Human Resources Manager "Intelligenz"

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INTELLIGENZ

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UNTERNEHMENSGRUPPE

Schöpfergeist

Welches Bild würde wohl eine künstli che Intelligenz zu unserem aktuellen Titelthema kreieren? Diese Frage stellte sich unser Art Director Marcel Franke, als er sich an die Covergestaltung dieser Ausgabe machte. Er tippte den Begriff „Intelligenz“ in verschiedene Artificial-In telligence-Generatoren und heraus kam unter anderem das Bild eines Gehirns. Das war wenig verblüffend. Die Idee musste also doch von einem Menschen kommen. Dement sprechend fütterte unser Grafiker die künstliche Intelligenz mit seiner ganz persönlichen Vorstellung von Intelligenz als ein wildes, rätselhaftes Gebiet. Er gab ein: „Weird animals crawling around in a fantasy landscape.“ Das Ergebnis, das der Generator erstellt hat, sehen Sie auf dem Titelblatt. Es illustriert, dass der digitale Fortschritt dem menschlichen Schöpfergeist zuweilen unterlegen ist.

Intelligenz ist ein abstraktes Konzept und die Forschung beißt sich seit Langem die Zähne an einer Definition aus. Relativer Konsens herrscht über folgende Verkürzung: Es geht um die kognitive Fähigkeit, aus Erfahrungen zu ler

nen, Probleme zu lösen und sich flexibel an neue Situatio nen anpassen zu können.

Unternehmen suchen nun die klügsten Köpfe, aber wol len gleichzeitig auch die motiviertesten, kompetentesten und natürlich kreativsten Talente finden. Wie lässt sich die ses Bündel an Ansprüchen am besten abfragen und tes ten? Lässt sich überhaupt eine Aussage über das künftige Potenzial einer Person treffen? Wir haben nachgefragt, bei den Recruiting-Verantwortlichen großer Tech-Konzerne wie Google und SAP, bei Diagnostik-Experten, Praktikerinnen und auch beim Geheimdienst, international Secret Intelli gence Service genannt. Fest steht: Für gelungene Auswahl prozesse braucht es psychologisch versierte und kommu nikationsstarke HR-Profis, denn Intelligenz ist mehr als das, was ein IQ-Test messen kann.

Der britische Astrophysiker Stephen Hawking sagte ein mal, das Einzige, was die Menschheit vor der Dummheit retten könne, wäre Empathie. Es gibt dafür noch ein schö neres, in Vergessenheit geratenes Wort: Herzensbildung.

Wir wünschen Ihnen eine erkenntnisreiche Lektüre!

Das sollten Sie lesen:

Künstliche Intelligenz

Was HR im Umgang mit KI beachten muss

Seite 46

Secret Intelligence Service

Wie rekrutieren eigentlich Geheimdienste?

Seite 34

Start-up versus Konzern

Wie kann eine Zusammen arbeit gelingen?

Seite 60

Coverbild: Marcel Franke via www.wombo.art; diese Seite: Mirella Frangella Photography
EDITORIAL 3oktober / november 2022

Sie wuchs mit Hartz IV auf, bestand später ein Masterstudium mit Auszeichnung – heute hilft Natalya Nepomnyashcha Menschen aus finanz schwachen Familien, sich ein Netzwerk aufzubauen.

Ein Porträt

3 Editorial

DEBATTE AKTUELL

6 Arbeitszeitgesetz

Wo gerät die Zeiterfassung an Grenzen?

Von Senta Gekeler

AKTUELLES

10 Die Zukunft der Arbeit

Die Ausstellung Landscapes of Labour hat eröffnet. Ein Besuch

Von Charleen Rethmeyer

13 Gut gewappnet

Eine Zukunftsforscherin über den Umgang mit Ungewissheit Von Jasmin Nimmrich

14 Meine Arbeitswelt

Antonia Götsch, Chefredakteurin Harvard Business Manager

17 Kopf des Monats

Khadija Ben Hammada wird CHRO beim Technologieunter nehmen Merck

19 Schnappschuss

MEINUNG

20 Die Generation Z und Führung

Ein Impuls

Von Annahita Esmailzadeh

SCHWERPUNKT: INTELLIGENZ

24 Was ist Intelligenz?

Unser Auftaktessay

Von Anne Hünninghaus

30 Intelligenztests

Wo hört Intelligenz auf und fängt Persönlichkeit an?

Von Sarah Sommer

34 Geheimmission?

Wie rekrutieren eigentlich Geheimdienste, international auch Secret Intelligence Service genannt?

Von Mirjam Stegherr

38 Crème de la Crème

Wie finden Tech-Giganten die klügsten Köpfe?

Von Anna Friedrich

42 Extrem intelligent Nicole Gerecht über den Umgang mit Hochbegabten

Von Petra Walther

46 Mensch vor Maschine

Was HR im Umgang mit künst licher Intelligenz beachten muss Von Petra Walther

Antonia Götsch ist Chefredakteurin des Wirtschaftsmagazins Harvard Business Manager. Die perfekte Zeitmanagement Methode hat sie noch nicht gefunden. Für Herzensprojekte schafft sie sich jedoch immer Freiräume.

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Fotos: Urban Zintel; Alexander Hagmann; picture alliance / Jochen Tack; picture alliance / PictureLux / The Hollywood Archive; Deutscher Lehrerverband

50 Die Vorkämpferin

Die Gründerin von Netzwerk Chancen, Natalya Nepomnyash cha, im Porträt

Von Sven Lechtleitner

56 Führen ohne Besserwisserei

Was Führungskräfte vom Philo sophen Sokrates lernen können Von Mirjam Stegherr

IM FOKUS: START-UPS

60 Groß und klein

Wie gelingt die Zusammenarbeit von Start-ups und Konzernen?

Von Sven Lechtleitner

ANALYSE

68 Gefahr der Vereinnahmung

Was tun, wenn Arbeitgeber auf mehr zugreifen, als ihnen zu steht?

Von Kai Matthiesen und Judith Muster

Der Start-up-Boom der vergangenen Jahre brachte einige Innovationen hervor. Wie profitiert HR davon?

PRAXIS

72 Außergewöhnliche Momente

Die Highlights des Personal managementkongresses 2022

Von Senta Gekeler

74 Recruiting mit kleinem Budget

Wie kann es gelingen?

Von Stefan Scheller

86 Reingeschaut

Ausgewählte Neuerscheinungen aus dem Bücherherbst

88 Sieben Gedanken Publizistin Alexandra

Hildebrandt über Intuition im Management

RECHT

90 Aktuelle Urteile

92 Essay

Mindestlohn und Inflation: Es braucht kreative Lösungen Von Christoph Seidler

94 Impressum

VERBAND 96 Editorial 97 BPM-Stellungnahme zur Chancenkarte

BPM-Stellungnahme zum Arbeitszeitschutz 100 Rückblick Personalmanage mentkongress 104 Studie Remote Leadership

Auf der Suche nach 007: Geheimdienste setzen im Wettbewerb um die besten Kräf te zunehmend auf Transparenz.

78 Auf ins fiktive Universum Wie lassen sich Meetings im Metaverse gestalten?

Von Jörn Mecher

81 Filmrezension

Die spanische Komödie Der perfekte Chef

Von Jasmin Nimmrich

82 Hingehört

Der Podcast Connecting HR & Talent von Dominik Becker und Manuel Rau, Mitgründer eines Start-ups für Recruitingsoftware

84 Rezension

Die große Arbeiterlosigkeit von Stepstone-Chef Sebastian Dettmers

Von Anne Hünninghaus

LETZTE SEITE

106 Fragebogen

Heinz-Peter Meidinger, Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, über Schwächen und Stärken des Schulsystems Von Jasmin Nimmrich

5oktober / november 2022
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Zwischen Arbeitsschutz und Vertrauen

Arbeitgeber sind verpflichtet, ihren Mitarbeitenden ein Arbeitszeit erfassungssystem zur Verfügung zu stellen. In welchen Berufen braucht es das wirklich und wo gerät die Zeiterfassung an ihre Grenzen?

Ein Interview von Senta Gekeler

Felix Blum

ist Leiter des Bereichs Organisationsentwicklung und Personal und Mitglied der Geschäftsleitung bei der Spiegel Gruppe. Der promovierte Rechtswissenschaftler leitet mit Gernot Brenscheidt die Fachgruppe Arbeitsrecht beim Bundesverband der Personalmanager*innen.

www.humanresourcesmanager.de DEBATTE AKTUELL ARBEITSZEITERFASSUNG 6

Die Gesetzeslage

Der Europäische Gerichtshof hatte am 14. Mai 2019 entschieden, dass die Mitglied staaten Unternehmen verpflichten müssen, ein objektives, zugängliches und verläss liches System zur Erfassung der täglich geleisteten Arbeitszeit einzurichten. Diese Vorgabe hat der Gesetzgeber in Deutschland bisher noch nicht umgesetzt; es werden oft nur Überstunden und Sonntagsarbeit erfasst. Erneute Aufmerksamkeit bekam das Thema durch eine Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 13. September 2022. Diese besagt, dass laut einer europarechtskonformen Auslegung des Arbeits schutzgesetzes in allen Betrieben in Deutschland bereits eine Pflicht zur Arbeitszei terfassung besteht.

Herr Blum, das Bundesarbeits gericht hat kürzlich in einem Beschluss festgestellt, dass in Deutschland eine Pflicht zur Arbeitszeiterfassung besteht. Ist das überhaupt sinnvoll?

Es ist richtig, dass Arbeitgeber ein System haben sollten, damit sie im Blick behalten, ob sie ihre Belegschaft in gesundheitsbelastender Weise beschäftigen und ob sie die Arbeits zeitgesetze einhalten. Am meisten nutzt die Zeiterfassung den Men schen in Unternehmen mit schlech ter Arbeitszeitkultur. Damit ist der Beschluss Ausdruck eines modernen Verständnisses von gesundheitsbe wusstem Arbeiten. Er birgt allerdings auch Risiken.

Denken Sie dabei an das Szenario, dass die Menschen vermehrt ins Büro zurückgeholt werden?

Das vielleicht weniger, denn Arbeits zeit lässt sich auch zu Hause erfas sen. Es gibt viele digitale Methoden als Alternative zur klassischen Stempel uhr und das Bundesarbeitsgericht gibt in der Pressemitteilung auch keine Vorgabe zur Arbeitszeitdokumen

tation. Sie kann in einer App, einer Tabelle, einem komplexen integrier ten System oder meinetwegen auch auf einem Bierdeckel stattfinden. Das Risiko ist eher, dass Freiheit, Flexibili tät und Vertrauen verloren gehen.

Basieren die Methoden zur Arbeitszeiterfassung nicht ohne hin auf Vertrauen? Arbeitgeber können schließlich nicht kontrol lieren, was ihre Mitarbeitenden im Homeoffice machen, während sie digital eingestempelt sind.

Ja, der Arbeitgeber muss vertrauen, dass die Beschäftigten verantwor tungsvoll mit ihrer Arbeitszeit umge hen. In gewisser Weise ist das auch im Büro schon so. Der Arbeitgeber ver traut darauf, dass Kontrolle unnö tig ist, sofern die Arbeit erledigt wird. Dieses Vertrauen ist wertvoll. Mit einer Zeiterfassung erhalten die Beschäf tigten einen aussagekräftigen Nach weis, während die Arbeitgeber wei terhin vertrauen müssen, dass sie ihre Arbeitszeit korrekt erfassen. Wenn es schlecht läuft, werden manche Arbeit geber den Eindruck haben, sie müss ten die Balance anderweitig wieder

herstellen, zum Beispiel durch eng maschige Führung oder ausgeprägte Überprüfung. Gerade in der Wissens arbeit, in der Freiheit und Remote Work geschätzt werden, wird der Markt viel entscheiden.

Inwiefern?

Viele Menschen werden sich schnell nach einem neuen Arbeitgeber umse hen, wenn sie sich zu stark kontrol liert fühlen. Aber in der Wissensarbeit braucht es auch nicht unbedingt den Schutz durch eine Überwachung der Arbeitszeit.

Hier ist ja die Grenze zwischen Arbeitszeit und Freizeit sowieso fließend.

Die aktuelle Grenzziehung bei der Arbeitszeit kommt tatsächlich aus einer Zeit der Produktionsarbeit am Fließband. Alles, was im Entferntes ten auf Veranlassung des Arbeitge bers geschieht, ist bereits Arbeits zeit, zum Beispiel die Zeit, in der sich eine Person in der Umkleidekabine ihre Dienstkleidung anzieht. Solche kleinteiligen Differenzierungen sind nicht alle falsch, aber zumindest im Bereich der Wissens- und Büroarbeit

DEBATTE AKTUELL 7oktober / november 2022 Foto: Der Spiegel / Johannes Arlt

Ein steiniger Weg

Die Ausstellung Landscapes of Labour in Düsseldorf verwebt die Folgen einer globalisierten Arbeitswelt mit drängenden Zukunftsfragen. Wie die Zukunft der Arbeit genau aussieht, bleibt dabei unbeantwortet. Die Ausstellung legt jedoch als Potpourri offen, was sich für eine lebenswerte und gerechte Arbeitswelt ändern muss.

www.humanresourcesmanager.de AKTUELLES ZUKUNFT DER ARBEIT 10
Mad Rush Extended (2022) von Ana Alenso thematisiert die umweltverschmutzende Goldförderung für notwendige Bestandteile von Smartphones und Laptops.

Ohrenbetäubende Geräusche, die an eine Baustelle erinnern, hallen pau senlos durch die Düsseldorfer Ausstel lungshallen der Arthena Foundation. Dreckiges Wasser läuft von den Wän den und überall rotieren Maschinen. Inmitten dieser kraftvollen Installa tion fällt schnell auf: Der Mensch fehlt.

Deshalb geht es in den insge samt zehn künstlerischen Positionen

immer darum, menschliche Arbeits kraft wieder sichtbar zu machen. Denn diese verschwindet heutzu tage hinter dem Schleier der Platt formarbeit und dem Vertrieb digita ler Produkte. Doch es geht der Kura torin Julia Höner noch um so viel mehr: nämlich um Fragen nach Iden tität und nach Verantwortung. Arbeit prägt schließlich die Familienbio

grafien. Die intimen Fotografien von LaToya Ruby Frazier spiegeln die wirt schaftlichen und sozialen Folgen des Untergangs der Schwerindustrie sowie die gesundheitlichen Auswirkungen der Stahlwerksarbeit wider. Wie weit geht die Verantwortung eines Arbeit gebers gegenüber seinen Beschäftig ten? Was passiert mit den Menschen, wenn ihre Schaffensorte wegbrechen?

Verschwindet ein Arbeitsort, dürfen die Menschen nicht zurückgelassen werden. Sie brauchen neue Perspek tiven, sonst können Armut, Verzweif lung und Krankheit drohen.

Die fragmentierte Videoinstalla tion Parts-wholes (2016) von Mela nie Gilligan zeigt die kräftezehren den Arbeitsrealitäten zweier Frauen. Anhand des rastlosen Arbeitsalltags einer Uber-Fahrerin und den langen Pendelstrecken einer Verlagsmitarbei terin wird deutlich: Mobilität bestimmt unseren Zugang zur Erwerbstätigkeit. Es braucht eine schnelle Anbindung an die Ballungszentren.

Außerdem wird die Rolle von künst licher Intelligenz in unserer Arbeits welt thematisiert und hinterfragt.

11oktober / november 2022 Fotos: Achim Kukulies, Düsseldorf; LaToya Ruby
Frazier
/ HEREZ
Collection; Allan Sekula LLC/Michel Rein, Paris / Brüssel. In der Reihe The Notion of Family (2001-2014) dokumentiert LaToya Ruby Frazier die Folgen der Stahlkrise für ihre Familie in den USA. Allan Sekula gibt Arbeitern eines Luftfahrtwerks in seiner Fotoreihe von 1972 ein Gesicht.

Doch statt sich auf die wenig originelle Angst vor der Übernahme der Robo ter und der Ersetzung des Menschen zu beschränken, verwendet Eli Cor tinãs in ihrer Videoarbeit Walls Have Feelings (2019) Roboter als eine Art Parabel. So können die durch künst liche Intelligenz gesteuerten Puppen

nach ihrem vollbrachten Arbeitsein satz schnell im Müll entsorgt wer den, um einer neuen Generation am Arbeitsmarkt Platz zu machen. Cor tinãs zeigt aber auch: Arbeit ist nicht nur körperliche Anstrengung und notwendiges Übel, um Rechnungen zu begleichen, sondern auch Leiden

schaft und Sinnsuche. Und so lässt sie die Besucherinnen und Besucher mit einer Gänsehaut zurück, als eine per sonifizierte künstliche Intelligenz zu einem Mann in einem Interview sagt: „Ich würde gern mehr über das Glück lichsein erfahren.“

Die Ausstellung wird bis zum 8. Januar 2023 im Kai 10 / Arthena Foundation gezeigt. Der Eintritt ist kostenlos. Weitere Impressionen finden Sie in einer Online-Galerie auf unserer Website.

www.humanresourcesmanager.de AKTUELLES ZUKUNFT DER ARBEIT 12
Foto: Achim Kukulies, Düsseldorf. In Melanie Gilligans Videoinstallation wird auf 24 Einzelbildschirmen der rastlose Arbeitsalltag zweier Frauen gezeigt.

Andrea Nahles sieht die Transformationsprozesse, die den Arbeitsmarkt prägen, als He rausforderung. Die ehemalige Bundesministerin für Arbeit und Soziales ist seit dem 1. August Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit und erklärte in ihrer virtuellen Keynote auf dem Personalmanagementkongress in Berlin: „Damit die Transformation nachhaltig gestaltet werden kann, sind noch größere Anstrengungen bei Schul- und Aus bildung sowie nachhaltiger Qualifizierung Beschäftigter und Arbeitsloser erforderlich.“ Sie betont zudem die Wichtigkeit der betrieblichen Qualifizierung und Verantwortung des Personalmanagements. Kurz zuvor hatte sie auf der Pressekonferenz zu den Arbeitsmarkt zahlen anlässlich des 32. Jahrestages der deutschen Wiedervereinigung über die Gehälter in Ost- und Westdeutschland berichtet. Noch liegen diese in den neuen Bundesländern unter denen im Rest der Republik. Der Bundesagentur für Arbeit zufolge beträgt das Brut tomonatsgehalt im Osten 3.007 Euro. Im Westen liegt der Median bei 3.626 Euro. Zudem fordert der Beauftragte der Bundesregierung für Ostdeutschland, Carsten Schneider, im Bericht „Ostdeutschland. Ein neuer Blick“ ein Ende des Lohndumpings im Osten des Lan des. Dann würden in allen Bundesländern gleiche Anreize zum Beginn des Erwerbslebens geschaffen sein. Dafür seien neue Perspektiven nötig. Die neuen Bundesländer dürfen nicht ausschließlich im Wettbewerb mit dem Rest des Landes gesehen werden, sondern müssten auch Erfolge feiern dürfen, wie zum Beispiel das Thüringer Optical Valley, ein Nährboden für Start-ups in der optischen Industrie. In ihrer Pressemitteilung zum Tag der Deutschen Einheit stellt die Bundesagentur immerhin fest: Die Unterschiede zwischen Ost und West seien zwar eindeutig, sie werden jedoch von Jahr zu Jahr geringer. Bleibt zu hoffen, dass bis zur Einheit des deutschen Arbeitsmarktes keine weiteren 32 Jahre vergehen müssen. (jnm)

19oktober / november 2022 SCHNAPPSCHUSS
Foto: Laurin Schmid

Der Berliner Künstler Roman Lipski lässt in seinen Werken Wissenschaft und Kunst zusammenspielen: Mithilfe einer künstlichen Intelligenz und Quantencomputern erschafft er Neuinterpretationen seiner eigenen künstlerischen Fähigkeiten.

24 www.humanresourcesmanager.de TITEL INTELLIGENZ

Keine Macht dem Zahlenfetisch

Um herauszufinden, wie intelligent Menschen sind, sollten Notendurchschnitte, IQ-Tests und Co. im Personalmanagement heute eine untergeordnete Rolle spielen. Wie funktioniert die Suche nach hellen Köpfen stattdessen? Und welchen Beitrag zur Intelligenzförderung leisten Weiterbildungen?

Der große IQ-Test“, oder: „Sind Sie schlauer als der Durchschnitt?“. Im Internet gibt es jede Menge Optionen, wenn man herausfinden möchte, ob in einem womöglich ungeahnt ein Genie schlummert. Einfach einige Begriffspaare und Zahlenreihen vervollständigen und nach wenigen Minu ten spuckt das System eine leicht bekömmliche und hof fentlich erfreuliche Zahl aus: den Intelligenzquotienten. In vielen von uns lauert offensichtlich ein Bedürfnis, das eigene Denkvermögen auf die Probe zu stellen, um sich zu versichern, zumindest der Norm zu entsprechen, wenn nicht deutlich darüberzuliegen. Angeblich reichen simple Aufgaben dafür aus. Eine Kostprobe gefällig? Dann zählen Sie doch mal schnell, wie oft der Buchstabe F im folgenden Satz vorkommt:

FINISHED FILES ARE THE RESULT OF YEARS OF SCIENTIFIC STUDY COMBINED WITH THE EXPERIENCE OF YEARS.

Wenn Ihre kognitiven Fähigkeiten weit überdurchschnittlich sind, dann sind Sie offenbar nicht in die Falle getappt, den Buchstaben in „OF“ jeweils auszulassen. Den meisten von uns passiert das, weil die Phonetik hier eine andere ist. Das F klingt nämlich eher wie ein V. Sind Sie beim ersten Zählen

also auf sechs Fs gekommen? Bravo, Sie dürfen sich für eine Ausnahmeerscheinung halten. Ein bisschen Bestätigung tut oftmals not, denn wie der Schriftsteller Charles Bukowski einst so treffend wie lakonisch resümierte: „Das Problem dieser Welt ist, dass die intelligenten Menschen so voller Selbstzweifel und die Dummen so voller Selbstvertrauen sind.“ Und den Brillanten ist natürlich auch klar, dass dieser kleine Erfolg nur dürftige Aussagekraft über die eigenen kognitiven Fähigkeiten insgesamt hat – geschweige denn für die berufliche Kompetenz. Wäre es anders, würde dies das bisher mühsame Auswahlverfahren bei Stellenbesetzungen ziemlich vereinfachen.

„Bis heute existiert keine wissenschaftlich anerkannte, eindeutige Definition der Intelligenz“, schreibt die Psychia terin Heidi Kastner in einem Essay mit dem Titel Dummheit. Wir wissen nur: Unsere kognitive Leistungsfähigkeit setzt sich aus Genetik und Umweltkomponenten zusammen. Der Begriff leitet sich aus dem lateinischen intellegere ab und bedeutet erst einmal einsehen, verstehen. Das Wort „Intelligenz“ umschreibt also die Fähigkeit, sich in neuen Situationen zurechtzufinden und auch komplexe Aufgaben mittels Denkkraft zu lösen. Darunter subsumiert werden so unterschiedliche Faktoren wie Rechenfähigkeit, verbale Kom petenz, Merkfähigkeit und räumliches Vorstellungsvermögen.

Abbildung: Roman Lipski, Untitled, 2021, Foto von Hans Georg Gaul
25 TITEL oktober / november 2022

Auf der Suche nach 007

Geheimdienste müssen Personal gewinnen und im Wettbewerb um die intelligentesten Kräfte mithalten. Dafür öffnen sie sich und setzen auf mehr Transparenz. Aber wie finden sie neue Agentinnen und Agenten, und was hat das mit James Bond zu tun?

Ein Beitrag von Mirjam Stegherr

Über 1,20 Meter zieht sich das Bild des alten Kriegsschiffs im Kunstmuseum, vor dem sich die beiden Männer zum ersten Mal sehen. James Bond betrachtet das Gemälde, als sich jemand neben ihn setzt. „Ich bin Ihr neuer Waffenmeister”, sagt er. Das bedeutet, er ist verantwortlich für die Spezialausrüstung beim britischen Geheimdienst MI6. „Das muss ein Scherz sein“, sagt Bond. Q ist vielleicht dreißig Jahre alt, Bond deutlich älter. „Nun, ich wage zu behaupten, dass ich im Schlafanzug vor meiner ersten Tasse Earl Grey auf meinem Laptop mehr Schaden anrichten kann als Sie in einem Jahr Einsatz“, sagt er. „Wozu brauchen Sie mich dann?“, fragt Bond. Hin und wieder müsse eben jemand den Abzug betätigen, erwidert Q. Bond ist Agent 007, ein fiktiver Charakter mit der Lizenz zum Töten. Seit sieben Jahrzehnten prägt er das Image ei nes Berufs, der in Wahrheit ganz anders aussieht. Nur weiß man darüber nicht viel. Denn Geheimdienste wie der Secret Intelligence Service MI6 in Großbritannien arbeiten weitest gehend im Verborgenen. Das ändert sich. Denn auch sie kämpfen mit dem Fachkräftemangel und setzen auf mehr Transparenz, um Personal zu rekrutieren.

In Deutschland gibt es drei Behörden, die landläufig zum Geheimdienst zählen: der für das Ausland zuständige Bundesnachrichtendienst, das für das Inland zuständige Bundesamt für Verfassungsschutz und der Militärische Ab schirmdienst zum Schutz der Bundeswehr. Sie nennen sich Nachrichtendienst, nicht Geheimdienst, da sie Informati onen beschaffen und auswerten und keine Exekutivgewalt

haben, also weder etwas beschlagnahmen noch jemanden verhaften oder, wie Bond, schießen dürfen. Die Informati onen können frei verfügbar sein oder durch „nachrichten dienstliche Mittel“ beschafft werden. Das ist die Spionage.

Geheimverstecke und fliegende Autos

Leute beschatten, durch die Welt reisen und unter Pseu donym leben: Das ähnelt dem Leben von James Bond. Der Bundesnachrichtendienst spielt mit der Analogie, schickt auf Social Media „Liebesgrüße aus Berlin-Mitte“ und nennt seinen Fachgebietsleiter Werkstätten auf der eigenen Karriereseite „den deutschen Q“. Der entwickelt zwar keine explodierenden Kugelschreiber oder fliegende Autos, aber Gegenstände, in denen sich Informationen übermitteln lassen, die niemand finden soll, wie Geheim fächer in Absätzen von Schuhen. In der deutschen Beam tensprache heißt das „Verbringungsmittel“ und klingt etwas weniger aufregend als bei Bond.

Matthias Kienle aus der Personalgewinnung sagt: „Die Arbeit für den Bundesnachrichtendienst hat viele span nende Aspekte, die wir in den Vordergrund stellen wollen. Doch der Vergleich mit James Bond ist ein zweischneidiges Schwert.“ 99 Prozent der Tätigkeiten hätten nichts mit dem Image des fiktiven Agenten zu tun. Und: „Wir suchen keine Selbstdarsteller, die sich in den Vordergrund spielen, sondern Menschen, die diskret sind und gut mit Geheim nissen umgehen können.“

Foto: picture
alliance
/ PictureLux/ The
Hollywood
Archive
34 www.humanresourcesmanager.de TITEL INTELLIGENZ
Sean Connery als James Bond im vierten Teil („Thunderball“) der Filmreihe aus dem Jahr 1965.
35oktober / november 2022 TITEL

Nicole Gerecht

berät mit ihrem Unternehmen Uniqate Firmen im Umgang mit Hochbegabten. Sie ist selbst hochbegabt und hat dies erst im Er wachsenenalter nach einer psychischen Krise und damit ver bundenen Gesprächen mit verschiedenen Fachleuten entdeckt.

TITEL INTELLIGENZ www.humanresourcesmanager.de42

Extreme Intelligenz

Nicole Gerecht ist weit überdurchschnittlich intelligent und weiß aus eigener Erfahrung, welche Leidensgeschichten hinter dem Phänomen Hochbegabung stecken. Wie sollten Unternehmen am besten mit hochbegabten Menschen umgehen?

Ein Interview von Petra Walther

Frau Gerecht, wann ist ein Mensch hochbegabt?

In Deutschland gilt ein Mensch bei einem Intelligenzquotienten ab 130 offiziell als hochbegabt. Diese Grenze zur Hochbegabung würde ich jedoch als fließend beschreiben. Betroffen sind ungefähr zwei Prozent der Bevöl kerung. Es gibt somit mehr hochbe gabte Menschen in Deutschland als zum Beispiel Lehrkräfte oder Ärzte und Medizinerinnen. Zum Vergleich: Die durchschnittliche Intelligenz liegt bei 100, und die Mehrheit der Men schen hat einen Intelligenzquotien ten, der zwischen 85 und 115 liegt. In welchen Arbeitsbereichen sind Hochbegabte besonders häufig anzutreffen?

Uns gibt es überall. Ich bin immer wie der überrascht, mit welch dickem Fell hochbegabte Menschen auf bestimm ten Jobs sitzen und der Dinge harren. Das klingt so, als würden Hochbe gabte ihr Potenzial nicht nutzen.

So ist es. Die Expertinnen für Hoch begabung, Tessa Kieboom und Kath leen Venderickx, verweisen in ihrem Buch Mehr als intelligent darauf, dass die Mehrheit der Hochbegabten einen Beruf hat, der weit unter ihren Fähig keiten liegt.

Warum ist das so?

Die Krux ist, dass viele Hochbegabte gar nicht wissen, dass sie es sind. Auch wenn sie merken, dass sie schneller denken und bestimmte Besonder heiten aufweisen, sehen sie sich selbst meist dennoch als der Norm zugehö rig. Zudem haben Hochbegabte – ins besondere Frauen – laut Studien oft ein geringes Selbstwertgefühl und nehmen sich daher zurück.

Wie lässt sich Hochbegabung erkennen? Was sind also die häu figsten Persönlichkeitsmerkmale von hochbegabten Menschen?

Es ist schwierig, dies zu pauschalisie ren. Hochbegabung hat viele Gesich ter. Was wir in unserer Community

immer wieder merken, ist, dass wir zum schnellen Sprechen neigen –gerade, wenn uns ein Thema inte ressiert. Da ist viel los im Kopf, das auf den Weg gebracht werden will. Auch ein ausgeprägter Gerechtig keitssinn ist ein Merkmal von Hoch begabten. Ungerechtigkeiten in Mee tings beispielsweise können sie nur schwer aushalten. Sie ergreifen in solchen Situationen schnell Partei für jemanden. Wo andere an ihren eige nen Belangen interessiert sind und schauen, wie sie vorankommen, sind Hochbegabte außerdem gesamtheit lich orientiert und achten auf mögli che Synergien.

Ansonsten sind sie oftmals poly projektiert, also der Hansdampf in allen Gassen. Ungefähr die Hälfte aller Hochbegabten ist auch latent chao tisch. Ein unaufgeräumter Schreibtisch etwa – ohne, dass dieser so von ihnen wahrgenommen wird – ist typisch. Oder aber, das andere Extrem, sie sind

Foto: unIQate
43 TITEL oktober / november 2022

Mensch vor Maschine

Künstliche Intelligenz im Personalmanagement ist ein Thema mit Vorbehalten. Zu Recht, denn sie birgt zwar Chancen, aber mindestens ebenso viele Risiken. Wie kann ein reflektierter Umgang gelingen?

Ein Beitrag von Petra Walther

Der Titel einer Keynote auf der Kölner Messe Zukunft Personal lautet KI – Chancen des Mittelstandes. Die Referentin Isabel Grupp, Geschäftsleiterin von Plastro Mayer, einem Familienunternehmen der Kunststoff verarbeitenden Industrie, stellte in ihrem Vortrag jedoch nicht die Tech nologie des maschinellen Lernens in den Vordergrund, son dern ganz klar den Menschen. Ihre Botschaft: Künstliche Intelligenz sei zwar eine bahnbrechende Chance für die Unternehmen, allerdings nur, wenn sie als Dienerin der Firmenprozesse gesehen werde. „Der Mensch darf nicht aus den Augen verloren werden, und Führung mit Emo tionen sollte weiterhin im Mittelpunkt stehen“, machte Grupp deutlich. Dementsprechend steht sie beispielsweise auch dem Thema künstliche Intelligenz im E-Recruiting eher skeptisch gegenüber. „Über eine Plattform können keine Gefühle transportiert werden“, sagt sie. Auch stellte die Geschäftsleiterin infrage, wie Arbeitgeber auf neuen Recruiting-Kanälen mittels Matching-Tools die passenden

Mitarbeitenden finden, wenn sie von diesen wie bei Tinder einfach weggewischt werden könnten.

Diese Ausführungen sollten der einzige Exkurs in die Welt der KI-basierten HR-Lösungen im Rahmen von Isa bel Grupps Keynote bleiben. Best Practices zum Thema KI im Personalmanagement gab es nicht. Gelten die Chan cen durch KI nicht für den HR-Bereich? Wer tiefer in das Thema eintaucht, weiß, dass diese Frage nicht so leicht zu beantworten ist beziehungsweise immer auch ein „Aber“ mit sich bringt. Zwar kann die Automatisierung von HR-Pro zessen das Personalmanagement effizienter machen. Doch Empathie für die Mitarbeitenden im Betrieb darf in einem Geschäftsbereich, bei dem es um Menschen geht, erst recht nicht vernachlässigt werden. „In Konzernen mag ein ande res Mindset herrschen, doch gerade in einem Familienbe trieb ist die persönliche Atmosphäre entscheidend. Daher möchten wir bei Plastro Mayer KI von jeglichen Bereichen, bei denen es um unsere Mitarbeitenden geht, zum aktuellen Zeitpunkt fernhalten“, sagt Grupp.

Foto: picture alliance / Mary
Evans
Picture Library
46 www.humanresourcesmanager.de TITEL INTELLIGENZ

Im Science-Fiction-Film The Invisible Boy aus dem Jahr 1957 will der Maschinenmensch Robby die Weltherrschaft an sich reißen, entwickelt dann aber unerwartet menschliche Gefühle.

47oktober / november 2022 TITEL

Die Vorkämpferin

Natalya Nepomnyashcha wächst mit Hartz IV auf. Die Realschule schließt sie als Jahrgangsbeste ab, macht zwei Ausbildungen und absolviert ohne Abitur ein Masterstudium mit Auszeichnung. Heute arbeitet sie für ein internationales Beratungshaus und ist Unternehmensgründerin. Über Intelligenz, soziale Herkunft und die Hürden des Aufstiegs

Ein Porträt von Sven Lechtleitner

50 www.humanresourcesmanager.de TITEL INTELLIGENZ

Natalya Nepomnyashcha sitzt in ihrem Home office in Berlin. Um sieben Uhr ist sie an die sem Morgen in Frankfurt am Main aufgewacht, weil sie dort am Abend zuvor eine Jurysitzung von Union Investment besucht hatte. Mit dem Zug ging es frühmorgens zurück nach Berlin – zu ihrem „Brotjob“. So nennt sie ihre Vollzeitstelle bei einem internationalen Beratungshaus. Nebenberuflich gründete sie vor einigen Jahren das soziale Unternehmen Netzwerk Chancen, das sie ehrenamtlich führt. Damit setzt sich die 32-Jährige für junge Menschen aus finanzschwachen und nichtakade mischen Familien ein. Manchmal nimmt sie sich dafür im Hauptjob frei, so wie am Tag des Events in Frankfurt. Im Schnitt arbeitet sie fünf Stunden pro Woche für ihre Orga nisation, mal etwas mehr, mal etwas weniger – alles abends oder am Wochenende. Sechs Angestellte unterstützen ihr Engagement. Über Chancengleichheit und Diversität spricht Nepomnyashcha in Talkshows und auf Bühnen. Auf Linkedin folgen ihr mehr als 23.000 Menschen: Eine Karriere, die als Sinnbild für beruflichen Erfolg steht. Doch der Weg dorthin war hürdenreich.

Die gebürtige Ukrainerin kommt im Alter von elf Jahren nach Deutschland und wächst in einem sozialen Brenn punkt in Bayern auf. Ihre Eltern sind seit Mitte der 1990er Jahre arbeitslos, schon bevor sie im Jahr 2001 ihr Heimatland verlassen haben. Im Vergleich zu dem Leben in der Ukraine hat die Familie mithilfe von Sozialleistungen etwas mehr Geld als zuvor. Dass sie hierzulande mit Hartz IV jedoch am unteren Rand der Gesellschaft leben, realisiert die Toch ter erst später. „Ich habe Zeit gebraucht, um zu verstehen,

dass meine Eltern tagsüber zu Hause sind, aber die Eltern anderer Schulkinder zur Arbeit gehen und ihnen andere Möglichkeiten bieten“, sagt Natalya Nepomnyashcha. So seien Mitschülerinnen und Klassenkameraden mal verreist oder ins Theater gegangen, während dies für das Kind ar beitssuchender Eltern keine Option war.

Einem Sicherheitsbedürfnis folgen

In Deutschland angekommen, besucht die Teenagerin zunächst in Bayern eine sogenannte Übergangsklasse einer Hauptschule. Diese richtet sich an Kinder, die frisch zuge wandert sind und nur über wenige oder gar keine Deutsch kenntnisse verfügen. Nach anderthalb Jahren wechselt sie auf die Realschule. Die Möglichkeit, das Gymnasium zu besuchen, bleibt der Schülerin aufgrund eines Einstufungs tests verwehrt. Auf der Realschule hat sie aber schnell gute Noten. Nach der neunten Klasse und mit einem Noten schnitt von 1,3 versucht sie erneut den Wechsel aufs Gym nasium, jedoch erfolglos. Es scheitert an einem Gespräch mit dem stellvertretenden Schulleiter des Gymnasiums. Statt Chancen für einen Schulwechsel aufzuzeigen, lacht er das Mädchen aus. Von ihrem Wunsch eines Studiums lässt sie sich dennoch nicht abbringen. Ihre Eltern haben sie dazu motiviert, gute Noten zu schreiben und vielleicht mal Lehrerin zu werden. Nepomnyashchas Berufswunsch damals: Staatsanwältin, inspiriert von den Gerichtssendun gen der 2000er Jahre. Mit ihrem Sinn für Gerechtigkeit sieht die Jugendliche ihre persönliche Zukunft zwar in einem Jura-Studium, folgt jedoch ihrem Sicherheitsbedürfnis und

Foto: Urban Zintel
51oktober / november 2022 TITEL
60 www.humanresourcesmanager.de IM FOKUS HR START UPS
Foto: picture alliance / Jochen Tack

Hipp, hipp, hurra?

Von dem Start-up-Boom der vergangenen Jahre profitiert auch HR. Schließlich können Innovationen die Personalarbeit erleichtern. Wie steht es um den Markt der Jungunternehmen? Und wie gelingt das Zusammenspiel zwischen Konzernstruktur und Start-up-Mentalität?

Ein Beitrag von Sven Lechtleitner

61 IM FOKUS oktober / november 2022

Arbeitgeber verfügen über einen Teil der Zeit und des Wissens ihrer Beschäftigten. Es kommt jedoch auch vor, dass sie ihre Persönlichkeit einfordern oder sogar an ihre Ehre appellieren. Über drei gefährliche Wege, mit denen Organisationen auf mehr zugreifen, als ihnen zusteht.

Ein Gastbeitrag von Kai Matthiesen und Judith Muster

Wenn man die Errungenschaften der mo dernen Gesellschaft in einem einzigen Satz zusammenfassen würde, wäre „Das ist nicht persönlich gemeint“ eine exzel lente Wahl. Denn: In der modernen Gesellschaft können wir in unserem Handeln zwischen uns als ganzem Men schen, als Person mit einer Vielzahl von Interessen, Ver pflichtungen, Wünschen und Abneigungen und unserer

spezifischen Rolle, die wir in einer Organisation einneh men, unterscheiden.

Wenn wir etwas nicht persönlich meinen, aber dennoch handeln, weisen wir darauf hin, dass wir uns im Rahmen von sozialen Normen bewegen, die nichts mit dem Menschen zu tun haben, sondern mit seiner Funktion. Der Mensch am Steuer des Linienbusses kann uns nicht nach Hause fahren – es sei denn, wir wohnen an seiner Linie. Wer mit

Wie Organisationen mehr mehr mehr mehr mehr mehr mehr mehr mehr mehr mehr mehr mehr mehr mehr mehr mehr mehr mehr mehr mehr mehr mehr mehr verlangen, als ihnen zusteht
68 www.humanresourcesmanager.de ANALYSE ORGANISATIONSKULTUR

einem kleinen Schnitt im Finger in die Notaufnahme fährt, wird vermutlich nicht direkt untersucht, selbst wenn einen alle Anwesenden beim Vornamen kennen. Das Personal arbeitet die Fälle nach Dringlichkeit ab.

Die machtvollsten Optionen, persönliche Interessen zur sekundären Ordnung zu erklären, liegen in der Hand von Organisationen. Diese haben die Möglichkeit, Mitgliedschaft an Bedingungen zu knüpfen. Wem die Bedingungen nicht passen, kann ja gehen. Das macht es Organisationen mög lich, Erwartungen zu formulieren, die ihre Mitglieder erfüllen müssen, wenn sie nicht signalisiert bekommen wollen, dass sie sich bald einen anderen Arbeitgeber suchen müssen, wenn sich nicht erwartungsgemäß verhalten.

Was Organisationen im Verhältnis zu anderen sozialen Systemen wie Familien, Freundschaften oder beispielsweise Religionsgemeinschaften so besonders macht ist, dass diese Regeln und Erwartungen nur Bereiche berühren können, die auch mit der Organisation zu tun haben. Man weiß – zumin dest auf dem Papier –, worauf man sich einlässt, wenn man den Arbeitsvertrag unterschreibt, die Tochter im Fußballklub anmeldet oder dem Umweltschutzverein beitritt. Deswegen ist man nur als Mitglied dabei, „partiell engagiert“, wie der Soziologe Niklas Luhmann es nennt, und nicht mit seinem gesamten Leben der Organisation verschrieben.

Menschen in Organisationen dürfen erwarten, dass ih nen auch ein Leben außerhalb zugestanden wird, dass also innerhalb der Organisation ihre eine Rolle zählt und ihre übrige Zeit und Aufmerksamkeit die Organisation formal nichts angeht. Dass man sich im Team erzählt, wie das Wo chenende war, ist kein Bruch mit dieser Regel. Wenn eine Teamleitung sagt, dass man statt Serien gucken auch sonn tags mal in seine E-Mails gucken darf, sehr wohl.

Hier deutet sich bereits die Differenz zwischen dem theoretischen Modell und der Realität an. Wer Organisa tionen von innen erlebt hat, kennt auch das Spiel mit den Grauzonen, in denen zwischen legitimen und illegitimen Erwartungen nicht mehr so genau unterschieden wird. Es gibt weit mehr Anforderungen an Mitglieder, als im Prozess handbuch und Arbeitsvertrag festgelegt sind. Und in jeder Organisation kommen unterschiedliche Methoden zum Einsatz, die Probleme der Organisation zu persönlichen Problemen ihrer Mitglieder machen. Als einzelne Person ist es schwer, sich dagegen zu wehren und zu schützen. Aber wie üblich hilft es, seinen Gegner zu kennen.

Drei Mechanismen sind in Organisationen dabei beson ders häufig im Einsatz:

• Psychologisierung: Wenn strukturelle Probleme als per sönliche Probleme beschrieben werden.

Moralisierung: Wenn der Beruf auf jeden Fall auch Be rufung sein muss.

Überdehnung formaler Pflichten: Wenn der Arbeitgeber nicht die angemessenen oder passenden Ressourcen zur Aufgabenerfüllung bereitstellt, sie aber dennoch ver langt.

1 Psychologisierung: Es liegt am Menschen, nicht am Unternehmen

Wer in Organisationen arbeitet, kennt das Muster: Wo etwas schiefgeht, muss jemand schuld sein. Natürlich auch dann, wenn sich an mangelnder Produktqualität, nicht eingehal tenen Fristen, Umsatzeinbußen oder Unfallhäufigkeit durch den Austausch von Personen nichts ändert.

Wir konnten dieses Muster bei einem britischen Lebens mittelhersteller beobachten. Das Unternehmen suchte eine neue Marketingleitung, es wäre die achte in zehn Jahren gewesen. Die Vorgänger hatten allesamt ausgewiesene Ex pertise für ihr Fach vorweisen können. Doch konnte sich niemand lange auf der Stelle halten. Offenbar lag das Pro blem also nicht nur bei den jeweiligen Personen. Es gab im Vorstand keine klare Vorstellung darüber, welche Ziel gruppen man erreichen und wie man das Produktportfolio weiterentwickeln will. Die Verantwortlichen für Vertrieb, Finanzen und Produktion belauerten sich in einem ausge sprochenen Konkurrenzverhältnis. Jeder von ihnen hatte andere Erwartungen an das Marketing und andere Vorstel lungen von der Positionierung der Marken des Unterneh mens. Statt diese Widersprüche zu lösen, suchten Vorstand und Aufsichtsrat die Schuld reflexartig bei den jeweiligen Marketingverantwortlichen. Sie wurden durchgängig als schlecht, unfähig, nicht engagiert diskreditiert.

Die Zuschreibung der Probleme auf die Person funkti onierte wie ein Strukturschutz. Solange Personen die Ver antwortung gegeben werden konnte, musste man nicht die inneren Widersprüche bearbeiten. Doch ein Problem dieser Leistung war: Weil der schnelle Mitarbeiterverschleiß ir gendwann auch Außenstehenden auffiel, wurde es schwie rig, qualifizierte Leute für die Position zu gewinnen.

2 Moralisierung: Wenn der Beruf auch Berufung sein muss

Eine andere Methode, mit der Organisationen die Bearbei tung ihrer Defizite auf Personen verlagern, sind Appelle an die Moral. Diese kommen zum Einsatz, wenn es keine Mög lichkeit gibt, das Gewünschte formal einzufordern. Bereit schaft zur Extrameile oder nach mehr Begeisterung gehören

69 ANALYSE oktober / november 2022

Alles im Gleichgewicht?

Der spanische Fabrikbesitzer Julio Blanco möchte der perfekte Chef sein. Im Rennen um einen Preis der Regionalregierung kommen ihm jedoch die privaten Angelegen heiten seiner Angestellten in den Weg.

Was macht einen guten Vorgeset zen aus? Julio Blanco kann da rauf mit einer einfach Selbst beschreibung antworten. Er ist der Chef der Industriewaagenfabrik Básculas Blanco und schielt auf den Preis der Regional regierung, die exzellente unternehmerische Leistung kürt. Dafür hat er an seiner trophäen geschmückten Wohnzimmerwand bereits ein Spotlight installiert.

In der Sozialsatire Der perfekte Chef spielt der Academy-Award-Preisträger Javier Bardem in sieben Akten den charismatischen Boss Julio Blanco. Er strotzt vor Leidenschaft für sein Pro dukt, einen einwandfreien Geschäftsablauf und die schönen Dinge im Leben, die man sich als erfolgreicher Unternehmer so leisten kann. Blanco sieht sich dabei gleichermaßen als Firmenoberhaupt und Vaterfigur. Die Tür seines Büros aus Fensterglas steht immer offen, er sieht und ihn betrifft alles – und dabei übertritt er ziem lich verlässlich die Grenze zwischen Chef und Erziehungs berechtigtem: Da wäre Miralles, der Kindheitsfreund und Einkaufsleiter, der den Seitensprung seiner Frau schultern muss. Da wäre der Sohn des loyalen Arbeiters Román, der sich für die falschen Freunde und gegen einen gesunden Lebensstil entschieden hat. Und da wäre der gerade erst gekündigte José, der vor den Toren der Fabrik lautstark und vulgär protestiert. Nicht zu vergessen sind zudem die haus gemachten Probleme: So gibt sich der Patron des Familien unternehmens der neuen Marketing-Praktikantin hin. Die gemeinsame Nacht ist jedoch nicht das erste Mal, dass er die Tochter eines Familienfreundes in den Armen hält. ¡ay!

Man sieht: Julio löst keines seiner Probleme nachhaltig, dafür poliert er die Oberfläche. Die Waage am Fabrikein gangstor ist ideal justiert, die Berichterstattung in der Lokal zeitung perfekt korrumpiert. Er befördert den neuen Lieb haber von Miralles‘ Frau, um den Einkauf sicherzustellen, und düpiert damit Miralles, seinen Angestellten. Er besorgt

Románs gewaltbereiten Sohn eine Anstellung im Laden sei ner Frau und hetzt diesen und seine dubiosen Freunde auf José, der immer noch vorm Fabriktor protestiert.

Am Ende verlässt die von der Regierung geschickte Kontrollkommission den Betrieb mit einem Lächeln: Das Geschäft und seine Maschinen laufen wie geschmiert, auf dem Papier ist Blanco der perfekte Chef. In der Realität hin terlässt er nur verbrannte Erde. Schlussendlich findet der Film keine klare Antwort auf die übergeordnete Frage, was eine gute Führungskraft ausmacht. Stattdessen bringt Julio Blanco das Kinopublikum zum Lachen – und anschließend zum Nachdenken: Wie um Himmels Willen ist dieser Mann im Chefsessel gelandet? (jnm)

Die spanische Komödie Der perfekte Chef kam am 28. Juli in die Kinos. Der Hauptdarsteller Javier Bardem ist der Ehemann der spanischen Schauspielerin Penélope Cruz und erhielt für seine Darstellung des intriganten Bosses den „spanischen Oscar“ (Goya) als bester Hauptdarsteller.

PRAXIS FILMREZENSION
Anstrengung, Gleichgewicht, Treue: Das sind die Unternehmenswerte, die in Julio Blancos (links) Fabrik nicht nur an der Wand stehen, sondern wie Gesetze gelten.
Foto: AlamodeFilm 81oktober / november 2022

Hingehört

An dieser Stelle stellen wir Ihnen wichtige Podcasts rund um HR, Arbeit und Menschen vor. Diesmal: Connecting HR and Talent von Dominik Becker und Manuel Rau

Die erste Folge des Podcasts Connecting HR and Talent von Dominik Becker und Manuel Rau ging im Januar 2020 live. In den rund dreißigminütigen Episoden wollen die Gründer eines Start-ups für Recruitingsoftware ihr Fachwissen und Best Practises teilen und den Austausch in ihrer Linkedin HR Gruppe beleben. Bislang sind rund 75 Episoden erschienen.

PRAXIS PODCAST 82 www.humanresourcesmanager.de

Reingeschaut

Diese Neuerscheinungen aus dem Bücherherbst könnten für HR interessant sein.

Eine Auswahl von Jeanne Wellnitz Mitarbeit: Charleen Rethmeyer

Berater Schweighart und Coach Thiele (Foto) zeigen pointiert, wie Führungs kräfte konstruktiv in den Austausch mit ihren Beschäftigten treten können – in jeder Phase des Berufslebens.

Jule Jankowski, Zwischen Alt und Neu liegt Gut. Wie wir mit GOOD WORK eine zukunftsfä hige Arbeitskultur gestalten können, ohne alles neu machen zu müs sen. Vahlen Verlag, 26,90 Euro, 255 Seiten. Erschienen im August 2022.

Organisationsberaterin Jankowski stellt ihr Prinzip Good Work vor, um den empfundenen Zwischenraum vieler Beschäftigten außerhalb der Wissens arbeit zu New Work zu füllen.

Mit Fallbeispielen und einem interdis ziplinären Zugang erklärt Arbeitswis senschaftler Hesseler wie HR in Zeiten von KI und Nanotechnologie am bes ten auf Veränderungen reagieren kann.

Michael Hesseler, Human Resource Management 4.0. Kluge Personalent scheidungen für die neue Arbeits welt. UVK Verlag, 49,99 Euro, 359

Seiten. Erschienen im August 2022.

Fotos: Business Village; positiv fuehren; Vahlen; privat, UVK, privat Marcus Schweig hart, Christian Thiele, Mitarbei tergespräche positiv führen: Konstruktiver kommunizieren als Führungskraft – auch in schwie rigen Situationen. Business Village, 24,95 Euro, 270 Seiten. Erschienen im August 2022.
86 PRAXIS BÜCHER www.humanresourcesmanager.de

Zukunftsforscherin und Spieleentwick lerin McGonigal lädt anhand verschie dener Zukunftsszenarien dazu ein, Denkweisen und Konfliktlösungen für eine Welt von morgen zu entwickeln.

Jane McGonigal, Bereit für die Zukunft. Das Unvorstellba re denken und kommende Krisen besser meistern. Penguin Verlag, 24 Euro, 464 Seiten. Erschienen im September 2022.

Anhand der Geschichte ihrer eigenen Mutter analysiert Zeit-Journalistin Blasberg eingehend, warum Menschen das Vertrauen in Politik, Gesellschaft und Wissenschaft verlieren.

Anita Blasberg, Der Verlust. Warum nicht nur meiner Mutter das Vertrauen in unser Land abhandenkam. Rowohlt Verlag, 23 Euro, 400 Seiten. Erschienen im September 2022.

Fulbright-Stipendiatin Strauch hält ein Plädoyer auf das Unangepasstsein. Sie zeigt, wie alte Ideen losgelassen wer den und welche Kraft sich außerhalb der Komfortzone entfesseln lässt.

Vera Strauch, Unbequem. Eine Aufforderung zum Anecken. Atlantik Verlag, 23 Euro, 240 Seiten. Erschienen im Oktober 2022.

Die Herausgeber Schwuchow (Foto) und Gutmann versammeln Lösungs konzepte von HR-Praktikerinnen und -Experten für die demografischen Her ausforderungen des Arbeitsmarkts.

Karlheinz Schwu chow, Joachim Gutmann, HR-Stra tegie: Demografie als Chance. Alter – Gesundheit –Diversität. Haufe Verlag, 49,95 Euro, 256 Seiten. Erschienen im Oktober 2022.

Fotos: Penguin
Random House Verlagsgruppe GmbH, Muenchen; Christopher Michel, Rowohlt Verlag; Vera Tammen, Atlantik; Ines Marquet, Haufe; Eder, Linz
87 PRAXIS oktober / november 2022

ARBEITSZEUGNIS

Kein Anspruch auf Schlussformel

Das Bundesarbeitsgericht hat im Januar 2022 seine Rechtsprechung bestätigt, dass Beschäftigte grund sätzlich keinen Anspruch darauf haben, dass ein Arbeitszeugnis eine Dankes- und Wunschformel ent hält – also einen Satz, in dem der Arbeitgeber sich für die geleisteten Dienste bedankt und beste Wünsche für die Zukunft erteilt. Solch eine Verpflichtung würde den Arbeitgeber nämlich erheblich in seiner negati ven Meinungsfreiheit beeinträchtigen. Das Bundes arbeitsgericht hat jedoch auch angedeutet, dass es auch Fallgruppen geben könne, in denen ausnahms weise ein Anspruch auf eine Dankes- und Wunschfor mel besteht. Denkbar wäre das, wenn der Arbeitgeber in den von ihm erteilten Zeugnissen standardmäßig eine Dankes- und Wunschformel erteilt. Das Landes arbeitsgericht Niedersachsen nahm in einem Urteil aus dem Juli 2022 zudem an, dass ausnahmsweise ein Anspruch auf eine Dankes- und Wunschformel beste hen kann, wenn der Arbeitgeber eine solche in einem Zeugnis erteilt hat und dieses Zeugnis später korrigie ren muss. Hat der Arbeitnehmer nicht die Dankes- und Wunschformel beanstandet, kann der Arbeitgeber sie nur dann streichen, wenn ihm nachträglich Umstände bekannt geworden sind, die ein Abweichen vom ein mal gewährten Zeugnisinhalt rechtfertigen.

Kein Erschwerniszuschlag

Häufig ist in Arbeitsverhältnissen vorgesehen, dass eine besondere Erschwernis durch einen Zuschlag ausgeglichen wird. Zum Beispiel sieht der Rahmen tarifvertrag für die gewerblich Beschäftigten in der Gebäudereinigung vor, dass die Ausführung der Tätig keit mit einer vorgeschriebenen Atemschutzmaske einen Zuschlag auslöst. Im Juli 2022 hat das Bundes arbeitsgericht entschieden, dass dieser Zuschlag nicht ausgelöst wird, wenn Beschäftigte eine medizinische Gesichtsmaske im Zusammenhang mit Coronaschutz maßnahmen tragen müssen. Um den Zuschlag auszu lösen, müsste es sich bei der medizinischen Schutz maske um einen Teil der persönlichen Schutzausrüs tung handeln. Dies verneinte das Bundesarbeitsgericht in der Entscheidung.

ARBEITNEHMERLISTEN

Keine Herausgabepflicht

Ein Betriebsrat setzt zum Ende seiner Wahlperiode den Wahlvorstand ein, der die nächste Betriebsrats wahl vorbereitet und durchführt. Der Wahlvorstand hat einen Auskunfts- und einen Herausgabeanspruch im Hinblick auf Informationen, die zur Erstellung der Wählerliste erforderlich sind. Besteht in einem Betrieb jedoch kein Betriebsrat – und auch kein Gesamt- und kein Konzernbetriebsrat –, dann ist der Wahlvorstand der ersten Betriebsratswahl in einer Betriebsversamm lung zu wählen. Es stellte sich die Frage, ob auch die Initiatoren der Betriebsversammlung zur Wahl eines Wahlvorstandes von der Arbeitgeberseite eine Mitar beiterliste verlangen können. Das Arbeitsgericht Berlin lehnte das ab. Die Auskunfts- und Herausgabeansprü che stehen ausschließlich dem Wahlvorstand zu.

DRUCKKÜNDIGUNG

Mündliche Vereinbarung unwirksam

Droht eine Vielzahl von Beschäftigten, eine Eigenkün digung auszusprechen, wenn nicht einer anderen angestellten Person gekündigt wird, kann dies die Be dingungen einer echten Druckkündigung erfüllen. Die Rechtsprechung stellt daran strenge Voraussetzungen. Der Arbeitgeber muss sich zunächst schützend vor die Person stellen, deren Kündigung gefordert wird. Wenn die Drohung so nicht abgewendet werden kann und dem Arbeitgeber bei Verwirklichung der Andro hung schwere wirtschaftliche Nachteile bevorstehen, kann eine echte Druckkündigung gerechtfertigt sein. Das Arbeitsgericht Nordhausen hat im Juli 2022 in die sem Zusammenhang entschieden, dass das sich schüt zend vor die zu kündigende Person Stellen den konkre ten Eigenkündigungsandrohungen zeitlich nachfolgen muss. Maßnahmen, die vor der Eigenkündigungsan drohung erfolgt sind, werden nicht berücksichtigt.

RECHT 91oktober / november 2022

Mindestlohn und Inflation

– Arbeitgeber zwischen Baum und Borke

Der Herbst 2022 bringt einige Bewegung in die bisherige Vergütungsarithmetik. Bereits die Erhöhung des Mindestlohns von zuletzt 10,45 Euro auf zwölf Euro zum 1. Oktober 2022 erhöhte die Lohnkosten im Niedriglohnsektor deutlich. Nun kommt die konstant hohe Inflation hinzu, die insbe sondere bei den Gewerkschaften zu erheblichen Lohner höhungsforderungen führt. Viele Arbeitgeber stellt dies –zumal in Kombination mit weiteren Kostensteigerungen für Produktionsmittel, Dienstleistungen, Zulieferer – vor große Herausforderungen.

Mindestlohn und Lohnsysteme

Insbesondere lohnintensive Branchen geraten mit der Erhöhung des Mindestlohns sowie Preissteigerungen zunehmend unter Druck. Kreative Lösungen sind gefragt.

Auf den ersten Blick bringt die Erhöhung des Mindestlohns keine systematischen Veränderungen mit sich. Dennoch löste die aktuelle Änderung besondere Aufmerksamkeit aus: Während vergangene Erhöhungen sich in der Größenord nung von rund zwei bis vier Prozent bewegten, bedeutet die jetzige Anhebung eine Steigerung um rund 15 Prozent. Im Vergleich zu Ende 2021 mit seinerzeit 9,60 Euro beträgt die Steigerung zu zwölf Euro sogar 25 Prozent. Auch die Anzahl der Begünstigten – Gewerkschaften erwarten eine Lohnanpassung für rund sieben Millionen Beschäftigte –unterstreicht die große Relevanz der aktuellen Erhöhung.

Deutlich größer als bei vergangenen Anpassungen sind auch die Auswirkungen auf die betrieblichen Lohnsysteme. Beschäftigte mit einem Stundenlohn von 13 Euro gehörten in der Vergangenheit gewiss nicht zu den Spitzenverdienern im Betrieb. Je nach Branche gehörten sie aber womöglich bereits zum unteren Mittelfeld in der Gehaltsstruktur. Ab dem 1. Oktober 2022 verdienen sie hingegen nur noch geringfügig mehr als das Mindestlohnniveau. Diese Ent wicklung führt zu einer Grundsatzfrage: Hebt der Arbeit geber auch die Lohngruppen oberhalb von zwölf Euro an, um die bisherige Systematik beizubehalten?

Die damit verbundene vergütungspolitische Frage wird je nach Unternehmen und dessen wirtschaftlicher Lage unterschiedlich beantwortet werden. Rechtlich ist die Bewertung dagegen eindeutig. Eine Gehaltserhöhung

Grafik: Prostock-Studio / Getty Images
Ein Essay von Christoph Seidler
92 www.humanresourcesmanager.de RECHT ESSAY

Der Bildungsanwalt

Heinz-Peter Meidinger ist amtierender Präsi dent des Deutschen Lehrerverbandes und prägt maßgeblich den Diskurs über den Lehralltag in deutschen Klassenzimmern.

Meine Intelligenz wird täglich gefordert durch ... die unzähligen Dinge, die ich nach Dringlichkeit und Wichtigkeit priori sieren muss.

Zuletzt dumm dagestanden habe ich, als … ich wieder einmal eine Einladung zu einer internationalen Diskussionsver anstaltung ablehnen musste, weil mir dafür die erforderliche Sprachkompe tenz in Englisch fehlt. Mit 20.000 zusätzlichen Lehr kräften würde ich als Erstes … die Unterrichtsreserve an den Schulen aufbauen, um den hohen Unterrichts ausfall zu minimieren. Von zehn Schul stunden fällt durchschnittlich eine aus. Die größte Schwachstelle des deutschen Schulsystems ist, dass … es zwischen den Bundesländern dra matische Leistungsunterschiede und kein Mindestmaß an Vergleichbarkeit bei Lernstandards und Abschlussprü fungen gibt.

Die größte Stärke ist jedoch, dass ... es keine Zweiteilung zwischen einem teuren, leistungsfähigen Privatschul wesen und einem abgehalfterten öf fentlichen Schulwesen gibt wie etwa in angelsächsischen Ländern. Eine große

Stärke war auch der hohe Stellenwert der beruflichen Bildung, das scheint sich aber leider zu ändern.

Dieses Buch möchte ich unbe dingt lesen, lege es aber doch immer wieder beiseite:

Bislang habe ich um Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit wegen des ungeheuerlichen Umfangs einen Bogen gemacht. Das werde ich aber im nächsten Jahr ändern. Ein Buch, das ich immer wieder lesen könnte, … ist der Fragebogen von Max Frisch. Bei jeder neuerlichen Lektüre komme ich auf neue Einsichten und Gedanken. Die jährliche PISA-Studie trifft … keine probate Aussage über die Intel ligenz von Schulkindern, weil sie nur einen kleinen Ausschnitt an kognitiven Fähigkeiten in wenigen Fachgebieten misst. Musische und künstlerische Be gabungen werden gar nicht erfasst. Ich fühle mich, trotz Ruhestand, wie ein Lehrer, wenn … ich in einem Gespräch spontan kor rigierend und verbessernd eingreife und dann missbilligende Blicke ernte.

Meine größte akademische Her ausforderung war … mein Lehramtsstudium in den achtzi ger Jahren doch noch erfolgreich ab zuschließen. Ich war während meiner

Studienzeit so stark in der Studenten politik und verschiedenen Reform kommissionen engagiert, dass ich fast nicht mehr die Kurve gekriegt habe. Menschen, die nie damit aufhören, mir etwas beizubringen, sind ... meine Frau und meine Tochter. Das freut mich auch, weil es zeigt, dass sie mich nicht für einen unbelehrba ren hoffnungslosen Fall halten. Ich beende mein Wirken für das deutsche Schulsystem … offiziell wohl, wenn meine Amtszeit als Präsident 2023 endet. Aber viel leicht finde ich ja dann Zeit, ein neues Buch zu schreiben. Ideen dazu habe ich genug. Intelligenz ist für mich … die Fähigkeit, sich auf Situationen einzustellen und zu erkennen, wel che Dinge man ändern kann und bei welchen sich der Einsatz nicht lohnt.

Die Fragen stellte Jasmin Nimmrich.

Heinz-Peter Meidinger hat seine Karriere im Schulwesen 1984 als Gymnasiallehrer für Deutsch, Geschichte und Politik begon nen. 2003 wurde er Schulleiter an einem Deggendorfer Gymnasium. Seit Juli 2017 ist Meidinger Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, der die bildungs und berufspolitischen Interessen von 165.000 organisierten Lehrkräften vertritt.

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