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Grund, um mittels DTD wieder zurückzukehren zu den alten Idealen der Studioarbeit, die eben auch bestens präparierte und hochmotivierte Musiker vorsehen.

VÖLLIG LOSGELÖST Die jetzt erschienenen ersten drei Titel der Berliner Meister Schallplatten dokumentieren eindringlich auch die klanglichen Vorzüge der risikoreichen Direktschnitt-Technik: Das klingt alles sehr natürlich, plastisch, haptisch und „live“, völlig losgelöst von der technischen, flächigen, leicht verschleierten Anmutung moderner Digitalaufnahmen, aber auch ganz ohne das Bandrauschen alter Analogaufnahmen. Am besten gefällt das Astor Piazzolla gewidmete Tango-Programm der in London residierenden Bolívar Soloists, die mit Flöte, Geige, Cello, Bass und Klavier klassisch angehauchte Kammermusik mit südamerikanischem Temperament anreichern und sich richtig freispielen. Man wähnt sich wirklich mittendrin in diesem wärmenden, angenehmen Wohnzimmersound. Eine interkulturelle Begegnung zwischen aktuellen türkisch-arabischen Klängen und den Türkenmusiken Lullys und Beethovens gibt es auf der LP Occident & Orient, die das Leipziger Mendelssohn Kammerorchester mit dem syrischen Klarinettisten Kinan Azmeh produziert hat. Hier gibt es die unmittelbare Klangpracht des Direktschnitts auch in einer grösseren Besetzung zu erleben. Darüber hinaus offeriert Maillard noch ein Soloprogramm des finnischen Pianisten Paavali Jumppanen mit Stücken von Sibelius, Wagner und der Sonate op. 109 von Beethoven, die im grossen, hauseigenen Konzertsaal aufgenommen wurde und etwas graustichig-hallig und auch interpretatorisch zu brav klingt. Doch angesichts der überragenden Klangerlebnisse der beiden anderen Produktionen bleibt zu hoffen, dass sich in Zukunft auch einige prominente Interpreten für diese wunderbare Vintage-Technik interessieren. Die ist vom Prinzip her nicht zu toppen.

VERKEHRTE WELT Das Thema „rückwärts“ interpretiert der Stuttgarter Tonmeister Andreas Spreer nochmals radikaler. Der mit feinem Humor und noch feineren Ohren begabte Chef des audiophilen Labels Tacet produziert seine besten Scheiben ausschliesslich mit erlesenen Röhrenmikrofonen, gerne auch hochveredelt digiHome electronics

#4 2013

Paavali Jumppanen spielt Klaviermusik von Sibelius, Wagner/Liszt, Beethoven; Berliner Meister Schallplatten

Die verrückte Logik funktioniert. Und wie! Die Interpretation des Dirigenten Carlo Rizzi mag wie die Spielqualität des Netherlands Philharmonic Orchestra im oberen Mittelfeld des vielfach eingespielten Superhits liegen – die Klangqualität toppt alle analoge Konkurrenz. Klaglos folgt der Tonabnehmer der Rille, wobei er natürlich in der richtigen Laufrichtung abtastet – der Plattenspieler (bitte kein Halb- oder Vollautomat) selber darf weiterhin richtig herum drehen. Dabei entfesselt gutes Analogequipment wahrhaft irrwitzige Dynamik, jede Orchestergruppe erscheint bestens ausgeleuchtet, auch tonale Feinheiten gehen nicht verloren. Hier müssen Analogfans zugreifen. Auf der Rückseite des „oreloB“, wie ihn Spreer konsequent betitelt, ertönt übrigens die ebenfalls von innen nach aussen geschnittene Komposition La Valse vom Meister-Orchestrierer Ravel.

HELLSTE DÜSTERNIS

Bolívar Soloists – Música de Astor Piazzolla; Berliner Meister Schallplatten

tal. Aber wenn er analog aufnimmt, dann auch auf einer röhrenbestückten, bis zum letzten Heizfaden getunten alten Bandmaschine. Seinen jüngsten und in dieser Form weltweit einzigartigen Coup landete er jetzt mit einem klassischen Reisser: Maurice Ravels populärem Boléro, seit dem Film 10 – die Traumfrau auch Klassikmuffeln aufs Erotischste vertraut. Das Stück beginnt ganz leise, im dreifachen Pianissimo (ppp) – und endet nach viertelstündigem Crescendo im rauschhaften Fortefortissimo (fff). Nun eignen sich bei einer Langspielplatte, die konstant mit 33¹/3 Umdrehungen pro Minute läuft, die äusseren Abschnitte naturgemäss besser für laute Töne, da hier die Rille pro Zeiteinheit mehr Platz zur Verfügung hat. Spreer wagte es, die Nadel quasi rückwärts laufen zu lassen, und liess das Orchesterstück von innen nach aussen schneiden. Die Einlaufrille befindet sich nahe dem Label, die Auslaufrille am äusseren Rand.

Angesichts dieser Innovationen mutet der Pop-Tipp geradezu konventionell an. Doch der australische Ritter der Finsternis Nick Cave war noch nie ein Freund erfüllter Erwartungshaltungen. Mit seiner unglaublich trittsicheren Band The Bad Seeds hat auch er nun mit Push The Sky Away ein wahres Meisterwerk vorgelegt. Keine wüst losrockende Nummer, keine schwülstig schwelgende Pluster-Ballade, kein dissonant loskreischendes Avantgarde-Geschrammel stört dauerhaft die wundervoll ruhige, gerade in ihrer kargen Instrumentierung umso wirkungsvollere Atmosphäre. Natürlich sind die Texte auch diesmal keine Lachnummern, doch bei aller Düsternis oder kruden Verschrobenheit würzt Ex-Punker Cave seine sonor deklamierten Gedichte auch mit ein wenig dadaistischem Wortwitz. Was auch immer noch kommen mag – diese ist eine der Pop-Scheiben des Jahres. Cave sorgte – wie viele Musiker inzwischen – dafür, dass dieses Kunstwerk auf seinem Label Bad Seeds parallel auf CD und LP mit Voucher zum Download erscheint. Im analogen Format kommt nicht nur das kunstvoll verrätselte erotische Cover mit Gattin Susie Bick viel besser zur Geltung. Auch der Sound wirkt irgendwie heller, lichtdurchfluteter, transparenter, schlicht grossartiger als beim digitalen Pendant. Woran auch immer das liegen mag: Wer die Wahl hat, sollte zur LP greifen. Auch angesichts der exzellenten Pressqualität garantiert ohne Qual. |

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