amatom28 – Zeitschrift von und für kritische Medizinstudierende

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Frieden

Zeitmaschine in die Vergangenheit

Das Ost-West-Verhältnis vor dem Hintergrund der Ukraine-Krise

S

t. Petersburg, Spätsommer 2015: Wir reden nicht mehr darüber, über die Ukraine. Nicht mit Julia, die in Kiew geboren wurde und Ehefrau meines Neffen ist, nicht mit Jura, meinem Schwiegervater, der begeisterter Putin-Anhänger ist, nicht mit meinem Arzt-Kollegen und Freund Igor, der schon lange keine Fernsehnachrichten mehr sieht. Ritualisiert laufen Bilder aus Donezk täglich über die russischen Fernsehbildschirme. Seit 30 Jahren bereise ich die Region bereits. Doch bürgerkriegsähnliche Zustände wie den in der Ukraine hätte ich mir nicht vorstellen können. Von Dr. Lars Pohlmeier

allem deren Interessen dient. Die Vereinbarungen zwischen der NATO und der UNO aus dem Jahr 2008 zur engeren Kooperation erweckt den Eindruck, die NATO würde den hehren Zielen der UN dienen. Hier wird aber verwischt, was ohnehin nicht zusammengehört. Und Russland hat diese Vereinbarung, die aus russischer Sicht Kompetenz und Einfluss des UN-Sicherheitsrates unterläuft, durch den damaligen ständigen Vertreter Russlands bei der NATO, Dmitri Rogosin, als „illegale Vereinbarung“ kritisiert.

Wie konnte es passieren, dass ein Vielvölkerstaat wie die UdSSR, die doch im Inneren in gewissem Rahmen friedlich gelebt hat, so auseinander driftet und jetzt mit so einer Latenzzeit mit diesen Konflikten konfrontiert ist? Es gibt nur Fragmente einer Antwort. Die große Tragik Russlands sind die fehlenden demokratischen Traditionen. Nach einer kurzen Aufbruchstimmung in den 90er Jahren, in denen man sich anschickte, die Skandale der kommunistischen Partei und den allgemeinen Korruptionsdschungel öffentlich zu machen, kehrte seit Mitte der 90er Jahre allmählich die (mediale) Repression zurück. Die tapfere Berichterstattung des damals noch privaten TV-Senders NTW wurde gleichgeschaltet. Heute wird Kritik an der Regierung als Nestbeschmutzung gebrandmarkt und im Zweifel verfolgt. Kritische Journalisten sind oftmals vogelfrei, Ermordungen inbegriffen.

Dr. Lars Pohlmeier Bremen, Mitbegründer des Amatom, ehem. Vorstandsmitglied der deutschen und internationalen IPPNW, zuletzt europäischer IPPNW-Präsident l.pohlmeier@gmx.de

Eine kritische Debatte im öffentlichen Raum findet allenfalls in Internet-Nischen statt. Das gilt auch für die Schule, über die mir eingeschüchterte Lehrer berichten: Eine offene Diskussion sei kaum noch möglich. Eine kritische Aufarbeitung der eigenen Geschichte des letzten Jahrhunderts ist nicht möglich. Viel wird nun überdeckt von einem neuen russischen Nationalismus.

Friedensdemo in Moskau, Foto: Vladimir Varfolomeev / CC-BY-S.A 2.0 Zivilgesellschaftliches Engagement, wie man es bei uns kennt, das „Ehrenamt“, hat keine wirkliche Tradition. Viele der Jüngeren verfolgen das gesellschaftliche Geschehen wie einen Kinofilm, eben nur als Betrachter aber nicht als handelndes Subjekt. All dies bietet eine Steilvorlage für die westlichen Russland-Kritiker. Ja, Präsident Putin hat einen autoritären Staat erschaffen. Aber ist Russland deshalb verantwortlich für die Eskalation des Konfliktes in der Ukraine? Die Wurzeln liegen hier tiefer und sie haben etwas damit zu tun, wie wir selbst manipuliert werden. Wir sollen glauben, dass die NATO ein friedenssicherndes Instrument der demokratischen Welt ist. Dabei unterschlagen wir gern, dass die NATO ein militärisches und ökonomisches Machtinstrument ihrer Mitgliedsstaaten ist und vor

Die NATO wird von Russland als das erlebt, was sie ist: Ein Militär- und Interessensbündnis, das sich internationaler Kontrolle letztlich entzieht. Russlands Selbstbild hingegen ist zugleich das eines Landes, das immer wieder überfallen und bedroht wurde. Ob das historisch immer korrekt ist, müssen Historiker entscheiden. Zu den beeindruckendsten persönlichen Erfahrungen meiner zahllosen Russlandreisen gehört jedoch zweifellos: Hier herrscht keine Kriegsbegeisterung. Die Menschen haben hier aus leidvoller Erfahrung ein gutes Gespür dafür, dass Krieg Leiden und Opfer bedeutet und wenig Heroisches hervorbringt. Die Ausweitung der NATO gen Osten wird von Russland nachvollziehbar als latente Bedrohung wahrgenommen. Während bei uns über die mögliche Besetzung der


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