte ihres Gesichts, ihr Rücken und ihr rechtes Bein waren schwer verbrannt, wund und roh. […] Am Morgen des dritten Tages – wahrscheinlich war es der 9. August – hauchte sie in meinen Armen ihr Leben aus. Sie war 14 Jahre alt. Ein

anderer Cousin, der in der fünften Klasse der Grundschule war, litt an Durchfall, obwohl er keine Verletzungen oder Verbrennungen hatte. Etwa eine Woche später blutete er aus Ohren und Nase, erbrach Blutgerinnsel aus seinem Mund und starb plötzlich. Innerhalb weniger Monate folgten meinen Cousins nacheinander mehrere meiner Onkel und Tanten. Quelle: Nuclear Age Peace Foundation, ippnw.de/bit/michiko-kodama

An diesem Schicksalstag, dem 6. August 1945, war ich 13 Jahre alt und arbeitete im Rahmen eines Schülereinsatzes im Hauptquartier der japanischen Armee in Hiroshima, 1,8 Kilometer vom Zentrum der Bombardierung entfernt. Um viertel nach acht sah ich aus dem Fenster einen blau-weißen Blitz – und ich erinnere mich an das Gefühl, in der Luft zu schweben. Als ich zu mir kam, war es still und dunkel. Ich steckte zwischen eingestürzten Gebäudeteilen fest und konnte mich nicht bewegen – ich wusste, dass ich dem Tod ins Auge sah. […] Ein Soldat zeigte mir und zwei anderen Mädchen einen Fluchtweg in die nahe gelegenen Hügel. […] Geisterhafte Gestalten strömten vorbei, aus dem Stadtzentrum trotteten sie in Richtung der nahe gelegen Hügel. ‚Geisterhaft‘ sage ich, weil sie nicht wie Menschen aussahen. Ihr Haar stand zu Berge, sie waren nackt und zerrissen, blutig, verbrannt, schwarz und verschwollen. Körperteile fehlten, Fleisch und Haut hingen ihnen von den Knochen, manche hielten ihre Augäpfel mit den Händen, manchen hingen die Eingeweide aus dem offenen Bauch. Wir schlossen uns der gespenstischen Prozession an, vorsichtig stiegen wir über die Toten und Sterbenden. Im tödlichen Schweigen hörte man nur das Stöhnen der Verletzten und ihr Flehen nach Wasser. […] Als es dunkel wurde, saßen wir am Abhang und beobachteten die Stadt, die die ganze Nacht brannte – benommen von der Massivität des Leids und des Sterbens, dessen Zeugen wir geworden waren.“

Aus: IPPNW-Forum 142/2015, ippnw.de/bit/setsuko-thurlow

Hiroshima Peace Memorial Museum
HIROSHIMA IM SEPTEMBER 1945
LEICHEN VON SCHULMÄDCHEN, DIE IN HIROSHIMA BRANDSCHNEISEN ANGELEGT HATTEN. GEMALT VON HIDEHIKO OKAZAKI

Nein zum menschenverachtenden

Prinzip

der „nuklearen Abschreckung“

Die Weltgesundheitsversammlung verabschiedet die Resolution „Effects of Nuclear War on Public Health“

Achtzig Jahre nach dem Inferno von Hiroshima und Nagasaki ist das Risiko eines Atomkrieges so hoch wie nie. Mehrere Atommächte sind in aktive Kriege verwickelt und alle Atommächte rüsten derzeit nuklear auf. Auch Deutschland als Nichtatommacht beteiligt sich im Rahmen der „nuklearen Teilhabe“ an dieser Aufrüstung durch die Stationierung modernisierter US-Atomwaffen in Büchel. Unter anderem steckt sie Milliarden in den Umbau des Luftwaffenstützpunktes und in neue F35-Kampfbomber als Trägersystem. Die Klimakrise, die Entwicklung der künstlichen Intelligenz und die für 2026 geplante Stationierung von Mittelstreckenwaffen in Deutschland erhöhen das Atomkriegsrisiko weiter.

Seit der Wahl von Donald Trump werden in Deutschland wieder Forderungen nach eigenen oder europäischen Atombomben laut. Doch das wäre weder mit dem NichtVerbreitungsvertrag (NVV) noch mit dem Zwei-plus-Vier-Vertrag zur Deutschen Einheit vereinbar. Beide Verträge verpflichten Deutschland dazu, auf eigene Atomwaffen und auf die Übernahme von Kontrolle über Atomwaffen zu verzichten. Die Mehrheit der Staaten der Welt hält bereits die Stationierung US-amerikanischer Atomwaffen in Rheinland-Pfalz im Rahmen der nuklearen Teilhabe für völkerrechtswidrig. Deutsche Soldat*innen sollen diese Atomwaffen im Ernstfall auf US-amerikanischen

Befehl hin einsetzen. Die derzeitige durch die USA vorgenommene technische Aufrüstung dieser Waffen zu Lenkwaffen mit verstellbarer Sprengkraft erhöht die Wahrscheinlichkeit ihres Einsatzes. Sie widerspricht den Abrüstungsverpflichtungen, denen die USA im Nicht-Verbreitungsvertrag unterliegen.

Die Diskussion über die deutsche oder europäische Atombombe entbehrt jeder Grundlage. Der Ausstieg Deutschlands aus dem Nichtverbreitungsvertrag würde das fatale Signal aussenden, Atomwaffen seien ein wichtiger Bestandteil nationaler Sicherheit. Weitere Länder könnten diesem Beispiel folgen. Ein solcher Ausstieg wäre mit hoher Wahrscheinlichkeit das Ende der bestehenden internationalen Rüstungskontrollabkommen zu Atomwaffen. Zum anderen ist der 2+4-Vertrag zur deutschen Wiedervereinigung ein völkerrechtlicher Vertrag ohne Rücktrittsklausel. Eine Auflösung würde die deutsche Nachkriegsordnung und die Friedensordnung in Europa aufkündigen – mit kaum absehbaren Folgen.

Nach der geltenden US-Atomwaffen-Doktrin, der „Nuclear Posture Review“ von 2018, sollen die in Europa stationierten Atomwaffen nicht mehr ausschließlich der Abschreckung dienen, sondern für den Einsatz in konventionellen Kriegen geeignet sein. Die Stationierung von Atomwaffen macht uns in Deutsch-

land nicht sicherer, sondern erhöht die Gefahr eines Angriffs mit der Folge eines Atomkriegs in Europa. Der Standort der völkerrechtlich umstrittenen Atomwaffen in Rheinland-Pfalz ist bekannt. Sie wären im Kriegsfall erstes Angriffsziel – und kein „nuklearer Schutzschirm“. In einem Atomkrieg, in dem weniger als 34 Prozent der Atomwaffen aus den globalen Arsenalen eingesetzt würden, würden unmittelbar über 100 Millionen Menschen sterben. Langfristig könnten durch die durch Ruß und Staub verdunkelte Atmosphäre und die daraus resultierende Temperaturabkühlung und Ernteausfälle 2,5 Milliarden Menschen sterben.

Auch könnte bereits der Einsatz von nur einer Atomwaffe durch festgelegte Befehls- und Entscheidungsketten zu einer Eskalation bis zum globalen Atomkrieg führen, wie Simulationen und Planspiele des US-Militärs belegen. Das Festhalten der Bundesregierung am Prinzip der „nuklearen Abschreckung“ ist eine Gefahr für die Sicherheit der Menschen in Deutschland, Europa und weltweit. Damit „nukleare Abschreckung“ überhaupt funktionieren kann, muss dem Gegner signalisiert werden, dass man zum Einsatz von Atomwaffen und damit zum Massenmord an der gegnerischen Bevölkerung bereit wäre. Diese völkerrechtswidrige Haltung kann niemals Grundlage für eine gemeinsame Friedens- und Sicherheitsordnung sein.

Schon die Entwicklung von Atomwaffen, die mit über 2.000 Atomwaffentests einherging, hat zu einem weltweiten Anstieg von Krebs und anderen strahlenbedingten Erkrankungen geführt. Besonders betroffen sind indigene Menschen und Menschen in ehemaligen Kolonien, auf deren Land der Großteil der Atomtests durchgeführt wurden.

„Zwar ist die Zahl der Atomwaffen von 70.300 im Jahr 1986 auf heute 12.331 gesunken. Jedoch entspricht dies immer noch 146.605 Hiroshima-Bomben und bedeutet nicht, dass die Menschheit sicherer ist. Heute besteht ein breiter Konsens, dass das Atomkriegsrisiko höher ist als je zuvor: Die Abrüstung ist im Rückwärtsgang, vielerorts wird in großem Stil atomar aufgerüstet“, heißt es in dem am 13. Mai 2025 von 132 medizinischen Fachzeitschriften veröffentlichtem Artikel „Ending nuclear weapons before they end us“. Im Januar ist die Weltuntergangsuhr so nah an Mitternacht gerückt wie noch nie seit ihrer Einführung im Jahr 1947.

Doch es gibt auch gute Nachrichten: Im Dezember 2024 erhielt Nihon Hidankyo, eine Bewegung, die Überlebende der Atombombenabwürfe vereint, den Friedensnobelpreis für ihre „Bemühungen um eine atomwaffenfreie Welt und dafür, dass sie durch ihr Zeugnis gezeigt haben, dass Atomwaffen nie wieder eingesetzt werden dürfen“.

Am 26. Mai 2025 hat die Weltgesundheitsversammlung (WHA) die Resolution „Effects of Nuclear War on Public Health“ mit großer Mehrheit angenommen. Die Bundesregierung stimmte gegen die neue Studie, zusammen u.a. mit Russland, Großbritannien, Frankreich, Ungarn und Nordkorea. Zuvor hatten Russland und die USA versucht, die Resolution zu verhindern. Obwohl die USA die WHO nicht mehr unterstützen, forderten sie andere NATO-Staaten dazu auf, dagegen zu stimmen.

Die Resolution beauftragt die Weltgesundheitsorganisation (WHO), die gesundheitlichen und umweltbezogenen Auswirkungen eines Atomkrieges systematisch zu untersuchen und die Forschung auf diesem Gebiet erheblich auszuweiten. Konkret sollen die wegweisenden WHOBerichte von 1983, 1987 und 1993 zu den Gesundheitsfolgen von Atomkrieg und Atomtests aktualisiert werden. Die Einbeziehung der gesundheitlichen Folgen der Atomwaffentests bedeutet für die Überlebenden, dass sie ihre Forderungen nach Anerkennung und Entschädigungen mit Daten unterfüttern können. Zudem ist die Informationslage in vielen Regionen nach wie vor lückenhaft und eine Aufklärung der Bevölkerung aufgrund fehlender Forschung schwierig. Die neuen Studien können hier einen neuen Anstoß für weitere Forschung und für die Aufklärung der Öffentlichkeit geben.

Ende 2024 stimmte die UN-Generalversammlung mit überwältigender Mehrheit für die Einsetzung eines 21-köpfigen unabhängigen wissenschaftlichen Gremiums, das eine neue umfassende Studie über die Auswirkungen eines Atomkrieges durchführen soll. Das Gremium wird die klimatischen, ökologischen und radiologischen Auswirkungen eines Atomkrieges und deren Folgen für die öffentliche Gesundheit, die globalen sozioökonomischen Systeme, die Landwirtschaft und die Ökosysteme untersuchen. Die nun beschlossene WHO-Studie wird diese Arbeit ergänzen.

All das sind wichtige Schritte hin zu einer evidenzbasierten Auseinandersetzung mit den katastrophalen Konsequenzen eines Atomkrieges.

Beim IPPNW-Weltkongress vom 2.-4. Oktober 2025 in Nagasaki, Japan, werden WHO-Generaldirektor Dr. Tedros Ghebreyesus sowie Vertreter*innen von Nihon Hidankyo referieren.

Dr. Angelika Claußen und Dr. Lars Pohlmeier sind Vorsitzende der deutschen IPPNW.
Paul Kagame
DAS BÜRO DER VEREINTEN NATIONEN IN GENF
NIHON HIDANKYO IN OSLO, DEZEMBER 2024

„Die Welt braucht die Berichte der Hibakusha“

Interview mit dem japanischen IPPNW-Arzt Dr. Masao Tomonaga

Herr Tomonaga, als Überlebender des US-Atombombenangriffs auf Nagasaki muss die Verleihung des Friedensnobelpreises 2024 an Nihon Hidankyo für Sie eine große Bedeutung haben. Können Sie etwas dazu sagen, warum es so wichtig ist, die Hibakusha in diesem Moment anzuerkennen, und wie ihre Stimmen die Kampagne für die Abschaffung von Atomwaffen befördern können?

Die Zahl der noch lebenden Hibakusha ist heute sehr klein – wir sind weniger als 100.000 – mit einem Durchschnittsalter von über 85 Jahren. Trotz ihres hohen Alters sind einige Hibakusha immer noch sehr aktiv in der Bewegung für die Abschaffung von Atomwaffen. Die neun Atomwaffenstaaten verfügen jedoch über mehr als 12.000 Atomwaffen, und einige von ihnen bauen ihre Arsenale in diesem Jahrzehnt aus. Eine solche Verbreitung hat es seit dem Ende des Kalten Krieges 1991 nicht mehr gegeben.

Am 10. Dezember letzten Jahres vergab das Friedensnobelpreiskomitee den Preis aan Nihon Hidankyo, die japanische Vereinigung der A- und H-Bombenopfer. Der Vorsitzende des Komitees, Jørgen Watne Frydnes, wies darauf hin, dass die Hibakusha das atomare Tabu durch ihre hartnäckige und langjährige Anti-Atom-Arbeit und durch ihre Atombombenzeugnisse in der ganzen Welt fest verankert hätten. In der Zeit des Kalten Krieges wurde das „atomare Tabu“ zur internationalen Norm, doch seit dem russischen Einmarsch in der Ukraine und der Drohung, in diesem Konflikt Atomwaffen einzusetzen, scheint es brüchig zu sein. Die Welt – insbesondere die junge Generation – braucht das Zeug-

nis der Hibakusha, um den Weg zu einer atomwaffenfreien Welt wiederherzustellen. Terumi Tanaka, ein 92-jähriger Überlebender von Nagasaki, der Hidankyo und alle Hibakusha in Oslo vertrat, versprach mit starker Stimme, die Erziehung der Jugend der Welt wieder in Gang zu bringen.

Dr. Masao Tomonaga ist Ehrendirektor des Krankenhauses für Atomwaffenüberlebende des Japanischen Roten Kreuzes in Nagasaki. Er selbst überlebte den USAtomwaffenangriff auf Nagasaki 1945. Als Arzt hat er sich auf die medizinische Versorgung von Hibakusha spezialisiert. Er ist Gründungsmitglied der IPPNW in seiner Heimatstadt und gehört zum Organisationskomitee des IPPNW-Weltkongresses, der im Oktober 2025 in Nagasaki stattfindet.

Sie waren bei der Nobelpreisverleihung im Dezember 2024 dabei. Welche Rolle haben Sie dort gespielt?

Der Ausschuss lud mich ein, an der Zeremonie teilzunehmen und darüber zu sprechen, wie wir die derzeitige, durch Atomwaffen verursachte gravierende Verschlechterung der Sicherheit überwinden können. Ich konzentrierte mich hauptsächlich auf meine 60-jährige ärztliche Arbeit und Forschung zu den gesundheitlichen Auswirkungen der Atombombenstrahlung. Viele Arten solider Krebserkrankungen treten vor allem bei älteren Menschen auf und weisen Plateaukurven auf – 80 Jahre nach einer Strahlenbelastung im Jahr 1945. Das gilt auch für das myelodysplastische Syndrom, eine Form der Altersleu-

kämie. Das Institut für gesundheitliche Auswirkungen der Atombombe der Universität Nagasaki hat eine Langzeitstudie über die Körperzellen der Hibakusha – insbesondere die Stammzellen der Organe –durchgeführt und festgestellt, dass sie auf der Ebene der DNA geschädigt wurden, was zu zahlreichen Chromosomen- und Gen-Anomalien in präkanzerösen Zellen oder präleukämischen Zellen geführt hat, die schleichend ein ganzes Leben lang überleben und bei einigen Hibakusha zum sporadischen Ausbruch einer bösartigen Erkrankung führen. Die Auswirkungen der Strahlenbelastung auf die Körperzellen sind also in der Tat lebenslang. Leider haben wir Mediziner*innen immer noch keine wirksame Behandlung zur Ausrottung solcher Krebsvorstufen. Ich selbst habe vor sechs Jahren im Alter von 76 Jahren ein Prostatakarzinom entwickelt. Eine neue Kohlenstoffionentherapie hat die Krebszellen erfolgreich beseitigt. […]

Studien über die zweite Generation von Hibakusha werden immer noch auf der Grundlage der neuen, hochentwickelten Technologie der Ganzgenomanalyse durchgeführt, um die Übertragung von GenAnomalien von Hibakusha-Eltern mit hoher Expositionsdosis auf ihre Kinder nach 80 Jahren aufzudecken. Es wird noch einige Jahre dauern, bis die Analyse von über 500 solcher Eltern-Kind-Kombinationen (Trios) abgeschlossen ist.

Die lebenslange Wirkung der Strahlung hat zu einem weltweiten Konsens über den inhumanen Charakter von Atomwaffen geführt. Sie müssen umgehend abgeschafft und niemals wieder produziert und in Kriegen eingesetzt werden – ob absicht-

lich oder versehentlich. Der internationale Vertrag über das Verbot von Atomwaffen war daher die größte Errungenschaft dieses Jahrzehnts.

Sie sind jetzt 80 Jahre alt, scheinen aber eine Vielzahl von Projekten zu verfolgen. Tatsächlich helfen Sie bei der Organisation des 24. Weltkongresses der IPPNW, der im Oktober in Nagasaki stattfindet. Was kann diesen Kongress zu einem Erfolg machen, wenn man an die derzeitige schwierige Weltlage denkt?

Vom 2. bis 4. Oktober 2025 wird die japanische IPPNW-Sektion den Weltkongress in Nagasaki ausrichten. Am ersten Tag werden wir in einer Plenarsitzung vier Friedensnobelpreisträger, IPPNW (1985), Pugwash (1995), ICAN (2017) und Nihon Hidankyo (2024) einladen, um in einem gemeinsamen Forum Maßnahmen für die zukünftige Verwirklichung einer atomwaffenfreien Welt zu diskutieren. In einer weiteren Sitzung werde ich einen zusammenfassenden Vortrag über die 80 Jahre andauernden medizinischen und sozialen Untersuchungen zur Abschätzung des Ausmaßes der inhumanen Auswirkungen der beiden Atombombenabwürfe auf Japan im Jahr 1945 halten.

Wir werden auch frühere und laufende Forschungsstudien zur genetischen Übertragung auf die zweite Generation der Hibakusha sowie mehr als zehn Jahre Nachfolgestudien zur Kontamination der Atmosphäre und der Umwelt durch die vom Atomkraftwerk Fukushima Dai-Ichi im Jahr 2011 freigesetzten radioaktiven Stoffe betrachten.

BEI DEN UN-VERHANDLUNGEN ZUM ATOMWAFFENVERBOT, JUNI 2017

Als jemand, der den Beginn des Atomzeitalters miterlebt und sein Leben der Abschaffung von Atomwaffen gewidmet hat – was ist Ihre Botschaft an junge Menschen, die sich jetzt für die Abschaffung dieser existenziellen Bedrohung einsetzen?

Vor zwei Jahren, im November 2023, reiste ich mit einer Gruppe von zehn Hibakusha aus Nagasaki durch die USA, um unsere Zeugnisse abzulegen. Ich gab einen Überblick über meine 75-jährige Forschung über die gesundheitlichen Auswirkungen auf den Menschen. Wir trafen über tausend US-Bürger*innen, hauptsächlich Studierende. Wir hatten gute Gespräche und stellten fest, dass die US-Studierenden Atomwaffen in der Tat als unmenschlich empfanden und sich für ihre Abschaffung aussprachen. Aber sie gaben auch zu, dass ihnen keine guten Maßnahmen einfielen, um dem mächtigsten Atomwaffenstaat der Welt, den USA, den Verzicht auf Atomwaffen vorzuschlagen.

Wir Einwohner*innen von Hiroshima und Nagasaki haben den Beginn des Atomzeitalters miterlebt und mehr als 80 Jahre überlebt, um unsere Geschichte zu erzählen und darauf zu bestehen, dass so etwas nie wieder passieren darf. Wir sind pessimistisch, was die Aussichten auf die Abschaffung der Atomenergie angeht. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Menschheit weltweit durch einen Atomkrieg ausgelöscht wird, scheint allmählich näher zu

rücken. Wir Hibakusha werden uns bald verabschieden, aber die junge Generation wird vielleicht den dritten Einsatz von Atombomben im Krieg oder durch einen Unfall erleben. Ihre Verantwortung, die Atompolitik und -strategie ihrer Regierungen zu ändern, wird sehr bald Realität werden.

Auf dem Nobel Peace Forum in Oslo haben wir betont, dass Dialog und gegenseitiges Verständnis unerlässlich sind. Das bedeutet, dass die junge Generation über die Grenzen hinweg zusammenarbeiten sollte, in Atomwaffen- und Nichtatomwaffenstaaten gleichermaßen. Sie haben das Recht und die Verantwortung, sich in Solidarität für eine atomwaffenfreie Welt einzusetzen.

Das Interview „The world needs Hibakusha testimonies again“ erschien am 1. Mai 2025 auf dem Peace-and-Health-Blog: peaceandhealthblog.com. Das Interview führte John Loretz, Berater und ehemaliger Geschäftsführer der Internationalen IPPNW.

Das nukleare Erbe Kasachstans: Vergangenheit, Verantwortung und neue Stimmen

Ein neues Buch zur Geschichte des Atomtestgeländes in Semipalatinsk (Semei)

Mitten in der Steppe Ostkasachstans, nahe der heutigen Stadt Semei, liegt eines der folgenreichsten Testgebiete der Menschheitsgeschichte: das ehemalige sowjetische Atomtestgelände Semipalatinsk, auch einfach „Polygon“ genannt. Zwischen 1949 und 1989 testete die Sowjetunion dort 456 Atomwaffen – 116 davon oberirdisch. Die erste Bombe, gezündet am 29. August 1949, markierte den Beginn eines vier Jahrzehnte andauernden atomaren Alptraums für die kasachische Bevölkerung. Das Testgelände erstreckte sich über eine Fläche von 18.500 Quadratkilometern – größer als die Hälfte der Schweiz. Was zunächst als militärisches Sperrgebiet ausgewiesen wurde, befand sich in unmittelbarer Nähe zu bewohnten Regionen. Mehr als eine Million Menschen lebten im Einflussbereich der Tests. Und die Nähe zur zivilen Bevölkerung war kein Kollateralschaden, sondern kalkuliert: Man wollte die Effekte der Atomexplosionen auch an Menschen beobachten.

Viele der Einheimischen wussten lange nicht, was genau vor sich ging. Erst nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991 und der Öffnung von Archiven wurde das gesamte Ausmaß der Tests und der damit verbundenen Strahlenbelastung öffentlich bekannt. Die Nachwirkungen der Explosionen prägen das Leben vor Ort bis heute: Leukämie, Schilddrüsenkrebs, Unfruchtbarkeit und genetisch bedingte Fehlbildungen treten in der Region signifikant häufiger auf als anderswo im Land.

Das Leid der Betroffenen

Die medizinischen und sozialen Folgen für die Bevölkerung von Semipalatinsk sind

bis heute katastrophal. Viele Menschen litten unmittelbar nach den Tests an akuten Strahlenschäden: Hautverbrennungen, Übelkeit, Haarausfall. Noch gravierender waren jedoch die langfristigen Auswirkungen: Ganze Generationen kämpfen mit Krebserkrankungen, Immunschwächen und erblichen Gendefekten. Studien haben gezeigt, dass selbst Enkel der damals exponierten Menschen gesundheitlich beeinträchtigt sein können – eine erschütternde Langzeitfolge der atomaren Experimente.

Ein besonderes Problem: Viele Betroffene wurden nie offiziell als Strahlenopfer anerkannt. Eine eindeutige medizinische Zuordnung der Leiden zur Strahlenexposition ist oft schwierig, besonders da die medizinische Infrastruktur in der Region lückenhaft ist. Entschädigungszahlungen, wenn sie überhaupt erfolgen, sind gering und reichen oft nicht für die nötige medizinische Versorgung. Zivilgesellschaftliche Gruppen wie das „Komitee Polygon 21“ kämpfen dafür, dass diese Menschen endlich die Anerkennung und Unterstützung erhalten, die sie verdienen. Auch international wächst die Aufmerksamkeit – allerdings langsam und oft nur im Kontext nuklearpolitischer Debatten.

Ein Buch, das erinnert und aufklärt

Vor diesem Hintergrund ist das Buch „Kasachstans nukleares Erbe. Die vergessenen Stimmen der sowjetischen Atomtests“, das im Juni 2025 erscheint, ein bedeutender Beitrag zur historischen Aufarbeitung und zur Sensibilisierung der Öffentlichkeit. Das Werk ist das Ergebnis einer Bildungsreise im Sommer 2024, bei der Aktivist*innen und junge Studierende aus Deutsch-

land und Kasachstan gemeinsam Semei besuchten, Gespräche mit Betroffenen führten und sich mit der Geschichte vor Ort auseinandersetzten.

Organisiert wurde die Reise von ICAN Deutschland. Ziel war es, die Perspektiven der Betroffenen sichtbar zu machen, einen Beitrag zur Erinnerungsarbeit zu leisten und die Erfahrungen dieser Reise in die deutsche Friedensarbeit zu integrieren.

Das Buch versammelt eindrucksvolle Zeitzeugenberichte, wissenschaftliche Analysen und persönliche Reiseeindrücke. Es gibt den Menschen in Kasachstan eine Stimme – Menschen, deren Leiden bislang zu oft ignoriert wurde.

Ein Appell gegen das Vergessen

„Die vergessenen Stimmen der sowjetischen Atomtests“ – dieser Untertitel des Buches ist mehr als nur ein Titel. Er ist ein Aufruf an uns alle, nicht wegzusehen. Während in Europa und Nordamerika oft abstrakt über Atomwaffen diskutiert wird, sind die Folgen in Kasachstan konkret, lebensnah und dauerhaft sichtbar. Das ehemalige Testgelände von Semipalatinsk ist heute ein Mahnmal – ein Ort, der zeigt, wie grausam und rücksichtslos Atompolitik sein kann, wenn sie auf dem Rücken von Menschen betrieben wird.

Die Veröffentlichung des Buches ist daher nicht nur eine wissenschaftliche oder journalistische Leistung – sie ist auch ein Akt der Solidarität. Und sie ist ein Beitrag zum globalen Einsatz für eine Welt ohne Atomwaffen.

GEDENKSTÄTTE FÜR DIE OPFER DER ATOMTESTS IN ALMATY

Bestellung und Unterstützung

Das Buch „Kasachstans nukleares Erbe“ können Sie im IPPNW-Shop bestellen. Mit dem Kauf unterstützen Sie nicht nur die Dokumentation und Sichtbarmachung der Geschichten der Betroffenen, sondern auch die Arbeit der IPPNW für nukleare Abrüstung und für eine gerechtere Welt.

Mehr Informationen zum Buch, zur Bildungsreise und zu weiteren Möglichkeiten der Unterstützung finden Sie hier: ippnw.de/bit/kasachstan

„Kasachstans nukleares Erbe. Die vergessenen Stimmen der sowjetischen Atomtests“, herausgegeben von Yannick Kiesel – erscheint am 13. Juni 2025 im Oekom Verlag. Bestellung hier: shop.ippnw.de

Yannick Kiesel ist Referent für Friedenspolitik bei der DFG-VK.

DMITRY VESELOV, SEMEI

Dmitry Veselov, Aktivist aus Semei

Der kasachische Aktivist Dmitry Veselov setzt sich für die Betroffenen von Atomtests ein:

„Lange Zeit erlebte ich Diskriminierung, da meine gesundheitlichen und körperlichen Einschränkungen mich daran hinderten, ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft zu sein. Mangels anerkannter Behinderung erhielt ich keine nennenswerte staatliche Unterstützung. Diese Ungerechtigkeit wurde erst durch einen Anwalt behoben. Glücklicherweise erhielt ich eine Diagnose, was die negativen Folgen meiner Erkrankung mildert. Trotz Schwierigkeiten gelang es mir, die Verbindung meiner Krankheit mit dem Testgelände zu bestätigen und eine Behinderung anerkennen zu lassen. Angesichts der Ungerechtigkeiten von staatlichen Stellen und der Rückständigkeit der Gesetzgebung verspüre ich den Drang, die Situation zu verbessern. Dazu gehört die Verkürzung der Verfahrenszeiten und die Erweiterung der Liste der anerkannten Erkrankungen. „Nukleare Gerechtigkeit“ ist für mich ein umfassendes, vielschichtiges Konzept, das vieles umfasst: die Unterstützung für die Opfer der Atomtests und der Menschen in der Umgebung des Testgeländes, die Wiederherstellung der psychischen Gesundheit der Bevölkerung, die Wiederherstellung der Umwelt und den Zugang zu grundlegenden Bedürfnissen wie sauberem Wasser, medizinischer Versorgung, Bildung und Arbeit.

Ich möchte dazu noch sagen. Meine Krankheit ist bekannt und untersucht. Ich weiß, wie ich damit umgehe und bin nicht in konstanter Angst um meine Gesundheit oder

mein Leben. Dies betrifft aber leider viele andere Überlebende. Menschen sterben an Krebs oder anderen lebensbedrohlichen Erkrankungen. Sie kämpfen jeden Tag um ihr Leben. Dazu kommt, dass viele Menschen die langen Verwaltungsakte nicht überleben und die Anerkennung ihrer Krankheit kommt oft zu spät. Dann erreichen die Dokumente nach Jahren nur noch die Angehörigen. Dazu kommen die verschiedenen Anforderungen bis Überlebende ihre Dokumente erhalten können. Viele der Menschen gehen in ihrer Verzweiflung nach Russland, um eine Diagnose zu erhalten. Leider erkennen die Behörden hierzulande nur Dokumente von kasachischen Krankenhäusern an. Die russischen Dokumente helfen den Menschen dann meist nicht weiter.

Die kasachische Regierung gibt eine Liste mit Erkrankungen heraus, die in Verbindung mit erhöhter Strahlung stehen und unter bestimmten Umständen anerkannt werden. Allerdings wird diese Liste stetig von den Behörden verändert. Menschen haben kein Wissen über die Aktualität der Liste und ob ihre Krankheit noch Teil der Liste ist oder nicht. Ein Beispiel ist Diabetes: Die Krankheit stand anfangs auf der Liste, da es eine hohes Aufkommen an Diabetiker*innen rund um das Polygon gab und dies mit der Verstrahlung erklärt wurde. Als die Behörden allerdings erkannten, wie hoch die Zahl der Betroffenen ist, wurde Diabetes von der Liste als anerkannte Erkrankung entfernt. Betroffenen wurde damit der Zugang zu notwendiger medizinischer Versorgung genommen.“

Das Gespräch führte Yannick Kiesel.

Foto: © Bennet
Rietdorf

Treffen in der Friedensstadt Genf

European Regional Meeting vom 11. bis 13. April 2025 in der Schweiz

Vom 11. bis 13. April 2025 fand in Genf, einem der wichtigsten Schauplätze von Diplomatie und internationalen Beziehungen, das europäische IPPNW-Treffen statt, das vom Genfer IPPNW-Büro organisiert wurde. Die Konferenz stand in diesem Jahr unter dem Titel „Finding Clarity in Chaos: Creating a vision of Peace and Security“, der bereits auf die Komplexität der gegenwärtigen Weltlage hinweist. Während dieser drei Tage trafen sich Mediziner*innen, Aktivisti, Wissenschaftler*innen und Student*innen aus vielen europäischen Ländern, um an spannenden Workshops teilzunehmen, zu diskutieren, sich auszutauschen, Kontakte zu knüpfen und für die Zukunft zu planen, mit dem Hauptziel, die Zusammenarbeit in der Friedensarbeit zu verbessern.

Dem Treffen ging eine gemeinsame TargetX-Aktion voraus, bei der ein rotes Kreuz am Boden das potentielle Ziel einer Atombombe markierte. Mit der Aktion sollte gezeigt werden, dass Städte niemals Ziele dieser Massenvernichtungswaffen sein dürfen.

Hauptthemen des Treffens, das am Freitag abend startete, waren die Gefahr eines Atomkriegs, die politische Situation in Europa und auf anderen Kontinenten, globale Gesundheit und Friedensarbeit, die Überschneidung der nuklearen Bedrohung mit Klimawandel und Feminismus, sowie eine sich schnell verändernde geopolitische Landschaft durch alte und neue Konflikte und künstliche Intelligenz. Nach interessanten Vorträgen diskutierten die Teilnehmer*innen über die Ziele der europäischen IPPNW in den nächsten drei Jahren.

Das Treffen war für die europäischen IPPNW-Mitglieder eine einmalige Gelegenheit, sich zusammenzuschließen, Perspektiven auszutauschen, Wissen zu teilen und die Gemeinschaft aufzubauen, um unsere Arbeit für einen dauerhaften Frieden und die Abschaffung von Atomwaffen fortzusetzen. So war der letzte Tag des europäischen IPPNW-Treffens mehr auf die zukünftige Zusammenarbeit zwischen den verschiede-

nen europäischen IPPNW-Gruppen ausgerichtet. Eine Umfrage unter den Mitgliedern in der Vergangenheit zeigte sowohl Erfolge als auch Lücken auf und verdeutlichte den aktuellen Stand der IPPNW in Bezug auf Aktivismus und Mitgliederzahl, was die Tür zu einem fruchtbaren Gespräch im Raum öffnete, das Ideen für zukünftige Projekte brachte. Gleichzeitig wurde deutlich, wie viel Schwung und Motivation derzeit in der Bewegung steckt, sodass viele von uns trotz schwieriger Zeiten mit einem neuen Gefühl der Hoffnung nach Hause fuhren.

Ein wichtiges Thema ist dabei die studentische Beteiligung innerhalb der IPPNW. Die größte Gruppe der Studierenden vertrat Deutschland, gefolgt von Österreich und Schweden. Es war sehr schön zu sehen, dass die Gemeinschaft sehr auf studentisches Engagement und generationenübergreifende Friedensarbeit und Zusammenarbeit setzt. Wir Student*innen spielten eine aktive Rolle in den Diskussionen im Saal und vor allem bei der Suche nach Strategien zur Ausweitung des IPPNW-Engagements im universitären Kontext. Außerdem kamen die Studierenden zusammen, um neue europäische IPPNW-Studentenvertreter*innen zu wählen. Wir arbeiten bereits an mehreren Projekten und Ideen für ein

stärkeres studentisches Engagement in der IPPNW und der Abrüstungsbewegung.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass ich fasziniert bin von dieser starken und inspirierenden Gemeinschaft, dem neuen Momentum und der Atmosphäre der Hoffnung, trotz komplizierter und schwieriger geopolitischer Zeiten.

Wie ICAN-Direktorin Melissa Parke in ihrer Eröffnungsrede zum Treffen sagte: „Jeden Tag, an dem Atomwaffen existieren, stellen sie eine inakzeptable Bedrohung für das menschliche Leben dar.“ Und zurück zu unserer Rolle als Ärzt*innen und der IPPNW: Wir müssen verhindern, was wir nicht behandeln können!

Ausführlicher Bericht unter: ippnw.de/ bit /erm

Lena Gedat studiert Medizin und ist Studierendensprecherin der deutschen IPPNW.

TARGET-X-AKTION IN GENF
Foto: Bimal Khadka

Nein zur Militarisierung

IPPNW-Jahrestreffen von 9.-11. Mai 2025 in Berlin

Die IPPNW hat auf ihrem Jahrestreffen in Berlin ein grundsätzliches Umsteuern von der Kriegsvorbereitung hin zu einer Friedensorientierung gefordert. Die Mitglieder sprachen sich unter anderem für eine Kampagne gegen die Militarisierung des Gesundheitswesens aus. Angehörige des Gesundheitswesens sollen aufgerufen werden, sich gegen die geplante Unterwerfung des zivilen Gesundheitswesens unter Erfordernisse von Militär und deren Kriegsführung zu engagieren. Der Co-Vorsitzende Dr. Lars Pohlmeier sagte: „Gerade als Expert*innen im Gesundheitswesen wissen wir, dass im Kriegsfall medizinische Hilfe nur ein Tropfen auf den heißen Stein ist. Deshalb betonen wir die Notwendigkeit der Kriegsprävention.“ Weitere Berichte und Beschlüsse finden Sie im Forum intern.

Gegen die Kriegstüchtigkeit

Der Journalist und Podcaster Ole Nymoen entlarvt die Widersprüche und Schwachstellen des Militarismus. Auf 144 Seiten argumentiert er gegen Aufrüstung und Kriegstüchtigkeit.

Im Juli 2024 hatte ein Artikel von Nymoen in der „Zeit“ zu diesem Thema heftige Leserreaktionen ausgelöst. In dem nun veröffentlichten Büchlein legt er mit Argumenten und Fakten dar, weshalb nicht kämpfen zu wollen für ihn ein Akt des Protestes für eine friedlichere und gerechtere Gesellschaft ist.

Politik und Meinungsmacher*innen versuchen derzeit mit allen Mitteln, die Bürger*innen auf die „Zeitenwende“ einzustimmen. Dabei entspricht die in den Medien verbreitete Kriegsstimmung nicht der Meinung der Bevölkerung: Tatsächlich sind aktuell 59 Prozent der 18-29-Jährigen gegen eine neue Wehrpflicht. Laut Umfragen von Forsa und YouGov sind nur 19 Prozent bzw. nur fünf Prozent dieser Altersgruppe „auf jeden Fall“ zur Vaterlandsverteidigung bereit.

Nymoen macht deutlich, dass die Sicherheitsinteressen eines Staates nicht notwendigerweise mit denen seiner Bürger*innen zusammenfallen. Denn letztere sind es, die den Preis des Krieges ökonomisch und im Ernstfall mit ihrem Leben bezahlen. „Krieg ist falsch, weil einige wenige Menschen über die Leichenberge anderer gehen können, um ihre Interessen durchzusetzen“, so der Autor.

Freiheit – Demokratie – Völkerrecht seien Ideale, die beschworen würden, um den Kriegseinsätze moralisch zu rechtfertigen. Beliebte argumentative „Manöver“ der Kriegstrommler nimmt Nymoen unter die Lupe, um festzustellen, dass alle Staaten „zu ähnlichen propagandistischen Mitteln greifen – egal, ob es sich um demokratische oder diktatorische, angreifende oder verteidigende Staaten handelt.“

Ein eindrückliches Buch gegen die Kriegslogik und mentale Mobilmachung – für eine andere Gesellschaft, ein Leben in Selbstbestimmung und gemeinsamer Sicherheit.

Ole Nymoen: Warum ich niemals für mein Land kämpfen würde. Gegen die Kriegstüchtigkeit. 144 S., gebundene Ausgabe 16,- € / E-Book 12,99 €, Rowohlt Hamburg 2025, ISBN: 9783-499-01755-1

Wissen über zivilen Widerstand

Die Erkenntnisse der US-Wissenschaftlerinnen Erica Chenoweth und Maria J. Stephan zur Wirksamkeit von gewaltfreiem Widerstand werden in der Fachwelt viel beachtet. Ihre Studie ist jetzt endlich auch auf Deutsch erschienen.

Was soll man denn sonst tun?! Spätestens nach dem russischen Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 war diese Frage allenthalben zu hören – in Parlamenten, Talkshows, Medien und privaten Gesprächen. Die Frage ist durchaus berechtigt, doch offenbart sie zum einen, dass Verteidigung, Widerstand, Stärke zumeist unweigerlich in Gewaltkategorien gedacht werden. Was, zum zweiten, daran liegt, dass es schlicht an Wissen mangelt, wie Alternativen zu militärischer Gewalt konkret aussehen könnten. Es mangelt an Wissen und, schlimmer noch, an dem Willen, sich diesbezüglich kundig zu machen, nach Antworten zu suchen, die Friedensforschung zu befragen.

Wie gut hätte es den Debatten getan und täte es noch, viel mehr Menschen hätten das bahnbrechende Werk von Erica Chenoweth und Maria Stephan zur Kenntnis genommen. Wissenschaftlich akribisch und fundiert zeigen die Autorinnen auf, „warum ziviler Widerstand funktioniert“. Mehr noch: dass gewaltloser Widerstand gegen Besatzung auch wesentlich effektiver und effizienter ist als gewaltsamer Widerstand – nicht immer, nein, aber mit doppelt so hoher Erfolgschance. Das ist bahnbrechend, weil es unvoreingenommen und nüchtern beides untersucht, sowohl die Gewalt als auch die Gewaltlosigkeit, und ihre jeweiligen Wirkungen und Erfolge vergleicht. Dies geschieht auf einer enorm großen empirischen Datenbasis, allen nachvollziehbar und nachprüfbar, nichts bleibt bloße Behauptung.

Wer Interesse hat an Fragen von Krieg und Frieden, an gewaltlosen Formen von Widerstand und Verteidigung, an Alternativen zwischen Krieg und Kapitulation, an dritten Wegen zwischen Gewalt und „Nichtstun“ – alle diejenigen haben nun noch leichter die Möglichkeit dazu. Für alle aber, die besondere Verantwortung in Politik, Medien, Wissenschaft und Gesellschaft tragen, gar über Kriegseinsätze oder Waffenlieferungen entscheiden, muss dieses Buch Pflichtlektüre sein!

Regine Ratke Text zuerst erschienen auf:

Erica Chenoweth & Maria J. Stephan: Warum ziviler Widerstand funktioniert. Die strategische Logik gewaltloser Konfliktbearbeitung. 372 S., 49,- €, Nomos Baden-Baden 2024, ISBN 9783756018178

Dr. Markus Weingardt, Mitglied im Beirat von „Ohne Rüstung Leben“

Mitglied wirbt Mitglied!

Flyer: „Steck andere an mit Deinem Engagement!“ DIN lang vierseitig, Abgabe gegen Spende Bestellen unter: shop.ippnw.de

Tasche

„friedensfähig“

Blaue Baumwolltasche aus fair produzierter Baumwolle mit dem Slogan „Ärztinnen & Ärzte fordern: Friedensfähig statt kriegstüchtig!“

Größe: ca. 38 x 42 cm

Preis: 8,- Euro

Bestellen unter: shop.ippnw.de

GEPLANT

Das nächste Heft erscheint im September 2025. Das Schwerpunktthema ist: Zivil-militärische Verknüpfungen

Der Redaktionsschluss für die Ausgabe 183 /September 2025 ist der 31. Juli 2025. Das Forum lebt von Ihren Ideen und Beiträgen. Schreiben Sie uns: forum@ippnw.de

IMPRESSUM UND BILDNACHWEIS

Herausgeber: Internationale Ärzt*innen für die Verhütung des Atomkrieges, Ärzt*innen in sozialer Verantwortung e. V. (IPPNW) Sektion Deutschland

Redaktion: Dr. Lars Pohlmeier (V.i.S.d.P.), Angelika Wilmen, Regine Ratke

Anschrift der Redaktion: IPPNWforum, Frankfurter Allee 3, 10247 Berlin, Tel.: 030 6980 74 0, Fax 030 693 81 66, E-Mail: ippnw@ippnw.de, www.ippnw.de, Bankverbindung: GLS Gemeinschaftsbank

IBAN: DE 23 4306 0967 1159 3251 01, BIC: GENODEM1GLS

Das Forum erscheint viermal jährlich. Der Bezugspreis für Mitglieder ist im Mitgliedsbeitrag enthalten. Sämtliche namentlich gezeichnete Artikel entsprechen nicht unbedingt der Meinung

der Redaktion oder des Herausgebers. Nachdrucke bedürfen der schriftlichen Genehmigung. Redaktionsschluss für das nächste Heft: 31. Juli 2025

Gestaltungskonzept: www.buerobock.de, Layout: Regine Ratke

Druck: DDL Berlin Papier: Circle Offset, Recycling & FSC.

Bildnachweise: Nicht gekennzeichnete Fotos: privat oder IPPNW.

JUNI

2.-29.6. Sadakos Kraniche. Ausstellung „Hiroshima – Nagasaki“ in Bochum

12.6. -10.7. Ausstellung „Hiroshima – Nagasaki“ in Goslar

21.6. Die Nuclearban-Tour macht Halt in Villingen-Schwenningen

27.6. Im Schatten des Atompilzes. Gedenkveranstaltung „80 Jahre Atomwaffen“ 28.6. Podiumsdiskussion und Plakatausstellung in Kaiserslautern

JULI

2.7. Podiumsdiskussion „Angst – ein zuverlässiger Ratgeber? Zur Ethik nuklearer Abschreckung“ in Düren

8 7. Flaggentag der Mayors for Peace

A UGUST

9.8. 80 Jahre nach Hiroshima und Nagasaki. IPPNW-Benefizkonzert mit dem Ensemble Incendo in der Gedächtniskirche, Berlin

SEPTEMBER

31. 8. - 6.9. Global Health Summer School, Berlin

31.8.-14.9. Besuch von Menschenrechtler*innen aus der Türkei in Karlsruhe, Bochum und Berlin

12.9. Fachtag „Psychsoziale Arbeit“ in Berlin

OKTOBER

2 – 4.10. IPPNW-Weltkongress in Nagasaki, Japan

Weitere Informationen unter: www.ippnw.de/termine

7 - 9 11. 2025

IPPNW-Studierendentreffen in Berlin

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Herr Sari, Sie protestieren derzeit vor dem UN-Sitz in Wien gegen die Ermordung von Aleviten und anderen Minderheiten in Syrien. Wir wollen zeigen, dass in Syrien derzeit dasselbe passiert, was vor hundert Jahren in der Türkei zur Republikgründung geschah: Aleviten und Andersgläubige werden umgebracht und die ganze Welt schweigt. Die Regierungen und internationale Organisationen schweigen nicht nur, sie haben Al-Dscholani, der auch als IS-Mitglied gemordet hat, als Staatspräsident aufgebaut.

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Wieso protestieren sie ausgerechnet in Wien? Westliche Regierungen, auch der österreichische Bundeskanzler, sind plötzlich Al-Dscholani-Freunde, treffen sich, reden über syrische Innenpolitik. Dass Kurden, Aleviten, Drusen ausgerottet werden, kommt dabei nicht zur Sprache. Sie machen Al-Dscholanis Taten salonfähig. Seine Regierung wurde vom Westen aufgebaut. Auch die UNO hat Augen und Ohren verschlossen. Daher beginnen wir hier in Wien vor dem UN-Sitz mit unserem ersten Protest. Das wird aber nur die erste Aktion von vielen sein. Die UNO muss die Ermordung von Aleviten, Kurden, Christen, Drusen und Muslimen, die sich gegen diese Banditen auflehnen, stoppen.

3Wie

liefen diese Massaker ab? Mitte Mai 2025 hatten wir Professor Jens Kreinath nach Wien eingeladen. Er ist Experte für Menschenrechte in Syrien und hat eine Organisation zur Dokumentation der Massaker an den Aleviten in Syrien gegründet. Er berichtete detailliert, wie in Syrien vorgegangen wird: Zuerst kommt eine Gruppe und bricht in die Häuser ein, stiehlt die Wertsachen. Dann kommt eine Gruppe mit Autos und Lastwagen und stiehlt das größere Eigentum und die dritte Gruppe ermordet dann die Menschen. Es war in Syrien bekannt, dass die Aleviten ihr Geld und ihre Wertsachen nicht zu den Banken gebracht haben, weil sie denen in der derzeitigen Situation nicht vertrauen. Sie hatten alles zu Hause. Viele sind in den Libanon geflüchtet, doch dort werden sie nicht als Asylsuchende anerkannt. Die geflüchteten Aleviten werden nicht gezählt. Die Neugeborenen der

6 Fragen an … Aydin Sari

Vorsitzender der Frei-Aleviten in Wien

syrischen Aleviten im Libanon erhalten keine Dokumente. Dadurch wird nicht registriert, dass sie überhaupt geboren wurden. So kann man sie dann später wieder ohne Probleme loswerden.

4Vor

einigen Wochen wurde auch in westlichen Mainstreammedien über die Massaker berichtet. Seither schweigt man sich dort weitgehend aus. Es war nur eine kurze Schilderung in den Medien, als die Massaker begannen. Aber sie gehen weiter. Wir nehmen an, dass 60.000 Aleviten ermordet oder verschwunden sind. Ganze Dörfer und Landstriche wurden ausradiert. Menschen werden bedroht, damit sie nicht mit internationalen Beobachtern und Medien darüber sprechen, dass jemand in ihrer Familie ermordet wurde oder verschwunden ist. Frauen werden regelmäßig verschleppt und verkauft. Wir wissen nicht, wie viele Menschen ermordet wurden. Viele Frauen, die verschleppt wurden, kommen nach einigen Wochen oder Monaten zurück. Ihnen wurde gesagt, ihre Familien würden ermordet werden, wenn sie jemandem erzählen, wo sie waren, daher sagen sie internationalen Beobachtern*innen nur, sie hätten etwas länger Freunde besucht. Ein Problem ist auch die Zukunft der Kinder. Viele haben alle Verwandten verloren und leben nun ohne Unterstützung auf der Straße.

5Wer organisiert diesen Protest in Wien? Wir sind zwei Organisationen: Die Frei-Aleviten kommen aus der türkischen und kurdischen Gemeinschaft. Die Shams-Vereinigung ist eine Initiative von syrischen Aleviten in Wien. Viele haben Angehörige, die den Massakern zum Opfer gefallen sind. Eine Aktivistin verlor zwölf Familienmitglieder bei den Massakern in Syrien.

6Drohungen gegen Sie gab es auch in Österreich. Uns wurde über die sozialen Medien mit der Vernichtung gedroht, falls wir Proteste in Wien organisieren. Wir vermuten, dass das radikale Islamisten sind, die den Al-Dscholani-Clan unterstützen. Sie wollen nicht, dass wir zeigen, wie die Situation in Syrien derzeit wirklich ist.

Das Interview führte Dieter Reinisch. Erschienen in der „Jungen Welt“ vom 23.05.2025. Abdruck mit freundlicher Genehmigung.

Plakat-Aktion zum Mitmachen

Berlin, München, Hamburg, Hannover, Mainz, Köln: Anlässlich der 80. Jahrestage der verheerenden Atomwaffenangriffe auf Hiroshima und Nagasaki werden im August 2025 in sechs Großstädten „City Light Poster“ zu sehen sein, die das Engagement gegen Atomwaffen in die Öffentlichkeit tragen.

Die Plakate können im Großformat 119 x 175 cm sowie in A3, A2 oder A1 im Shop des Netzwerkes Friedenskooperative bestellt werden. Macht mit und hängt auch in Eurer Stadt Plakate auf!

Bestellung unter : friedenskooperative. de/shop

Benefizkonzert: 80 Jahre nach Hiroshima und Nagasaki

Samstag, 9. August 2025, 20 Uhr Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, Berlin Das Ensemble Incendo Berlin spielt Werke von Erwin Schulhoff, Arvo Pärt, Gideon Klein, Dmitri Schostakowitsch und Johann Sebastian Bach

WievieleMarx? DasWerkdesBärtigenausTriererlebteinenAufschwunginderRezeption.ZugleichzeigensichBestrebungen,denMarxismusalstheoretisch ungenügendzuentsorgen.Von KlausMüller

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Auskunftsmüde Untersuchungsausschuss:Scholzbestreitet»politischeEinflussnahme«beimCum-Ex-Skandal

Kriegsbereit SeoulangeblichmitAngriffsplänengegenNordkorea.Verteidigungsministerfestgenommen

Investitionsmüde DeutscheKonzernesuchenRohstoffe undFachkräfteinAfrika,dort suchtmanInvestoren

TrumpwillUSGeburtsrechtabschaffen

Verhandlungsbereit TrumpmachtTempo.Derdesignierte US-PräsidentruftzurBeendigungdesUkraine-Kriegesauf

Assadgestürzt

Wochen gratis* inkl.

Washington. PräsidentDonaldTrumpwilldasin derUS-VerfassungverankerteGeburtsrechtaufStaatsbürgerschaftin denUSAabschaffen.Dieswerdeer mitseinemAmtsantrittam20. Januarvorantreiben,»wennwirdas können,durcheineExekutivmaßnahme«,sagteTrumpamSonntag demSenderNBC.LautUS-Verfassungerhältjeder,deraufdem BodenderUSAgeborenist,die US-Staatsbürgerschaft(»Birthright Citizenship«).Trumpnanntediese Bestimmung»lächerlich«.Zugleich bekräftigteerseinVorhabenzur MassenabschiebungvonMigranten ohnePapiere.»Manmussdastun«, soTrumpaufdieFrage,oberin denkommendenvierJahrenalle abschiebenwolle,»diesichhieraufhalten«.Trumphatteimerwerde

Nagasaki Hiroshima

6. August 1945, 8:15

9. August 1945, 11:02

Aktualisierte Ausstellung mit 17 Plakaten ab 1. Juli 2025 verfügbar zum Preis von 75 Euro oder zum Selberdrucken

Mehr Infos: ippnw.de/bit/hiroshima2025

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