

Als Arbeiterkind und Hauptschüler hatte Christian Korff es schwer. Aber er gab nicht auf, studierte als Erster in der Familie und hat heute eine Führungsposition bei Cisco inne.
3 Editorial AKTUELLES
DEB ATTE
6 Deutschland am Wendepunkt
Professorin Veronika Grimm erklärt im Interview, welche Strukturreformen Deutschland jetzt dringend braucht.
Von Sabine Schritt
TRENDS
11 Zahlen und Meldungen
IM FOKUS
12 Mehr als ein Weg Wie betriebliches Mobilitätsmanagement nachhaltig gelingen kann.
Von Salome Häbe
INSIDE HR
16 Kolumne
HR ist tot – es lebe HR?
Von Emmanuel Siregar
18 Meine Arbeitswelt
Eduard Bergmann, People & Culture Manager bei Orgamax.
Von Charleen Rethmeyer
IMPULS
20 Mentale Gesundheit
Warum eine Gesundheitskultur eine strategische Notwendigkeit auch für den Mittelstand ist.
Von Alexandra Schulz-Wrusch
SCHWERPUNKT: Struktur
26 Wandel als Chance KI und der demografische Wandel fordern HR heraus. Wie Unternehmen und Beschäftigte davon profitieren können.
Von Kathi Preppner und Jennifer Spatz
32 Mentale Barrieren
Psychologin Dr. Annelen Collatz im Interview über dysfunktionale Verhaltensmuster und wie wir sie durchbrechen können.
Von Sabine Schritt
36 Weniger Hierarchie
Wie funktionieren Holokratie und Selbstorganisation im Arbeitsalltag?
Von Charleen Rethmeyer
Ökologische Verantwortung fängt auf dem Weg zur Arbeit an – hört dort aber längst nicht auf. Was es für ein nachhaltiges betriebliches Mobilitätsmanagement braucht.
40 Allein unter vielen Einsamkeit am Arbeitsplatz wird unterschätzt. Was HR tun kann.
Von Petra Walther
44 Boomerang Recruiting
Wenn Mitarbeitende gehen, heißt das nicht, dass die Tür für immer geschlossen ist.
Von Katarina Roder und Thomas Kreiter
48 Sozialer Aufstieg
Christian Korff im Porträt.
Von Jennifer Spatz
52 Talente aus der Ferne
Wie die Fachkräftesicherung aus Drittstaaten gelingen kann.
Von Edda Feisel und Sophia Lemke
56 Alles Zufall?
Wie wir mehr glückliche Zufälle provozieren können.
Von Charleen Rethmeyer
36
Agile Strukturen wie Holokratie und Selbstorganisation versprechen mehr Eigenverantwortung, weniger Hierarchie
Zusatzleistungen für Mitarbeitende werden in Zeiten des Fachkräftemangels immer wichtiger. Doch viele Unternehmen haben dafür kein Konzept.
PRAXIS
ANALYSE
58 Zusatzleistungen
Employee Benefits müssen sich an die Lebensphasen der Mitarbeitenden anpassen.
Von Fabian Neuen und Heiko Leitz
62 Dynamischer Wissenstransfer Bei SAP sorgen Lernfluencer dafür, dass das Wissen immer auf dem neusten Stand bleibt.
Von Andre Bechtold
Dos and Don’ts für eine hoffnungsvolle Führungskultur.
Von Ben Schulz
Betriebliche Altersvorsorge Wann eine Auslagerung des Pension Asset Managements sinnvoll sein kann.
on Jeffrey Dissmann und Simon Lesch
Ein Jahr der Entscheidungen
Serie zu den HR-Thesen des BPM für das Jahr 2025.
on Felicitas von Kyaw, Tobias Schröder und Anke Brinkmann
74 Reingeschaut
Ausgewählte Neuerscheinungen.
76 Rezension
Ramzi Fafouta: „Ist das Diversity oder kann das weg?“
Von Salome Häbe
78 Sieben Gedanken zu Dankbarkeit.
Von Kristin Koschani-Bongers
RECHT
80 Aktuelle Urteile
Von Pascal Verma
82 Essay
Wie Arbeitgeber mit Transformationseinheiten den Spagat zwischen Personalmangel und Restrukturierung meistern.
Von Christoph Seidler
84 Impressum
VERBAND
86 Editorial
87 Neue Fachgruppe Data & Digital 88 Pflegeverantwortung mitdenken.
LETZTE SEITE
90 Der Arbeitsort-Kuratierer
Joachim Gripp von Design Offices.
Von Salome Häbe
Deutschland steht am Scheideweg und mitten in einem Strukturwandel. Im März hat der Bundestag ein großes Schuldenpaket in Höhe von über einer Billion Euro verabschiedet, um die Infrastruktur mit 400 Milliarden Euro, und den Klimaschutz mit 100 Milliarden Euro zu stärken sowie Verteidigungsausgaben, die ein Prozent des BIP übersteigen, von der Schuldenbremse auszunehmen. Wirtschaftsweise Veronika Grimm erklärt im Interview, warum die Gefahr groß ist, dass diese Gelder verpuffen und welche Strukturreformen Deutschland dringend braucht.
Frau Professorin Grimm, Sie hatten sich von Beginn an kritisch zu den Schuldenplänen von CDU/CSU und SPD geäußert und diese als problematisch bezeichnet – und vor allem vom Infrastrukturpaket abgeraten. Was sind Ihre wichtigsten Kritikpunkte?
Prof. Dr. Veronika Grimm: Es war berechtigt, im Bereich Verteidigung zusätzliche Spielräume zu schaffen. Allerdings hat man das sehr großzügig getan, denn man hat jegliche Finanzierung oberhalb von einem Prozent des Bruttoinlandsprodukts über Verschuldung ermöglicht. Den Begriff der Verteidigungsausgaben hat man in den Verhandlungen mit den Grünen dann nochmal erweitert, so dass Ausgaben, die traditionell aus dem Kernhaushalt getätigt werden, jetzt über Schulden finanziert werden können. Äußere Sicherheit ist eine Kernaufgabe des Staates, und Verteidigungsausgaben – auch die NATO-Quote in Höhe von zwei Prozent des BIP – sollte man eigentlich regulär aus dem Kernhaushalt finanzieren.
Welche Effekte wird die Schuldenpolitik für den Euro haben? In Deutschland haben wir zwar kein Schuldentragfähigkeitsproblem, können aber natürlich die deutsche Staatsverschuldung nicht unabhän-
gig von der Staatsverschuldung anderer europäischer Staaten betrachten. Wir haben kurz nach der Ankündigung der Schuldenpakete gesehen, dass die Zinsen für deutsche Staatsanleihen in kurzer Zeit gestiegen sind und zugleich auch die Zinsen auf Staatsanleihen anderer Länder des Euroraums. Wie wahrscheinlich ist eine Eurokrise? Staatsanleihen, die in der Niedrigzinsphase ausgegeben wurden, müssen jetzt Stück für Stück abgelöst werden. Die Zinslasten der Mitgliedstaaten gehen daher in die Höhe und erreichen perspektivisch ein Niveau, das wir während der Eurokrise gesehen haben. Wann genau der Kapitalmarkt reagiert und die Zinsen der verschiedenen Mitgliedstaaten auseinandergehen, ist nicht klar. Es ist aber schon heute so, dass die hochverschuldeten EU-Staaten zusätzlich notwendige Verteidigungsausgaben oder andere Maßnahmen zur Bewältigung zukünftiger Krisen nicht mehr durch eigene Verschuldung finanzieren können. Man diskutiert schon jetzt über weitere
„Es war schon lange klar, dass wir zusätzliche Sicherheitsausgaben brauchen.“
gemeinsame Verschuldung, und das bedeutet auch, dass sich die Wahrscheinlichkeit einer Tragfähigkeitskrise erhöht – Russland und China werden das genau beobachten.
Warum hat man sich vor der Schuldenaufnahme nicht mehr Zeit genommen, zum Beispiel für einen Kassensturz?
Man hat die sicherheitspolitische Lage sehr stark aufs Tableau gehoben, obwohl das ja eigentlich keine neue Information war. Es war schon lange klar, dass wir zusätzliche Sicherheitsausgaben brauchen. Und dann hat sich die CDU überrumpeln lassen, diese Entscheidungen mit dem Sondervermögen und der Abschwächung der Schuldenbremse der Länder zu verknüpfen.
Wie groß ist die Gefahr, dass die freigewordenen Gelder nicht dort ankommen, wo sie wirklich gebraucht werden, und welche Strukturreformen braucht der Wirtschaftsstandort Deutschland dringend?
Die Gefahr, dass diese Gelder verpuffen, ist sehr groß. Zum einen, weil wichtige Strukturreformen nicht vorangetrieben werden und weil man immer noch in Teilen der Politik Unternehmenssteuersenkungen ablehnt. Wir brauchen niedrigere Unternehmenssteuern und Strukturreformen, die die Arbeits-
zeitflexibilität und das Arbeitsvolumen erhöhen sowie die Lohnnebenkosten reduzieren. Die Kosten der sozialen Sicherungssysteme steigen seit Jahren deutlich stärker als unsere Wirtschaftsleistung. Das ist nicht nachhaltig, man müsste es ins Gleichgewicht bringen. Die zusätzlichen Spielräume, die aufgrund dieser Kreditermächtigungen entstehen, dürfen nicht verhindern, dass wir den Kostenanstieg der sozialen Sicherungssysteme dämpfen. Insbesondere angesichts des demografischen Wandels – die geburtenstarken Jahrgänge werden in den kommenden Jahren in den Ruhestand eintreten – gilt es, die Tragfähigkeit des Rentenversicherungssystems sicherzustellen. Dazu ist eine Kopplung des Renteneintrittsalters an die fernere Lebenserwartung
notwendig. Es reicht nicht aus, dass wir den Leuten Vergünstigungen geben, wenn sie länger arbeiten. Die Rente mit 63 steht vielen Gutverdienenden mit körperlich wenig anstrengenden Jobs offen, das müsste man rückgängig machen. Auch bei der Mütterrente sollte man eher eine Einschränkung vornehmen, anstatt diese noch auszuweiten. In all diesen Maßnahmen wären einerseits Kostensenkungspotenziale wichtig. Aber auch die zusätzlichen Arbeitsanreize. Das Arbeitsvolumen erhöht sich nur, wenn man den Anreiz zu arbeiten deutlich stärkt. Der produktive Anteil der Gesellschaft wird immer kleiner, obwohl der Wirtschaft die Arbeitskräfte fehlen. Wie kann man das wieder in Einklang bringen?
ist Professorin an der Technischen Universität Nürnberg (UTN) und Leiterin des Energy Systems und Market Design Lab. Seit April 2020 ist sie Mitglied des Sachverständigenrates Wirtschaft, der fünf „Wirtschaftsweisen“. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Energiemärkte und Energiemarktmodellierung, Verhaltensökonomie, soziale Netzwerke sowie Auktionen und Marktdesign. Grimm ist in zahlreichen Gremien und Beiräten aktiv, unter anderem im Nationalen Wasserstoffrat der Bundesregierung, im Wissenschaftlichen Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK), in der Expertenkommission zum Energiewendemonitoringprozess am BMWK, im Sachverständigenrat für Verbraucherfragen (BMJV) sowie im Energy Steering Panel des European Academies Science Advisory Council (EASAC). Nach dem Studium der Volkswirtschaftslehre und der Soziologie an den Universitäten Hamburg und Kiel promovierte Grimm 2002 an der Humboldt-Universität zu Berlin und habilitierte 2007 in Volkswirtschaftslehre an der Universität zu Köln. Sie ist (Mit-)Autorin zahlreicher wissenschaftlicher Publikationen, zuletzt erschien von ihr Eine Wachstumsagenda für Deutschland (Wirtschaftsdienst, 2025).
Einerseits durch die beschriebenen Anpassungen des Rentensystems. Auf der anderen Seite durch Reformen der sozialen Sicherheitssysteme. Einer Familie mit zwei Kindern bleiben in München netto etwa 30 Euro mehr übrig, wenn der Bruttoverdienst von 3000 auf 5000 Euro steigt. Das liegt an Steuern und Abgaben, aber auch an entfallenden Transfers, die aufgrund des höheren Verdienstes entfallen. Es muss sich für die Menschen auch im Bereich unterer und mittlerer Einkommen lohnen, mehr zu arbeiten. Man muss wohl oder übel Transfers – wie etwa das Wohngeld – in gewissem Umfang zurückfahren. Wir brauchen ein stabiles soziales Netz. Aber wenn wir es so ausgestalten, dass sich das Arbeiten kaum lohnt, dann ero -
Agile Organisationsstrukturen versprechen weniger Hierarchie und mehr Eigenverantwortung. Beispiele zeigen, unter welchen Voraussetzungen Modelle wie Holokratie funktionieren können – und wann sie an ihre Grenzen kommen.
Ein Beitrag von CHARLEEN RETHMEYER
Am 1. Mai 2017 wird alles anders sein. Mit dieser Vision kündigte Metafinanz 2016 eine umfassende Reorganisation des Unternehmens an. Ohne genau zu wissen, wie der Weg dorthin aussehen würde. Nur das Ziel war klar: Die klassische Managementfunktion sollte es nicht mehr geben. Stattdessen sollen sich Führungskräfte neu definieren. Sie sollten sich nicht als Vorgesetzte, sondern als Wertstifter in einem selbstorganisierten System verstehen. Davon erzählt Matthias Gotz, New Work Strategist und Digital Pioneer, der seit zwanzig Jahren bei der IT- und Businessberatung tätig ist. Doch warum war dieser drastische Wandel erforderlich? Viele Kundenunternehmen hatten sich neu aufgestellt und das Beratungsunternehmen war nicht mehr schnell genug, um mit den veränderten Anforderungen mitzuhalten. Um agiler zu werden und besser auf Kundenbedürfnisse einzugehen, war eine tiefgreifende Veränderung nötig.
„Es ging nicht darum, Führungskräfte abzubauen, sondern Führung anders zu denken“, sagt Gotz. Der erste Schritt bestand darin, die Teamstrukturen zu überarbeiten. Zu diesem Zeitpunkt war das Organisationsmodell Holokratie ein Trend in alternativer Unternehmensführung. In holokratischen Unternehmen werden klassische Hierarchien und Abteilungen durch ein System von selbstorganisierten Kreisen ersetzt, in denen Mitarbeitende Rollen mit klar definierten Verantwortlichkeiten übernehmen. Dabei können Beschäftigte mehrere Rollen in verschiedenen Organisationsbereichen einnehmen. Die Kreise sind durch „Lead Links“
und „Rep Links“ miteinander verbunden, um Informationen und Entscheidungen über verschiedene Ebenen hinweg zu koordinieren. Entscheidungen werden also nicht mehr von einzelnen Führungskräften getroffen, sondern innerhalb der Kreise, basierend auf klar definierten Zuständigkeiten und Prozessen.
Metafinanz stellte bereits 2014 einen Teamprototyp auf und hielt sich strikt an die Holacracy Constitution von Brian J. Robertson, in der die Regeln für holokratische Unternehmen festgelegt sind. Zum Schluss entwickelte sich ein Team aus 26 Personen mit 47 unterschiedlichen Rollen. „Das ist ja Wahnsinn, was das für ein bürokratischer Aufwand ist“, war laut Gotz die erste Reaktion des Managementboards. Die detaillierte Dokumentation jeder einzelnen Rolle erschien übertrieben, obwohl genau das den holokratischen Prinzipien entspricht. „Es gab zum Beispiel die Rolle des „Birthday Managers“, um sicherzustellen, dass Teamgeburtstage nicht in Vergessenheit gerieten“, berichtet Gotz.
„Es ging nicht darum, Führungskräfte abzubauen, sondern Führung anders zu denken.“
Matthias Gotz, New Work Strategist, Metafinanz Informationssysteme
Tatsächlich kann Holokratie schnell in Überbürokratisierung münden, wie der Soziologe und Unternehmensberater Stefan Kühl und die Soziologin Phanmika Sua-Ngam-Iam in ihrer Forschungsarbeit Die Hyperformalisierung von Organisationen. Zu den ungewollten Nebenfolgen von Holacracy festgestellt haben. Sie kommen zu dem Schluss: Wenn Unternehmen diese Entwicklung nicht bewusst steuern, wird das System zunehmend belastet. „Oft entstehen neue Rollen schnell, doch der umgekehrte Prozess findet seltener statt“, sagt Sua-Ngam-lam, die
Selbstorganisation ist ein Zusammenspiel aus Funktionen, Entscheidungen und Kooperation.
an der Universität Bielefeld zu holokratischen Unternehmen forscht. Rollen könnten monatelang bestehen bleiben, obwohl sie nicht mehr benötigt werden.
Eine weitere Herausforderung seien informelle Strukturen. Die Trennung von operativer Arbeit und der Arbeit an der Organisationsstruktur sei prinzipiell eine gute Idee, dennoch entstehe in der Praxis ein Machtgefälle durch Wissen und Erfahrung. Sua-Ngam-Iam unterscheidet dabei zwischen Fachwissen, das sich gut in Holokratie abbilden lasse, und informellem Organisationswissen. Auch persönliche Netzwerke spielten eine Rolle: „Man weiß irgendwann, wen man fragen kann, um Dinge schneller zu klären.“ Besonders mit wachsender Unternehmensgröße werde es schwieriger, das System stabil zu halten. „Je größer eine Organisation ist, desto langsamer können Entscheidungsprozesse werden“, sagt Sua-Ngam-Iam. Um dem entgegenzuwirken, entstünden oft informelle Strukturen, die gewohnte Hierarchien unbewusst wiederherstellten. Das führe dazu, dass manche Stimmen mehr Gewicht hätten, etwa frühere Führungspositionen oder Menschen mit viel Fachwissen. „Es reicht schon, wenn sich jemand besser ausdrücken kann, lauter spricht oder mehr Raum einnimmt.“ Diese Dynamiken ließen sich kaum regulieren oder formalisieren. Das sollte aber auch nicht das Ziel sein. „Die Organisation würde ohne informale Strukturen nicht funktio -
nieren“, erklärt Sua-Ngam-Iam. Entscheidend sei, zu verstehen, welche informellen Strukturen sich aus den formalen ergeben.
Zugehörigkeitsbedürfnisse nicht unterschätzen
Auch das Bedürfnis nach Zugehörigkeit lasse sich nicht bürokratisch regeln. „Obwohl es offiziell keine festen Teams gibt, entwickeln sich doch persönliche Heimatkreise“, erklärt sie. In der Forschung sei zu beobachten gewesen, dass sich Mitarbeitende bestimmten Kreisen stärker verbunden fühlten, selbst wenn sie in mehreren Kreisen agierten. Diese soziale Dimension sei in der ursprünglichen Konzeption der Holokratie oft unterschätzt worden: „Einige Unternehmen merkten erst im laufenden Betrieb, dass Beziehungen und menschliche Faktoren nicht ausreichend berücksichtigt worden waren.“
Im Gegensatz zu vielen anderen Hypes um neue Managementmethoden und Organisationsformen „greift Holokratie tief in die Organisationsstrukturen ein und bleibt nicht nur Fassade“, sagt Sua-Ngam-Iam. Trotzdem bleibt Holokratie in der Praxis eine seltene Organisationsform. „Quantitativ betrachtet gibt es weltweit nur wenige holokratische Unternehmen und noch weniger, die das Modell in Gänze umsetzen und die offizielle Verfassung unterzeichnen“, sagt sie.
Wunsch nach vertrauten Strukturen
„Je größer eine Organisation ist, desto langsamer können Entscheidungsprozesse werden.“
Phanmika Sua-Ngam-lam, wissenschaftliche Mitarbeiterin, Universität Bielefeld
Holokratische Organisationen bieten eine Alternative zu klassischen Hierarchien, indem sie Eigenverantwortung und flexible Strukturen in den Mittelpunkt stellen. Gerade im HR-Bereich zeigen sich aber auch Grenzen, wenn sich Unternehmen strikt an alle in der Holacracy Constitution formulierten Regeln halten wollen. „Die Bedürfnisse der Mitarbeitenden nach klaren Gehaltsstrukturen, Weiterbildungsmöglichkeiten oder Beförderungen bleiben oft bestehen“, sagt Melanie Lubbe. Sie ist People & Culture Lead beim Webhostinganbieter Raidboxes. Das Unternehmen mit rund 50 Mitarbeitenden arbeitet nach holokratischen Prinzipien, lebt diese aber nicht in der Reinform aus. Ein Grund dafür sei, dass sich nicht alle klassischen HR-Werkzeuge damit vereinbaren lassen. Ein Beispiel
„Ich konnte dafür nichts“
Als Arbeiterkind und Hauptschüler hatte Christian Korff es schwer. Aber er gab nicht auf, studierte als Erster in der Familie und ist heute in einer Führungsposition bei Cisco.
Der junge Christian Korff wollte Fernmelder werden. Als Teil der Generation Boomer und aufgrund vieler Absagen nahm seine Karriere allerdings einen anderen Lauf. Dafür hat er es vom Hauptschüler und Zeitungsausträger zum Managing Director Global Key Accounts bei Cisco geschafft. Auf dem Weg nach oben hat er gelernt: Soziale Herkunft und Lebenslauf sagen nichts darüber aus, was Menschen alles lernen und leisten können.
Das Telefon, in den Achtzigern ein klobiges Ding mit Wählscheibe, hat Christian Korff schon immer fasziniert. Als 16-Jähriger wollte er wissen, wie das funktioniert. Welche Bauteile es dafür braucht. Was wie verkabelt ist. Wann immer der Bielefelder einmal etwas Geld vom Zeitungsaustragen übrig hatte, kaufte er sich kleine Bauteile. Platinen, Kabel, Stecker und alles fürs Löten. Er hatte einen Traum: Fernmelder werden. Also macht er sein Schulpraktikum bei Siemens und taucht ein in die Fernmeldetechnik, sieht, was möglich ist, wie viel er lernen kann. Sein Praktikums-Chef, der Ausbilder im Betrieb, sagte ihm: „Mensch, bewirb dich bei uns und dann kannst du hier deine Lehre machen!“
Siegessicher bewarb sich der Teenager bei dem Industrieriesen. Doch er bekam eine Absage. Auch seine Bewerbung bei der Telekom, seiner Nummer zwei auf der Wunschliste, scheitert. Und so geht es monatelang weiter. Er bewirbt sich bei großen Unternehmen und kleinen Handwerksbetrieben. Insgesamt 79 Absagen erhält er. Keiner hält es für nötig, ihm einen Grund dafür zu nennen.
Aufgeben? Das kam für ihn nie infrage. Korff ist klassisches Arbeiterkind – der Vater Schneider, die Mutter arbeitet im Kaufhausrestaurant bei Karstadt. Rücklagen gab es keine, dafür reichte der Lohn der Eltern nicht. Nicht arbeiten zu gehen, war also nie eine Option für den Heranwachsenden. Für Taschengeld hatten seine Eltern nicht genug übrig. Deshalb musste er sich das Geld für seine Wünsche selbst erarbeiten. Dass da so unerwartet viele Absagen im Briefkas-
„Ich
ten lagen, stimmte ihn traurig. Sein Traumjob schien in weite Ferne zu rücken. „Aber ich habe mich davon nicht unterkriegen lassen, ich konnte dafür nichts“, sagt Korff heute. Für ihn war das viel mehr ein Symptom seiner Zeit. „Ich bin ein ganz klassischer Boomer“, sagt er. „Überall, wo ich hinkam, war es voll. Egal ob es in den Klassenzimmern war oder später bei der Suche nach einer Lehrstelle.“
Die erste Chance: Jemand vertraut dir
Doch als er sich dann bei der diakonischen Einrichtung Bethel in Bielefeld bewirbt, steht er das erste Mal im Rampenlicht, ist nicht mehr einer von vielen. Seine Bühne: das Büro des Werkstattleiters in Bielefeld. „Da habe ich das erste Mal gespürt, dass ich eine Chance habe“, erzählt Korff. „Als der Chef dann sagte, dass ich bei Bethel anfangen kann, wusste ich: Da ist jemand, der vertraut dir, der weist dich nicht ab.“
bin ein ganz klassischer Boomer, überall, wo ich hinkam, war es voll. Egal ob es in den Klassenzimmern war oder später bei der Suche nach einer Lehrstelle.“
Also geht es los, am 1. August 1984. Korff bekommt wie alle anderen einen blauen Kittel. „Elektrowerkstatt“ steht in gelben Lettern darauf. „Da war ich stolz wie Bolle, als ich mit meinem Kittel im Innenhof stand“, erzählt er. Als alle Lehrlinge versorgt sind, fahren sie mit einem Auto hoch zur Telefonanlage. Er hatte sein Ziel erreicht. Dann wurde er Teil einer Testkooperation. Bethel wollte als Handwerksbetrieb eine duale Ausbildung erproben. So konnte Korff regelmäßig wechseln zwischen Bethel und Heydel Elektroakustik, einem Hersteller für zum Beispiel Audiosysteme. Als er bei