Host Verlag Katalog der Auslandsrechte Frühjahr 2025

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Frühjahr 2025

Katalog der Auslandsrechte

Im Herbst 2026 wird die Tschechische Republik Gastland der Frankfurter Buchmesse sein. Der vorliegende Katalog präsentiert eine Auswahl von Titeln für eine Übersetzung ins Deutsche.

Inhalt

Jakuba Katalpa: Úlice. Liebesroman [Immingen. Liebesroman] 4

Jaroslav Rudiš, Kateřina Tučková u.a.: Sudety. Ztracený ráj [Sudetenland. Verlorenes Paradies] 6

Jana Šrámková, Jan Němec: Byt. Román ve dvou [Die Wohnung. Roman zu zweit] 8

Petra Soukupová: Marta děti nechce [Marta will keine Kinder] 10

Emma Kausc: Narušení děje [Ablaufstörung] 12

Petra Klabouchová: Ignis fatuus [Ignis Fatuus] 14

Iva Hadj Moussa: Těžké duše [Schwere Seelen] 16

Klára Elšíková: Pacanka [Pacanka] 18

Vilém Koubek: Zatloukání hřebů [Nägel einschlagen] 20

František Voldřich: Hrdinové ničeho [Helden des Nichts] 22

Auswahl aus der Backlist 24

Kateřina Tučková: Bílá Voda [Weißwasser] 24

Lidmila Kábrtová: Čekání na spoušť [Warten auf den Auslöser] 26

Viktor Špaček: Čistý, skromný život [Ein reines und bescheidenes Leben] 28

Michal Sýkora: Pět mrtvých psů [Fünf tote Hunde] 30

Petra Stehlíková: Naslouchač [Der Lauscher] 32

Pavel Bareš: Meta [Meta] 34

Irena Hejdová: Nedráždi bráchu bosou nohou [Ganz gescheit kommt vor dem Fall] 36

Verzeichnis deutscher Textproben zu weiteren Titeln 38

Das Verlagshaus Host bietet seinen Leserinnen und Lesern ein reiches Spektrum an literarischen Erlebnissen und steht für Qualität. Jährlich erscheinen bei uns etwa einhundertfünzig neue Titel. Wir verlegen tschechische Belletristik, aber auch internationale Belletristik in Übersetzung, ebenso Sci-fi und Fantasy, Detektivromane, Thriller, Kinder — und Jugendbücher, populär und fachwissenschaftliche Literatur sowie Lyrik.

Host ist stolz, viele führende Namen der tschechischen Gegenwartsliteratur in seinem Programm zu versammeln. Große Publikumsresonanz und zahlreiche prestigeträchtige Preise bestätigen uns darin, dass es sich lohnt, jede Publikation intensiv und konsequent zu betreuen vom Manuskript bis zum letzten Detail. Wir verlegen BestsellerAutorinnen wie Alena Mornštajnová und Kateřina Tučková, deren Bücher sich zu Hunderttausenden verkaufen und in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt werden. Aber auch die Bücher anderer führender Autorinnen und Autoren unseres Hauses wie Petra Dvořáková, Jiří Hájíček, Viktorie Hanišová, Jakuba Katalpa, Jan Němec und Petra Soukupová haben den Weg in viele andere Sprachen gefunden.

Anspruchsvoll aufgestellt ist ebenso die Sparte Weltliteratur in Übersetzung. Gemeinsam ist den hier vertretenen Titeln literarische Qualität, Lesbarkeit und sorgfältige Übersetzung. Dank uns stehen den tschechischen Leserinnen und Lesern die Werke von Olga Tokarczuk, Annie Ernaux, Fredrik Backman oder Muriel Barbery zur Verfügung.

Auch der Krimi gehört zu den fest etablierten Genres, wobei es uns ein Anliegen ist, dass der Kriminalfall auch aktuelle Themen verhandelt. Ein Meilenstein in unserer Verlagsgeschichte war die Herausgabe des ersten Teils von Stieg Larssons Millennium-Serie, die das Phänomen des nordischen Krimi auf dem tschechischen Buchmarkt eingeführt hat.

Seit einigen Jahren stärken wir den Bereich Sci-fi und Fantasy für Kinder und Jugendliche. Die Welt verändert sich ständig — gesellschaftlich, politisch, künstlerisch.

Und immer wird es Bücher geben, die sich mit diesen Veränderungen auseinandersetzen. Ein reich differenziertes Angebot hierzu bietet unsere populärwissenschaftliche Sparte.

Die Geschichte des Verlagshauses ist mit der gleichnamigen literarischen Revue verbunden. Bereits 1985 als Samisdat-Zeitschrift gegründet, nahm sie in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre einen enormen Aufschwung; mit dem Generationenwechsel in der Redaktion lag die Leitung nun bei Miroslav Balaštík und Tomáš Reichel. Sie gründeten 1996 gemeinsam den Verlag Host, zunächst nur für die Herausgabe von Lyrik und literaturtheoretischen Büchern, die immer noch zum Programm gehören. Inhaber des Verlags, der sich bis heute seine Unabhängigkit bewahrt hat, sind Miroslav Balaštík, Tomáš Reichel und Martin Stöhr. Kennenlernen können Sie uns, unsere Bücher sowie unsere Autorinnen und Autoren bei zahlreichen Lesungen und Gesprächsforen, auf Buchmessen und Festivals. Wir präsentieren unser Programm regelmäßig auf den Buchmessen in Frankfurt, Leipzig, London und Bologna.

Über den Verlag

Jakuba Katalpa Immingen. Liebesroman

Jakuba Katalpa (1979) ließ ihrem außerordentlich erfolgreichen Debut Je hlína k snědku? [Kann man Erde essen?] die Romane Hořké moře [Bitteres Meer] (2008) und Němci – geografie ztráty [Die Deutschen - Geographie eines Verlustes] (2012) folgen. Für letzteren wurde sie mit dem Josef Škvorecký-Preis und dem Publikumspreis Tschechisches Buch ausgezeichnet; außerdem war sie für den Magnesia Litera nominiert. 2017 erschien ihr vielschichtig komponierter Gegenwartsroman Doupě [Die Höhle]. Mit Zuzanin dech [Zuzanas Atem] landete sie 2020 ihren bislang größten Publikumserfolg. Die Bücher der Autorin sind in acht Sprachen erschienen.

Verkauft: 60 000 Ex

Roman

Gebundene Ausgabe

April 2025

319 Seiten

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jakuba katalpa

liebesroman

Bisher auf Deutsch erschienen: Die Deutschen - Geographie eines Verlustes, Balaena, 2015, Doris Kouba

Zuzanas Atem, Balaena, 2023, Kathrin Janka

Kann man Erde essen?

Roman / 2021 / 189 Seiten

Die Höhle

Roman / 2017 / 312 Seiten

Was alles sind wir zu opfern bereit, um zu überleben? Und sind wir dann immer noch Menschen? Immingen ist eine aus Raum und Zeit gefallene Stadt. Sie fehlt selbst auf einigen Karten des tschechischen Grenzgebiets. Ihre Bewohner betreiben von jeher die Imkerei, ihr Leben ist honigsüß. Doch plötzlich entsteht mitten in der Stadt ein Konzentrationslager... Anežka, Běla und Helena sind in Immingen aufgewachsen und kennen sich seit Kindertagen. Alle drei haben sie ihren wenig spektakulären Lebensplan, der sich nun durch das Lager und die Präsenz der deutschen Soldaten verändert. Und auch sie selbst verändern sich. Jakuba Katalpas Roman ist vielschichtig und rücksichtslos, mehr als nur ein weiterer Beitrag zum Genre historische Fiktion aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Er stellt, ohne jeden Kompromiss, die Frage nach Freiheit, moralischer Verantwortung und persönlichen Grenzen.

Foto © Jaroslav Kocián

Zehn Tage später kommt Hanke wieder mit einer Kleinigkeit vorbei.

Wieder hat er den richtigen Moment gewählt, das Büro ist leer, durchs offene Fenster strömt Kälte herein. Nur Helenas Schreibtischlämpchen leuchtet.

Schon von der Tür her grinst Hanke sie an, ein knisterndes Päckchen in der Hand.

Er kauft mich, begreift Helena plötzlich, sie schluckt.

Beobachtet Hankes dicke Finger, die das Geschenk umklammert halten, das eine Schleife ziert.

Die Neugier siegt.

Und der Hunger. Sie will mehr.

Vom Gefängnishof her ertönen Schreie, Helena steht schnell auf und schlägt das Fenster zu.

Sie ist bereit.

Hanke hat schmale Reptilien-Lippen, kalte Augen und perfekt manikürte Hände, seine Nägel sind rund gefeilt. Er mustert Helena schweigend.

Gut sehen sie aus, sagt er und ihre Brüste werden schwer; der Körper reagiert auf einen Mann, den sie eigentlich gar nicht will.

Diesmal ist es eine Handtasche aus Straußenleder, das Futter aus lachsrosa Satin.

Die ist wunderschön, haucht Helena.

Sie weiß, dass Hanke das erwartet.

Sie haben nur das Beste verdient, lächelt Hanke und macht Licht, das Licht von Helenas Schreibtischlampe reicht nicht aus.

Gemeinsam bewundern sie die Handtasche.

Helena ist klar, dass sie für alle diese Dinge irgendwann bezahlen muss.

Sie fragt nicht nach dem Preis.

Mit der Zeit fangen die übrigen Beamten an zu tratschen, dass Helena mit Hanke ein Verhältnis hat.

Keiner von beiden widerspricht.

Weiterhin bringt Hanke ihr Geschenke.

Parfüm.

Einen Pelzkragen für ihr Kostüm.

Einen Armreifen mit einem großen türkisfarbenen Stein. Taschentücher.

Ein Kaschmir-Hütchen.

Es ist geschmacklos, aber es ist nichts, was man durch Laufen loswerden könnte.

Helena rennt den winterlichen Hohlweg entlang, der Atem dampft vor ihrem Mund und mit dem lauten Atemgeräusch fließt dieses ganze Ekelhafte aus ihr ab.

Als sie nach Hause kommt, ist sie ganz rein.

Der Zahltag kommt Mitte März, als Scharbockskraut und Lungenkraut sich durch die Pappschneereste bohren.

Hanke legt eine Bonbonniere mit Marzipan-Pralinen auf Helenas Tisch, er hat sie aus Berlin mitgebracht.

Ich bräuchte was von Ihnen, sagt er.

Als er sich zu Helena herunterbeugt, dreht sich ihr vom Gestank seines Kölnischwassers der Magen um.

(…)

Zu Anfang hat Helena ein schlechtes Gewissen. Das bringt sie jedoch mit der Zeit zum Schweigen; sie will sich nicht damit beschäftigen, was sie tut oder wovon sie Zeugin ist.

Das Stückchen ihres Inneren, das am lautesten schreit, pult sie ab und legt es weg.

Sie verstümmelt sich und lernt in einem eng bemessenen Raum zu atmen.

Zu Hankes Gartenabschnitt, der Isolation genannt wird, geht sie nur im allernötigsten Fall.

Sie beschäftigt sich ausschließlich mit Verwalten, sie evidiert Hankes gesamte Schweinerei in Kladden. Ihr Vorgesetzter ist besessen von Listen und Protokollen, die alltägliche Bürokratie gibt seinem Tötungsunternehmen Ordnung und Struktur.

Binnen eines einzigen Jahres wird Helena freiwillig taub gegenüber allem, was es in ihrem Inneren an Zärtlichem und Fröhlichem gegeben hat.

Sie tut, was sie muss, sie hat sich in eine Karikatur ihrer Selbst verwandelt, unangenehme Gefühle pfeift sie zurück wie einen Hund, der nicht hören will; sie hat sich im Griff.

Sie riecht nach Tod, genau wie Frida, das Hausmädchen, es gesagt hat.

Sie kauft sich immer mehr Sachen, als Bestechung für sich selbst.

Die teuren Sachen betrachtet sie als ihren verdienten Lohn für die Gleichgültigkeit, die sie gewaltsam in sich heranzüchtet, als ob das eine mittelalterliche Tugend wäre.

Wenn sie es nicht mehr aushält (Peng in den Kopf, lacht Hanke einmal, als er bei ihr im Büro vorbeischaut; er kommt gerade von einer Hinrichtung zurück), schließt sie sich auf der Toilette ein, dreht den Wasserhahn am Waschbecken auf, damit man nichts hört, und schlägt mit leisem Stöhnen ihren Kopf gegen die Wand.

Übersetzung Kathrin Janka

Weitere deutsche Textproben zu anderen Titeln der Autorin verfügbarx

Jakuba Katalpa Immingen. Liebesroman

Sudetenland. Verlorenes Paradies

Petra Dvořáková, Marie Hajdová, Jakuba Katalpa, Petra Klabouchová, Michaela Klevisová, Leoš Kyša, Jaroslav Rudiš, Kateřina Tučková, Michal Vrba, David

Jan Žák

Jaroslav Rudiš: Zákupy – Sarajevo [Reichstadt – Sarajevo]

Petra Dvořáková: Oh Gott, to je ale haluz [Oh Gott, was für ein Ast]

Petra Klabouchová: S křížkem po funuse [Zu spät]

Marie Hajdová: Hlasy jara [Frühlingsstimmen]

Leoš Kyša: Kamarádi [Freunde]

Jakuba Katalpa: Mandl [Mandl]

Michal Vrba: Elbemann [Elbemann]

Michaela Klevisová: Moje budoucnost [Meine Zukunft]

David Jan Žák: Bukanýři Šumavy aneb bezejmennej klub Mladýho hlasatele [Bukanier im Böhmerwald oder Der Club des Mladý hlasatel]

Kateřina Tučková: Čas raků [Zeit der Krebse]

Mehr zu einzelnen Autoren auf den Seiten:

Jakuba Katalpa 4

Petra Klabouchová 14

Kateřina Tučková 24

Ztracený ráj

Sudety:

Kurzgeschichten-Anthologie Gebundene Ausgabe

April 2025

312 Seiten

Sudety: Ztracený ráj

Kateřina Tučková, Jakuba Katalpa, Jaroslav Rudiš, Petra Dvořáková, Marie Hajdová, David Jan Žák, Petra Klabouchová, Michal Vrba, Michaela Klevisová, Leoš Kyša

z česko-německého pohraničí

Host

Führende tschechische Autoren und Autorinnen erzählen vom Leben im Grenzland vor dem Krieg

Das Sudetenland gilt bis heute als eine von der Abschiebung der Deutschen schwer gezeichnete Problemregion. Wie war es, bevor die Dinge ihren unumkehrbaren Lauf nahmen. Jungenabenteuer, groteske und schicksalhafte erste Lieben, Verwurzelung in der Heimat, aber auch brennender, wie besessener Hass… Der prominente Künstler Jaromír 99 hat, inspiriert von zeitgenössischen Fotografien, eindrückliche Illustrationen zu dem Erzählband geschaffen; das Vorwort stammt von Michal Stehlík und Martin Groman, den Autoren des viel beachteten Podcasts Přepište dějiny [Schreibt die Geschichte neu].

Die Anthologie gibt nicht nur literarisch Zeugnis vom Grenzland als Ort, an dem Deutsche, Tschechen, Juden und andere Ethnien über Generationen hin zusammengelebt haben, sondern fordert auf, sich über die Zerbrechlichkeit menschlichen Zusammenlebens in turbulenten Zeiten Gedanken zu machen.

Vetriebene Geschichte

Vowort

Es hat keinen Sinn, es länger zu kaschieren – die Lösung der deutschen Frage nach dem Mai 1945 zielte auf eine Vertreibung. Sie wurde durchgeführt, konsequent und unmenschlich. Das hatte seine schrecklichen Gründe und seine langfristigen Folgen. Eine davon ist, dass wir aus dem Grenzgebiet – oder traditionell gesagt: aus dem Sudetenland – auch die Geschichte vertrieben haben. Nicht nur dass die Menschen ihre Erzählungen, ihre Version der Vergangenheit mitgenommen haben, sondern man erzählt keine Geschichte dieser Gebiete, als hätte sich die Geschichte des tschechischen Staates nur im Innern des bergumringten Landes abgespielt.

Allein die Tatsache, dass wir die „Sudetendeutschen“ bzw. Deutschböhmen auf eine kollektive monolithische Einheit reduziert haben, geht an der historischen Realität vorbei. Bevor das Übel seinen Lauf nahm, bevor sie selbst mehr und mehr der plakativen Ideologie aus dem Reich anhingen, die ihnen eine einfache Lösung ihrer komplizierten Probleme versprach, haben hier sehr unterschiedliche Menschen gelebt, eine bunte Vielfalt. Vermögende Unternehmer und Hoteliers in Karlsbad, Industriearbeiter im Aussiger Gebiet, Bergleute im Erzgebirge, Bauern im fruchtbaren Südmähren, Weber im Böhmerwald und unter dem Jeschken, Glasmacher und Bijouteriehersteller in Gablonz an der Neiße, die Riesengebirgler, die Deutschen in Olmütz, Brünn, Iglau, die Prager Deutschen und die „prajzáci“, die „Preußen“, östlich von Troppau, die noch in der Republik den Stolz auf ihr früheres Kronland pflegten. Warum sollten sie um ihre Geschichte kommen, die genauso bedeutend und staatsbildend war wie die der Tschechen in ihren Gebieten?

Das konnten sie nicht verstehen, und wie sollten sie auch? Vor 1918 waren sie in ihren Gebieten die Herren, und im Staat, der österreichisch-ungarischen Monarchie, dominierten sie oder konnten zumindest das Gefühl einer dominanten Identität haben. Nach 1918 wurden sie, jedenfalls in der eigenen Wahrnehmung, zu Dienern ihrer ehemaligen Diener. Und dabei sprach man überall vom Recht auf Selbstbestimmung, das ihnen jedoch verwehrt blieb, obwohl es ihnen so wichtig war. Spätestens seit der Mitte

des 19. Jahrhunderts kannten sie das großdeutsche Konzept, das sich mit dem Konzept eines tschechischen Nationalstaates freilich nicht vertrug. Unser Traum war nicht ihr Traum, und daher wollten sie ihn nicht mit uns teilen, auch wenn ihnen schließlich nichts anderes übrig blieb. Entwurzelte waren nicht nur diejenigen, die gehen mussten, sondern auch alle, die nach ihnen in diese Gebiete kamen. Wenn sich heute die Menschen in Chomutov (Komutau), Liberec (Reichenberg), Svitavy (Zwittau) oder anderswo fragen, wann sie hier endlich zuhause sein werden, kann man nur hoffen, dass sich das Gefühl einstellt, wenn sie Wurzeln geschlagen haben. Wenn zwei, drei Generationen auf den Friedhöfen liegen. Die Neuzuzügler haben kaum etwas mitgebracht und ganz bestimmt keinen Glauben. Der ist mit den ursprünglichen Bewohnern fortgezogen und wurde in den folgenden Jahrzehnten völlig ausradiert. Das neue Regime plünderte, demolierte und zerstörte systematisch Kirchen, Kreuze und alles, was an die Vertriebenen erinnerte. Der Böhmerwald, das Erzgebirge und das Riesengebirge verfügten über einen Reichtum an Wegkreuzen, Wallfahrtskirchen und sonstigen Andachtsstätten. Und nicht von ungefähr. Das Leben hier, auch das Glaubens- und Gefühlsleben, hatte vielerorts eine ganz spezifische Intensität. Hier evangelisch, da katholisch, und immer auf sehr eigene Weise.

(…)

Diese Geschichte erzählen wir Tschechen nicht; das Sudetenland hat für uns sozusagen keine Geschichte außer der unseren. Vor 1918 war es nicht „unsere“, sondern „ihre“ Geschichte, warum sie also erzählen? Als wäre dort nach „München“ nichts geschehen, ist diese Gegend für uns mehr als sechs Jahre quasi „ohne Geschichte“ geblieben. Wie ein Film, der anhält und erst mit der Vertreibung der Deutschen 1945 weiterläuft. Als könnte nicht auch ein Gebiet seine Geschichte haben, sondern nur eine sprachlich definierte Nation. Und deswegen müssen wir Tschechen uns jetzt in unserer Sprache die Geschichte „ihres“ Gebietes und seiner Bewohner erzählen.

Übersetzung Kristina Kallert

Leseprobe
Petra Dvořáková, Marie Hajdová, Jakuba Katalpa, Petra Klabouchová, Michaela Klevisová, Leoš Kyša, Jaroslav Rudiš, Kateřina Tučková, Michal Vrba, David Jan Žák Sudetenland. Verlorenes Paradies

Jan Němec, Jana Šrámková Die Wohnung. Roman zu zweit

Jan Němec (1981) ist Autor u. a. von zwei preisgekrönten Büchern und Chefredakteur der angesehenen literarischen Monatsschrift Host. Als Publizist arbeitet er regelmäßig mit dem Wochenmagazin Respekt und dem Tschechischen Rundfunk zusammen; außerdem unterrichtet er an der Theaterfakultät der Akademie der Musischen Künste in Brno. Ausgezeichnet wurde er u.a. mit dem Preis der Europäischen Union für Literatur und dem Tschechischen Buch; zudem war er nominiert für den Josef Škvorecký-Preis. Seine Bücher werden in 14 Sprachen übersetzt.

Jana Šrámková (1982) schreibt Prosa (Jiří OrtenPreis für Hruškadottir), Kinderbücher – Magnesia Litera für Fánek hvězdoplavec [Fánek der Sternenschiffer], Comics – Muriel-Preis für Matylda a Růžový vlk [Matylda und der Rosa Wolf], Drehbücher für Zeichentrickfilme – Tschechischer Löwe für Tonda, Slávka a kouzelné světlo [Tonda, Slávka und das Zauberlicht] sowie Theaterstücke.

Bisher auf Deutsch erschienen:

Jan Němec: Die Geschichte des Lichts, Osburg Verlag, 2019, Martin Mutschler

Experimenteller Gegenwartsroman Romane sind wie ein Ein-Personen-Haushalt. Und wenn ein zweiter Autor einzieht? Dann entsteht ein Roman zu zweit, ein spannungsreiches Zusammenleben zweier Geschichten, die sich auf jeder Doppelseite berühren und doch aneinander vorbeiziehen. Die eine ist die von Daniel, dessen Vater im Sterben liegt, die andere die von Zuzana, die sich von ihrem Partner getrennt hat. Allein die Wohnung verbindet die beiden – und die auf die Rückseite ihrer Nachrichtenzettel notierten Palindrome. Lässt sich nicht auch das Leben von zwei Seiten her lesen? Vielleicht. Doch Vorsicht: was für den einen Spiel ist, kann für Daniel und Zuzana schicksalhaft werden.

„Wir wollten gemeinsam ein Buch schreiben. Um zu sehen, wie es ist, wenn nicht nur ein Autor die verschiedenen Perspektiven simuliert. Und: Bei einem Roman, der von zwei Seiten her gelesen werden kann, entscheidet jeder selbst, wie er ihn anfangen und aufhören lässt“, so die Autoren.

Möglichkeiten eines Liebesromans Roman / 2019 / 420 Seiten

Zeichen des Unbekannten Roman / 2021 / 256 Seiten

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Jan Němec
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Jana Šrámková
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Jan Němec
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Jana Šrámková
Román ve dvou
Román ve dvou

Daniel

Ich stand auf und wollte mir Tee kochen. Weil die Vorhänge zugezogen waren, lag das Schlafzimmer in einem angenehm gelben Halbdunkel, aber im Wohnzimmer stand die Luft und sie hatte was von ranzigem Fett.

Ich schlurfte in die Küche und hielt den Wasserkocher unter den Hahn. Da fiel mir auf, dass der Boden des Kochers silbrig glänzte. Zuzana musste die Kalkablagerungen entfernt haben. Zur Sicherheit schnupperte ich mal rein, ob das Innere vielleicht nach Essig riecht; einmal war es mir schon passiert, dass ich mir so den Tee verdorben hab. Für einen Moment sah ich mich selbst auf dem sauber polierten Boden. Mein zerknautschtes Gesicht, fettige Haare, Farbton dreckiges Strohblond, und ein schlampiger Dreitagebart … verwahrlost wie der jüdische Friedhof, wie Mama immer sagte.

Es hatte keinen Sinn, das vor morgen Früh anzupacken. Ich stellte Wasser auf und lehnte mich mit dem Rücken gegen die Arbeitsfläche. Man konnte sehen, dass Zuzana sich sehr viel Mühe gab, sie hatte die ganze Wohnung sorgfältig geputzt und aufgeräumt. Wie viele Männer wohl den Unterschied zwischen einem aufgeschüttelten und einem nicht aufgeschüttelten Kissen erkennen? Ich schon, warum auch immer. Ich seh das sofort. Mir fällt es auch auf, wenn die Buchrücken im Regal nicht in einer Linie stehen, oder wenn der Blumenstock umgedreht wurde und die Blume sich jetzt krümmen muss, um an Licht zu kommen.

Ich war froh, dass mich Zuzana hier schlafen ließ, obwohl ein Wochentag war, also unserer Abmachung nach eigentlich sie die Wohnung haben durfte. Aber sie begriff, dass der Tod des Vaters nichts Alltägliches ist. Sie begriff immer alles – problemlos, wie sie immer sagte. Aber vielleicht wollte sie jetzt auch einfach allein sein.

Der Garten vor dem Fenster verschwindet langsam. -Gräu lich-Orange, Dunkelrosa, die Äste werden ausradiert. Ich zittere. Dann fällt mir auf, mein Zeigefinger macht schon wieder diese winzige mechanische Bewegung, hin und her, über die kurz geschnittenen Härchen vor dem langen, weichen Ohr.

ihn sanft an meine Brust und halte ihn mit der Hand fest.

Die Augen bleiben offen, aber der Ausdruck war -ver schwunden. Der leere Blick ist auf mich gerichtet, wie eine nicht geladene Waffe. Ich spreche dich noch einmal an, streiche über die kleinen Härchen an den Ohren, aber du kommst nicht mehr zu dir. Ich setze mich neben dich, auf die Armlehne des Sessels, und halte deinen Kopf. Ich lege

Honza, schaffst du es so? Ist alles in Ordnung?

Ein tierartiges Knurren, ein paar Sekunden Raubtier, Röcheln beim Ausatmen.

Es tut mir leid, dass Felix so laut war. Ich bleibe jetzt bei dir.

Hallo!, der Versuch eines Lächelns, die Backenzähne zusammenbeißen. Du öffnest den Mund und zögerst. Äh!

Ich bücke mich, damit du mich sehen kannst.

Ich streiche mit dem Daumen drüber, hin und her. Und dann nochmal. An beiden Schläfen. Du öffnest die Augen.

Mein Schrei versiegt in der Stille der Villa. Wir sind allein. Sein grauer Kopf sinkt in meine Arme, erschöpft hustet er. Ich möchte ihn wieder geraderichten und streife dabei die kurzen Härchen an den Ohren. Die Gartenparty, auf der Natálka dann Honzas Schläfen rasiert hatte, war die beste Idee seit langem. Mein zweitbester Geburtstag, gleich nach dem in Andalusien. Ist es in einem solchen Moment unpassend, an diese kurzen Härchen zu denken, und daran, dass ich nicht genug davon bekommen kann?

In den letzten Monaten hatte ich das unangenehme Gefühl, dass sie mir ein Beispiel geben wollte, wie man sich zu jemandem verhält, der im Sterben liegt. Wie man sich kümmert, wie man ihm vergibt, wie man sich auf das Wesentliche konzentriert. Ihr Papa war stellvertretender Direktor in irgend‘ner Grundschule und Zuzana hatte sich seinen pädagogischen Zugang offenbar zu eigen gemacht. Vielleicht stellte sie sich sogar vor, dass es zur großen Versöhnung kommen würde – dass sie ihn mit dem Tod versöhnt, mich mit dem Leben und uns beide miteinander. Aber so einfach war das mit uns nie. Zuzana Ich bin da, sage ich mit gedämpfter Stimme, aber nichts tut sich. Honza, hörst du mich?, stößt es aus mir heraus, ganz abrupt, während mich plötzlich Panik -über kommt und ich ihn an den Schultern packe und rüttle.

Übersetzung Julia Miesenböck

Weitere deutsche Textproben zu anderen Titeln des Autors verfügbar

Němec, Jana Šrámková Die Wohnung. Roman zu zweit.

Petra Soukupová Marta will keine Kinder

Petra Soukupová (1982) hat sich als Autorin von acht Büchern für Erwachsene und vier Kinderbüchern, aber auch als Drehbuchautorin und Dramaturgin einen Namen gemacht. Für ihre belletristischen Werke wurde sie mit dem Jiří Orten-Preis und dem Magnesia Litera (Kategorie: Buch des Jahres) ausgezeichnet; bereits mehrfach war sie für den Josef Škvorecký-Preis und den Magnesia Litera (Prosa) nominiert. Auch ihre Kinderbücher wurden mit Preisen gewürdigt und fanden international Anerkenung. Ihre Bücher erscheinen in 18 Sprachen.

Verkauft: 245 000 ex.

Bisher auf Deutsch erschienen:

Montagmorgen, Wieser Verlag, 2019, Johanna Posset Klub der seltsamen Kinder, Jungbrunnen, 2025, Johanna Posset

Dinge, für die Zeit gekommen ist

Roman / 2020 / 368 Seiten

Niemand ist allein

Roman / 2022 / 368 Seiten

Roman

Gebundene Ausgabe

Dezember 2024

368 Seiten

Kann eine Reise nach Santiago das Leben verändern, oder kehrt man dorthin zurück, wo man vorher war? Marta kann sich eigentlich nicht beklagen. Sie hat eine gute Arbeit, lebt seit langem mit Hynek zusammen, mag dessen Kinder aus erster Ehe. Eigene Kinder will Marta nicht und Hynek keine weiteren, soweit sind sie sich einig. Wo also ist das Problem? Warum der Entschluss, allein aufzubrechen, warum zehn Tage Unbequemlichkeit und Einsamkeit, wo sie doch mit Hynek und den Kindern ans Meer könnte? Haben die anderen recht, die das für Unsinn halten und überhaupt - Marta sollte ein anderes Leben führen.

Petra Soukupová erforscht wieder einmal bravourös die innere Befindlichkeit ihrer weiblichen Heldin – an einem Punkt, wo diese nicht nur mit sich selbst, sondern auch mit den Erwartungen ihres Umfelds ins Reine kommen muss. In Martas Erzählung mischen sich die Stimmen ihrer Freunde und Verwandten.

Foto © David Konečný

1. TAG

Als sich das Flugzeug vom Boden löst, ist dir, als ob du das Kind im Sitz hinter dir weinen hörst. Du drehst dich um, bevor dir einfällt, dass das vielleicht unpassend ist, aber das Kind weint nicht, es gibt nur seltsame Laute von sich, die Einzige, die hier weint, bist also du. Zum Glück geht das in dem Lärm unter, du kannst dir einreden, dass du weinst, weil du Flugangst hast, aber so groß ist die Angst auch wieder nicht, du hättest schließlich mit dem Bus fahren können, genau das hat Hynek auch gesagt, wo ist denn auf einmal deine Klimaangst geblieben, eine fiese Bemerkung und total unfair. Wärst du mit ihnen verreist, wärst du ja auch geflogen, und klar hast du Klimaangst und Flugscham, aber der Bus braucht zweiundvierzig Stunden mit Umstieg nachts in Lyon, dafür reichen deine Urlaubstage nicht, und klar bist du auch zu bequem, also ist deine Klimaangst wohl doch nicht so groß. Auf Instagram folgst du einer coolen Mama mit zwei kleinen Kindern, die mit dem Zug kreuz und quer durch Europa fährt, du weißt also, dass das geht, noch ein Grund, sich mies zu fühlen, als würde alles andere noch nicht reichen. Aber es reicht eben nicht, das ist es ja, du bist nur eine Poserin, die den Müll trennt, und dann mit dem Flugzeug in den Urlaub fliegt. Dafür fährst du fast nie mit dem Auto. Und hast keine Kinder. Also tust du eigentlich ziemlich viel. Damit ist der Fall für dich meist erledigt, genau wie jetzt, du konzentrierst dich wieder auf deinen Kummer, obwohl du dich etwas beruhigt hast und aufgehört hast zu weinen, unter anderem, weil das Flugzeug nicht mehr so laut ist und du nicht willst, dass dich jemand hört.

Als du den Gedanken das erste Mal aussprichst, fragt Hynek: Wie bist du denn auf die Idee gekommen? In so einem Ton, als hättest du den Verstand verloren.

Ich denke da schon länger drüber nach, sagst du und er verzieht das Gesicht, weil er weiß, dass du lügst, du hast noch nie darüber nachgedacht und das weiß er. Es hat dich noch nie gereizt, mehrere Tage am Stück mit dem Rucksack durch die Gegend zu laufen, schon als es vor fünf Jahren in Mode kam und Linda das machen wollte, warst du nicht wirklich scharf darauf, warum solltest du nach Santiago de Compostela pilgern? Schon das Wort „pilgern“, Linda und du, ihr seid doch keine Pilgerinnen, nein, du liebe Güte, das ist eine normale Wanderung, wir laufen einfach mit Rucksäcken durch eine schöne Landschaft. Also hast du Linda damals zugesagt, aber dann hast du

Hynek kennengelernt, warst kein Single mehr ohne Pläne für den Sommer, und dann fing Linda an, übers Kinderkriegen nachzudenken, und mit eurer Freundschaft ging es bergab, also ist nichts daraus geworden, und seitdem hast du keinen Gedanken mehr daran verloren.

Bis letzte Woche, als du nach der Arbeit auf dem Heimweg einen Post liest von jemandem, der das gemacht hat, und klar, die Landschaft ist schön, aber vor allem hat dieser Mensch (wer das war, hast du dir nicht gemerkt, interessant) darüber geschrieben, welche Bedeutung das für ihn hat, dass das nicht nur eine Rucksackwanderung war, sondern eine spirituelle Reise, die sein Leben verändert hat, dass er nicht mehr gewusst hatte, wie es weitergehen soll, und durch diese Reise wurde es ihm plötzlich klar und dieser ganze Blödsinn. Nach zehn Jahren in der Werbebranche weißt du, dass das alles Blödsinn ist, trotzdem berührt es dich irgendwie, du weißt natürlich, wieso, aber jetzt nicht daran denken, stattdessen suchst du dir lieber noch ein paar Artikel über Santiago raus und findest immer mehr Gefallen daran. Ein paar Tage ganz allein sein. Darüber nachdenken, wie es weitergehen soll. Und vor allem darüber nachdenken, über was du eigentlich nachdenken willst. Du hast Hynek, du liebst ihn, du hast einen Job, den du magst, du hast ein Leben, das dir gefällt. Welche Probleme willst du denn wälzen? Wahrscheinlich ist das eh Quatsch, so viel Urlaub hast du gar nicht, zwei Wochen hast du beantragt, eine Woche geht für den Urlaub mit den Kindern drauf und dann hattest du mit Hynek besprochen, dass ihr vielleicht für ein verlängertes Wochenende nach Berlin fahrt, also wozu träumst du hier rum? Vielleicht nächstes Jahr.

Aber dann sitzt du mit Hynek nach dem Abendessen in der Küche, die Teller stehen noch auf dem Tisch, wenn du sie nicht abräumst, bleiben sie manchmal bis zum nächsten Morgen stehen. Sein Einsatz im Haushalt beschränkt sich auf die Wochen, wo ihr die Kinder habt.

Wenn du nicht müde bist von der Arbeit, räumst du die Teller gleich ab, wenn du müde bist oder noch arbeiten musst, räumst du sie am nächsten Morgen weg, sich deshalb zu streiten hat keinen Zweck. Mensch, Mimi, wir wollen uns doch nicht wegen der Teller anschreien, sagt Hynek dann jedes Mal in diesem väterlichen Ton. Außerdem hat er die Toasts und den Salat gemacht, da ist es doch nur fair, wenn du danach abräumst.

Mimi, fragt Hynek, als du das Geschirr in die Spülmaschine stellst, was ist mit dem Urlaub?

Übersetzung Katharina Hinderer

Emma Kausc Ablaufstörung

Emma Kausc (1998) hat Gegenwartskultur, Literatur und Literaturtheorie am King´s College in London studiert. 2018 wurde ihr Gedichtband Cykly [Zyklen] für den Jiří OrtenPreis nominiert. Ihr Prosadebut Narušení děje [Ablaufstörung] war nach seinem Erscheinen 2024 in Tschechien eines der meistdiskutierten Bücher des Jahres.

Roman Broschierte Ausgabe August 2024 285 Seiten

Preise: Nominierung für den Preis der Literaturkritik 2025 in der Kategorie Prosa, auf der Longlist für den Magnesia Litera 2024 (Luxor Litera für Prosa), vertreten im Auswahlkatalog Neue tschechische Bücher 2024 des Tschechischen Literaturzentrums

Literatur und Leben haben eines gemeinsam: Sie haben eine Geschichte. Man schreibt die siebziger Jahre, und William „mole man“ Lyttle gräbt unter seinem Haus einen Satz aus, der den Gang der Welt unabänderlich beeinflusst: „Das Leben erscheint uns nicht mehr wie eine Geschichte.“

In ihrem fast dreihundertseitigen Debut Narušení děje [Ablaufstörung] spannt die junge tschechische Autorin Emma Kausc Thematik, Handlungs- und Gedankenräume ungewöhnlich weit auf und erkundet neue (feministische) Wege des Erzählens von Traumata, (queerer) Identität, Sehnsucht und Schmerz in der westlichen Welt. Der autofiktionale Roman entfaltet vor den Kulissen von Los Angeles und Prag die Faszination des Erzählbaren, einer Geschichte als Verbindung zwischen Leben und Literatur, aber auch als Möglichkeit, das Leben und menschliche Erfahrung überhaupt zu erfassen.

Foto © Edita Liessner

EIN RITUAL FÜR EINGEWEIHTE

Zum zweiten Mal wird man, und oft handelt es sich dabei um eine Frau, in dem Moment geboren, wenn man entscheidet, kein Objekt bohrender Blicke zu sein, sondern diejenige, die schaut. Teil einer stillen Vereinbarung zweier Augenpaare, des erotischen Konsens.

Über männliche Blicke, denen man sich nicht entziehen kann, wurde in der Literatur schon viel geschrieben. Sie stürzen sich auf die Frauen von hinten, als Verkörperung der Nichterwiderung. Der Betrachter betritt als voyeuristischer Eindringling fremde Privatsphäre. Ein einziger Blick kann ganze Leben erschaffen, ganz gleich, ob die, an deren Entstehung beide Akteure direkt beteiligt sind, oder die verdeckten, imaginären. Sie erstrecken sich über den ganzen Bereich der Fantasie, bis man fast vergisst, dass es sich um eine Beziehung handelt, in der man allein steht.

Um Alyona, der ich an jenem Abend in Soho begegnet bin, zu beschreiben, brauche ich nicht die Schönheit zu schildern, die nur dafür da ist, um die Handlung zu verstehen, den Sinn der Geschichte. Wenn ich jetzt zurück ins Swift in Old Compton Street zurückkehre, kehre ich zurück zur Erforschung einer durch das Wiederholen beglaubigten Geschichte. Alyonas Bedeutung entstand, und entsteht immer noch, durch das wiederholte Abspielen von Gesten und unzuverlässigem Gedächtnis im Kopf. Ich möchte, dass man Alyona mit meinen Augen sieht. Letzten Endes sind es die Überlebenden, die Geschichten erzählen können. Und Geschichten liegen größtenteils in den Händen der Erzähler. Alyonas Schönheit lag in ihrer ungewöhnlichen Körperhaltung, und sie war sich der Wirkung seit jeher bewusst. Das seichte Neigen des Kopfes, mit dem sie Empathie signalisierte. »Mich berührt, was du sagst.« Eine Frau, die sich ihrer selbst bewusst war.

Ein Mann könnte schreiben, er habe den Raum betreten, und während er an der Tür lehnte, erblickte er in der Ecke Alyonas einsame Silhouette. Das Swift, ein Lokal, mit einem Namen für einen zeitlich begrenzten Raum mit ständigem Strom neuer Gäste, betritt also seine Silhouette zuerst. Alyona bemerkt den sich nähernden Schatten, dreht sich in seine Richtung und die Ereignisse nehmen ihren Lauf, an dessen Ende ihr tragischer Tod steht. Der Mann setzt sich wortlos neben sie; beide umhüllt das dämmrige Interieur, ein bisschen Art-déco-Dekadenz, typisch für den Film Noir.

Der männliche Blick wäre vermutlich nicht imstande, Alyona von der Gefahr zu unterscheiden, die sie darstellen sollte. Ich habe das Gefühl, dass ich es erst jetzt, durch meine Rückkehr hierher begreifen kann. Jetzt kann ich die früher unbestimmten, beunruhigenden Falten klar benennen.

Ich fühle mich beobachtet. Selbst wenn ich allein bin. Frauen werden dieses Gefühl oft nicht los, egal wie sehr sie sich bemühen. Frauenkörper existieren als Drohung und anschließende Einladung zur Bestrafung für alles, wofür sie in unserer Gesellschaft herhalten müssen. Sie stehen unter ständiger Beobachtung von Institutionen, Menschen und Sprache. Als würde jeder einzelne auf den Moment warten, bis der Körper nicht mehr den Erwartungen entspricht; zu welken beginnt und verblasst. Ein langsam gewordener Körper ist genauso gefährlich wie ein Körper, der sich verwandelt, der der Sprache trotzt, den Menschen und Institutionen. Auf Frauenkörpern wurden ganze Gesellschaften errichtet.

Übersetzung Martina Lisa

Emma Kausc

Petra Klabouchová Ignis Fatuus

Petra Klabouchová (1980) schreibt für Kinder und Erwachsene. Große Erfolge verzeichneten ihre Titel bei Host. Ihr Böhmerwald-Krimi Prameny Vltavy [Die Moldauquellen] von 2021 ist dem Mord an einem jüdischen Mädchen auf der Spur, sowjetischen Kriegsgefangenen und einer geheimen Fabrik Hitlers. 2023 schlug sie mit U severní zdi [An der Nordmauer] eines der dunkelsten Kapitel der tschechischen Geschichte auf: das Schicksal weiblicher politischer Gefangener und ihrer Kinder in den 1950er Jahren. Klabouchová war zunächst Presse- und Fernsehredakteurin, ist inzwischen in der Musikbranche tätig und Managerin mehrerer Rockbands. Sie stammt aus dem Böhmerwald und lebt abwechselnd in Italien, den USA und Tschechien. Ihre Bücher sind in 6 Sprachen übersetzt, u. a. ins Italienische und Französische.

Verkauft: 35 000 Ex

Die Moldauquellen

Detektivroman / 2021

303 Seiten

Petra Klabouchová

An der Nordmauer

Roman / 2023, 2024

343 Seiten

Horrorroman

Gebundene Ausgabe Juni 2024 335 Seiten

Preise: Auf der Longlist für den Magnesia Litera

Petra Klabouchová

Verkaufte

SIGNIS FATUUS

FTU

Hororový příběh z magické Šumavy, kde si život a smrt podávají ruce.

Host

Odkud vyvěrá zlo?

Petra Klabouchová

Ein Horroroman aus dem Böhmerwald. Sehr positiv aufgenommen auch von der Literaturkritik Auf verbotenem Territorium im Böhmerwald, um das Flüsschens Křemelná, dem Kiesleitenbach, erwachen Ende der siebziger Jahre alte Legenden zu neuem Leben. Die Grenzlandbewohner melden immer häufiger unbekannte Lichterscheinungen. Feindliche Pläne des Westens? Die alten Sagen von Irrlichtern und Körperlosen kursieren wieder, verbreiten sich. Man schickt ein Expertenteam in die jahrzehntelang unzugängliche Gegend. Die Wissenschaftler, die das rätselhafte Phänomen untersuchen sollen, sind sich sicher, eine rationale Erklärung zu finden. Vielleicht aber werden gerade sie inmitten der Filze des Böhmerwalds den Verstand verlieren. Handelt es sich um natürliche Erscheinungen, oder treibt etwas Dunkles sein Spiel mit ihnen? Jeder von ihnen trägt seine Vergangenheit und die seiner Vorfahren mit sich – und die Gegend dort vergisst nicht. Diesmal wird der Böhmerwald selbst Rache üben.

Foto © David Konečný
2024 (Litera für Fantasy)
Rechte: Serbien (Ammonite Books)

Die freundliche Stille des Waldes und das weiche Funkeln des Lichts, das sich auf der Wasserfläche spiegelte, schlossen ihn in die Arme. Sein Kopf lag im Gras, das nach Herbst duftete, und verträumt sah er nach oben, über die Wipfel der uralten Fichten hinweg. Er schien zu lächeln. In seinem fast noch jungenhaften Gesicht waren Frieden, die Schönheit sowie alle Träume der Jugend und zwei summende Aasfliegen. Die dritte kroch gerade zwischen seinen leichenblassen Lippen hervor. Schwerfällig hoben die Fliegen ab, kurz bevor der Reißverschluss eines schwarzen Sackes über dem jungen Mann zugezogen und sein Körper von der schwarzen Dunkelheit des Plastikgewebes verschluckt wurde.

„Todeszeitpunkt frühestens vor vier Tagen, meine Herren. Eher drei. Mehr nach der Obduktion“, sagte ein kräftiger glatzköpfiger Mann zu den anderen kräftigen glatzköpfigen Männern in Polizeiuniform.

Er irrte sich. Aber das konnte damals keiner von ihnen wissen. Das Wasser gab die Toten für gewöhnlich innerhalb von vier Tagen frei. Wenn ein Ertrinkender unter der Wasseroberfläche verschwindet, füllen seine Lungen sich mit Wasser, die Luft entweicht und der Körper sinkt auf den Grund wie ein Stein. Und dann wartet man auf die Bakterien, damit diese und ihre Zersetzungsprozesse den Stein in einen übel riechenden Luftballon voller Gase verwandeln. Und heute war die Zeit gekommen, damit das Wasser endlich auch ihn frei gab. Wie die vergessenen Geschichten voller Geheimnisse, die plötzlich, im richtigen Moment, an die Oberfläche gelangen.

Ein für den Böhmerwald ungewöhnlich warmer Herbstnachmittag, die Wasserfläche glänzte silbrig und die Ufer waren mit der gelb-roten Pracht des abgefallenen Laubs bedeckt. Bevor die ältere Frau ihn bei ihrem morgendlichen Spaziergang entdeckte, hatte sich der Körper ruhig im Wasser gewiegt, an einer seichten Stelle zwischen zwei glitschigen Steinen, ab und zu nur war eine der kleinen, vom Wind getriebenen Wellen über sein Gesicht geglitten und über seine Augen gerollt. Über die weit geöffneten Augen, die in den Böhmerwald-Himmel blickten. Und über das klaffende Loch mitten in seiner Stirn. „Irgendein Verrückter, was?“, ein Polizist mit Doppelkinn und schwarzen Härchen auf seinen Wurstfingern schüttelte verständnislos den Kopf. Jemand Normales würde doch heutzutage nicht in dieser Aufmachung durch den Wald stolzieren. In einer Felduniform der Tschechoslowakischen Volksarmee. Nicht nur Hosen aus irgendeinem versifften Armyshop inmitten von Plattenbauten. Der Tote war mit der kompletten

Militäruniform aus einer Zeit bekleidet, als die meisten von ihnen noch auf eine Untauglichkeitsbescheinigung gehofft hatten. Khakifarbenes Hemd und Hosen, alles mit dem Tarnmuster der Sechzigerjahre. Nadelstreifen, Sechziger, Dillsoße, so nannte man die Klamotten damals bei den Soldaten. Sechsundsiebziger Schuhe, Wintermütze, Wattejacke, wattierte Hose und Ledergürtel mit Stern. Nur der Mantel fehlte ihm.

(…)

„Hat ihn jemand berührt?“, der Opa wies mit dem Kopf zu dem Männerkörper mit dem ausgeschossenen Gehirn im nassen Gras. Der Blick des Doppelkinn-Manns wanderte verwirrt zwischen dem Toten und dem Schlangenopa hin und her. Der hatte sich unterdessen über die Leiche gebeugt, Latexhandschuhe übergestreift, gleich noch ein weiteres Paar obendrüber und dann war er mit einem erfahrenen Griff in die Brusttasche des Unbekannten gefahren. Er zog ein nasses rotes Büchlein hervor. Einen Wehrdienstausweis. Die Seiten im Inneren waren aufgeweicht, das Papier löste sich zwischen seinen Fingern auf. Zum Glück brauchte er keinen Namen. Aus dem Büchlein schüttelte er ein kleines Metallrechteck an einer Schnur hervor. Eine Erkennungsmarke. Lange musterte er die eingestanzte Zahlenfolge, die er auswendig kannte. So war endlich doch noch ein weiterer aufgetaucht. Wie viele von diesem verdammten Verzeichnis wohl noch fehlten? Zu viele! Zum Glück sind sie rechtzeitig vor Ort gewesen. Diesmal. Er steckte das glänzende Metallstück in eine Plastiktüte und diese dann in seine Umhängetasche. Die Zahlen auf dem kleinen Ding könnten am Ende sogar diese Dorftrottel hier zu der wahren Identität des toten Körpers führen. Letztlich würde ihnen zwar keiner glauben, aber unnötige Komplikationen hasste er wie die Pest.

Übersetzung Christina Frankenberg

Petra Klabouchová Ignis Fatuus
Weitere deutsche Textproben zu diesem und anderen Titeln der Autorin verfügbar

Iva Hadj Moussa Schwere Seelen

Iva Hadj Moussa (1979) ist neben ihrem vom Publikum und der Kritik begeistert aufgenommenen Roman Havířovina [Hauerhaus] (2022) Autorin einiger weiterer belletristischer Bücher, so des humoristischen Romans Šalina do stanice touha [Tram zur Endstation Sehnsucht] (2020) und des Romans Démon ze sídliště [Der Dämon aus der Siedlung] (2021), der vom Erwachsenwerden in der Kleinstadt handelt. Sie arbaitet als Psychother als Psychotherapeutin für Kinder und Jugendliche. Die Zeitschrift A2larm schreibt zu Schwere Seelen: „Es geht um das vielleicht häufigste Thema der tschechischen Gegenwartsliteratur, und Iva Hadj Moussa gehört hier zu den weitaus feinsinnigsten Beobachterinnen.“

Roman Gebundene Ausgabe

Februar 2024

359 Seiten

Der Dämon aus der Siedlung Roman / 2021 / 272 Seiten

Hauerhaus Roman / 2022 / 224 Seiten

Preise: Vertreten im Auswahlkatalog Neue tschechische Bücher 2024 des Tschechischen Literaturzentrums

Ein Roman über folgenreiche Verfehlungen, Musik und Generationenkonflikte Johanes geht auf die fünfzig zu. Sein Geld vedient er mit Entrümpeln. Seit der Scheidung kümmert er sich im Wechsel um die heranwachsende Tochter. Und er hat einen Sexskandal am Hals. Vor allem aber hat er drei Freunde, die seine Liebe zu Heavy Metal teilen und von der Gegenwart auch so gefrustet sind wie er. Wie stellt Johanes sich zu seiner Verfehlung, wie seine Tochter, wie die Gesellschaft, und was ist entscheidend? Wie hilft ihm sein Humor, wie die wiederentdeckte E-Gitarre?

„Mich hat beschäftigt, wie Männer sich in der jetzigen Welt fühlen, wie sie die Frauen um sich herum wahrnehmen, wie sie damit klarkommen, dass das Beste vielleicht schon vorbei ist, und dann geht es mir auch um Etikettierungen wie Boomer, Aktivistin, alter weißer Mann. Ich habe versucht, zu allen meinen Figuren aufrichtig zu sein, kritisch, aber auch wohlwollend und verständnisvoll; jeder schleppt schließlich so seine Bürde“, sagt die Autorin.

Foto © Radoune
Hadj Moussa

Am Morgen fühle ich mich wie ein Zombie, der gerade aus dem Grab auferstanden ist und seine Strümpfe sucht. Gestern hab ich mich gefühlt wie Ozzy, heute wie der Urzeit-Ötzi.

Und jetzt frage ich mich: speien oder nicht speien. Schlüpfe dann doch in die grässliche Trainingshose, die ich schon seit zweihundert Jahren trage. An den Knien gleicht sie einem Netz. Na und!? Fakač hat ja mal verkündet, dass jemand, dem es egal ist, was er anhat, sein Ego schon los ist und auf spirituellem Weg wandelt. Auf diesem meinem spirituellen Weg stolpere ich über den Teppichrand, der sich hier hochbeult wie eine anbrandende Woge.

In der Küche ebenfalls Chaos: Krümel, wohin du schaust, über die Arbeitsplatte ziehen sich Siruplandschaften, im Spülbecken schmutziges Geschirr, übelriechende Tassen und Teller, im Ausgusssieb hängen widerliche Nudeln, Karottenstückchen, Schleim. Dieses Sieb, dieser Ekelfänger, hat hier schon einiges erlebt. Ich brummele in meinen Bart und schimpfe auf Žofie, die von ihrer Freundin zwar schon um neun in der Früh zurück war, aber sie war auch ohne mit der Wimper zu zucken gleich wieder im Bett verschwunden. Ist dieses Mädchen etwa blind, sieht sie denn nicht, in welchem Chaos wir hausen? Unsere Wohnung hat alles in allem 60 qm, das ist keine Hazienda. Eine Küche so winzig, das kaum ein Tisch hineinpasst, ein Wohnzimmer (das zugleich mein Schlafzimmer ist), Žofies Zimmerchen und das Zimmer von meiner Mutter, das momentan leer steht. Ein enger Flur und ein Kabuff für die Waschmaschine, für Eimer, Wischmopp und all das, was man nicht vor Augen haben will.

Ich lamentiere, aber nur still für mich. Für die Kinder von heute brauchst du Glaceehandschuhe. Und bloß nicht wirklich schimpfen! Sie könnten dabei zu Bruch gehen. Wir tanzen auf Zehenspitzen um sie herum, behandeln sie wie Meißener Porzellan und wundern uns, wenn sie beim ersten Stoß zerspringen.

Aber was weiß ich, was richtig ist… mein Papp hat mir immer erzählt, wie man ihn zuhause verdroschen hat, nach allen Regeln der Kunst. Und wenn nicht verdroschen, so musste er zur Strafe in der Ecke auf Erbsen knien wie ein Idiot. Damals war das ein Zeichen guter Erziehung, einer strengen versteht sich, so wie sich´s gehört.

Wahrscheinlich verdanken wir ihr die erste Generation Psychopathen.

Mich haben die Eltern nicht geschlagen, höchstens mal ein Klaps auf den Hintern, oder ein schriller Ton, dass ich ja wohl schwachsinnig sei und aus mir nie was wird. Trotzdem bin ich ein ziemlich normaler Mensch geworden (zumindest laufe ich nicht mit Alufolie auf dem Kopf durch die Straßen und glaube auch nicht, dass die ägyptischen Pyramiden das Werk von Außerirdischen sind).

Vielleicht hätte ich etwas strenger mit Žofie sein müssen, das hätte sie womöglich abgehärtet… na ja. Jetzt ist es sowieso schon zu spät. Noch bevor ich zur Schicht aufbreche, mache ich mich an die Arbeit, denn der Anblick hier ist nicht zu ertragen. Kater in Kombination mit Chaos in der Wohnung ist einfach absolut vernichtend. Ich lasse warmes Wasser in den Eimer, ein Spritzer Jar, und lege los mit dem Mopp. Wie jede richtige Hausfrau höre ich beim Putzen Mötley Crüe und singe mit.

Kick start my heart, give it a start

Oh yeah…

„Vater, really?“

Žofie steht im Nachthemd mitten in der Küche und reibt sich die verschlafenen Augen.

„Fast elf, meine Gute. Einer muss sauber machen, einer einkaufen und so weiter. Wer von uns wird das wohl sein? Rat mal, hast zwei Versuche.“

„Was soll die Hektik? Ich hätt dann schon geputzt… ist ja noch Zeit, oder? Musst du mich denn so stressen?“

„Und mich stresst, dass wir hier langsam bei lebendigem Leib verfaulen. Wenn die Oma das sehen würde“, drohe ich.

„Die ist aber nicht hier“, konstatiert Žofie, als wäre das Problem damit gelöst.

Übersetzung Kristina Kallert

Iva Hadj Moussa Schwere Seelen

Klára Elšíková Pacanka

Klára Elšíková (1989) hat an der Palacký-Universität in Olomouc / Olmütz Journalistik und Kulturwissenschaft studiert. Sie hat in der Ukraine Tschechisch unterrichtet, in einer niederländischen Bar und als Produzentin beim Theater gearbeitet. Gegenwärtig ist sie beim Nachrichtenportal Aktuálně.cz. 2013 veröffentlichte sie ihren Coming-of-Age-Roman Zítra už usnu [Ab Morgen schlafe ich wieder ein], 2024 erschien Pacanka.

Roman

Broschierte Ausgabe

Mai 2024

192 Seiten

Wie befreit man sich endlich vom Syndrom des netten Mädchens? Das Buch wehrt sich gegen hartnäckige gesellschaftliche Stereotypen in Sachen Erziehung, Feminismus und Sexualität.

Die Hauptfigur wird kein einziges Mal namentlich angesprochen, nur einige Male als „pacanka“ - der ukrainische Ausdruck für ein Mädchen, das lieber mit Jungen spielt, sich selbst wie ein Junge benimmt, mutig ist. Die Protagonistin ist dreißig, nicht wirklich glücklich in ihrer Beziehung und überhaupt mit ihrer ganzen Situation nicht zufrieden. Sie will frei leben, in Einklang mit ihren Gefühlen und ihrer Sexualität. Und erlebt eine wilde Reise durch Europa und von Party zu Party. Mag jede Etappe dieser Glückssuche ganz anders sein, sie haben alle doch ein Gemeinsames. Und Pacanka erkennt allmählich was: die Destruktion – als Mittel, angelernte Muster zu durchbrechen. Pacankas Reise ins Freie ist weder einfach noch führt sie auf geraden Wegen.

Heiligabend, du sitzt allein in der leeren Gaststube der transkarpatischen Pension, zum Abendessen hast du dir Käseschnitzel mit Kartoffeln bestellt, und als du ein bisschen vor dich hin weinst, kommt die Besitzerin, schenkt dir einen Cognac ein und schließt dich in die Arme, sagt, sie hätten wegen dir den Weihnachtsbaum in der Eingangshalle schon ein bisschen früher geschmückt. Den Cognac lehnst du nicht ab, eine nette Geste von ihr, ein Weg, dir zu sagen, dass ihr an dir liegt. Du gehst vor die Pension eine durchziehen, die Straße ist dunkel, die Lampen brennen hier nicht. Du hast einen Mantel an und eine Trainingshose, fettige Haare, telefonierst mit dem Vater, die ersten Weihnachten, wo jeder für sich allein ist, aber er hat zumindest die Großmutter da. Ein Stückchen weiter sitzt der Hausmeister Ivan, der immer, wenn er nicht mehr unterm Kessel nachlegen muss, draußen im Handy auf ein Video starrt. In der Gaststube sitzen inzwischen ein paar Männer, die Besitzerin macht dich mit einem davon bekannt, ein Unternehmer von hier, der eine große Pension baut und darauf hofft, dass mehr und mehr tschechische Touristen hierher kommen, in Transkarpatien gäbe es sonst nicht viel, wovon sich leben ließe. Er lädt dich für den nächsten Tag ein, zum Schlachtfest, du sagst, dass du Schlachtereien nicht magst, und er, kein Problem, du sollst später kommen, dann kriegst du von ihm frisches Fleisch serviert.

Um zehn am nächsten Morgen sitzt du bei ihm in der Küche, Unternehmerbarock, er gießt dir Rotwein ein und selbstgemachten Cognac, du willst nicht trinken, willst aber ihn auch nicht kränken, immerhin bist du bei ihm zu Gast. Er stellt dir seine Tochter vor, sie ist zehn Jahre jünger als du und spielt schon mit einem zweijährigen Kind. Du isst das warme Schweinefleisch, dir ekelt, gerade hättest du es noch als etwas Lebendiges streicheln können, aber du willst niemanden kränken, bemühst dich, es so rasch wie möglich hinunterzuwürgen, um es nicht auf den Tisch zu spucken. Fleisch kannst du von klein auf nicht ausstehen, im Kindergarten waren die anderen schon wieder beim Spielen, und du hast immer noch am Tisch gesessen, vor dir den Teller, auf dem die ekligen braunen Stücke eines anderen Körpers lagen. Niemand hat verstanden, dass es dir im tiefsten Innern zuwider ist, etwas zu essen, das gelebt und geatmet hat und das du hättest streicheln können, dass du das einfach nicht kannst und nicht willst, und du hast es dir dann in die Taschen deines Röckchens geschoben und in der Garderobe unter den Schuhschrank geworfen. Daheim hast du manchmal

nur trockenen Reis oder Kartoffeln mit Soße bekommen, manchmal aber hat man dir auch ein Stück Fleisch auf den Teller gelegt, dazu das ständige Probier doch wenigstens mal, als wärst du selber nicht in der Lage zu begreifen, was du willst. Und wenn die Mutter den Teller mit den unberührten Stücken dann abgeräumt hat, hat sie dich vorwurfsvoll angesehen.

Der Unternehmer schenkt dir ununterbrochen nach, Rotwein, Cognac, es ist kurz vor elf, und du bist langsam betrunken, sagst, dass du in die Berge willst, er werde sich drum kümmern, meint er, er kenne hier einen Hirten, der nimmt dich mit auf den Strimba. Du verspürst Dankbarkeit, ein fremder Mensch, der dich einfach so zu sich einlädt, Dinge, die vorkommen, wenn du allein unterwegs bist und machst, was du willst. Aber auch ein fremder Mensch, der dich nach einer halben Stunde zu küssen versucht, du spürst seine feuchten Lippen auf deiner Wange, Dinge eben, die vorkommen, wenn du allein unterwegs bist und nicht sofort ausweichst, weil – du verspürst ja Dankbarkeit. Du sagst, dass du gehen musst, du bist kein frisches Fleisch, das er sich servieren kann, aber die Telefonnummer lässt du ihm da, denn auf den Strimba willst du. Kurz vor zwölf brichst du auf, ziehst im Zickzack Richtung Pension, du gehst durchs Dorf, rauchst eine, der Vater und die Großmutter sitzen zuhause jetzt vor dem Lendenbraten und schauen Märchenfilme, während an dir ein altes Mütterchen mit Kopftuch und Ziege vorübergleitet. Du steigst den Hügel zum Friedhof hinauf, gehst zwischen den verwachsenen, verfallenen Gräbern, schaust zu den Bergen und ins Land, seine Unendlichkeit und Kraft umfangen dich, du bist frei, nur wieder mal stockbetrunken, aber was hättest du tun sollen, das ist hier so die Kultur, und als du vom Friedhof auf der anderen Seite ins Dorf hinabsteigst, kommst du am Fluss entlang, in dem eine Unmenge Plastik schwimmt. In der Pension kriechst du ins Bett und schläfst bis um vier am Nachmittag. Am Abend ploppt eine Nachricht auf, morgen früh um neun hast du ein Treffen mit dem Hirten Voloďa; Anna, die Besitzerin der Pension, kann Tschechisch und erklärt dir, wo er auf dich warten wird.

Übersetzung Kristina Kallert

Vilém Koubek Nägel einschlagen

Vílem Koubek (1988) beschäftigt sich seit seiner Jugend mit Computerspielejournalismus. Er studierte Bohemistik an der Pädagogischen Fakultät der Masaryk-Universität, war als Herausgeber tätig und ist derzeit Redakteur einer international orientierten Kulturzeitschrift. Er debutierte 2018 mit dem Roman Čepel entropie [Die Klinge der Entropie], 2019 folgte die von der Kritik viel gelobte postapokalyptische Sci-fi Organická oprátka [Der organische Strang]. 2021 erschien sein erster schwarze Roman um Vincent Krhavý mit dem Titel Posmrtná predace [Posthume Prädation], 2022 die Fortsetzung Smějící se bestie [Die lachende Bestie]. Von Sci-fi, Splatterpunk und schwarzem Roman hat der Autor 2024 mit Zatloukání hřebů [Nägel einschlagen] einen Abstecher aufs Gebiet des atmosphärischen Horroromans gewagt.

Posthume Prädation

Sci-fi / Noir-Krimi 2021 / 288 Seiten

Der organische Strang

Postapokalyptische Sci-fi / 2019 / 317 Seiten

Gebundene Ausgabe

August 2024

215 Seiten

Preise: Auf der Longlist für den Magnesia

Litera 2024 (Litera für Fantasy)

Verkaufte Rechte: Polen (Stara Szkoła), Makedonien (Muza)

Ein Meisterstück der Genreliteratur: Horror + Urbex

Ein Schock, der aus den Alltagsbahnen wirft: Ema erfährt vom Tod ihrer Mutter, mit der sie keinen Kontakt hatte. Ihre Welt bricht zusammen. Während eines Erholungsurlaubs beginnt sie, die Tragödie, vor der sie jahrelang geflohen ist, zu analysieren. Der Schrecken wird in einer perspektivischen Brechung gesteigert: Ema liest in ihrem verlassenen Elternhaus die Aufzeichnungen ihres Vaters. Sie beschreiben bis ins Detail ein Urbex-Video, das in den Ruinen eines sozialistischen Schweinezuchtbetriebs das Verschwinden seines Sohnes festhält. Und spiegeln zugleich den Zerfall seiner Lebensgewissheiten, die verlorene Hoffnung, das Ganze je rational aufzuklären. Er beginnt, sich mit liminalen Räumen zu befassen, sucht einen Zusammenhang mit den Verehrern des Dämons Paimon aus dem Kleineren Schlüssel Salomonis, einem spätmittelalterlichem Grimoire – und verschwindet schließlich selbst. Paranoia und Dämonenkult mit Menschenopfern ergreifen langsam Besitz auch von Ema.

Von den letzten zwei Wochen erinnere ich mich an fast gar nichts. Bloß an Schlieren, weil die Tage in den Wassermassen des nicht enden wollenden Herbstregens verschwimmen.

Es ist noch gar nicht so lange her, da bin ich wie ein tollwütiger Hund den Deadlines einer populärwissenschaftlichen Zeitschrift hinterhergehechelt. Die größten Sorgen bereitete mir, dass ich Fakten nachrecherchieren musste, fremde Texte lektorieren und mir Mühe geben, den Stress nicht mit Süßkram zu verjagen oder mit impulsiven Netzkäufen von haufenweise Schwachsinn.

Dann kam der Anruf, eine Stimme fragte: „Ema Březinová?“

Schwer, sich eine schlimmere Gesprächseröffnung vorzustellen. Freunde plärren einem den Vornamen oder den Spitznamen entgegen, die Familie dito. Die Kontrollettis vom Finanzamt entpersönlichen einen mit „Herr“ oder „Frau“. Sobald einem aber jemand mit dem vollständigen, präzise artikulierten Namen kommt, ist es immer das Beste, sich so schnell wie möglich hinzusetzen.

Logischerweise prasselten sofort Katastrophenszenarios auf mich ein: Hat’s in meiner Wohnung gebrannt? Ist Karel was passiert? Bin ich bei meinem Job rausgeflogen, weil keiner mehr die Papierzeitschrift kauft und die elektronische Version kostenlos ist? Die Panik zerfledderte mir die Eingeweide. Das Warten auf eine Reaktion am anderen Ende zog sich in die Länge. Nebenbei fiel mir auf, dass ich vor Anspannung aufgehört hatte zu atmen … Und dann erfuhr ich aus dem Handy das Allerschlimmste.

Meine Mutter war gestorben.

Was dann kam, passierte einfach. Ich hatte daran kein Verdienst, zumindest keinen wissentlichen.

Es kam das Weinen, die Verweigerung, die Wut.

(…)

Um alles hat sich Karel gekümmert, und ich verstehe echt nicht, wie es möglich ist, dass er ein Wrack von meinem Kaliber nicht sofort verlassen hat. Wir sind zwar verlobt, aber um ein so riesiges Meer aus Vergeblichkeit zu überqueren, braucht man schon echtes Durchhaltevermögen …

Die Nachricht vom Ableben meiner Mutter hatte ihn außerdem fast genauso schockiert wie mich – die ganze Zeit, die wir zusammen sind, habe ich ihm gegenüber nämlich behauptet, dass meine beiden Eltern längst tot sind.

Solange ich am Boden zerstört war, besaß er genug Anstand, nicht nach Details zu fragen. Jetzt ist mir aber klar, dass ich ihm die schuldig bin und uns mindestens eine unangenehme Unterhaltung ins Haus steht.

(…)

„Du willst also wissen, warum ich behauptet hab, dass meine Mutter tot ist.“

„Ich will dir jetzt natürlich keinen Druck machen.“ Für einen Moment verstummt er. „Aber die Neugier wird mich innerhalb von wenigen Tagen vermutlich bei lebendigem Leib auffressen.“

„Typisch.“

Er nimmt einen Schluck Kaffee und durchbohrt mich mit seinem Blick.

Zur Belohnung mache ich ihm das nach und erzähle die Geschichte, wie es meine Familie in ihre Einzelteile zerlegt hat: „Das Ganze hat irgendwann 2015 angefangen, da hat Michal, mein Bruder, zusammen mit zwei Freunden einen Ausflug zu so einem Lost Place gemacht. Zwei von ihnen sind nicht zurückgekommen.“ Ich muss schlucken, konkret diese Büchse mit Erinnerungen wollte ich eigentlich nicht aufmachen.

Karel wartet, obwohl sich in ihm die Fragen stapeln. Er bemerkt meinen inneren Kampf und respektiert ihn.

„Anscheinend sind die drei in der Ruine von einem Plattenbau rumgekrochen, und dabei ist einer von ihnen verschwunden. Die beiden anderen haben verzweifelt nach ihm gesucht, da hat mein Bruder plötzlich was aus dem Keller gehört. Unten haben sie im Fußboden ein Loch entdeckt. Michal war überzeugt, dass die Geräusche von dort gekommen waren, und gegen jede Vernunft ist er da reingestiegen.“ Ich presse die Lippen aufeinander, kämpfe eine Weile mit dem Kloß im Hals. „Und dann hat ihn das Loch einfach verschluckt. Auf einmal war er weg.“

Ich nehme einen Schluck Kaffee.

Dann gucke ich zu Karel, der die Augen aufreißt. Er holt Luft zu Einwänden, Fragen … Für ihn klingt das total verrückt und er will protestieren. Das seh ich ihm an. Ich weiß genau, wie kritisch er solchen Sachen gegenübersteht, wenn sie in Filmen oder Büchern vorkommen. Also nehm ich ihm sicherheitshalber den Wind aus den Segeln. „Ja, echt. Ich weiß nicht, wie, ich weiß nicht, warum.“ Ich zucke mit den Schultern. „Dann ist die Polizei dorthin gekommen, aber das Loch haben sie nicht gefunden. Als ob sich der Fußboden wieder geschlossen hätte, sogar eine Staubschicht gab’s an der Stelle, die war vielleicht ein Jahr alt. Spürhunde, Helikopter, hat alles nichts gebracht. Michals Handysignal war weg. Und die Zeugenaussage ist die gleiche geblieben – er ist in dem Loch verschwunden.“

Übersetzung Mirko Kraetsch

František Voldřich Helden des Nichts

František Voldřich (1998) lebt in Prag, wo er Kernund Physiktechnik studiert hat und als SoftwareIngenieur arbeitet. Er liebt Abenteuer und sucht sie vor allem auf seinen Reisen. Der Handlung seines Romans liegt eine Reise per Anhalter nach Indien zugrunde. Außer dem Schreiben widmet er sich der Musik, er züchtet Kakteen und läuft gerne Parkour.

Horroroman

Broschierte Ausgabe

Februar 2025

296 Seiten

Sie spielen mit dem Tod, um zu leben. Starkes Statement der Generation zwischen zwanzig und dreißig und eine Menge Fragen Sie sind fünf, in Wirklichkeit aber viel mehr. Aufgewachsen in Wohlstand und Sicherheit, spüren sie ein Defizit. Sie tun ihre Arbeit, treiben das Räderwerk des Kapitalismus, knüpfen Beziehungen. Doch im Grunde sind sie Abtrünnige, für die das Leben sehr leicht wiegt und ein geringer Einsatz ist. Nichts, was sie nicht tun könnten – das ist ihr Fluch. In einer Zeit ohne echte Sorgen wollen sie etwas Echtes erleben. Etwa Starkes. Sie trinken ungezügelt und gehen Risiken ein, negative Emotionen sind immer noch besser als keine. Sich der Angst stellen, dem Tod ins Auge schauen – das ist ihr Lebensrezept. Schlägern, auf Kräne klettern, auf Züge springen, sich eine Jagd durch Prag liefern mit der Polizei... Helden vielleicht in anderen Zeiten, in Frieden und Wohlstand aber Verlorene. Sie leben rasch – und das Ende ist klar. Oder doch nicht?

Foto © Johana Kremrová

Der linke Fuß auf der schrägen Verbindungsstrebe, der rechte hat auf dem Querstück Tritt gefasst, sich ranziehen mit beiden Armen, den linken Fuß neben den rechten setzen, den rechten eins weiter. Meter um Meter nach oben, Meter um Meter dem Tod näher.

Drei Pausen haben wir noch gemacht, und immer etwas länger. Und auf einmal war waren wir da, auf der Fläche direkt über der Kabine. Endorphine schossen ins Blut, mischten sich mit dem Adrenalin. Ich zitterte vor Kälte, physischer Anspannung und dem Gefühl, dass mir nichts unmöglich ist. So überwältigt war ich davon, dass ich mit breitem Lächeln kurz auf die Knie ging, bis mein Kopf nicht mehr rotierte wie eine Zentrifuge.

Diesmal konnten wir nicht mehr schweigen. Wir lachten, klopften uns auf die Schultern und schauten rundum.

He Digga, wiederholten wir immerzu mit zittrigen Stimmen, denn mehr ließ sich dazu nicht sagen. Die Stadt lag vor uns wie auf dem Präsentierteller, sie gehörte uns. Kein Hindernis war für uns zu hoch, kein Problem unlösbar. Wir waren Herr über unser Leben, Herr über die ganze Welt. Unbesiegbar. Unverletzlich. Unsterblich.

Durchfroren, verausgabt, psychisch am Ende, aber unsterblich.

Aus dieser Höhe schien es nicht glaubhaft, dass sich da unten über eine Million Menschen hinter dicken Mauern vor dem Dunkel der Nacht verstecken. Selbst die ikonischen Möchtegern-Wolkenkrater von Karlín wirkten gegen den Kran nur halb so groß. Weiße Nebelstreifen gaben dem Ganzen etwas geradezu Märchenhaftes, ein scharfer Kontrast zu dem, was wir in dieser Nacht gefühlt hatten.

Ich zweifelte nicht daran, dass wir beim Hinunterklettern alle die Leiter nehmen, ein Kinderspiel im Vergleich zu dem, was wir hinter uns hatten. Und trotzdem konnte ich mich nicht völlig entspannen, ich wusste, die Nervosität würde anhalten, bis ich mit beiden Beinen wieder auf festem Boden stand. Und noch dazu schwankte der Kran bedenklich.

Die Fläche, auf der wir unsere Freudentänze vollführten, war nicht viel breiter als der Kranturm. Als ich das bemerkte, war mir sofort klar, was ich im nächsten Moment tun müsste. Wie wenn du eine Insel im Meer siehst und musst einfach hinschwimmen, oder du siehst einen Berg und musst hoch, siehst ein Mädchen und musst es um jeden Preis ins Bett kriegen.

Ich kletterte über das Geländer und befand mich jetzt auf dem Außenrand, verharrte, damit sich mein Herz ein

bisschen beruhigt, aber das Gegenteil war der Fall. Ich konnte es nicht länger hinausziehen. Wenn ich es wagen sollte, dann jetzt, jetzt sofort, solange ich auf den hohen Wellen der Euphorie surfte. Ich nahm noch wahr, wie Šváb seinen Blick in mich bohrte, mehr nicht. Ging langsam in die Hocke, umklammerte die mittlere Querstange des Geländers und ließ mich baumeln.

Was geht einem durch den Kopf, wenn man hundert Meter über der Erde hängt? Nicht viel. Der erste Gedanke war loszulassen. Wie wenig würde reichen, damit ich hinabstürzte. Die Finger lockern, und meine ganze Existenz rauscht in die harte Umarmung des Betons. Eigentlich musste man gar nichts tun, musste sich einfach nur nicht mehr festhalten. Dem Tod nicht mehr trotzen

Das Leben ist eine schrecklich fragile und flüchtige Sache. Und trotzdem kleben wir so an ihm.

Ich weiß nicht, wie lange ich so hing, aber als ich wieder auf der Plattform stand, konnte ich den Stress nicht mehr ertragen. Ich musste sofort hinunter. Ganz zu schweigen davon, dass es mich mit größerer Angt erfüllte, einem anderen zuzuschauen, wie er sein Leben riskierte, als es selbst zu riskieren. Über den eigenen Körper hatte ich die Kontrolle, über einen anderen nicht. Brácha zumindest würde mein Stückchen nachahmen, da war ich mir sicher. Und ich wollte auf keinen Fall Zeuge sein. Heute war es schon mehr als genug.

Übersetzung Kristina Kallert

František
Voldřich Helden des Nichts

Kateřina Tučková Weißwasser

Kateřina Tučková (1980), Autorin u. a. von drei Bestseller-Romanen, Dramatikerin, Publizistin, Kunsthistorikerin und Ausstellungskuratorin. Sie ist Trägerin vieler prominenter tschechischer Auszeichnungen, z. B. des Magnesia Litera, des Josef Škvorecký-Preises und des Tschechischen Bestsellers, außerdem erhielt sie den Preis für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte. Im italienischen Salerno wurde sie mit dem Premio Libro d’Europa geehrt. Ihre Bücher erscheinen in 23 Sprachen.

Die Verfilmung des Romans Gerta. Das deutsche Mädchen, eine Koproduktion des Tschechischen Fernsehens mit HBO, ARTE und der Gesellschaft Negativ, hat im Frühjahr 2026 Premiere.

Verkauft: 450 000 Ex

Bisher auf Deutsch erschienen:

Das Vermächtnis der Göttinnen, DVA, 2015, Eva Profousová Gerta. Das deutsche Mädchen, Klak Verlag, 2018, Iris Milde Die Rechte an der deutschen Ausgabe dieser beiden Bücher sind wieder frei.

Roman / Historischer Roman

Gebundene Ausgabe 2022

broschierte Ausgabe 2023 illustrierte Ausgabe 2023

688 Seiten

Preise: Staatspreis für Literatur, Buch des Jahres der Lidové noviny, Buch des Jahres von Deník N, Tschechischer Bestseller, Preis der Region Olomouc für einen Beitrag zur Literatur (alle 2022)

Verkaufte Rechte: Polen (Afera), Ungarn (Kalligram), Italien (Keller Editore), Ukraine (Komora), Serbien (Treći trg), Mazedonien (Bata Press)

host

Mitreißender Roman auf der Grundlage historischer Tatsachen Weißwasser. Ein verlassenes Dorf im Schatten der Grenzgebirge, einst Ziel von Pilgern, die bei der wundertätigen Marienstatue Hilfe suchten. 2007 kommt Lena Lagnerová hierher, um ihre Vergangenheit abzuschütteln. Anstelle des Klosters und seiner vielköpfigen Ordensgemeinschaft trifft sie auf nur wenige Nonnen unter der Leitung der eindrucksvollen Evarista. Diese war in der letzten Septembernacht des Jahres 1950 hierher verschleppt worden, als das kommunistische Regime die Ordensschwestern der gesamten Republik in Sammelklöster verbrachte.

Das Buch ruft nicht nur ein vergessenes Kapitel totalitären Unrechts in Erinnerung, sondern fragt auch nach der Stellung der Frau in Kirche und Gesellschaft. In dritter Auflage erscheint der Roman mit ganzseitigen Illustrationen des namhaften tschechischen Künstlers Jaromír 99.

Foto © Lenka Hatašová

Das Kaninchen, das Kind, das entblößte Fleisch, die aus ihren Höhlen hervortretenden Augen, das langsam auf Agnieszkas Schuhe tropfende Blut, Macieks zum Himmel erhobene Arme, das versteinerte Gesicht des Vaters und der Schrei, der durch Mark und Bein ging, der Schrei, der aus Agnieszkas Kehle fuhr, ein verzweifelter, ohrenbetäubender Schrei, der von der Klostermauer als Echo zurückgeworfen wurde und sie wie eine unsichtbare Lawine unter sich begrub. Überwältigt von der Kraft dieses Schreis, gefangen in diesem abscheulichen Anblick stand Lena wie zur Salzsäule erstarrt, bis hinter ihnen eine heisere Stimme ertönte: „Haut ab! Haut ab, sage ich, und ich will euch hier nie wieder sehen!“

Vom Friedhof her eilte Evarista auf sie zu, außer

Atem vom schnellen Laufen, aber den Kopf drohend nach vorn gestreckt, ihre Hacke hielt sie noch in der Hand. Die Männer in ihrem Wahn heiliger Entrüstung drehten sich nur langsam und widerwillig zu ihr um.

„Habt ihr nicht gehört?“, wiederholte Evarista, als sie endlich bei ihnen angekommen war, so gebeugt, als setze sie zum Sprung an, sah sie noch zerbrechlicher aus, als sie in Wirklichkeit war. „Soll ich etwa nachhelfen?“

Es war absurd. Jeder der beiden Männer überragte Evarista um mindestens einen Kopf, unter ihren leichten Sommerhemden zeichneten sich breite Bauernschultern und kräftige Arme ab, die die alte Frau mit einem Wink hinweggefegt hätten. Doch Evarista schien das gar nicht zu bemerken. Sie stand ihnen gegenüber und wich keinen Schritt zurück.

Als Erster streckte Maciek die Hand nach ihr aus. Doch bevor er sie zu fassen bekam, holte Evarista aus und versetzte mit der stumpfen Seite der Hacke der Motorhaube des Wagens einen kraftvollen Schlag — krach! Der hinterließ auf der soeben noch glatten, makellosen Oberfläche des Fahrzeugs einen Krater, von dessen Epizentrum aus sich in einem großen Kreis wellenartige, tiefe Furchen zogen.

„Zwariowałeś, babcia? Bist du verrückt geworden, Oma?“, brüllte Maciek, sprang entsetzt zurück und prallte gegen Agnieszkas Vater. Die offene Wagentür, die das Gewicht der stattlichen Männer auffing, ächzte laut.

„Haut endlich ab!“, rief Evarista und holte zu einem neuen Schlag aus. Dieses Mal traf die Hacke das Heckfenster. Auf der Scheibe bildete sich ein dicht gewebtes Spinnennetz aus feinen Rissen.

Man sah Maciek an, welche Gedanken ihm durch den Kopf schossen, wie gern er sich auf sie gestürzt und sie zu

Boden geworfen, ihr die Luft abgedrückt und diesen rüden Ton in ihr erstickt hätte, mit dem sie sie vom Hof verwies und sie verhöhnte, aber die Hacke lag fest in Evaristas Händen, sie hielt sie umschlungen wie der Tod die gewetzte Sense, und als sich die Männer immer noch nicht rührten, holte sie ein drittes Mal aus. Das Rücklicht des Autos zerbarst nach allen Seiten, die Glassplitter auf dem Schotter zu ihren Füßen sahen aus wie Tränen.

Danach zögerten sie nicht mehr. Maciek sprang hinter das Lenkrad, Agnieszkas Vater auf den Beifahrersitz, und noch bevor er die Tür laut knallend hinter sich zugezogen hatte, fuhr das Auto mit quietschenden Reifen an und schoss mit Vollgas davon in Richtung polnischer Grenze.

„Nimm ihr endlich das Ding ab!“, herrschte Evarista Lena an, die immer noch wie versteinert neben der bebenden Agnieszka stand. Doch bevor sie sich rühren konnte, lag das gehäutete Kaninchen in dem Kinderhemdchen schon auf dem Boden und Agnieszka verschwand hinter der Pforte, hinter den schützenden Klostermauern. „Du solltest ihr nachgehen“, bedeutete Evarista Lena mit einer Kopfbewegung, während sie selbst sich mit gekreuzten Händen auf den Stiel der Hacke stützte. „Sie wird dich brauchen.“ Lena folgte ihrer Anweisung ohne Widerworte und ging zum Kloster. Als sie ebenfalls durch das Tor schlüpfte, warf sie noch einen kurzen Blick über die Schulter.

„Schade um das arme Tier!“, hörte sie Evaristas röchelnde Stimme, worauf diese mit der Hacke das Bündel vor ihr aufnahm und damit auf das Fenster der Klosterküche zusteuerte, um es Paulita zu übergeben. Wie das Kaninchen so in der Schlinge baumelte, sah es tatsächlich aus wie ein lebloses, in ein Totenhemd gewickeltes Kind.

Übersetzung Iris Milde

Weitere deutsche Textproben zu diesem und anderen Titeln der Autorin verfügbar

Leseprobe

Lidmila Kábrtová Warten auf den Auslöser

ROMÁN V OSMI PŘÍBĚZÍCH O ŠPATNÝCH ROZHODNUTÍCH, NEPOCHOPENÍ I NADĚJI NAVZDORY

Lidský život znamená i hledání smyslu v každodennosti. Nejen skrze duchovní naplnění či osvobozující zkušenost, ale také uprostřed ubíjející všednodennosti, kdy jsme konfrontováni s našimi blízkými; těmi, které milujeme, i těmi, kteří nám ublížili. Leč zkušenosti, emoce, gesta i vyřčená slova se možná až příliš často míjejí, a namísto pochopení se množí křivdy, bílá místa a bolest. Každé takové míjení je však zároveň výzvou — k pochopení, a snad i odpuštění.

Povídkový román Čekání na spoušť Lidmily Kábrtové je kronikou takového míjení, rozprostírající se na ploše sedmdesáti let. Kniha v koncentrované podobě ohledává, jak zdánlivě nedůležitá rozhodnutí jedněch působí na životy druhých a jak se může nenápadná událost dotknout někoho, o kom to vůbec netušíme. Každá z hlavních postav Čekání na spoušť vypráví z vlastní perspektivy, každá se snaží dodat svému příběhu smysl. A i když nalézání jedněch je často ztrácením druhých, nikdy není pozdě na smíření a odpuštění. Přinejmenším vůči sobě samým.

Lidmila Kábrtová (1971) ist Autorin von drei Prosabüchern sowie des Kinderhörspiels Šedivák [Smokey], für das sie den Preis des Tschechischen Rundfunks gewann. Auch im Rahmen des Rundfunkprojekts „Minutenhörspiel“ schrieb sie mehrere Stücke. Ihr Debüt als Prosaautorin hatte sie 2013 mit Koho vypijou lišky [Wen die Füchse saufen], einem experimentellen Roman aus Kapiteln zu je 50 Wörtern. 2018 erschien ihr Erzählband Místa ve tmě [Orte in der Dunkelheit], in dem sie eine Welt weiblicher Heldinnen zeigt, die jedoch primär von einer männlichen Welt bestimmt wird. Das Buch erhielt den Hauptpreis der Stiftung Tschechischer Literaturfonds. Lidmila Kábrtová war zunächst als Journalistin tätig, arbeitet inzwischen jedoch seit über zwanzig Jahre im Bereich public relations. Ihre Bücher erscheinen in 4 Sprachen.

xxx Kč

ISBN 978-80-275-0793-1

Wen die Füchse saufen

Erzählsammlung / 2013

197 Seiten

Orte in der Dunkelheit

Erzählsammlung / 2018

215 Seiten

lidmila kábrtová

XRoman Gebundene Ausgabe 2021 199 Seiten

Auslandsausgabe: makedonisch (Slavika Libris, 2023)

LIDMILA KÁBRTOVÁ

ČEKÁNÍ NA SPOUŠŤ Host

Roman in acht Geschichten über falsche Entscheidungen, Unverständnis und Hoffnung

Zuzana fährt ans Meer, um einen bösen Traum wegzuwischen. Jitka schämt sich ihrer Bauchfalte und kann sich mit niemandem einigen. Hana findet bei einer Autofahrt zufällig ihre Großmutter. Pavel findet Ruhe bei der Waldarbeit und will nie mehr etwas falsch machen. Iveta kleidet Tote an und verbirgt ein Schlangen-Tattoo. Und Libor fotografiert einfach nur… Sie gehören zusammen, bilden gewissermaßen eine Familie, und leben doch aneinander vorbei. Der Episodenroman Warten auf den Auslöser ist eine Chronik des Sichverpassens vor dem Hintergrund der 1970er Jahre. In der für die Autorin so typischen konzentrierten dichten Sprache wird ausgelotet, welche Auswirkungen scheinbar unwichtige Entscheidungen der einen auf die Leben der anderen haben und welche Dimension an sich unbedeutende Vorfälle annehmen können.

Foto © Lenka Faltejsková

Als sie zurückkam, war Marcel noch immer nicht auf der Decke zurück. Und die Blondine auch nicht. Auf deren Delfindecke saß aber der Mann. Und jetzt betrachtete ihn Jitka richtig. Er sah nicht sehr interessant aus, so irgendwie normal. Nicht wie Marcel, der manchmal Kraftsport machte, um seine Figur zu halten, damit man ihm das Essen nicht ansah. Dieser hier war ganz gewöhnlich, die Schultern von der Sonne etwas verbrannt, mit einem Bauchansatz und Haaren, die in den Ecken zurückwichen. Zur Blondine passte er genauso seltsam wie sie zu Marcel.

Jitka kam zur Decke, fuhr sich mit den Fingern durch die Haare, um das Wasser herauszubekommen. Dann lächelte sie den Mann an: „Sehen Sie, der Fleck ist weg.“

„Sie hatten recht“, antwortete er. „Im Übrigen, ich heiße Libor Demek“, fügte er hinzu.

„Jitka Hroudová, sehr erfreut“, sagte sie und sah neugierig seinen Fotoapparat an, der jetzt auf der Decke lag. Er sah anders aus, und vor allem besser als ihre Corina, die ein bisschen unscharfe Fotos mit Grauschleier machte. „Praktica“, las sie langsam und hob den Blick zu dem Mann. „Fotografieren Sie Landschaften?“ Auch er schaute auf die Kamera. „Meistens nur Pflanzen, Schmetterlinge, Käfer und so. Das macht mir Spaß. Das ist eine Spiegelreflex und sie hat eine gute Optik. Ich habe verschiedene Aufsätze dafür.“

Jitka sah sich um, der Teich war noch immer von Besuchern umlagert. Sie nickte in diese Richtung. „Schmetterlinge zu fotografieren muss schön sein. Aber heute werden Sie wohl nicht so viel fotografieren, es sind viele Leute hier.“

„Ich weiß“, nickte er. „Aber ich habe das Schilf fotografiert, das ist schön hier. Und Ivetka wollte ein paar Fotos vom Strand.“

„Ihre Frau?“, fragte Jitka. „Noch nicht.“

Jitka hatte keine Ahnung von Fotoapparaten und ihrer Optik und nach der Frau mit der Schlange zu fragen, von der sie jetzt wusste, dass sie Iveta hieß, würde seltsam aussehen. Sie griff nach der Kuchenschachtel und öffnete sie.

„Nehmen Sie ein Stück?“

Der Kuchen duftete und der Adamsapfel des Mannes hüpfte sichtbar, als er schluckte.

„Meine Mutter hat mir den eingepackt und in dieser Hitze hält er sich nicht lange.“

„Gern“, nickte er, „aber ist der nicht für jemanden…?“, zögerte er.

„Mein Mann isst den nicht“, lachte Jitka. „Angeblich ist das zu süß für ihn …“

„Das sagt Ivetka auch“, sagte der Mann. „Aber ich würde manchmal furchtbar gern Kuchen essen.“

„Dann nehmen Sie“, schob Jitka ihm die Schachtel zu. Er zögerte, ob er das größte Stück nehmen konnte. Dann nahm er das kleinere und biss hinein. „Der ist sehr gut.“

„Nicht wahr“, antwortete Jitka zufrieden. „Mir schmeckt er auch, aber Marcel meint, dass ich nicht sollte …“ Sie verstummte in dem Gefühl, mehr gesagt zu haben, als sie wollte.

„Warum?“, fragte der Mann.

„Naja …“, zuckte sie zögernd die Achseln und sah ihre Hüften an.

Er schwieg und tat, als hätte er es nicht bemerkt. Dann knetete er nervös die Hände. „Ivetka ist auch ständig wegen irgendwas über mich verärgert“, sagte er fast flüsternd.

Jitka antwortete nicht, stattdessen schaute sie auf die Wasserfläche. Und dann noch ein Stückchen weiter, bis zu der Insel im hinteren Teil des Teiches. Die war klein, aber es gab einen Strand aus angeschwemmtem Sand, in der Mitte stand ein Baum, vielleicht eine Vogelkirsche oder ein wilder Pflaumenbaum, und viele üppige Sträucher. Sie hatte vor einer Weile schon zu der Insel geschaut, aber da sah sie verlassen aus. Jetzt sah sie dort zwei Gestalten, die hinter dem Baum hervorkamen. Eine definierte männliche und eine schlanke weibliche. Die Frau ging vorn, der Mann hinter ihr. Für einen Augenblick blieben sie am Strand stehen, Kopf an Kopf. Er sagte ihr wahrscheinlich etwas, sie nickte dazu. Dann stieg er ins Wasser und entfernte sich schnell von der Insel. Sie hockte dort und beobachtete ihn eine Weile. Dann glitt auch sie ins Wasser.

Jitka beobachtete, wie sich ihre Köpfe näherten. Trotzdem hoffte sie plötzlich, dass sie nie ankommen würden. Als sie sich endlich zu dem Mann auf der Delfindecke umdrehte, sah sie, dass er in dieselbe Richtung schaute. Aufs Wasser.

Übersetzung Raija Hauck

Lidmila Kábrtová Warten auf den Auslöser
Weitere deutsche Textproben zu diesem und anderen Titeln der Autorin verfügbar

Viktor Špaček Ein reines und bescheidenes Leben

Viktor Špaček (1976) ist Dichter, Prosaautor und Bildender Künstler. Er studierte Bildhauerei an der Akademie für Kunst, Architektur und Design in Prag (VŠUP). Publiziert hat er in den Anthologien Nejlepší české básně [Die besten tschechischen Gedichte] 2011, 2012 und 2013; 2015 erschien der Erzählband Něco cirkusového [Was vom Zirkus] sowie die Gedichtsammlung Nejasný rozměr [Unklares Ausmaß]. Auf große Resonanz bei der fachwissenschaftlichen und allgemeinen Leserschaft stieß jedoch erst sein bei Host verlegter Erzählband Čistý, skromný život [Ein reines und bescheidenes Leben] hervor, für den er mit dem Magnesia Litera geehrt wurde. Špaček arbeitet als externer Redakteur und Korrektor, Bibliothekar und Lektor für Kreatives Schreiben.

Erzählsammlung

Broschierte Ausgabe 2022 182 Seiten

Preise: Magnesia Litera 2023 (Prosa), Preis des Tschechischen Literaturfonds 2022 (2. Platz)

Verkaufte Rechte: Taiwan (Mi:Lu Publishing)

špaček: čistý, skromný život

host

Von der sensiblen Hand eines Bildhauers modellierte Porträts Ein Mann, der eines Abends in Pantoffeln die Tür öffnet und dem Liebhaber seiner Frau gegenübersteht — und damit all dem, was er vor sich selbst zu verstecken versucht. Ein eingeschworener Junggeselle, der sich seiner Ausgeglichenheit rühmt und dabei in der Tasche nach dem Fläschchen mit dem selbstmörderischen Inhalt tastet. Die vierzigjährige Buchhalterin und ihr „Schmuckkästchen“ — Zuhause; oder ist es ein Käfig? Die Figuren dieser Porträts werden von innen her modelliert, gewinnen Kontur aus ihrer eigenen Sicht der Situation, aus ihrer Haltung dazu und ihrer mehr oder weniger ergiebigen Auseinandersetzung mit Traumata und Problemen. Dass ihr Blick dabei oft nicht über den eigenen Tellerrand reicht, hindert sie nicht, von der eigenen Wahrheit überzeugt zu sein. Die Schlüsse, die sie für sich ziehen, sind logisch und sozusagen normal. Normal ist aber auch, dass der Wahnsinn nicht weit ist.

Solange es mir schmeckt, esse ich das Szegediner Gulasch auf und gieße mir noch ein Glas Wein ein. Gar nicht so übel das alles. Dieses angenehme Gefühl, wenn man etwas Gutes isst. Oder trinkt. Die innere Last schmilzt plötzlich dahin und Glückseligkeit ist in einem, plötzlich sinkt mir der Kopf nach unten … Ich hebe ihn, blinzle und schnappe mir das Glas. Schade, dass František nicht da ist, der würde das Szegediner Gulasch gut finden. Schmeckt es dir bei der Oma, schmeckt es gut? Das Kind steckt sich Schokolade in den Mund, die großen Augen schließen sich, mmmmh, ein größeres Wohlbehagen gibt es nicht auf der Welt und ich bin einen Moment lang glücklich … Marta? Wenn sie uns einmal alle Jubeljahre besuchen kommt, heißt es nur, Mamachen hier, Mamachen dort, lassen Sie doch das Geschirr, ich wasche ab! Marta weiß, was sich gehört, Marta ist eine von diesen anständigen und netten Menschen, die um mich herum sind, wegen der immer fröhlichen und vor sich hin singenden Marta werde ich in der Langzeitpflege enden. Danke, Marta, nett von dir, sage ich und schaue meinen Sohn an, ob er meine Bemühung zu schätzen weiß. Luboš trinkt Bier und schaut zur Seite. Sie haben ihr Leben, in das sie sich nicht hineinreden lassen, recht haben sie. Wenigstens hat jemand ein Leben, wenn schon ich nicht. Mein Sohn hat eine Vorzeigefamilie, wenn sie mit ihren Helmen auf den Mountainbikes zum Ausflug aufbrechen, sehen sie wie aus einer Zeitschrift aus. […]

Na, Herr Klíšťák, sind Sie satt geworden? Der Kater springt mir auf den Schoß, tritt von einer Pfote auf die andere, kneift die Augen leicht zu, schnurrt und lässt sich streicheln. Wer uns so auf der Vortreppe sehen könnte, würde einen Hauch ländliche Idylle verspüren. Der Kater gähnt. Ich umschließe seinen schmalen Körper, wo bist du nur, František … Sich von den Kindern mit Leben anstecken lassen, ohne Kinder geht es einfach nicht, warum kann man nicht mehr wie früher zusammenleben? Dieses Gefühl, wenn du dein Gesicht gegen ein weiches Kindergesicht drückst, dieses Gefühl, wenn du auf den Spielplatz gehst und dich dieses Herumlaufen und Kreischen überwältigt … Klar, idyllisch war das nicht, aber ein Leben war es, doch, das war es.

Auf einmal bemerke ich, dass ich betrunken bin. Was nun? Zu schlafen habe ich keine Lust, ich möchte nicht in diese Dunkelheit… Der Wind hat sich gelegt, es ist totenstill, auf der Leine vor dem Haus hängt ein Wischlappen. Nachtfalter stoßen gegen die Lampe. Eine Fledermaus kommt angeflogen, flattert lautlos in der Luft

und verschwindet wieder. Ich könnte noch etwas essen, vielleicht den Hackbraten, Hunger habe ich nicht, dafür Appetit. Nein, ich sollte nicht so viel essen, die Ärzte haben recht. Aber was soll‘s, morgen ist Sonnabend und der Konsum ist am Vormittag geöffnet, für Essen reicht es noch. Das Szegediner Gulasch habe ich noch nicht ganz aufgegessen, ich muss mal, das Fleisch ist schon weg und die Knödel mit der Soße wird der Kater wohl nicht fressen. Mit freundlichen Händen hebe ich die protestierende Katze von meinem Schoß und stelle sie auf die Erde.

Ich komme zurück vors Haus, in der Hand ein Tellerchen mit Hackbraten. Der Kater sitzt auf dem Tisch, im Maul eine große Scheibe Knödel, und schaut mich ausdruckslos an. Haust du ab, du Mistvieh! Fort mit dir! Er lässt den Knödel fallen, kreischt auf, springt vom Tisch und läuft ein Stück zur Seite. Am Ende der Vortreppe bleibt er stehen und schaut mich aufmerksam an. Komm her, du Mistvieh, der Hackbraten wird dir schmecken. Ich esse mit der Katze auf dem Schoß, manchmal lege ich einen Happen auf den Tisch, der Kater frisst ihn manierlich auf.

Ich esse den Hackbraten auf und stelle fest, dass die Weinflasche ausgetrunken ist. Macht nichts, es sollte noch Rum da sein. Allerdings, allein Rum zu trinken, aber was soll‘s eigentlich … Ich stehe auf, hole die Flasche aus der Speisekammer und schlurfe in die Küche, ich schwanke, gehe willenlos und seltsam lächelnd, als würde mich etwas dorthin ziehen. Ich bleibe vor dem Kühlschrank stehen, öffne ihn und stelle auf einmal fest, dass sich das nicht stoppen lässt, dass ich alles werde aufessen müssen. Noch eine Portion Hackbraten. Und noch die Punschschnitten. Wählerisch kreise ich mit dem Finger über ihnen, aber das mache ich nur zum Spaß, ich weiß, dass ich sie am Ende alle verdrücken werde. Und warum eigentlich auch nicht? Ist es nicht egal? Wofür soll man auf sich aufpassen, für das Pflegeheim am Ende? Es ist egal, alles ist völlig egal, denke ich und fühle mich wie ein Mensch, dem endlich aufgegangen ist, dass er wirklich nicht mehr kann, und dass er es also tatsächlich tun wird. Ich schwanke vor dem Kühlschrank, wühle mit der Hand im Topf herum, meine Wangen sind soßenverschmiert und ich fühle eine große Ruhe.

Übersetzung Raija Hauck

Michal Sýkora Fünf tote Hunde

„Začala jsem číst Michalovu knihu v podvečer a musela jsem zůstat vzhůru, dokud jsem ji nedočetla. Natolik to pro mě bylo poutavé, nepředvídatelné a napínavé. A nemohla jsem se dočkat, až se pustím do vyšetřování!“

KLÁRA MELÍŠKOVÁ, PŘEDSTAVITELKA KOMISAŘKY VÝROVÉ

Kristýna se ocitla nad odkrytým mělkým hrobem, něhož kdosi pečlivě vyskládal pět černých pytkteré hajný ráno roztrhal, aby zjistil, co skrýKaždý z pytlů byl roztržený na jiném místě, tu vykukovala hlava, tu tlapa, tu zas psí zadek i s ocasem. Pět pytlů, v každém jedno pořádné psisZdechliny nejevily sebemenší známky rozkladu, přesto se kolem nich v tom vedru začal rojit hmyz.

UKÁZKA Z KNIHY

299 Kč isbn 978-80-7577-473-6

Michal Sýkora (1971) debütierte 2012 mit dem Kriminalroman Případ pro exorcistu [Ein Fall für einen Exorzisten], dem Auftakt einer erfolgreichen fünfteiligen Serie um die Kommissarin Marie Výrová; nach dieser Vorlage entstanden unter dem Titel Detektivové od Nejsvětější Trojice [Die Detektive von der Heiligen Dreifaltigkeit] fünf Miniserien fürs Fernsehen, die bei der Zuschauerschaft großen Anklang fanden, positive Kritiken ernteten und auch ins Ausland verkauft wurden. Sýkora ist Koautor weiterer Fernsehdrehbücher und Verfasser literaturwissenschaftlicher Publikationen. Seine Bücher erscheinen in 5 Sprachen. Im Mai 2025 wird das sechste Buch aus der Reihe Žádné dobré zprávy [Keine guten Nachrichten] erscheinen.

Ein Fall für einen Exorzisten

Detektivroman Band 1 2012, 2021 / 309 Seiten

Blaue Schatten

Detektivroman Band 2 2013 / 439 Seiten

Detektivroman Band 4

einer freien Serie

Gebundene Ausgabe 2018 383 Seiten

Preise: Jiří Marek-Preis, Nominierung für das Tschechische Buch

Auslandsausgaben: bulgarisch (MATCOM, 2021), polnisch (Afera, 2024)

ČESKÝ DETEKTIVNÍ ROMÁN

Literární předloha televizní série s komisařkou Výrovou

MICHAL SÝKORA

Verkaufte Rechte: Makedonien (Slavika Libris)

Zehn Jahre und fünf Bücher — genug für Kommissarin Marie Výrová, um zu einer der populärsten Figuren des tschechischen Detektivromans zu avancieren

Další z případů komisařky

Vrchní komisařka Marie vaná Velká Sova, spolu noční loupežné přepadení, skupina maskovaných zoologické zahrady tři medvědy a současně ného. Vyšetřování je základní otázka, k čemu buje živé medvědy, zůstává zena. Když navíc jediného ho podezřelého kdosi připraví o život, je jasné, mají co do činění s velmi protivníkem.

Mladá policistka bývalá kolegyně olomouckých tivů, za trest přeložená oddělení ve Šternberku, vyšetřuje nález pěti které někdo ledabyle Pátrání ji přivede jednak zápasů pořádaných podnikatelem“, jednak že oba případy spolu zábavné i stinné stránky v prostředí moravského a samozřejmě jedinečná Marie Výrová, to vše vání Sýkorovy úspěšné

Zfilmovaná podoba Jana Hřebejka získala iDNES.cz prvenství v kategorii televizní film a minisérie Románová verze však zpracování nabízí odlišné

Diesmal untersucht Marie mit ihren Kollegen einen nächtlichen Raubüberfall, bei dem maskierte Männer drei nordamerikanische Bären aus dem Zoo stehlen und den Pförtner ermorden. Die junge Polizistin Kristýna, ehemals Kollegin, untersucht gleichzeitig den Fund fünf toter im Wald verscharrter Hunde. Ihre Spurensuche führt sie einerseits zu den Hundekämpfen, die ein einflussreicher lokaler Unternehmer veranstaltet, andererseits zu der Überzeugung, dass beide Fälle zusammenhängen. Die Verfilmung des Buches wurde in der LeserUmfrage von iDNES.cz zum bestem Fernsehfilm 2016 gekürt.

Sýkoras Bücher haben alles, was ein guter Detektivroman braucht: nichtalltägliche Morde, eine spannend angelegte Untersuchung, dramatische Wendungen, die richtige Prise Humor, realistisches Milieu, glaubwürdige Figuren und nicht zuletzt: sympathische Detektive.

Der bleiche Purkyně stand im Tor eines niedrigen zweistöckigen Baus aus Lehmziegeln, mit der Hüfte lehnte er am Türstock und leuchtete mit einer Taschenlampe den durchbrochenen Betonboden aus, durch den trockenes Gras wuchs.

Marie, Edelweiss und Kubík kamen über den Hof in seine Richtung geeilt.

„Wir haben die Bären gefunden“, verkündete Kubík im Laufen ein weiteres Mal. „Ich weiß nicht, was die mit denen gemacht haben, aber es ist schrecklich…“

„Öffnen Sie das hier“, befahl Marie. Purkyně zog einmal kräftig und riss das Tor sperrangelweit auf.

Der süßliche, schwere Geruch von Mist, der ihnen entgegenschlug, ließ Marie zurückweichen und Edelweiß den Kopf wegdrehen. Marie hob sich der Magen, fast musste sie sich erbrechen, sie trat drei Schritte zur Seite, hielt sich den Mund zu, um den würgenden Husten zu unterdrücken, und sog mit der Nase unablässig die trockene Nachtluft ein.

„Alles in Ordnung?“, Edelweiss wandte sich zu ihr.

Kubík leuchtete mit der Taschenlampe in das Innere des Gebäudes, als Antwort ertönte ein dunkles, tiefes Brummen, das von grauenhaft langsamen, dunklen, rasselnden Geräuschen untermalt wurde, als würde jemand mit etwas Weichen gegen Metall schlagen.

„Schon okay.“ Marie hob ihre Hand in Edelweiss’ Richtung. Sie war wieder zu Atem gekommen. „Was ist das?“

„Sie sind da drinnen“, sagte Kubík leise.

Marie bedeckte Mund und Nase mit einem Taschentuch und folgte mit ihrem Blick den Lichtkegeln von Kubíks und Purkyněs Taschenlampen, die das Innere des Gebäudes durchforschten.

Das Licht fiel auf einen Metallkäfig, der auf einer einen Meter hohen Metallkonstruktion stand, in welcher ein riesenhafter Braunbär eingezwängt auf der Seite lag und versuchte, mit dem Kopf dem Licht auszuweichen, das ihn blendete.

Bomm — bomm — bomm, metallene Schläge tönten aus einer dunklen Ecke ganz hinten.

„Das wird Kristýna sein“, meinte Kubík. „Wenn sie hier irgendwo festgehalten wird, dann wahrscheinlich dort hinten.“

„Wir brauchen mehr Licht“, Marie schaute sich um. „Kann man hier Licht machen?“

Mit dem Licht der Taschenlampe untersuchte Kubík den Windfang, einen Lichtschalter entdeckte er jedoch nicht.

„Adam, fahr schnell ein Auto her, du kannst uns dann hier mit den Scheinwerfern Licht machen“, forderte ihn Edelweiss auf.

„Okay, mach ich.“ In Kubíks Stimme klang beinahe Erleichterung mit, dass er hier wegkam.

„Ihre Taschenlampe“, Marie streckte ihre Hand zu Kubík aus. Er gab ihr seine Lampe und sah zu, dass er wegkam. Marie schaute ihm nach und bemerkte, wie die anderen sich dem Bärengefängnis näherten.

Bomm — bomm — bomm.

Edelweiss sah Marie an: „Können wir?“, fragten seine Augen. Marie nickte, bedeckte erneut Mund und Nase mit ihrem Taschentuch und gemeinsam traten sie nach drinnen.

Bomm — bomm — bomm.

In dem ehemaligen Schweinestall brachten die Taschenlampen fünf Paare von Metallkäfigen zum Vorschein, die einander gegenüber in zwei Reihen aufgestellt waren. Im Licht der Handleuchten warfen die Gitter und die hinter ihnen eingesperrten Tiere grausige, bizarre Schatten auf die schmutzigen Mauern aus Lehmziegeln. Der Bär, der sich am nächsten zum Eingang befand, versuchte, sich in dem engen Raum auf seine Pfoten stützen, fiel dann aber apathisch auf die Seite.

Bomm — bomm — bomm.

Die anderen wollten zum Tor stürzen, aber Edelweiss bedeutete ihnen, draußen zu bleiben.

Eingehend untersuchte Marie den Käfig, der neben ihr stand. Der entkräftete, gemarterte Bär wollte dem Licht ausweichen und brummte tief. Aus seinem Bauch ragte eine lange Kanüle, die an einen Plastikschlauch angeschlossen war. Dieser leitete den Inhalt in einen geschlossenen kleinen Plastikkanister, der zu einem Viertel mit einer dunklen Flüssigkeit gefüllt war. Marie umrundete den Bären und leuchtete die Kanüle an, sie endete in etwas, von dem Marie nicht wusste, ob es ein Katheter oder ein Trokar war, was in den Bauch des Bären eingeführt worden war.

Bomm — bomm — bomm.

„Kristýna! Melde dich!“, hörte sie Edelweiss rufen, der im Schein seiner Taschenlampe langsam tiefer in die Tierhölle vordrang.

Marie leuchtete den Käfig an. Der Bär konnte sich in ihm kaum bewegen; eine umgekippte Plastikschüssel lag vor seiner Schnauze, seine eine Hinterpfote hing durch den Metallrost, der den Boden ersetzte, nach unten. Auf der Betonfläche unter dem Käfig stand eine große rote Plastikkiste mit hohen Seitenwänden, wie man sie in Schlachthäusern verwendete — wie passend, musste Marie denken.

„Mein Gott, was ist das?“, keuchte Kodet von der Tür her.

Übersetzung Christina Frankenberg

Deutsche Textproben zu anderen Titeln des Autors verfügbar

Michal Sýkora Fünf tote Hunde

Petra Stehlíková Der Lauscher

Archiv der Autorin

Petra Stehlíková (1976) hat ihre Bücher zunächst im Selbstverlag publiziert, so ihre Trilogie Zrozena z popela [Aus Asche geboren]. 2016 erschien bei Host ihr Fantasy-Roman Naslouchač [Der Lauscher], der äußerst positive Aufnahme fand. Nicht weniger begeistert war das Lesepublikum von den Romanen, die folgten: Faja, Nasterea und Urla. Petra Stehlíkovás Bücher werden in 3 Sprachen übersetzt, darunter auch ins Englische.

Verkauft: 65 000 Ex

Band 2

/ 440 Seiten

Fantasy-Roman Band 1 einer geplanten Pentalogie

376 Seiten

Gebundene Ausgabe 2016 broschierte Ausgabe 2018

Verkaufte Rechte: Polen (Stara Szkoła), Ukraine (Bohdan), Irland (Temple Dark Books)

Eine faszinierend dunkle Welt, in der Wahrheit und Hoffnung fast vergessen sind Ein großer Krieg hat die Welt in zwei Teile geteilt: einen bewohnbaren und einen von Giftgasen verseuchten. Den bewohnbaren Teil schützt ein Schild, der seine Energie aus dem Rohstoff Glasit bezieht. Nur das Volk der Glaseniter kann ihn fördern. Doch der Tribut dafür ist hoch: Die Energiefelder des Schildes zwingen sie in mittelalterliche Bedingungen; im Grunde sind sie Sklaven und leiden an den vom Glasit verursachten Krankheiten und Missbildungen. Das Glasenitermädchen Ilan hat keine Deformationen für sie automatisch das Todesurteil. Daher gibt sie sich als Junge aus. Und sie hat die Gabe zu „lauschen“. Sie hört das Glasit singen und kann es bearbeiten. Diese Kunst soll sie einem der mächtigsten Männer vorführen, dem Kapitän einer Elitekampfeinheit. Da erhebt sich rundum etwas Böses, Unbekanntes und holt sich das Leben der Glaseniter. Was alles muss das mutige Mädchen bestehen?

„Was macht ihr hier?“, zischte der Wachmann und versuchte wütend den Fuß, mit dem er mich getreten hatte, auf der Erde zu säubern. „Ihr seid aus dem Ghetto abgehauen! Dafür werdet ihr hängen!“

Während mir Tessa zurück auf die Beine half, zog der Mann in der Uniform des Palatuls von Amária sein Schwert und sofort hatte ich die scharfe schwarze Spitze direkt vor meinen Augen. Ich wusste, dass er es nicht zur Verteidigung gezogen hatte. Wir konnten ihm nicht gefährlich werden. Wir waren nur Kinder. Aber er wollte sich einen ausreichenden Abstand sichern und uns warnen, dass wir nicht näher kamen. Solche Angst hatte er vor uns.

„Was erlaubt ihr euch?“, fuhr er noch zorniger fort. „Wie könnt ihr es wagen, hier zu spionieren, ihr dreckigen Bälger! Jetzt muss das Fenster richtig abgewaschen werden!“

Seine Stimme triefte vor Hass. Ich wusste, dass, wenn eine von uns auch nur eine kleine Bewegung machte, uns der Wachmann auf der Stelle durchbohren würde. Dann würden unsere Leichen verbrannt und niemand würde protestieren.

Mit weit aufgerissenen Augen verfolgte ich, wie er nach der kleinen Kurpula griff, die an seinem Hals hing, um die anderen herbeizurufen. Es blieb keine Zeit, über die Folgen nachzudenken. Ohne zu zögern hob ich blitzschnell die Hand zum Gesicht und riss mir den Schleier herunter. Tessa neben mir schluchzte erschrocken auf.

„Wir entschuldigen uns, Herr“, begann ich und bemühte mich, dass meine Stimme fest klang und nicht zitterte. Ich versuchte mich zu benehmen wie die Leute im Saal. Ich richtete mich auf und streckte die Brust heraus, obwohl ich mich kaum auf den Beinen halten konnte. Ich sah dem Wachmann in die Augen und wandte den Blick nicht ab.

Die Hand des Mannes blieb mitten in der Bewegung hängen.

„Wir sind nicht aus dem Ghetto“, fuhr ich fort, bevor mich der Mut verlassen konnte. „Wir spielen das nur. Wir hätten das nicht tun sollen, es tut uns furchtbar leid!“

Ich hörte Tessa wieder aufschluchzen. Ich hoffte, sie würde nicht zusammenbrechen und alles verraten. Wir würden hingerichtet werden. Ich würde nicht nur mein Leben riskieren, sondern auch das meiner Mutter und des Bruders. Ich wagte kaum zu atmen.

Der Mann neigte sich mir zu und seine Augen weiteten sich. Als er aber auch nach einer Minute nichts gefunden hatte, was meine Behauptung widerlegen könnte, verwandelte sich der Hass in seinem Gesicht in Erschrecken.

„Mein Gott, Kinder!“, schrie er schließlich panisch auf. „Was macht ihr für Unsinn? Ich hätte euch umbringen können! Was ist in euch gefahren? Aus welcher Familie seid ihr?“

Schon waren wir keine schmutzigen Bälger mehr. Er wollte uns nicht mehr durchbohren. Die Kurpula schaukelte wieder gehorsam an seinem Hals. Es reichte, ein reines Gesicht zu haben.

„Bitte, Herr, verraten Sie es nicht! Wir machen es nicht wieder! Das versprechen wir! Wir wollten sie nur ankommen sehen. Wir haben uns so auf sie gefreut!“ Ich winkte mit der Hand in Richtung Fenster, hinter dem gefeiert wurde und wo alle die fünfundzwanzig berühmtesten Männer des DuvalGebirges bewunderten.

„Dafür habt ihr noch genug Zeit“, rügte uns der Wächter sanft. Als ihm klar wurde, dass wir nicht die waren, für die er uns gehalten hatte, beruhigte sich sein Atem und der Körper entspannte sich. „Ab nach Hause mit euch, bevor ich es mir anders überlege!“

Er hob den Finger und zeigte weg vom Palatul. Ich zögerte nicht lange und packte Tessas Hand. Ich war überrascht, wie kalt sie war. Als würde allein das Zusammentreffen mit einem Wächter ausreichen, dass das Leben aus ihr wich. Ihre vier Finger wanden sich um mein Handgelenk und einen Augenblick später liefen wir schon durch die leeren Straßen von Amária. Glücklich, dass wir das Treffen mit dem Wächter überlebt hatten, lachten wir beide hysterisch.

„Ilan!“, keuchte Tessa neben mir. „Das war Wahnsinn! Du weißt, was passiert wäre, wenn sie gemerkt hätten, dass du ein reines Gesicht hast?“

Ich wusste das nur zu gut. Mutter erinnerte mich jeden Morgen daran, wenn ich aufwachte, und genauso jeden Abend, wenn ich schlafen ging. Sie wäre sicher für die Lüge hingerichtet worden, die sie sich vor Jahren erlaubt hatte, und ich wäre in eine der Höhlen geschickt worden.

„Ich dachte, mit uns ist es vorbei! Ein Glück, dass er mich nicht sehen wollte.“

Ja. Das war Glück, dass mein Gesicht rein war. Das war Glück, dass es weder deformiert noch irgendwie gezeichnet war davon, wer ich war. Damit war mein Glück aber auch zu Ende. Ich war als Glaseniter geboren worden. Ich war ein Niemand. Ich gehörte weder mir noch meiner Mutter, die mich geboren hatte. Ich gehörte dem Faja. Und nur von ihm hing es ab, wann und wie ich sterben würde.

Nur hatte ich heute zum ersten Mal die Fünfundzwanzig gesehen, ohne dass mir jemand seine Erlaubnis gegeben hätte. Das Gefühl des freien Willens war es wert. Genauso wie der Anblick von dem, dessentwegen ich morgen vielleicht sterben werde.

Übersetzung Raija Hauck

Pavel Bareš Meta

Pavel Bareš (1994) ist Autor fünf erfolgreicher Bücher. Er debütierte 2017 mit dem Roman Projekt Kronos [Projekt Kronos], an den er 2019 mit Kronovy děti [Die Kinder des Kronos] anknüpfte; 2021 folgte Kronův odkaz [Das Vermächtnis des Kronos]. Allerdings hat er nicht nur mit dieser erfolgreichen Trilogie auf sich aufmerksam gemacht, sondern begeisterte 2020 mit seinem Sci-fi-Thriller Meta [Meta]. 2023 erschien der Musikroman Lenochod Jimmy a jeho backup band [Faultier Jimmy und seine Backup-Band]. Bareš wendet sich mit seinen Texten vor allem an die eigene Generation, erobert sich aber nach und nach jenseits jeder genrespezifischen Schublade seinen Platz in der literarischen Szene.

Projekt Kronos

Fantasy Roman Band 1 2017 / 568 Seiten

Faultier Jimmy und seine Backup-Band Musikroman / 2023 / 455 Seiten

Sci-fi-Roman / Thriller Broschierte Ausgabe 2020

336 Seiten

Supermenschen gibt es. Superhelden nicht. Lenka lebt in einer Welt, in der immer wieder so genannte Metas auftauchen. Sie selbst ist eine heimliche Mimik, kann ihr Gesicht und Teile des Körpers ummodellieren und eine fremde Gestalt annehmen. Nur drei Menschen wissen davon. Doch dann ist da auf einmal noch jemand. Ein unbekannter Junge verfolgt Lenka, seine Bitten um ein Treffen schlagen unaufhaltsam in Psychoterror und Erpressung um. Und er ist ein Mimik, wie sie… Der Autor behandelt ernste Themen mit großer Leichtigkeit; Meta ist nicht nur Sci-fi, sondern auch ein gesellschafts-psychologischer Roman über toxische Beziehungen, sexuellen Missbrauch, Manipulation, Stalking… und eine Betrachtung über außergewöhnliche Menschen, auf die eine ratlose Gesellschaft repressiv reagiert oder sie zur Attraktion stilisiert. Vielleicht auch ein Generationenroman über die Millenials? In Sci-fi-Umfragen hat Meta gepunktet, so beim Buch des Jahres 2020 der Internetzeitung Sarden.

Foto © Josefína Rašilová

Das Entsetzen darüber, dass einer von hunderttausend Menschen Fähigkeiten hat, die allen physikalischen Gesetzen widersprechen, wurde durch das Erstaunen darüber abgelöst, dass die anderen 99.999 Normalen am Abend den Fernseher einschalten oder im Internet surfen können und sich darüber freuen, dass nach so vielen Jahrtausenden menschlicher Zivilisation gerade sie das Glück hatten, in diesen historischen Augenblick hineingeboren zu werden, in dem Wunder zu geschehen begannen. In eine Zeit, in der du einem Menschen in die Hand stechen kannst und dann zusehen, wie die Wunde direkt vor deinen Augen heilt. Und dann kannst du ihn mit genau dieser Hand auf deiner Brust unterschreiben lassen, und alles, was du dafür tun musst, ist, dir ein Ticket für den Galaabend auf dem TV-Sender Nova zu besorgen.

Ich erinnere mich an einen Abend.

Ich erinnere mich eigentlich ganz genau, es war am 25. Januar 2008, ich war elf Jahre alt, lag im Wohnzimmer auf der Couch, die Decke bis unters Kinn gezogen, mir ging es miserabel und ich starrte in die Luft vor dem Fernseher, in dem gerade Wahrheit oder Lüge lief — dieses Ding mit dem Telepathen —, und etwa zur Hälfte der Sendung kam Papa nach Hause.

Das war, als er noch bei uns wohnte.

Er lehnte sich gegen die Couch und schaute eine Weile nur schweigend in den Fernseher. Im Rückblick denke ich, dass er wohl einfach einen schweren Tag hinter sich hatte, so einen, nach dem du dir wünschst, jemand möge einfach die Luft aus dir lassen wie aus einer Luftmatratze und dich dann irgendwo in die Ecke legen. Aber damals hörte ich nur meinen geliebten Papa, wie er verärgert murmelte: „Ich mochte es lieber, als alles noch wie früher war. Als die Leute noch normal waren.“

Und mein elfjähriges Ich schluckste, warf die Decke ab, rannte mit Tränen in den Augen ins Zimmer und schloss sich ein.

Ich heulte die ganze Nacht hindurch, bis es wieder hell wurde. Weil ich genau an diesem Tag festgestellt hatte, dass ich nicht normal war.

Ich brauchte zwanzig Minuten, um mich zu beruhigen. Weitere zehn, bis ich mich endgültig überzeugt hatte, dass ich das nicht träumte. Und eine ganze Stunde im abgeschlossenen Badezimmer, bevor ich vorsichtig mit zitternden Händen mein Gesicht wieder zurück in die Form zu legen schaffte, mit der ich am Morgen aus dem Haus gegangen war.

Und als es vorbei war, reagierte ich auf die einzige Art, die mir in diesem Augenblick logisch erschien: Ich grub mich bis unters Kinn unter die Couchdecke, machte den Fernseher an und wartete, dass die Eltern nach Hause kamen und die Welt wieder einen Sinn ergab. Aber als Papa kam …

„… als die Leute noch normal waren.“

… ergab die Welt keinen.

In dieser Nacht schloss ich kein Auge. Ich durchwachte sie komplett am Rechner mit einem offenen, anonymen Fenster und versuchte alles herauszufinden, was mir helfen könnte zu verstehen, was mir gerade passiert war.

Und als es am Horizont hell zu werden begann und mein Wecker klingelte, zum Zeichen, dass ich zur Schule aufstehen musste, wusste ich, dass ich das bin, was die UN-Konvention über den juristischen Status von Metaindividuen Mimik nannte.

Ich war eine Meta.

Übersetzung Raija Hauck

Irena Hejdová Ganz gescheit kommt vor dem Fall

Marek má „strašnýho“ bráchu. Teda aspoň si to myslí, takže důvod ke rvačce a vzájemným naschválům se vždycky najde. Jednou se bráchové pošťuchují na záchodě a nedopatřením do něj spadnou. Proklouznou úzkou trubkou a ocitnou se v potrubním labyrintu. Jak je to možné? Možné je leccos. Zvlášť když je člověku šest a tři čtvrtě. Z téhle bryndy se kluci bez vaší pomoci nedostanou... Knížka pro všechny bráchy a ségry bez ohledu na věk.

Irena Hejdová (1977) schreibt Erzählungen und witzige Aktionsbücher für Kinder. Auf großes Echo stoßen ihre bei Host verlegten Bücher, zu denen die Autorin Workshops veranstaltet. Im Frühjahr 2024 erscheint, ebenfalls bei Host, ihr neues Buch Mami, pocem! [Mami, komma!].

Eine Bühnenadaption ihres Buches Nedráždi bráchu bosou nohou [Ganz gescheit kommt vor dem Fall] hat das renommierte Kindertheater Radost in Brno aufgrund des großen Erfolges bereits das zweite Jahr in seinem Repertoire. Irena Hejdová hat das Drehbuch zu einem Spielfilm geschrieben und an zahlreichen Dokumentarfilmen für das Tschechische Fernsehen mitgearbeitet.

Gebundene Ausgabe 2020

Auslandsausgaben: albanisch (Ombra GVG, 2024), lettisch (Pētergailis, 2024)

Und weg ist der Wichtl!

5+ / 2022 / 79 Seiten Mami, komma! 5+ / 2024 / 56 Seiten

Verkaufte Rechte:

Witzig und frech — das interaktive Buch garantiert eine vergnügliche Familientherapie

Erzähler der Ereignisse ist der siebenjährige Marek, dessen altkluge Stimme die Leserherzen im Sturm erobert. Seinen vierjährigen Bruder Jirka findet er „entsetzlich“, es gibt also immer Grund für einen Streit, eine Rauferei und was man sich sonst noch so zum Fleiß tut. Einmal schubsen die beiden sich auf dem Klosett, fallen versehentlich hinein und rutschen ins Labyrinth der Rohre hinab. Erwachsene Brüder könnten ihre Unstimmigkeiten auf einer gemeinsamen Bergtour oder beim Angeln klären in anderer Umgebung und sozusagen von höherer Warte. Bei den Kleinen im Buch sind es die hautnahe Ungemütlichkeit und das Ungeziefer der unterirdischen Welt, die sie dazu bringen, sich eng aneinander zu schließen.

Eine Bühnenfassung des Textes steht bereits das zweite Jahr mit großem Erfolg auf dem Spielplan des renommierten Brünner Kindertheaters Radost.

Host
Napsala
Ilustrovala
Makedonien (Avant Press)

Dienstag

Am Dienstagnachmittag fuhren wir zur Großmutter. Es war nämlich Allerseelen und da soll man zu seinen Verwandten fahren, die schon tot sind oder aber bald sterben. Oma wohnt in einer Wohnung, wo schrecklich viele alte Dinge drin sind und das Älteste ist sie. Sie hat da Blumentöpfe, Opa und Fische im Aquarium.

„Nicht an die Scheibe klopfen, die Fische erschrecken und verrecken!“, sagt Oma zum meinem Bruder und geht den Kuchen holen, weil Omas in der Küche immer einen fertigen Kuchen haben, das ist einfach so. Mein Bruder schaut sie unschuldig an, dann dreht er sich um und beginnt ans Aquarium zu klopfen. Die Fische erschrecken sich natürlich — und manche verrecken vielleicht auch davon. (Also sterben sie auch. Dann kommen sie in ein Grab und dann geht man zu Allerseelen mit Kränzen zu ihrem Grab.)

„Jiřík! Nicht an die Scheibe klopfen!“, schreit Oma entsetzt, als sie mit dem Kuchen in der Hand in der Tür steht.

„Der hier sah irgendwie schon so tot aus, da hab ich ein bisschen angeklopft, ob er vielleicht nicht einfach nur schläft“, sagt mein Bruder Minion und reißt seine Augen auf. Die Großmutter nennt sie Kulleraugen und die machen sie immer ganz weich. So wie jetzt. Sie geht zu ihm hin und streichelt über seine Rübe.

„Das ist lieb von dir, dass du dich um die Fische sorgst, aber jetzt komm Kuchen essen“, sagt sie und ich bin echt sauer. Also schreit sie Minion nicht nur nicht an, sondern streichelt ihn auch noch? Und dann gibt sie ihm Kuchen? Das Leben ist nicht fair.

Ich trete meinen Bruder dann mit Absicht unterm Tisch vors Schienbein, aber der denkt, dass es aus Versehen war und bemerkt es nicht einmal!

weiß das nicht. Und als ich ihm das gesagt hab, meinte er nur, dass wir alle einmal verrecken, und schaute dabei so trübe. Wahrscheinlich, weil gestern dieses Allerseelen war.

Ich hab ihm dann wenigstens erklärt, dass man den Schwänen keine alten Brötchen geben soll, weil sie dann furzen und die Flügel schlecht wachsen. Aber das Furzen ist echt schlimmer. Mama seufzte nur und meinte, sie gibt uns was anderes mit. Und dass sie die alten Brötchen dann für Semmelknödel nimmt. Und ob sie Dillsoße oder Tomatensoße dazu machen soll?

„Tomatensoße!“, rufe ich schnell.

„Dillsoße!“, ruft mein Bruder.

„Tomatensoße!“, rufe ich lauter.

„Dillsoße!“, ruft mein Bruder noch lauter.

„Tomatensoße, du Blödmann!“, sage ich und schubse ihn.

„Dillsoße, du Arsch!“, sagt er und schubst mich auch. Dann beginnen wir zu raufen und Mama sagt, dass sie lieber Gulasch macht und dass wir beide Pech haben.

Übersetzung Raija Hauck

Mittwoch

Am Mittwoch sagte Mama, dass sie es nicht mehr aushält mit uns und Papa eine Weile auf uns aufpassen soll. Papa murrte, er hätte furchtbar viel zu tun, aber dann gab er nach und ging mit uns Schwäne ankucken. Papa hat keine Ahnung, was er sonst mit uns machen soll, also geht er mit uns Schwäne füttern.

Die Lehrerin in der Schule hat aber gesagt, man soll keine Schwäne füttern, weil sie dann verrecken. Aber Papa

Vollständige englische Übersetzung verfügbar

Irena Hejdová Ganz gescheit kommt vor dem Fall

Verzeichnis

Textproben zu Titeln weiterer Autorinnen und Autoren des Verlags

Antonín Bajaja: Na krásné modré Dřevnici [An der schönen blauen Dřevnice], Übersetzung Julia Miesenböck, Bettina Kaibach

Tomáš Boukal: Cesta mrtvých [Weg der Toten], Übersetzung Hana Hadas

Lenka Brodecká: Hledá se hvězda [Ein Stern wird gesucht], Übersetzung Hana Hadas

Hana Kolaříková: Leopardí kožich [Ein echter Leopardenpelz], Übersetzung Christina Frankenberg

Přemysl Krejčík: Malej NY [Klein NY], Übersetzung Lena Dorn

Martina Leierová: Tohle město, tahle řeka [Diese Stadt, dieser Fluss], Übersetzung Hana Hadas

Eugen Liška: Stvoření [Das Geschöpf], Übersetzung Mirko Kraetsch

Petra Machová: Dračí město [Stadt der Drachen], Übersetzung Hana Hadas

Ivana Myšková: Bílá zvířata jsou velmi často hluchá [Weiße Tiere sind nicht selten taub], Übersetzung Doris Kouba

Daniel Petr: Sestra smrt [Schwester Tod], Übersetzung Marika Jakeš

Jan Sojka: Rodina a jiné regály [Die Familie und andere Regale], Übersetzung Hana Hadas

Alexander Staffa: Násilí [Gewalt], Übersetzung Silke Klein

Tereza Ščerbová: Krtník [Maulwi], Übersetzung Julia Miesenbock

Dita Táborská: Malinka [Malinka], Übersetzung Kathrin Janka

Übersetzung der Texte zu Verlag, Büchern, Autorinnen und Autoren: Kristina Kallert

Kontaktadresse: HOST — vydavatelství, s. r. o. Radlas 5 602 00 Brno

Tschechische Republik www.hostbrno.cz

Rechte und Lizenzen: Dana Blatná Literary Agency tel. 00420 608 748 157 e-mail: blatna@dbagency.cz www.dbagency.cz

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