IPPNW-Thema: „80 Jahre nach Hiroshima und Nagasaki: Atomwaffen gefährden unsere Sicherheit“

Page 1


ippnwthema

Juni 2025 internationale ärzt*innen für die verhütung des atomkrieges – ärzt*innen in sozialer verantwortung

80 Jahre nach Hiroshima und Nagasaki: Atomwaffen gefährden unsere Sicherheit

„Wir müssen anerkennen, dass wir Hibakusha sind – sonst können

wir unsere Botschaft nicht an die jüngeren Generationen weitergeben.“

Kunihiko Sakuma

Weitere Fotos finden Sie bei der Internationalen Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen: www.flickr.com/icanw

Das Stigma überwinden

Die Hibakusha und ihre Botschaft an nachfolgende Generationen

Die Überlebenden der Atombombenangriffe in Japan, die sich „Hibakusha“ nennen, haben es sich zur Aufgabe gemacht, vor den Gefahren von Atomwaffen zu warnen. Indem sie ihre Geschichte erzählen, wollen sie das Vermächtnis der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki an eine neue Generation weitergeben und sie befähigen, eine Welt ohne Atomwaffen aufzubauen. Kunihiko Sakuma, Überlebender des Atombombenabwurfs auf Hiroshima, hat im Mai 2025 Berlin besucht. Im Alter von nur neun Monaten erlebte er den Atomwaffenangriff auf Hiroshima. Auch wenn er daran keine Erinnerung hat, prägte dieser Angriff sein gesamtes Leben. Familienmitglieder litten unter den Folgen der Strahlenkrankheit, mussten jedoch ihre Identität als Hibakusha geheimhalten, um ein Leben ohne Diskriminierung führen zu können. In einer Zeit wachsender globaler Spannungen sind die Stimmen der Hibakusha wichtiger denn je. Die Verleihung des Friedensnobelpreises 2024 an die Überlebenden-Organisation Nihon Hidankyo erinnert uns: Atomwaffen erzeugen katastrophales humanitäres Leid. Sie müssen ein für allemal abgeschafft werden.

Foto: Klemens
Czurda
KUNIHIKO SAKUMA BERICHTET.
„Wir

haben die Bombe überlebt“

Hibakusha erzählen ihre Geschichte

Ich wurde im 1943 geboren. Die Atombombe wurde abgeworfen, als ich ein Jahr und zehn Monate alt war. Ich war zu Hause, 2,9 Kilometer vom Hypozentrum im Norden Nagasakis entfernt. Ich kann mich nicht mehr an diesen Tag erinnern. Mein Überleben verdanke ich der Landschaft von Nagasaki, die von Bergen umgeben ist. Ich wuchs damit auf, dass meine Mutter von Zeit zu Zeit von ihren Erlebnissen erzählte. […] Auf der Südseite des Ground Zero brach ein Feuer aus. Um ihm zu entkommen, überquerten die Menschen in der Nähe des Ground Zero den Berg, um in die Stadt hinunterzukommen. Auf der braunen Oberfläche des Berges sah meine Mutter, wie sich die Menschen wie Ameisen aneinanderreihten. Ihre Haare waren so blutverschmiert, dass sie nicht einmal mehr erkennen konnte, ob sie männlich oder weiblich waren. Sie waren fast nackt. Meine Mutter zitterte, als sie die schwarze Schlange von Menschen sah, die den Berg herunterkamen. Vermutlich sind viele Menschen auf dieser Bergstraße gestorben. Direkt neben unserem Haus befand sich ein leeres Grundstück, das wegen der Evakuierung von Gebäuden leer stand. Die Leichen, die auf der Straße zurückgelassen worden waren, wurden in Müllwagen auf den Platz gebracht und auf dem Boden aufgestapelt. […] Meine Mutter sagte, sie habe damals ihr menschliches Empfindungsvermögen verloren. Aus Rede auf dem “Nuclear Issues Forum” 2021, ippnw.de/bit/ masako-wada

Am 6. August 1945 fand der Atombombenangriff auf Hiroshima statt. Ich war neun Monate alt. Unser Haus lag drei Kilometer westlich des Explosionszentrums – ein einstöckiges Holzhaus. Ich schlief auf der Veranda und meine Mutter machte die Wäsche, als die Bombe abgeworfen wurde. Das Haus wurde durch die Explosion schwer beschädigt: Es war umgekippt, die Wände waren eingestürzt, Dachziegel und Fensterscheiben waren verstreut.

Glücklicherweise blieb es irgendwie bewohnbar. Meine Mutter trug mich auf ihrem Rücken aus der Gefahrenzone. Unterwegs waren wir dem strahlenden Schwarzen Regen ausgesetzt.

[…] Die Explosion verwüstete sofort die gesamte Stadt Hiroshima. Die Hitzestrahlung verursachte Feuersbrünste. Die Menschen wurden unter den eingestürzten Gebäuden zerquetscht. Sie verbrannten oder starben an den Folgen der hohen Strahlendosen. In dieser Hölle hatten meine Familienmitglieder Glück, dass sie knapp überlebten. Später, als ich elf oder zwölf war, musste ich wegen gesundheitlicher Probleme zwei Monate der Schule fernbleiben. Ich litt an Leber- und Nierenproblemen, die dazu führten, dass ich mich träge fühlte. Ich hatte keinen Appetit, und schon als Kind hatte ich Angst, dass ich sterben würde. Der Schmerz ist für mich immer noch traumatisch, wenn ich krank werde. Bei meiner Mutter, die dem Schwarzen Regen auch ausgesetzt war, wurde 1963 Brustkrebs diagnostiziert, so dass sie operiert werden musste. Sie litt weiterhin an Krankheiten unbekannter Ursache und starb 1998, nach wiederholten Krankenhausbehandlungen. Heute, 80 Jahre später, gibt es immer noch Menschen, deren Tod vermutlich auf die Auswirkungen der atomaren Strahlung zurückzuführen ist. Kunihiko Sakuma im Mai 2025 in Berlin

Jong-kuen Lee

Am 6. August war ich im Zug auf dem Weg zur Arbeit von Hera in Hatsukaichi, wo mein Haus stand. Ich passierte das Hypozentrum, zehn Minuten bevor die Atombombe abgeworfen wurde. Als ich den Blitz sah, warf ich mich auf den Boden und bedeckte meine Augen, Ohren und Nase mit meinen Händen. Als ich nach einer Weile aufschaute, konnte ich nichts sehen, weil es vollkommen dunkel war. Die Häuser um mich herum waren alle eingestürzt. [...] Ich nahm einen großen Umweg, um nach Hause zu gelangen. Wir gingen im Zickzack, um unverbrannte Gebiete oder Bereiche zu finden, wo das Feuer nachgelassen hatte. Ich sah viele sterbende Menschen und Tote. Ich lief sieben oder acht Stunden.“

Aus: „Survivor Testimonies”, Video des Hiroshima Peace Memorial Museum, ippnw.de/bit/longkuen-lee

Foto: Hiroshima Peace Memorial Musem

Meinem Vater gelang es, zu meiner Schule zu kommen und mich zu finden. Auf dem Heimweg, mein Vater trug mich auf dem Rücken, wurde ich Zeugin der Hölle auf Erden. Ich sah einen Mann mit verbrannter und abgezogener Haut, die von seinem Körper herabhing. Eine Mutter trug ein Baby, das schwarz verbrannt war und wie Holzkohle aussah. Sie selbst hatte schwere Verbrennungen am ganzen Körper und versuchte, zu fliehen, wobei sie fast auf dem Boden kroch. Andere verloren ihr Augenlicht, ihre Augäpfel traten heraus, oder sie rannten umher und versuchten zu fliehen, während sie ihre heraushängenden Eingeweide in den Händen hielten. Immer mehr Menschen versuchten, sich an uns zu klammern und riefen: „Gebt mir Wasser, Wasser, Wasser...“. Da wir nicht in der Lage waren, ihnen zu helfen, ließen wir sie einfach zurück und eilten nach Hause.

Unser altes Haus hatte sich in der Nähe des Ground Zero befunden, und nur 350 Meter davon ging ich zur Schule. […] Wären wir dort wohnen geblieben, wäre ich nicht mehr am Leben, um Ihnen diese Geschichte zu erzählen. Später erfuhr ich, dass etwa 400 Schülerinnen und Schüler meiner alten Schule von der Bombe verbrannt und sofort getötet wurden, ohne dass sie Spuren hinterließen – nicht einmal ihre Asche.

Als ich zu unserem Haus kam – 3,5 Kilometer vom Hypozen-trum – fand ich das Dach von der Explosion weggesprengt und Glasscherben überall verstreut. Schwarzer Regen fiel in das Haus, Spuren davon blieben lange Zeit an der Wand zurück. Die Nachbarn unseres alten Hauses und unsere Verwandten kamen zu uns und suchten Hilfe und Schutz. Unter ihnen war auch meine Lieblingscousine – für mich war sie wie eine große Schwester. Als die Bombe explodierte, war sie zu Arbeiten in der Umgebung des Explosionszentrums abkommandiert worden. Die Hälfte ihres Gesichts, ihr Rücken und ihr rechtes Bein waren schwer verbrannt, wund und roh. […] Am Morgen des dritten Tages – wahrscheinlich war es der 9. August – hauchte sie in meinen Armen ihr Leben aus. Sie war 14 Jahre alt. Ein anderer Cousin, der in

der fünften Klasse der Grundschule war, litt an Durchfall, obwohl er keine Verletzungen oder Verbrennungen hatte. Etwa eine Woche später blutete er aus Ohren und Nase, erbrach Blutgerinnsel aus seinem Mund und starb plötzlich. Innerhalb weniger Monate folgten meinen Cousins nacheinander mehrere meiner Onkel und Tanten. Quelle: Nu-clear Age Peace Foundation, ippnw.de/bit/michiko-kodama

An diesem Schicksalstag, dem 6. August 1945, war ich 13 Jahre alt und arbeitete im Rahmen eines Schülereinsatzes im Hauptquartier der japanischen Armee in Hiroshima, 1,8 Kilometer vom Zentrum der Bombardierung entfernt. Um viertel nach acht sah ich aus dem Fenster einen blau-weißen Blitz – und ich erinnere mich an das Gefühl, in der Luft zu schweben. Als ich zu mir kam, war es still und dunkel. Ich steckte zwischen eingestürzten Gebäudeteilen fest und konnte mich nicht bewegen – ich wusste, dass ich dem Tod ins Auge sah. […] Ein Soldat zeigte mir und zwei anderen Mädchen einen Fluchtweg in die nahe gelegenen Hügel. […] Geisterhafte Gestalten strömten vorbei, aus dem Stadtzentrum trotteten sie in Richtung der nahe gelegen Hügel. ‚Geisterhaft‘ sage ich, weil sie nicht wie Menschen aussahen. Ihr Haar stand zu Berge, sie waren nackt und zerrissen, blutig, verbrannt, schwarz und verschwollen. Körperteile fehlten, Fleisch und Haut hingen ihnen von den Knochen, manche hielten ihre Augäpfel mit den Händen, manchen hingen die Eingeweide aus dem offenen Bauch. Wir schlossen uns der gespenstischen Prozession an, vorsichtig stiegen wir über die Toten und Sterbenden. Im tödlichen Schweigen hörte man nur das Stöhnen der Verletzten und ihr Flehen nach Wasser. […] Als es dunkel wurde, saßen wir am Abhang und beobachteten die Stadt, die die ganze Nacht brannte – benommen von der Massivität des Leids und des Sterbens, dessen Zeugen wir geworden waren.“ Aus: IPPNW-Forum 142/2015, ippnw.de/bit/setsuko-thurlow

HIROSHIMA IM SEPTEMBER 1945
LEICHEN VON SCHULMÄDCHEN, DIE IN HIROSHIMA BRANDSCHNEISEN ANGELEGT HATTEN. GEMALT VON HIDEHIKO OKAZAKI

Nein zum menschenverachtenden

Prinzip

der „nuklearen Abschreckung“

Die Weltgesundheitsversammlung verabschiedet die Resolution „Effects of Nuclear War on Public Health“

Achtzig Jahre nach dem Inferno von Hiroshima und Nagasaki ist das Risiko eines Atomkrieges so hoch wie nie. Mehrere Atommächte sind in aktive Kriege verwickelt und alle Atommächte rüsten derzeit nuklear auf. Auch Deutschland als Nichtatommacht beteiligt sich im Rahmen der „nuklearen Teilhabe“ an dieser Aufrüstung durch die Stationierung modernisierter US-Atomwaffen in Büchel. Unter anderem steckt sie Milliarden in den Umbau des Luftwaffenstützpunktes und in neue F35-Kampfbomber als Trägersystem. Die Klimakrise, die Entwicklung der künstlichen Intelligenz und die für 2026 geplante Stationierung von Mittelstreckenwaffen in Deutschland erhöhen das Atomkriegsrisiko weiter.

Seit der Wahl von Donald Trump werden in Deutschland wieder Forderungen nach eigenen oder europäischen Atombomben laut. Doch das wäre weder mit dem NichtVerbreitungsvertrag (NVV) noch mit dem Zwei-plus-Vier-Vertrag zur Deutschen Einheit vereinbar. Beide Verträge verpflichten Deutschland dazu, auf eigene Atomwaffen und auf die Übernahme von Kontrolle über Atomwaffen zu verzichten. Die Mehrheit der Staaten der Welt hält bereits die Stationierung US-amerikanischer Atomwaffen in Rheinland-Pfalz im Rahmen der nuklearen Teilhabe für völkerrechtswidrig. Deutsche Soldat*innen sollen diese Atomwaffen im Ernstfall auf US-amerikanischen

Befehl hin einsetzen. Die derzeitige durch die USA vorgenommene technische Aufrüstung dieser Waffen zu Lenkwaffen mit verstellbarer Sprengkraft erhöht die Wahrscheinlichkeit ihres Einsatzes. Sie widerspricht den Abrüstungsverpflichtungen, denen die USA im Nicht-Verbreitungsvertrag unterliegen.

Die Diskussion über die deutsche oder europäische Atombombe entbehrt jeder Grundlage. Der Ausstieg Deutschlands aus dem Nichtverbreitungsvertrag würde das fatale Signal aussenden, Atomwaffen seien ein wichtiger Bestandteil nationaler Sicherheit. Weitere Länder könnten diesem Beispiel folgen. Ein solcher Ausstieg wäre mit hoher Wahrscheinlichkeit das Ende der bestehenden internationalen Rüstungskontrollabkommen zu Atomwaffen. Zum anderen ist der 2+4-Vertrag zur deutschen Wiedervereinigung ein völkerrechtlicher Vertrag ohne Rücktrittsklausel. Eine Auflösung würde die deutsche Nachkriegsordnung und die Friedensordnung in Europa aufkündigen – mit kaum absehbaren Folgen.

Nach der geltenden US-Atomwaffen-Doktrin, der „Nuclear Posture Review“ von 2018, sollen die in Europa stationierten Atomwaffen nicht mehr ausschließlich der Abschreckung dienen, sondern für den Einsatz in konventionellen Kriegen geeignet sein. Die Stationierung von Atomwaffen macht uns in Deutsch-

land nicht sicherer, sondern erhöht die Gefahr eines Angriffs mit der Folge eines Atomkriegs in Europa. Der Standort der völkerrechtlich umstrittenen Atomwaffen in Rheinland-Pfalz ist bekannt. Sie wären im Kriegsfall erstes Angriffsziel – und kein „nuklearer Schutzschirm“. In einem Atomkrieg, in dem weniger als 34 Prozent der Atomwaffen aus den globalen Arsenalen eingesetzt würden, würden unmittelbar über 100 Millionen Menschen sterben. Langfristig könnten durch die durch Ruß und Staub verdunkelte Atmosphäre und die daraus resultierende Temperaturabkühlung und Ernteausfälle 2,5 Milliarden Menschen sterben.

Auch könnte bereits der Einsatz von nur einer Atomwaffe durch festgelegte Befehls- und Entscheidungsketten zu einer Eskalation bis zum globalen Atomkrieg führen, wie Simulationen und Planspiele des US-Militärs belegen. Das Festhalten der Bundesregierung am Prinzip der „nuklearen Abschreckung“ ist eine Gefahr für die Sicherheit der Menschen in Deutschland, Europa und weltweit. Damit „nukleare Abschreckung“ überhaupt funktionieren kann, muss dem Gegner signalisiert werden, dass man zum Einsatz von Atomwaffen und damit zum Massenmord an der gegnerischen Bevölkerung bereit wäre. Diese völkerrechtswidrige Haltung kann niemals Grundlage für eine gemeinsame Friedens- und Sicherheitsordnung sein.

Schon die Entwicklung von Atomwaffen, die mit über 2.000 Atomwaffentests einherging, hat zu einem weltweiten Anstieg von Krebs und anderen strahlenbedingten Erkrankungen geführt. Besonders betroffen sind indigene Menschen und Menschen in ehemaligen Kolonien, auf deren Land der Großteil der Atomtests durchgeführt wurden.

„Zwar ist die Zahl der Atomwaffen von 70.300 im Jahr 1986 auf heute 12.331 gesunken. Jedoch entspricht dies immer noch 146.605 Hiroshima-Bomben und bedeutet nicht, dass die Menschheit sicherer ist. Heute besteht ein breiter Konsens, dass das Atomkriegsrisiko höher ist als je zuvor: Die Abrüstung ist im Rückwärtsgang, vielerorts wird in großem Stil atomar aufgerüstet“, heißt es in dem am 13. Mai 2025 von 132 medizinischen Fachzeitschriften veröffentlichtem Artikel „Ending nuclear weapons before they end us“. Im Januar ist die Weltuntergangsuhr so nah an Mitternacht gerückt wie noch nie seit ihrer Einführung im Jahr 1947.

Doch es gibt auch gute Nachrichten: Im Dezember 2024 erhielt Nihon Hidankyo, eine Bewegung, die Überlebende der Atombombenabwürfe vereint, den Friedensnobelpreis für ihre „Bemühungen um eine atomwaffenfreie Welt und dafür, dass sie durch ihr Zeugnis gezeigt haben, dass Atomwaffen nie wieder eingesetzt werden dürfen“.

Am 26. Mai 2025 hat die Weltgesundheitsversammlung (WHA) die Resolution „Effects of Nuclear War on Public Health“ mit großer Mehrheit angenommen. Die Bundesregierung stimmte gegen die neue Studie, zusammen u.a. mit Russland, Großbritannien, Frankreich, Ungarn und Nordkorea. Zuvor hatten Russland und die USA versucht, die Resolution zu verhindern. Obwohl die USA die WHO nicht mehr unterstützen, forderten sie andere NATO-Staaten dazu auf, dagegen zu stimmen.

Die Resolution beauftragt die Weltgesundheitsorganisation (WHO), die gesundheitlichen und umweltbezogenen Auswirkungen eines Atomkrieges systematisch zu untersuchen und die Forschung auf diesem Gebiet erheblich auszuweiten. Konkret sollen die wegweisenden WHOBerichte von 1983, 1987 und 1993 zu den Gesundheitsfolgen von Atomkrieg und Atomtests aktualisiert werden. Die Einbeziehung der gesundheitlichen Folgen der Atomwaffentests bedeutet für die Überlebenden, dass sie ihre Forderungen nach Anerkennung und Entschädigungen mit Daten unterfüttern können. Zudem ist die Informationslage in vielen Regionen nach wie vor lückenhaft und eine Aufklärung der Bevölkerung aufgrund fehlender Forschung schwierig. Die neuen Studien können hier einen neuen Anstoß für weitere Forschung und für die Aufklärung der Öffentlichkeit geben.

Ende 2024 stimmte die UN-Generalversammlung mit überwältigender Mehrheit für die Einsetzung eines 21-köpfigen unabhängigen wissenschaftlichen Gremiums, das eine neue umfassende Studie über die Auswirkungen eines Atomkrieges durchführen soll. Das Gremium wird die klimatischen, ökologischen und radiologischen Auswirkungen eines Atomkrieges und deren Folgen für die öffentliche Gesundheit, die globalen sozioökonomischen Systeme, die Landwirtschaft und die Ökosysteme untersuchen. Die nun beschlossene WHO-Studie wird diese Arbeit ergänzen.

All das sind wichtige Schritte hin zu einer evidenzbasierten Auseinandersetzung mit den katastrophalen Konsequenzen eines Atomkrieges.

Beim IPPNW-Weltkongress vom 2.-4. Oktober 2025 in Nagasaki, Japan, werden WHO-Generaldirektor Dr. Tedros Ghebreyesus sowie Vertreter*innen von Nihon Hidankyo referieren.

Dr. Angelika Claußen und Dr. Lars Pohlmeier sind Vorsitzende der deutschen IPPNW.
Paul Kagame
DAS BÜRO DER VEREINTEN NATIONEN IN GENF
NIHON HIDANKYO IN OSLO, DEZEMBER 2024

„Die Welt braucht die Berichte der Hibakusha“

Interview mit dem japanischen IPPNW-Arzt Dr. Masao Tomonaga

Herr Tomonaga, als Überlebender des US-Atombombenangriffs auf Nagasaki muss die Verleihung des Friedensnobelpreises 2024 an Nihon Hidankyo für Sie eine große Bedeutung haben. Können Sie etwas dazu sagen, warum es so wichtig ist, die Hibakusha in diesem Moment anzuerkennen, und wie ihre Stimmen die Kampagne für die Abschaffung von Atomwaffen befördern können?

Die Zahl der noch lebenden Hibakusha ist heute sehr klein – wir sind weniger als 100.000 – mit einem Durchschnittsalter von über 85 Jahren. Trotz ihres hohen Alters sind einige Hibakusha immer noch sehr aktiv in der Bewegung für die Abschaffung von Atomwaffen. Die neun Atomwaffenstaaten verfügen jedoch über mehr als 12.000 Atomwaffen, und einige von ihnen bauen ihre Arsenale in diesem Jahrzehnt aus. Eine solche Verbreitung hat es seit dem Ende des Kalten Krieges 1991 nicht mehr gegeben.

Am 10. Dezember letzten Jahres vergab das Friedensnobelpreiskomitee den Preis aan Nihon Hidankyo, die japanische Vereinigung der A- und H-Bombenopfer. Der Vorsitzende des Komitees, Jørgen Watne Frydnes, wies darauf hin, dass die Hibakusha das atomare Tabu durch ihre hartnäckige und langjährige Anti-Atom-Arbeit und durch ihre Atombombenzeugnisse in der ganzen Welt fest verankert hätten. In der Zeit des Kalten Krieges wurde das „atomare Tabu“ zur internationalen Norm, doch seit dem russischen Einmarsch in der Ukraine und der Drohung, in diesem Konflikt Atomwaffen einzusetzen, scheint es brüchig zu sein. Die Welt – insbesondere die junge Generation – braucht das Zeug-

nis der Hibakusha, um den Weg zu einer atomwaffenfreien Welt wiederherzustellen. Terumi Tanaka, ein 92-jähriger Überlebender von Nagasaki, der Hidankyo und alle Hibakusha in Oslo vertrat, versprach mit starker Stimme, die Erziehung der Jugend der Welt wieder in Gang zu bringen.

Dr. Masao Tomonaga ist Ehrendirektor des Krankenhauses für Atomwaffenüberlebende des Japanischen Roten Kreuzes in Nagasaki. Er selbst überlebte den USAtomwaffenangriff auf Nagasaki 1945. Als Arzt hat er sich auf die medizinische Versorgung von Hibakusha spezialisiert. Er ist Gründungsmitglied der IPPNW in seiner Heimatstadt und gehört zum Organisationskomitee des IPPNW-Weltkongresses, der im Oktober 2025 in Nagasaki stattfindet.

Sie waren bei der Nobelpreisverleihung im Dezember 2024 dabei. Welche Rolle haben Sie dort gespielt?

Der Ausschuss lud mich ein, an der Zeremonie teilzunehmen und darüber zu sprechen, wie wir die derzeitige, durch Atomwaffen verursachte gravierende Verschlechterung der Sicherheit überwinden können. Ich konzentrierte mich hauptsächlich auf meine 60-jährige ärztliche Arbeit und Forschung zu den gesundheitlichen Auswirkungen der Atombombenstrahlung. Viele Arten solider Krebserkrankungen treten vor allem bei älteren Menschen auf und weisen Plateaukurven auf – 80 Jahre nach einer Strahlenbelastung im Jahr 1945. Das gilt auch für das myelodysplastische Syndrom, eine Form der Altersleu-

kämie. Das Institut für gesundheitliche Auswirkungen der Atombombe der Universität Nagasaki hat eine Langzeitstudie über die Körperzellen der Hibakusha – insbesondere die Stammzellen der Organe –durchgeführt und festgestellt, dass sie auf der Ebene der DNA geschädigt wurden, was zu zahlreichen Chromosomen- und Gen-Anomalien in präkanzerösen Zellen oder präleukämischen Zellen geführt hat, die schleichend ein ganzes Leben lang überleben und bei einigen Hibakusha zum sporadischen Ausbruch einer bösartigen Erkrankung führen. Die Auswirkungen der Strahlenbelastung auf die Körperzellen sind also in der Tat lebenslang. Leider haben wir Mediziner*innen immer noch keine wirksame Behandlung zur Ausrottung solcher Krebsvorstufen. Ich selbst habe vor sechs Jahren im Alter von 76 Jahren ein Prostatakarzinom entwickelt. Eine neue Kohlenstoffionentherapie hat die Krebszellen erfolgreich beseitigt. […]

Studien über die zweite Generation von Hibakusha werden immer noch auf der Grundlage der neuen, hochentwickelten Technologie der Ganzgenomanalyse durchgeführt, um die Übertragung von GenAnomalien von Hibakusha-Eltern mit hoher Expositionsdosis auf ihre Kinder nach 80 Jahren aufzudecken. Es wird noch einige Jahre dauern, bis die Analyse von über 500 solcher Eltern-Kind-Kombinationen (Trios) abgeschlossen ist.

Die lebenslange Wirkung der Strahlung hat zu einem weltweiten Konsens über den inhumanen Charakter von Atomwaffen geführt. Sie müssen umgehend abgeschafft und niemals wieder produziert und in Kriegen eingesetzt werden – ob absicht-

lich oder versehentlich. Der internationale Vertrag über das Verbot von Atomwaffen war daher die größte Errungenschaft dieses Jahrzehnts.

Sie sind jetzt 80 Jahre alt, scheinen aber eine Vielzahl von Projekten zu verfolgen. Tatsächlich helfen Sie bei der Organisation des 24. Weltkongresses der IPPNW, der im Oktober in Nagasaki stattfindet. Was kann diesen Kongress zu einem Erfolg machen, wenn man an die derzeitige schwierige Weltlage denkt?

Vom 2. bis 4. Oktober 2025 wird die japanische IPPNW-Sektion den Weltkongress in Nagasaki ausrichten. Am ersten Tag werden wir in einer Plenarsitzung vier Friedensnobelpreisträger, IPPNW (1985), Pugwash (1995), ICAN (2017) und Nihon Hidankyo (2024) einladen, um in einem gemeinsamen Forum Maßnahmen für die zukünftige Verwirklichung einer atomwaffenfreien Welt zu diskutieren. In einer weiteren Sitzung werde ich einen zusammenfassenden Vortrag über die 80 Jahre andauernden medizinischen und sozialen Untersuchungen zur Abschätzung des Ausmaßes der inhumanen Auswirkungen der beiden Atombombenabwürfe auf Japan im Jahr 1945 halten.

Wir werden auch frühere und laufende Forschungsstudien zur genetischen Übertragung auf die zweite Generation der Hibakusha sowie mehr als zehn Jahre Nachfolgestudien zur Kontamination der Atmosphäre und der Umwelt durch die vom Atomkraftwerk Fukushima Dai-Ichi im Jahr 2011 freigesetzten radioaktiven Stoffe betrachten.

BEI

DEN UN-VERHANDLUNGEN ZUM ATOMWAFFENVERBOT, JUNI 2017

Als jemand, der den Beginn des Atomzeitalters miterlebt und sein Leben der Abschaffung von Atomwaffen gewidmet hat – was ist Ihre Botschaft an junge Menschen, die sich jetzt für die Abschaffung dieser existenziellen Bedrohung einsetzen?

Vor zwei Jahren, im November 2023, reiste ich mit einer Gruppe von zehn Hibakusha aus Nagasaki durch die USA, um unsere Zeugnisse abzulegen. Ich gab einen Überblick über meine 75-jährige Forschung über die gesundheitlichen Auswirkungen auf den Menschen. Wir trafen über tausend US-Bürger*innen, hauptsächlich Studierende. Wir hatten gute Gespräche und stellten fest, dass die US-Studierenden Atomwaffen in der Tat als unmenschlich empfanden und sich für ihre Abschaffung aussprachen. Aber sie gaben auch zu, dass ihnen keine guten Maßnahmen einfielen, um dem mächtigsten Atomwaffenstaat der Welt, den USA, den Verzicht auf Atomwaffen vorzuschlagen.

Wir Einwohner*innen von Hiroshima und Nagasaki haben den Beginn des Atomzeitalters miterlebt und mehr als 80 Jahre überlebt, um unsere Geschichte zu erzählen und darauf zu bestehen, dass so etwas nie wieder passieren darf. Wir sind pessimistisch, was die Aussichten auf die Abschaffung der Atomenergie angeht. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Menschheit weltweit durch einen Atomkrieg ausgelöscht wird, scheint allmählich näher zu

rücken. Wir Hibakusha werden uns bald verabschieden, aber die junge Generation wird vielleicht den dritten Einsatz von Atombomben im Krieg oder durch einen Unfall erleben. Ihre Verantwortung, die Atompolitik und -strategie ihrer Regierungen zu ändern, wird sehr bald Realität werden.

Auf dem Nobel Peace Forum in Oslo haben wir betont, dass Dialog und gegenseitiges Verständnis unerlässlich sind. Das bedeutet, dass die junge Generation über die Grenzen hinweg zusammenarbeiten sollte, in Atomwaffen- und Nichtatomwaffenstaaten gleichermaßen. Sie haben das Recht und die Verantwortung, sich in Solidarität für eine atomwaffenfreie Welt einzusetzen.

Das Interview „The world needs Hibakusha testimonies again“ erschien am 1. Mai 2025 auf dem Peace-and-Health-Blog: peaceandhealthblog.com. Das Interview führte John Loretz, Berater und ehemaliger Geschäftsführer der Internationalen IPPNW.

Das nukleare Erbe Kasachstans: Vergangenheit, Verantwortung und neue Stimmen

Ein neues Buch zur Geschichte des Atomtestgeländes in Semipalatinsk (Semei)

Mitten in der Steppe Ostkasachstans, nahe der heutigen Stadt Semei, liegt eines der folgenreichsten Testgebiete der Menschheitsgeschichte: das ehemalige sowjetische Atomtestgelände Semipalatinsk, auch einfach „Polygon“ genannt. Zwischen 1949 und 1989 testete die Sowjetunion dort 456 Atomwaffen – 116 davon oberirdisch. Die erste Bombe, gezündet am 29. August 1949, markierte den Beginn eines vier Jahrzehnte andauernden atomaren Alptraums für die kasachische Bevölkerung. Das Testgelände erstreckte sich über eine Fläche von 18.500 Quadratkilometern – größer als die Hälfte der Schweiz. Was zunächst als militärisches Sperrgebiet ausgewiesen wurde, befand sich in unmittelbarer Nähe zu bewohnten Regionen. Mehr als eine Million Menschen lebten im Einflussbereich der Tests. Und die Nähe zur zivilen Bevölkerung war kein Kollateralschaden, sondern kalkuliert: Man wollte die Effekte der Atomexplosionen auch an Menschen beobachten.

Viele der Einheimischen wussten lange nicht, was genau vor sich ging. Erst nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991 und der Öffnung von Archiven wurde das gesamte Ausmaß der Tests und der damit verbundenen Strahlenbelastung öffentlich bekannt. Die Nachwirkungen der Explosionen prägen das Leben vor Ort bis heute: Leukämie, Schilddrüsenkrebs, Unfruchtbarkeit und genetisch bedingte Fehlbildungen treten in der Region signifikant häufiger auf als anderswo im Land.

Das Leid der Betroffenen

Die medizinischen und sozialen Folgen für die Bevölkerung von Semipalatinsk sind

bis heute katastrophal. Viele Menschen litten unmittelbar nach den Tests an akuten Strahlenschäden: Hautverbrennungen, Übelkeit, Haarausfall. Noch gravierender waren jedoch die langfristigen Auswirkungen: Ganze Generationen kämpfen mit Krebserkrankungen, Immunschwächen und erblichen Gendefekten. Studien haben gezeigt, dass selbst Enkel der damals exponierten Menschen gesundheitlich beeinträchtigt sein können – eine erschütternde Langzeitfolge der atomaren Experimente.

Ein besonderes Problem: Viele Betroffene wurden nie offiziell als Strahlenopfer anerkannt. Eine eindeutige medizinische Zuordnung der Leiden zur Strahlenexposition ist oft schwierig, besonders da die medizinische Infrastruktur in der Region lückenhaft ist. Entschädigungszahlungen, wenn sie überhaupt erfolgen, sind gering und reichen oft nicht für die nötige medizinische Versorgung. Zivilgesellschaftliche Gruppen wie das „Komitee Polygon 21“ kämpfen dafür, dass diese Menschen endlich die Anerkennung und Unterstützung erhalten, die sie verdienen. Auch international wächst die Aufmerksamkeit – allerdings langsam und oft nur im Kontext nuklearpolitischer Debatten.

Ein Buch, das erinnert und aufklärt

Vor diesem Hintergrund ist das Buch „Kasachstans nukleares Erbe. Die vergessenen Stimmen der sowjetischen Atomtests“, das im Juni 2025 erscheint, ein bedeutender Beitrag zur historischen Aufarbeitung und zur Sensibilisierung der Öffentlichkeit. Das Werk ist das Ergebnis einer Bildungsreise im Sommer 2024, bei der Aktivist*innen und junge Studierende aus Deutsch-

land und Kasachstan gemeinsam Semei besuchten, Gespräche mit Betroffenen führten und sich mit der Geschichte vor Ort auseinandersetzten.

Organisiert wurde die Reise von ICAN Deutschland. Ziel war es, die Perspektiven der Betroffenen sichtbar zu machen, einen Beitrag zur Erinnerungsarbeit zu leisten und die Erfahrungen dieser Reise in die deutsche Friedensarbeit zu integrieren.

Das Buch versammelt eindrucksvolle Zeitzeugenberichte, wissenschaftliche Analysen und persönliche Reiseeindrücke. Es gibt den Menschen in Kasachstan eine Stimme – Menschen, deren Leiden bislang zu oft ignoriert wurde.

Ein Appell gegen das Vergessen

„Die vergessenen Stimmen der sowjetischen Atomtests“ – dieser Untertitel des Buches ist mehr als nur ein Titel. Er ist ein Aufruf an uns alle, nicht wegzusehen. Während in Europa und Nordamerika oft abstrakt über Atomwaffen diskutiert wird, sind die Folgen in Kasachstan konkret, lebensnah und dauerhaft sichtbar. Das ehemalige Testgelände von Semipalatinsk ist heute ein Mahnmal – ein Ort, der zeigt, wie grausam und rücksichtslos Atompolitik sein kann, wenn sie auf dem Rücken von Menschen betrieben wird.

Die Veröffentlichung des Buches ist daher nicht nur eine wissenschaftliche oder journalistische Leistung – sie ist auch ein Akt der Solidarität. Und sie ist ein Beitrag zum globalen Einsatz für eine Welt ohne Atomwaffen.

GEDENKSTÄTTE FÜR DIE OPFER DER ATOMTESTS IN ALMATY

DMITRY VESELOV, SEMEI

Bestellung und Unterstützung

Das Buch „Kasachstans nukleares Erbe“ können Sie im IPPNW-Shop bestellen. Mit dem Kauf unterstützen Sie nicht nur die Dokumentation und Sichtbarmachung der Geschichten der Betroffenen, sondern auch die Arbeit der IPPNW für nukleare Abrüstung und für eine gerechtere Welt.

Mehr Informationen zum Buch, zur Bildungsreise und zu weiteren Möglichkeiten der Unterstützung finden Sie hier: ippnw.de/bit/kasachstan

„Kasachstans nukleares Erbe. Die vergessenen Stimmen der sowjetischen Atomtests“, herausgegeben von Yannick Kiesel – erscheint am 13. Juni 2025 im Oekom Verlag. Bestellung hier: shop.ippnw.de

Dmitry Veselov, Aktivist aus Semei

Der kasachische Aktivist Dmitry Veselov setzt sich für die Betroffenen von Atomtests ein:

Yannick Kiesel ist Referent für Friedenspolitik bei der DFG-VK.

„Lange Zeit erlebte ich Diskriminierung, da meine gesundheitlichen und körperlichen Einschränkungen mich daran hinderten, ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft zu sein. Mangels anerkannter Behinderung erhielt ich keine nennenswerte staatliche Unterstützung. Diese Ungerechtigkeit wurde erst durch einen Anwalt behoben. Glücklicherweise erhielt ich eine Diagnose, was die negativen Folgen meiner Erkrankung mildert. Trotz Schwierigkeiten gelang es mir, die Verbindung meiner Krankheit mit dem Testgelände zu bestätigen und eine Behinderung anerkennen zu lassen. Angesichts der Ungerechtigkeiten von staatlichen Stellen und der Rückständigkeit der Gesetzgebung verspüre ich den Drang, die Situation zu verbessern. Dazu gehört die Verkürzung der Verfahrenszeiten und die Erweiterung der Liste der anerkannten Erkrankungen. „Nukleare Gerechtigkeit“ ist für mich ein umfassendes, vielschichtiges Konzept, das vieles umfasst: die Unterstützung für die Opfer der Atomtests und der Menschen in der Umgebung des Testgeländes, die Wiederherstellung der psychischen Gesundheit der Bevölkerung, die Wiederherstellung der Umwelt und den Zugang zu grundlegenden Bedürfnissen wie sauberem Wasser, medizinischer Versorgung, Bildung und Arbeit.

Ich möchte dazu noch sagen. Meine Krankheit ist bekannt und untersucht. Ich weiß, wie ich damit umgehe und bin nicht in konstanter Angst um meine Gesundheit oder mein Leben. Dies betrifft aber leider viele andere

Überlebende. Menschen sterben an Krebs oder anderen lebensbedrohlichen Erkrankungen. Sie kämpfen jeden Tag um ihr Leben. Dazu kommt, dass viele Menschen die langen Verwaltungsakte nicht überleben und die Anerkennung ihrer Krankheit kommt oft zu spät. Dann erreichen die Dokumente nach Jahren nur noch die Angehörigen. Dazu kommen die verschiedenen Anforderungen bis Überlebende ihre Dokumente erhalten können. Viele der Menschen gehen in ihrer Verzweiflung nach Russland, um eine Diagnose zu erhalten. Leider erkennen die Behörden hierzulande nur Dokumente von kasachischen Krankenhäusern an. Die russischen Dokumente helfen den Menschen dann meist nicht weiter.

Die kasachische Regierung gibt eine Liste mit Erkrankungen heraus, die in Verbindung mit erhöhter Strahlung stehen und unter bestimmten Umständen anerkannt werden. Allerdings wird diese Liste stetig von den Behörden verändert. Menschen haben kein Wissen über die Aktualität der Liste und ob ihre Krankheit noch Teil der Liste ist oder nicht. Ein Beispiel ist Diabetes: Die Krankheit stand anfangs auf der Liste, da es eine hohes Aufkommen an Diabetiker*innen rund um das Polygon gab und dies mit der Verstrahlung erklärt wurde. Als die Behörden allerdings erkannten, wie hoch die Zahl der Betroffenen ist, wurde Diabetes von der Liste als anerkannte Erkrankung entfernt. Betroffenen wurde damit der Zugang zu notwendiger medizinischer Versorgung genommen.“

Das Gespräch führte Yannick Kiesel.

Foto: © Bennet
Rietdorf

Sie wollen mehr?

Weiterführende Informationen:

• Aktuelles zum Thema Atomwffen auf ippnw.de: www.ippnw.de/atomwaffen

• Informationen über Atomwaffen von A-Z: www.atomwaffena-z.info

• Webseite zu den Folgen von Atomwaffen für Gesundheit und Umwelt: survivors.ippnw.de

• IPPNW-Factsheet „Auswirkungen einer Atombombenexplosion“: ippnw.de/bit/factsheet_atomwaffen

• IPPNW-Ausstellung „Hiroshima und Nagasaki“: issuu.com/ippnw/docs/ ausstellung_hiroshima_nagasaki

Die Artikel und Fotos dieses Heftes stammen aus unserem Magazin „IPPNW-Forum“, Ausgabe Nr. 182, Juni 2025. Im Mittelpunkt der Berichterstattung des IPPNW-Forums stehen „unsere“ Themen: Atomwaffen, Friedenspolitik, Atomenergie, Abrüstung und Klima und soziale Verantwortung in der Medizin. In jedem Heft behandeln wir ein Schwerpunktthema und beleuchten es von verschiedenen Seiten. Darüber hinaus gibt es Berichte über aktuelle Entwicklungen in unseren Themenbereichen, einen Gastkommentar, Nachrichten, Kurzinterviews, Veranstaltungshinweise und Buchbesprechungen. Das IPPNW-Forum erscheint viermal im Jahr. Sie können es abonnieren oder einzelne Ausgaben in unserem Online-Shop bestellen.

ippnwforum

Militarisierung der Gesundheitsversorgung? Friedensfähig statt kriegstüchtig!

Shrinking Spaces: Wie können wir Handlungsräume verteidigen?

Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.