7 minute read

5.2 Gespräch mit Luzia

Ich bereite mich auf ein flexibles und improvisiertes Gespräch vor. Aus meiner beruflichen Erfahrung im Bereich der Betreuung von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen weiss ich, dass das starre Festhalten an einem im Voraus definierten Gespächsprotokoll nicht immer zielführend ist. Flexibilität und Anpassungsvermögen kann im Umgang mit Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung in unterschiedlichsten Situationen behilflich sein. Während des Gesprächs konzentrierte ich mich nur auf die Bewohnerin. Meine Erwartungen an die Forschungsziele hatten nicht erste Priorität. Beim Gespräch verwendete ich eine einfache Sprache, kurze Sätze und ich verzichtete auf Fremdwörter.

Luzia* ist 60 Jahre alt, hat Epilepsie und eine kognitive Beeinträchtigung. Im Alltag ist sie auf viel Unterstützung angewiesen. Sie kann nicht lesen und nicht schreiben und ihr Wortschatz ist eher klein, Ihre Aussprache ist zum

Advertisement

Teil undeutlich und für Aussenstehende schwer zu verstehen. Einfache Zusammenhänge kann sie aber nachvollziehen und verstehen. Wir sitzen gemeinsam im Wohnzimmer an einem Tisch. Luzia wirkt ruhig und konzentriert. Auf meine Frage hin, ob sie wisse, was Unterstütze Kommunikation sei, antwortet sie ohne lange zu überlegen mit einem «Ja». Luzia ist aber nicht in der Lage, zu erklären, was Unterstützte Kommunikation ist. Auf diese Frage folgt ein langes Schweigen. Wahrscheinlich ist die Frage zu komplex. Ich versuche daher, meine weiteren Fragen mit Hilfe von Gesten oder Zeigen zu unterstützen.

Im Vorfeld habe ich mich bei den Betreuungspersonen erkundigt, welche Kommunikationshilfsmittel in welcher Form von Luzia angewendet werden. Hieraus entnahm ich, dass Luzia als Unterstützung der Lautsprache und zur Orientierung am häufigsten Piktogramm verwendet. In ihrer Wohngruppe existieren verschiedene Kommunikationstafeln, visualisiert mit Piktogrammen oder Fotos. Unter anderem hat jede Bewohnerin und jeder Bewohner der Wohngruppe einen persönlichen Wochenplan. Luzia zeigt mir ihren Wochenplan, welcher zum einen in Wochentage und zum anderen in Vormittage und Nachmittage unterteilt ist. Jeder Wochentag ist mit einer anderen Farbe gekennzeichnet. Die Aktivitäten sind mit sogenannten PCS (Picture Communication Symbols) gekennzeichnet.

Bezugnehmend auf den Wochenplan stelle ich Luzia konkrete und einfache Fragen zur Bedeutung der einzelnen Piktogramme. Zum Symbol eines Sofas sagt sie unverzüglich «oben bleiben», was bedeutet, dass sie auf der Wohngruppe bleiben kann. Die Wohngruppe befindet sich im Gegensatz zu den sich im Untergeschoss befindlichen Ateliers auf dem ersten Stock.

* Name geändert

Abb 38 Wochenplan von Luzia mit Picture Communication Symbols (PCS)

Gerade das Symbol für das Deco-Atelier erscheint mir aber sehr abstrakt. Die Bedeutung ergibt sich mir lediglich aus der mitangebrachten Beschriftung. Auch Luzia zeigt Mühe bei der Unterscheidung der verschiedenen Symbole für die unterschiedlichen Ateliers.

Auch das Symbol für den Begriff «Puzzle» ist sehr abstrakt gehalten. Jedoch kann Luzia das Symbol problemlos erkennen und einer Tätigkeit zuordnen. Mir ist aber bekannt, dass Luzia gerne Zeit auf der Wohngruppe verbringt und dass das Zusammensetzen von Puzzles eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen ist. Die persönliche Motivation kann die Erkennung eines Symbols verbessern.

Zusammen mit Luzia gehe ich wieder zurück ins Wohnzimmer und setzen mich mit ihr an den Tisch. Ich möchte gerne in Erfahrung bringen, ob Luzia die PCS für Gefühle erkennt. Die Piktogramme für die Gefühle «traurig» und «glücklich» sind Luzia bekannt. Die Piktogramme für «wütend», «zufrieden», und «ängstlich» kann sie aber nicht benennen.

Im Gespräch mit Luzia kann ich bei einigen Situationen feststellen, dass für sie ein Foto mit einem Gegenstand oder einer Tätigkeit einfacher erkennbar ist als das entsprechende PCS. So kann sie beispielsweise das PCS für ein Brötchen nicht erkennen. Aus dem Foto ergibt sich ihr aber sofort einen Sinn. Gleich verhält es sich mit einem Foto, auf dem Luzia am Arbeiten im Deco-Atelier ersichtlich ist. Im Gegensatz zum oben erwähnten PCS für das Deco-Atelier kann Luzia aus diesem Foto unmittelbar die Bedeutung für das Deco-Atelier ableiten.

BEZUG ZUR THEORIE

Die persönliche Motivation und das Verständnis des Nutzens einer spezifischen Kommunikationshilfe ist sehr wichtig. So schreiben S. Tetzchner und H. Martinsen, dass die Symbole auf der Grundlage ihrer allgemeinen Nützlichkeit ausgewählt werden sollen: Die wichtigsten Kriterien sind dabei die Bedürfnisse, Interessen und Wünsche der Person, die sie benutzen soll. 55 Laut S. Tetzchner und H. Martinsen haben Fotografien sowohl Vor- als auch Nachteile. So sind z.B. auf Kommunikationstafeln häufig Fotografien ersichtlich, auf denen die Bewohnerinnen und Bewohner abgebildet sind. Ort, Situation und Person sind bei der Benützung dieser Fotografie als kommunikatives Hilfsmittel jedoch nur schwer voneinander zu trennen. Als zielführender und präziser erweist es sich, ein Foto einer Bewohnerin oder eines Bewohners im Zusammenspiel mit anderen Fotos, Zeichen oder grafischen Symbolen zu verwenden, welche sinnbildlich Gegenstände oder Tätigkeiten bezeichnen. Diese Trennung der Person von der Tätigkeit oder vom Gegenstand erlaubt es zudem, mittels eines anderen Fotos, andere Personen in den Kontext zu stellen. 56 Grafische Zeichnungen zeichnen sich gegenüber Fotos darin aus, als dass sie kontrastreicher und detailärmer sind und sich so deren Bedeutung eindeutiger ergibt. 57

Abb 39 und 40 i Picture Communication Symbols (PCS)

Abb 41- 45 Picture Communication Symbols (PCS)

Abb 46 Picture Communication Symbols (PCS) Abb 47 Foto

55 Vgl. von Tetzchner, S. /

Martinsen, H. (2000),

S. 205 56 Vgl. ebda., S. 36 57 Vgl. Hallbauer, A. /

Kitzinger, A. (2016), S. 5

Für das Gespräch mit Luzia wurde mir ein iPad mit der Applikation «Snap Core First» zur Verfügung gestellt. Als ich das iPad einschalte, zeigt Paul* , ein Mitbewohner von Luzia, welcher ebenfalls im Wohnzimmer anwesend ist, grosses Interesse für das Gerät. *Name geändert

Paul ist 58 Jahre alt und hat eine kognitive Beeinträchtigung und eine angeborene Cerebralparese. Er verfügt über ein gutes situatives

Sprachverständnis aber nur über eine sehr eingeschränkte, funktionale und expressive Lautsprache. Ich lege das iPad auf den Tisch und daneben die analogen PCS. Paul zeigt rasch auf das iPad, die PCS scheinen ihn nicht zu interessieren. Er drückt wahllos Tasten und muss lachen, als eine Computerstimme wiedergegeben wird. Paul ist so sehr auf das iPad fixiert, dass er mich nicht mehr wahrnimmt.

Ich denke, dass die Kommunikation mit dem iPad für Paul zu komplex ist. Zudem wurde die Applikation «Snap Core First» noch nicht individuell an die einzelnen Bewohnerinnen und Bewohner der Wohngruppe angepasst. Das iPad wurde erst kürzlich angeschafft und dient dazu, erste Erfahrungen mit der Verwendung als Hilfsmittel zu sammeln. Mit Paul wurde bislang mit analogen PCS und Fotos gearbeitet.

Ein spontanes Gespräch mit Paul gestaltet sich schwierig. Paul ist abgelenkt durch das iPad, durch seine Magazine oder durch andere Mitbewohnerinnen und Mitbewohner. Da er aber offensichtlich Interesse an den ihm scheinbar unbekannten PCS und insbesondere am iPad zeigt, möchte ich mehr über Pauls kommunikative Fähigkeiten herausfinden. Da aber Paul weder über eine Lautsprache verfügt noch über ein Kommunikations-Hilfsmittel kommuniziert, kommt leider kein Gespräch zu Stande. Hierfür wäre eine individuelle, an Pauls Fähigkeiten angepasste Vorbereitung erforderlich gewesen.

Nach dem Gespräch mit Luzia und der Begegnung mit Paul darf ich noch am gemeinsamen Abendessen teilnehmen. Ich beobachte, dass Paul nach dem Essen aufsteht und zu einer Tafel mit verschiedenen, für alltägliche Tätigkeiten verwendete PCS geht, die hinter seinem Sitzplatz an der Wand hängt. Paul zeigt auf das PCS, welches einen Fernseher zeigt. Ich frage ihn, ob er Fernsehen möchte, was Paul mit einem Kopfnicken bestätigt. Mir ist bekannt, dass sich Paul nach dem Abendessen gerne die Tagesschau (eine abendliche Nachrichtensendung) ansieht. Um seine Absichten zu verdeutlichen, verwendet er aber anstelle des PCS meist eine Körpereigene Kommunikationssprache und zeigt dann auf den Fernseher oder mit dem Finger auf sein Handgelenk (wo man die Uhr trägt). Ich kann mir daher vorstellen, dass mein Gespräch mit seiner Mitbewohnerin und sein Interesse an den Materialien der Unterstützten Kommunikation auf dem Tisch die für ihn eher atypische Handlung des Zeigens auf das PCS für den Fernseher ausgelöst hat. Es ist anzunehmen, dass Paul für das Piktogramm für den Fernseher spontan Verständnis entwickelt hat. Nützlich hierbei war gewiss, dass die Tafel mit den PCS für alltägliche Tätigkeiten prominent im Wohnzimmer und jederzeit zur Verfügung stehen.

Paul kann sich zwar sehr gut mit Körpereigenen Kommunikationssprache ausdrücken. Eine Kombination mit den Hilfsmitteln der Unterstützen Kommunikation ermöglicht es ihm aber, auch mit aussenstehenden Leuten zu kommunizieren, welche seine Mimik und Gestik nicht sofort verstehen.

BEZUG ZUR THEORIE

Gemäss Castañeda, Fröhlich und Waigand sollte Unterstützte Kommunikation überall zugänglich sein oder zur Verfügung gestellt werden. Sie soll auch in Alltagssituation stattfinden können, um zu ermöglichen, den Umgang und die Bedeutung zu erlernen. 58

58 Vgl. Castañeda, C. /

Fröhlich, N. / Waigand,

M. (2017), S.16

Abb 48 Tafel mit Alltags Picture Communication Symbols (PCS) Abb 49 Tischset mit Picture Communication Symbols (PCS), Paul kann zeigen was er zum Frühstück essen möchte.

This article is from: