Für jeden der 42 Kilometer eine Kolumne

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Ein Berner Krimi zu einem aktuellen Thema Die Berner Autorin und Journalistin Christine Brand bringt in ihrem vierten Kriminalroman die Hauptfigur Milla Nova in Lebensgefahr. NICOLE JEGERLEHNER

«Du weisst genau, dass du mich nicht anrufen sollst.» Zwei Männer teilen ein düsteres Geheimnis – und wenige Tage nach diesem Telefonat sind beide tot. Milla Nova, die neugierige und dickköpfige Reporterin des Schweizer Fernsehens, stolpert in Christine Brands viertem Kriminalroman mitten in das Geschehen hinein. Sie versucht herauszufinden, warum ein populärer Nationalrat auf einer Velofahrt mit einem über die Strasse gespannten Drahtseil vom Fahrrad geholt und getötet wird – und stösst auf einen Fall von Kinderpornografie. Gleichzeitig ermittelt ihr Freund Sandro Bandini, der nun bei der Bundespolizei arbeitet, in diesem Fall – und einmal mehr kommen sich Milla Novas journalistische Neugier und ihre Loyalität zu ihrem Freund in die Quere. Auch bei der Chefin der Berner Kriminalpolizei, Lisa Kunz, läuft in diesem Buch nichts mehr rund: Ihr Mann hat Suizid begangen. Sie flüchtet sich in die Arbeit – und wird dann vom Fall abgezogen. Diese beiden Erzählstränge werden ergänzt durch den Monolog einer Ich-Erzählerin: Karo sitzt seit einem Unfall im Rollstuhl. Ihr Hass auf den Unfallverursacher, der einfach so davonkam, ist im Verlauf der Jahre immer grösser geworden.

Gefährliche Alleingänge

Die Sympathien verteilen sich in diesem Krimi auf mehrere Protagonistinnen und Protagonisten – und das ist gut so, denn manchmal strapaziert Milla Nova mit ihren gefährlichen Alleingängen nicht nur die Nerven ihres Freundes, sondern auch die der Leserschaft. «Stiller Hass» ist das bisher beste Buch der Berner Journalistin und Autorin Christine Brand: Sie ist weggekommen von ihrer früheren Detailversessenheit, hin zu einer flüssigen Beschreibung. Zugleich erkennen Ortskundige immer noch Berner Strassen, Beizen und Dörfer. Mit ihrer Sprache und klug gebauten Spannungsbögen treibt Brand das Geschehen voran – und hält die Intensität bis zum Schluss aufrecht. Christine Brand: «Stiller Hass». Kriminalroman. Landverlag, Langnau 2015.

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Dienstag, 12. Mai 2015 Freiburger Nachrichten

Island wird für drei Frauen aus Deutschland zur neuen Heimat Drei junge Frauen entfliehen 1949 dem Nachkriegsmief Deutschlands, um in Island ein neues Leben aufzubauen.

mehr nach Deutschland zurück. Als unsteter Mensch ist sie hin- und hergerissen zwischen ihrem Mann und einer Geliebten. Immer jedoch behält sie ihren Schalk und eine unbändige Lebensfreude.

Ein dichter Roman

Für die Dokumentation «Frauen, Fische, Fjorde» – das Buch erschien 2014 – hat die Autorin Anne Siegel in Island mehrere Personen interviewt. Die Lebensgeschichten zweier alter Frauen haben sie später animiert, diesen dichten Roman zu schreiben. Es ist ihr bestens gelungen, drei Frauenschicksale auf eindrückliche Art zu verknüpfen und zugleich politische Geschehnisse des Inselstaates in früheren und heutigen Jahren informativ anzugehen.

GIOVANNA RIOLO

Christa flieht vor den Schrecken der Nazivergangenheit, in der ihr Vater eine treibende Kraft war. Sie will lieber in der Nähe ihres Verlobten sein, der kurz vor Kriegsende in einem U-Boot vor der Küste Islands bei einem Angriff der Alliierten ums Leben kam. Die adelige Johanna hat im Krieg alles verloren, was ihr lieb war. In Lübeck findet sie bei armen Verwandten Unterschlupf. Auf dem verlorenen Gut in Pommern hat sie gelernt zuzupacken, und so traut sie sich, ein Leben als Bauersfrau in der Fremde zu. Paula hält nichts in Deutschland. Der 18-Jährigen kommt das Leben im NachkriegsDeutschland erbärmlich vor, ohne jegliche Zukunftsperspektive. Ein Neuanfang ist für sie kein Problem, denn als ehemalige Varietékünstlerin kommt sie mit Situationen klar, die «anständige» Mädchen gewöhnlich ablehnen. In Island fehlen Frauen, in Deutschland herrscht Frauenüberschuss. So kommt es, dass die drei gemeinsam mit über 300 deutschen Frauen dem Ruf nach Arbeitskräften der isländischen Regierung folgen. Auf der rauen Überfahrt lernen sie sich kennen. Auf der Insel gehen sie verschiedene Wege, verlieren sich jedoch nie aus den Augen. Island wird für Christa, Johanna und Paula zu einer neuen Heimat, die ihnen nach den Kriegswirren Sicherheit bietet.

Anne Siegel: «NordBräute», München: 2015 Cindigo. Giovanna Riolo ist ehemalige Leiterin der Deutschen Bibliothek Freiburg.

Zur Person Autorin und Dokumentarfilmerin

2008 steht Island vor dem finanziellen Ruin, der Bankencrash reisst eine ganze Nation in den Abgrund. Besonders die Immobilienbranche ist davon betroffen. Christa wurde in all den Jahren mit viel Geschick und Härte zur erfolgreichen Immobilienhändlerin. An ihrem 90-jährigen Geburtstag blickt sie auf ihr Leben zurück. Sie will endlich reinen Tisch machen und klärt ihre Familie über die Nazivergangenheit ihrer Eltern auf. Ihre Kinder sind entsetzt, nur Jón, ihr Enkel, hat Verständnis für ihr allzu lange gehütetes Geheimnis.

Johanna lebt im Norden und wurde bei den Isländern bekannt als «Gräfin des Gletschers». Sie geniesst das Landleben und ihre kleine Familie, setzt sich für den Tourismus ein und bewirtschaftet den kleinen Bauernhof beim Gletscher äusserst erfolgreich. Erst im Jahr der wirtschaftlichen Krise muss sie mit Entsetzen feststellen, dass ihre einzige Tochter als Bankerin aktiv an den kriminellen Machenschaften im Land beteiligt war. Paula verliebt sich kurz nach der Ankunft in Island in einen jungen Mann und will nie

Anne Siegel wurde in Norddeutschland geboren und wuchs dort auf. Nach dem Studium der Volkswirtschaft, Sozialwissenschaften und Psychologie lebte sie in Dänemark, Island, Nordafrika, Israel, den Niederlanden, England und in den USA. Sie arbeitete als Dozentin und Werbetexterin, wurde Ghostwriterin für Politiker und Kabarettistinnen und ComedyAutorin. Heute lebt sie in Köln und San Francisco und arbeitet als Buchautorin, Radio- und TV-Journalistin und Hörspielautorin in Deutschland und als Drehbuchautorin und Dokumentarfilmerin für US-Produktionen. im

Für jeden der 42 Kilometer eine Kolumne Ihr Mann hat sich für den Berlin-Marathon angemeldet – in 42 kurzen Kolumnen beschreibt die 29-jährige Jrene Rolli ihre Gedanken dazu. Es ist das erste Buch der ehemaligen Düdingerin. Während sich Jrene Rollis Mann auf seinen ersten Marathon vorbereitete, tat die junge Autorin dies ebenfalls, jedoch auf ihre Weise: Für jeden der 42 Kilometer, die ihm in Berlin bevorstanden, hat die Kulturmanagerin und PR-Redakteurin eine Kolumne mit ihren persönlichen Gedanken verfasst und auf einem Blog veröffentlicht. Dass daraus ein Buch entstehen würde, war nicht geplant. «Es ergab sich erst, als ich immer mehr positive Rückmeldungen auf den Blog erhielt und ich mich gegen Ende fragte, was nun mit den Geschichten passiert», sagt Jrene Rolli, die in Düdingen aufgewachsen ist und heute zwischen Bern und Zürich pendelt. «Hilfe, mein Mann läuft» ist ein «nicht ganz ernst gemeinter Hilferuf», in dem sich wohl viele Leidensgenossinnen wiedererkennen. ak Jrene Rolli: «Hilfe, mein Mann läuft», Verlag buch & netz.

Ein Junge im Kongo

Erwachsensein ist nicht langweilig

In fantasievoller Sprache erzählt Alain Mabanckou die Entwicklungs- und Familiengeschichte eines Jungen.

Nie erwachsen werden wie Peter Pan? Nein, wir werden alle älter und sollten die Erfahrungen nutzen, die wir dabei machen, findet die Autorin Susan Neiman.

BARBARA SCHWALLER-AEBISCHER

Pointe-Noire (Republik Kongo) und Michel Kengué haben vieles gemeinsam. Die Stadt am Meer strebt auf und versinkt gleichzeitig fast im Chaos. Michel ist zwar ein mittelmässiger, aber sehr fleissiger Schüler. Mit seinem Adoptiv-Vater Roger hört er im Radio immer «Die Stimme Amerikas». Doch die Nachrichten über den Schah von Persien, die Roten Khmer oder Idi Amin verwirren ihn oft. Genauso verwirrend ist sein Leben. Seine Freundin Caroline himmelt ihn zuerst an, dann will sie nichts mehr mit ihm zu tun haben. Zudem ist da noch Onkel René. Er unterstützt seine Mutter Pauline, allerdings mit Hintergedanken. Er ist Mitglied der kongolesischen Partei der Arbeit und predigt kommunistische Glaubenssätze, tut aber alles, um Alleinerbe des Besitzes zu werden. Der Alltag des Jungen, dessen Geschichte Alain Mabanckou fantasievoll erzählt, ist geprägt von Ahnenkult, kolonialer Vergangenheit und Hoffnung. Die Geschichte ist

Ende der 1970er-Jahre angesiedelt. Der Autor erzählt aus der Sicht des jungen Michel und genau dieser Blick erlaubt ihm, die kleine Welt in PointeNoire und das Weltgeschehen messerscharf, aber mit viel Augenzwinkern und manchmal naiv einfach zu erklären. Ein besonderes Lesevergnügen. Alain Mabanckou: «Morgen werde ich zwanzig», Verlag Liebeskind, 2015. Barbara Schwaller-Aebischer ist Mitarbeiterin der Bibliothek Tafers.

ALDO FASEL

Warum soll man sich nicht wie 50, 60 oder 70 fühlen, wenn man 50-, 60- oder 70-jährig ist? Es ist offensichtlich so, dass heute nur wenige erwachsen oder gar alt werden wollen. Geradezu lächerlich wirkt es, wenn Frauen und Männer, der Adoleszenz schon ein Weilchen entwachsen, sich so sehr anstrengen, nicht nur jung auszusehen, sondern sich auch wie Mädchen oder Jünglinge benehmen, weil sie denken, das sei attraktiv. Doch es führt kein Weg daran vorbei: Wer nicht alt werden will, muss jung sterben! Susan Neiman geht in ihrem Buch der Frage nach, warum sich so viele Menschen dagegen wehren, erwachsen zu werden. Erwachsenwerden im Sinne von nicht mehr kindlich oder jugendlich sein. Weil es uns an Mut zur Mündigkeit fehle, meinten alle, Jungsein mache Spass, Erwachsensein sei langweilig. Sie gibt zu bedenken, dass die Gesellschaft alles dafür tue, um uns am Erwachsenwerden zu hindern. Insbesondere autoritäre Re-

gime hätten Interesse daran, weil sie unmündige Bürger einfacher gängeln könnten. In demokratischen Gesellschaften funktioniere dieser Mechanismus viel subtiler. Dass gerade Philosophen wie Kant und Rousseau uns auf dem Weg zum Erwachsenbzw. Älterwerden gute Ratschläge geben können, hat damit zu tun, dass sie sich ihr ganzes Leben lang Gedanken zu diesem Thema gemacht ha-

ben. Worin besteht nun aber die philosophische Ermunterung, wirklich erwachsen zu werden? Für Neiman ist Erwachsenwerden ein subversives Ideal, das nie ganz erreicht werden kann. Nach ihm zu streben ist aber durchaus lohnenswert. Es geht darum, wirklich mündig zu werden, oder um es mit Kant zu sagen, den Mut zu entwickeln, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen. Der Status Erwachsensein – nicht unbedingt identisch mit Volljährigkeit – bedeutet, dass man viele Erfahrungen gemacht hat und die Urteilskraft dadurch subtiler geworden ist, dass man freier wird, weniger Zwängen ausgesetzt ist, seine Meinung klarer formulieren darf und eine grössere Souveränität besitzt, die es einem erlaubt, gelassener auf allerlei gesellschaftliche Erwartungen und Mainstream-Vorgaben zu reagieren. Susan Neiman: «Warum erwachsen werden? Eine philosophische Ermutigung», Berlin, Hanser, 2015 (übersetzt von Michael Bischoff) Aldo Fasel ist Leiter der Volksbibliothek Plaffeien-Oberschrot-Zumholz.


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