Schwander, Opfer im Strafrecht 3. A.

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Marianne Schwander

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Das Opfer im Strafrecht

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Marianne Schwander

Das Opfer im Strafrecht Grundlagen, H채usliche Gewalt, Zwangs- und Minderj채hrigenheirat, Prostitution, Menschenhandel, Pornografie, Knabenbeschneidung, weibliche Genitalverst체mmelung 3., 체berarbeitete und aktualisierte Auflage

Haupt Verlag

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Marianne Schwander, Dr. iur., dipl. klinische Heilpädagogin. Seit 2005 Dozentin für Recht an der Berner Fachhochschule sowie Lehr­beauftragte der Universität Bern, Departement für Strafrecht und Kriminologie. Thematische Schwerpunkte im Recht allgemein, Strafrecht und Kriminologie/Viktimologie sowie in den Bereichen Gewalt und Gender, Datenschutz, Kindheit und Jugend.

3. Auflage: 2019 2. Auflage: 2015 1. Auflage: 2010 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. ISBN: 978-3-258-08156-4 Alle Rechte vorbehalten. Copyright © 2010 Haupt Bern Jede Art der Vervielfältigung ohne Genehmigung des Verlages ist unzulässig. Redaktion und Satzherstellung durch die Autorin Satz Umschlag: Die Werkstatt Medien-Produktion GmbH, Göttingen Umschlagkonzept: Atelier Ben Pfäffli, Burgdorf Printed in Austria www.haupt.ch

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Vorwort zur 3. Auflage Die vorliegende Neuauflage bietet eine überarbeitete und aktualisierte Fassung des opferrechtlichen Grundlagenwerks. Es ist das erste schweizerische Buch, das sich in umfassender Weise mit Fragen des Opfers befasst. Der besondere Charakter des Buches als interdisziplinär und theoretisch breit angelegte wie auch tiefgehende Grundlagenvermittlung wurde in der 3. Auflage beibehalten. Vor dem Hintergrund der verschiedenen Revisionen der letzten Jahre und zwar sowohl auf der internationalen als auch auf der nationalen Ebene wurde gegenüber der Vorauflage ein Grossteil der Kapitel überarbeitet und aktualisiert, namentlich im Teil 2: Das Opfer bei ausgewählten Straftaten. Alle anderen Kapitel, insbesondere im Teil 1: Das Opfer im Strafrechtssystem, mussten im Wesentlichen der Rechtsentwicklung angepasst beziehungsweise aktualisiert werden. Dank Nesa Biert (), Andreas Eicker, Günter Heine (), Natalie Jäger, Guido Jenny (), Arnold Kettiger, Daniel Kettiger, Karl-Ludwig Kunz, Martino Mona, Simone Münger, Anna Ryser, Walter Sibold und Hans Vest haben mich bei der Erarbeitung der 1. und 2. Auflage grundlegend unterstützt, sei dies durch die Motivation, die Thematik „Opfer“ schriftlich aufzuarbeiten, und die Bereitschaft, sich auf Diskussionen einzulassen, durch ihre wertvollen und kritischen Rückmeldungen, ihre fachlichen Hinweise sowie durch die Hilfe beim Korrektorat. Ihnen allen danke ich. Bei der Überarbeitung und Aktualisierung der 3. Auflage konnte ich namentlich auf Gregor Saladin und Walter Sibold zählen – für ihre Unterstützung, ihre Bereitschaft, sich in Diskussionen verwickeln zu lassen sowie die Texte zu lektorieren, danke ich innigst. Bern, Mitte Juni 2019

Marianne Schwander



5

Inhaltsverzeichnis Einleitung ..................................................................................................................11 Opferbegriff.............................................................................................................. 15 Teil 1: Das Opfer im Strafrechtssystem .................................................................... 17 1

2

3

Die Stellung der Opfer im materiellen Strafrecht .............................................. 19 1.1 1.1.1 1.1.2

Das Strafrechtssystem........................................................................... 19 Grundlegend ......................................................................................... 19 Position der Opfer im Strafrechtssystem .............................................. 21

1.2 1.2.1 1.2.2 1.2.3 1.2.4 1.2.5 1.2.6 1.2.7

Die Straftheorien................................................................................... 23 Grundlegend ......................................................................................... 23 Absolute Straftheorien .......................................................................... 26 Relative Straftheorien ........................................................................... 26 Position der Opfer in den Straftheorien ................................................ 28 Interesse von aktuellen Opfern: Unrechtsfeststellung .......................... 31 Dogmatische Einordnung der Unrechtsfeststellung.............................. 36 Formulierungsvorschlag de lege ferenda .............................................. 43

1.3 1.3.1 1.3.2 1.3.3

Die Opfer im Strafgesetzbuch............................................................... 45 Grundlegend ......................................................................................... 45 Wiedergutmachung im Strafgesetzbuch ............................................... 46 Kritische Würdigung aus der Opferperspektive.................................... 51

Die Stellung der Opfer im Strafprozessrecht ..................................................... 63 2.1 2.1.1 2.1.2

Grundlegend ......................................................................................... 63 Allgemein ............................................................................................. 63 Begriffe der Strafprozessordnung ......................................................... 65

2.2

Aktuelle Opfer gemäss Strafprozessordnung ........................................ 66

2.3

Interesse von aktuellen Opfern ............................................................. 71

2.4

Kritische Würdigung aus der Opferperspektive.................................... 78

2.5

Zeugenzimmer ...................................................................................... 81

Die Stellung der Opfer in der Kriminologie ...................................................... 87 3.1

Grundlegend ......................................................................................... 87

3.2

Opfertypologien .................................................................................... 89

3.3

Opferbefragungen und Opferforschung ................................................ 94

3.4

Opferforschung heute ........................................................................... 98


6

3.5 4

Viktimologische Konsequenzen ......................................................... 101

Die Stellung der Opfer in der Kriminalpolitik ................................................. 103 4.1

Grundlegend ....................................................................................... 103

4.2

Gesellschaftspolitische Veränderungen und Kriminalpolitik .............. 108

4.3

Position von aktuellen und potenziellen Opfern ..................................113

4.4

Kriminalpolitische Konsequenzen .......................................................116

Teil 2: Das Opfer bei ausgewählten Straftaten ........................................................119 5

Häusliche Gewalt............................................................................................. 121 5.1

Grundlegend ....................................................................................... 121

5.2

Begriff – Formen – Folgen ................................................................. 122

5.3

Zahlen ................................................................................................. 125

5.4 5.4.1 5.4.2

Ursachen von Häuslicher Gewalt ....................................................... 129 Einleitung ........................................................................................... 129 Ursachen und Risikofaktoren ............................................................. 130

5.5

Gewaltzyklus ...................................................................................... 132

5.6

Stalking ............................................................................................... 138

5.7 5.7.1 5.7.2 5.7.3 5.7.4 5.7.5 5.7.6 5.7.7 5.7.8

Rechtliche Antworten auf Häusliche Gewalt ...................................... 141 Internationale Regelungen .................................................................. 141 Kantonale Regelungen ........................................................................ 143 Strafgesetzbuch ................................................................................... 150 Strafprozessordnung ........................................................................... 158 Zivilgesetzbuch ................................................................................... 159 Ausländerinnen- und Ausländergesetz ................................................ 163 Opferhilfegesetz.................................................................................. 164 Waffengesetz....................................................................................... 167

5.8

Ist Strafrecht die richtige Antwort? ..................................................... 167

5.9

Revision des Artikels 55a StGB.......................................................... 169

5.10 Formulierungsvorschlag de lege ferenda ............................................ 174 5.10.1 Artikel 55a StGB ................................................................................ 174 5.10.2 Bedrohungsmanagement .................................................................... 176 5.11 6

Tödliche Häusliche Gewalt (Homizid-Suizide) .................................. 180

Zwangs- und Minderjährigenheiraten.............................................................. 185 6.1

Grundlegend ....................................................................................... 185


7

7

6.2

Gründe für Zwangs- und Minderjährigenheiraten .............................. 188

6.3

Der familiäre Kontext ......................................................................... 189

6.4

Rechtliche Antworten auf Zwangs- und Minderjährigenheiraten ....... 191

6.5

Strafrechtliche Antworten im Besonderen auf Zwangs- und Minderjährigenheiraten ...................................................................... 196

6.6

Gesellschaftspolitische und kriminalpolitische Veränderungen .......... 199

6.7

Flankierende Massnahmen zum Bundesgesetz ................................... 200

6.8 6.8.1 6.8.2

Kritik an der Diskussion über Zwangs- und Minderjährigenheiraten . 202 Zwangs- und Minderjährigenheiraten und Häusliche Gewalt ............ 202 Kulturalisierende Konnotationen zu Zwangs- und Minderjährigenheiraten ...................................................................... 204

6.9 6.9.1 6.9.2

Ist (Straf-)Recht die richtige Antwort? ............................................... 208 Grundlegend ....................................................................................... 208 Gerichtsurteile zu Zwangs- und Minderjährigenheiraten ................... 209

6.10 6.10.1 6.10.2 6.10.3

Formulierungsvorschlag de lege ferenda ............................................ 212 Grundlegend ....................................................................................... 212 Formulierungsvorschlag zu verschiedenen Gesetzesartikeln ............. 214 Erläuterungen ..................................................................................... 218

Prostitution ...................................................................................................... 227 7.1

Begriff „Prostitution“.......................................................................... 227

7.2

Grundlegend ....................................................................................... 230

7.3 7.3.1 7.3.2 7.3.3 7.3.4 7.3.5 7.3.6 7.3.7 7.3.8

Artikel 195 StGB und Artikel 196 StGB ............................................ 235 Einleitung ........................................................................................... 235 Artikel 195 Buchstabe a StGB ............................................................ 235 Artikel 195 Buchstabe b StGB............................................................ 236 Artikel 195 Buchstabe c StGB ............................................................ 238 Artikel 195 Buchstabe d StGB............................................................ 240 Artikel 196 StGB ................................................................................ 240 Konkurrenzen ..................................................................................... 242 Fazit .................................................................................................... 242

7.4

Legale Prostitution .............................................................................. 243

7.5

Kantonale Regelungen ........................................................................ 244

7.6 7.6.1 7.6.2 7.6.3

Regelungen in Deutschland ................................................................ 246 Grundlegend ....................................................................................... 246 Das Prostitutionsgesetz ....................................................................... 248 Das Prostituiertenschutzgesetz ........................................................... 251

7.7

Ist Strafrecht die richtige Antwort? ..................................................... 252


8

7.8 7.8.1 7.8.2 8

9

Formulierungsvorschlag de lege ferenda ............................................ 258 Entwurf eines Bundesgesetzes zur Regelung der Sexarbeit ............... 258 Erläuterungen zum Bundesgesetzentwurf........................................... 261

Menschenhandel .............................................................................................. 267 8.1

Grundlegend ....................................................................................... 267

8.2 8.2.1 8.2.2 8.2.3 8.2.4 8.2.5 8.2.6 8.2.7

Artikel 182 StGB ................................................................................ 269 Einleitung ........................................................................................... 269 Artikel 182 Absatz 1 StGB ................................................................. 269 Artikel 182 Absatz 2 StGB ................................................................. 271 Artikel 182 Absatz 3 StGB ................................................................. 271 Artikel 182 Absatz 4 StGB ................................................................. 271 Konkurrenzen ..................................................................................... 272 Fazit .................................................................................................... 272

8.3

Weitere rechtliche Antworten auf Menschenhandel ........................... 273

8.4

Das Bundesamt für Polizei fedpol ...................................................... 275

8.5

FIZ Makasi ......................................................................................... 278

8.6 8.6.1 8.6.2

Ist Strafrecht die richtige Antwort? ..................................................... 280 Grundlegend ....................................................................................... 280 Weiterführende Antworten .................................................................. 283

Pornografie ...................................................................................................... 293 9.1

Grundlegend ....................................................................................... 293

9.2 9.2.1 9.2.2 9.2.3 9.2.4 9.2.5 9.2.6 9.2.7 9.2.8 9.2.9 9.2.10

Artikel 197 StGB ................................................................................ 296 Einleitung ........................................................................................... 296 Artikel 197 Absatz 1 StGB ................................................................. 297 Artikel 197 Absatz 2 StGB ................................................................. 299 Artikel 197 Absatz 3 StGB ................................................................. 299 Artikel 197 Absatz 4 und 5 StGB ....................................................... 301 Artikel 197 Absatz 6 StGB ................................................................. 305 Artikel 197 Absatz 7 StGB ................................................................. 305 Artikel 197 Absatz 8 StGB ................................................................. 306 Artikel 197 Absatz 9 StGB ................................................................. 307 Konkurrenzen ..................................................................................... 307

9.3 9.3.1 9.3.2

Bekämpfung der harten Pornografie im Internet ................................ 307 Das Bundesamt für Polizei fedpol ...................................................... 308 Cybercrime (Europarats-Konvention und Zusatzprotokoll) ............... 309

9.4 9.4.1

Bekämpfung der Kinderpornografie ................................................... 310 Grundlegend ....................................................................................... 310


9

9.4.2 9.4.3 9.4.4

Internationale Gesetzgebung .............................................................. 312 Kindersextourismus und Meldeformular ............................................ 313 Fachstelle ECPAT Switzerland ........................................................... 314

9.5 9.5.1 9.5.2

Ist Strafrecht die richtige Antwort? ..................................................... 316 Vorbemerkungen ................................................................................. 316 Antworten auf Artikel 197 Absätze 1 bis 5 sowie 8 StGB .................. 321

9.6 9.6.1 9.6.2

Formulierungsvorschlag de lege ferenda ............................................ 325 Artikel 197 StGB de lege ferenda ....................................................... 325 Erläuterungen ..................................................................................... 326

10 Knabenbeschneidung ....................................................................................... 329 10.1

Grundlegend ....................................................................................... 329

10.2

Männliche Beschneidung.................................................................... 330

10.3

Resolution des Europarats zum Recht der Kinder auf körperliche Integrität ............................................................................................. 333

10.4 10.4.1 10.4.2 10.4.3

Das Urteil des Landgerichts Köln und seine Folgen .......................... 334 Grundlegend ....................................................................................... 334 Das Gesetz über den Umfang der Personensorge ............................... 337 Fazit und Kritik ................................................................................... 339

10.5 10.5.1 10.5.2 10.5.3

Die Kinderrechtskonvention ............................................................... 341 Grundlegend ....................................................................................... 341 Im Speziellen ...................................................................................... 344 Kinderrechtskonvention und Knabenbeschneidung............................ 346

10.6

Die Einordnung der Knabenbeschneidung im schweizerischen Rechtssystem ...................................................................................... 347 10.6.1 Bundesverfassung ............................................................................... 347 10.6.2 Zivilgesetzbuch ................................................................................... 351 10.6.3 Strafgesetzbuch ................................................................................... 359 10.7 Verschiedene Antworten auf Knabenbeschneidung ............................ 362 10.7.1 Einwilligung ....................................................................................... 362 10.7.2 Vornahme der Knabenbeschneidung .................................................. 363 10.8 Ist Strafrecht die richtige Antwort? ..................................................... 366 10.8.1 Grundlegend ....................................................................................... 366 10.8.2 Formulierungsvorschlag de lege ferenda ............................................ 367 11 Weibliche Genitalverstümmelung.................................................................... 369 11.1

Grundlegend ....................................................................................... 369

11.2

Begriff – Formen – Folgen ................................................................. 370


10

11.3

Zahlen ................................................................................................. 372

11.4

Ursachen ............................................................................................. 373

11.5 11.5.1 11.5.2 11.5.3 11.5.4

Rechtliche Antworten auf weibliche Genitalverstümmelung ............. 375 Internationale und regionale Instrumente ........................................... 375 In den Ursprungsländern .................................................................... 375 In den Einwanderungsländern ............................................................ 376 In der Schweiz .................................................................................... 377

11.6 11.6.1 11.6.2 11.6.3 11.6.4

Artikel 124 StGB ................................................................................ 383 Grundlegend ....................................................................................... 383 Artikel 124 Absatz 1 StGB ................................................................. 384 Artikel 124 Absatz 2 StGB ................................................................. 391 Konkurrenzen ..................................................................................... 392

11.7 11.7.1 11.7.2 11.7.3 11.7.4 11.7.5

Ist Strafrecht die richtige Antwort? ..................................................... 392 Grundlegend ....................................................................................... 392 Weibliche Genitalverstümmelung und Kindesschutz ......................... 394 Gesamtschweizerische Melderechte und Meldepflichten ................... 397 Weibliche Genitalverstümmelung als Asylgrund ................................ 401 Information – Sensibilisierung – Prävention ...................................... 403

Literaturverzeichnis ................................................................................................ 407 Materialien ............................................................................................................. 431 Abkürzungsverzeichnis .......................................................................................... 441


11

Einleitung JAN PHILIPP REEMTSMA wurde am 25. März 1996 niedergeschlagen, entführt und 33 Tage lang in einem kleinen und dunklen Keller gefangen gehalten. Mehrmals war er sicher, er würde sterben, bevor ihn seine Entführer nach Zahlung eines Lösegeldes freiliessen. In seinem Buch „Im Keller“ steht folgender Satz: „Es ist vorbei und ist doch nicht vorbei, noch lange nicht, und wird nicht einmal vorbei sein, wenn die Verbrecher hinter Schloss und Riegel sitzen. Der Keller bleibt in meinem Leben.“ 1 Die persönliche Konfrontation mit einer Straftat bedeutet für Opfer häufig einen schmerzhaften Einschnitt in ihrem Leben, dessen Auswirkungen auf die Einstellungen gegenüber sich selbst und auf das Vertrauen gegenüber Dritten auch noch da sind und gespürt werden, wenn die unmittelbaren Folgen längst vorbei und vergessen sind. Das Verletzende an der Straftat liegt oft nicht im Verlust eines Gegenstandes, beispielsweise eines Geldbeutels, und auch nicht in zugefügten physischen Schmerzen, sondern in der Enttäuschung des Vertrauens in das Bestehen einer mehr oder weniger gerechten Welt, in der menschliche Beziehungen freundlich oder neutral verlaufen und in der im Grunde niemand ohne eigenes Zutun angegriffen wird. 2 Viele Verhaltensweisen von Tätern und Täterinnen machen betroffen, etliche Täterverhaltensweisen machen Angst. Verletzungen von Opfern machen noch mehr betroffen, Hilflosigkeit, sogar Sprachlosigkeit entsteht und allenfalls sogar Mühe, Opfern einfach zuzuhören, denn genau genommen will niemand mit realen Verletzungen konfrontiert werden. 3 Dabei wollen die meisten Opfer nach der Tat über das Geschehene sprechen. Sie wünschen sich einen Gesprächspartner oder eine Gesprächspartnerin, der oder die ihnen mitfühlend zuhört. Manchmal wollen Opfer auch schweigen und sind dankbar, wenn das Gegenüber verständnisvoll ihr Schweigen akzeptiert. Für die psychische Verarbeitung des Geschehenen erfüllt die Möglichkeit des Darübersprechenkönnens oder auch des Darüberschweigenkönnens eine wichtige Entlastungsfunktion. 4

1 2

3

4

JAN PHILIPP REEMTSMA 2002a, S. 154. Siehe u.a. THOMAS WEIGEND 1989, S. 383 f.; JUDITH N. SHKLAR 1997, S. 53; siehe auch BARBARA BLUM 2002, S. 138. Zu den vier Faktoren, die zusammen eine Art „sozialen Grundaffekt“ gegen Gewaltopfer bilden, siehe JAN PHILIPP REEMTSMA 2002b, S. 40 f. Siehe auch BERND-DIETER MEIER 2016, § 8, Rz. 47.


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Wir alle haben Bilder und Vorstellungen von Opfern, von Tätern und Täterinnen, vertreten eine bestimmte Auffassung über Opfer, haben eine bestimmte Meinung von Tätern und Täterinnen, stehen auf einer Seite – auf der Opferseite, der Täterseite oder irgendwo dazwischen. Dies geschieht oft unbewusst. HASSEMER und REEMTSMA beenden die Einleitung ihres Buches „Verbrechensopfer. Gesetz und Gerechtigkeit“ mit folgenden Worten: „Es fällt Menschen, wie es scheint, sehr schwer, sich aus einer einseitigen Identifikation – sei es mit ’dem’ Täter, der zunächst als ein Opfer der Umstände, dann als ein Opfer repressiver Kriminalpolitik gesehen wird, sei es mit ’dem’ Verbrechensopfer, als jemandem, der zunächst nicht genug geschützt wurde, dann unter zu grossen Mühen und oft vergeblich um seine materiellen wie immateriellen Entschädigungsansprüche kämpfen muss – freizumachen. Analog ist das Bild, unter dem der Staat erscheint: als Bedrohung meiner Freiheit oder als Schutzmacht vor dem Verbrechen. Aus dieser einseitigen Orientierung resultieren eifernde Konzepte. Man will dem Opfer geben, oft nicht nur, um ihm etwas zu geben, was ihm zusteht oder zustehen sollte, sondern um dem Täter (meist, nota bene, dem Angeklagten) zu nehmen. Oder man will dem Opfer nichts geben, weil jede grössere Orientierung des Rechts auf das Opfer im Verdacht steht, durch die Hintertür die Rechtsstellung des Angeklagten oder erreichte Humanitätsstandards des Strafvollzugs demontieren zu sollen.“ 5 Es gibt weder das typische Opfer 6 – wie es auch den typischen Täter oder die typische Täterin nicht gibt 7 – noch ein einheitliches Konzept im Umgang des Strafrechts mit Personen, die Opfer einer Straftat geworden sind. Es gibt aber Rollen und Positionen, die den Opfern zugewiesen werden. In einem ersten Teil des Buches wird die Frage erörtert, welche Stellung heute das Opfer im Strafrechtssystem, insbesondere im materiellen Strafrecht 8, im Strafprozessrecht 9, in der Kriminologie 10 sowie in der Kriminalpolitik 11, innehat. Ziel ist es nicht, 5 6

7

8 9 10 11

WINFRIED HASSEMER/JAN PHILIPP REEMTSMA 2002, S. 11 f. Siehe LYANE SAUTNER 2014, S. 40: „Das Opfer gibt es nicht“ (Hervorhebung durch Autorin weggelassen). Zu Kriminalitäts- und Kriminalisierungstheorien siehe u.a. KARL-LUDWIG KUNZ/TOBIAS SINGELNSTEIN 2016, 2. Kapitel; BERND-DIETER MEIER 2016, § 3. Siehe Ziff. 1. Siehe Ziff. 2. Siehe Ziff. 3. Siehe Ziff. 4.


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das materielle Strafrecht, das Strafprozessrecht, die Kriminologie oder die Kriminalpolitik umfassend zu erörtern, sondern sie jeweils, von einer grundlegenden Einleitung ausgehend, aus einer Opferperspektive kritisch zu beleuchten. Neben der Analyse steht die Diskussion weiterführender Gedanken, insbesondere was das Interesse von aktuellen Opfern nach einer Unrechtsfeststellung, deren Umsetzung im (Straf-)Recht und das Interesse von potenziellen Opfern an einem repressiveren Strafrecht betrifft. Diesen verschiedenen Betrachtungspunkten ist inhärent, dass die Diskussion teilweise sehr abstrakt, teilweise sehr praxisorientiert ausfallen wird. In einem zweiten Teil werden spezifische Straftatbestände, im Speziellen Häusliche Gewalt 12, Zwangs- und Minderjährigenheirat 13, Prostitution 14, Menschenhandel 15, Pornografie 16, Knabenbeschneidung 17 sowie weibliche Genitalverstümmelung 18 erörtert. Denn empirische Befunde belegen, dass insbesondere Opfer von Häuslicher Gewalt, von Zwangs- und Minderjährigenheirat, Prostitution, Menschenhandel und Pornografie, Tätige in der Prostitution oder Pornografie, Knaben, die beschnitten werden, aber auch Mädchen und Frauen, die von Genitalverstümmelung betroffen oder bedroht sind, erheblichen physischen, sexuellen und psychischen Gefährdungen sowie Gewalttätigkeiten ausgesetzt sind und nicht selten aus besonders vulnerablen Gruppen kommen. Aus rechtlicher, auch grundrechtlicher, psychologischer sowie politischer Sicht ist diesen problematischen Gefährdungen entgegenzutreten. Es ist daher die Frage zu beantworten, ob das schweizerische Täter- bzw. Täterinnenstrafrecht der jeweiligen spezifischen Opferstellung gerecht wird. Zudem stellt sich die Frage, ob Strafrecht überhaupt die richtige Antwort auf diese spezifischen Opferkonstellationen ist. Vor diesem Hintergrund werden weiterführende (straf-) rechtliche Antworten bezogen auf Opfer von Häuslicher Gewalt, von Zwangs- und Minderjährigenheirat, Prostitution, Menschenhandel und Pornografie, auf Tätige in der Prostitution oder Pornografie, Knaben, die beschnitten werden, aber auch auf Mädchen und Frauen, die von Genitalverstümmelung betroffen oder bedroht sind, erarbeitet. 19 Vorab ist der Opferbegriff zu klären.

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13 14 15 16 17 18 19

Siehe Ziff. 5; ausgehend von der Entstehungsgeschichte wird der Begriff hier als Kompositum – Häusliche Gewalt – verwendet. Siehe Ziff. 6. Siehe Ziff. 7. Siehe Ziff. 8. Siehe Ziff. 9. Siehe Ziff. 10. Siehe Ziff. 11. Literatur, Rechtsprechung sowie politische Entscheide sind bis Mitte Juni 2019 berücksichtigt; die Internetquellen sind am 17. Juni 2019 letztmals abgerufen worden.



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Opferbegriff In der kriminologischen und viktimologischen Diskussion hat sich einerseits im Anschluss an einen der Begründer der modernen Viktimologie, HANS VON HENTIG (18871974) 20, ein eher enger Opferbegriff durchgesetzt. Nach diesem Verständnis wird unter einem Opfer in der Regel eine natürliche Person verstanden, die als direkte Folge eines Verstosses gegen eine Strafrechtsnorm eine Beeinträchtigung erlitten hat. Diese kann physischer, sexueller, psychischer oder wirtschaftlicher Natur sein; Opfer ist somit eine Person, die von einem strafrechtlich relevanten Konflikt betroffen ist. 21 Andererseits kann der viktimologische Opferbegriff auch weiter gefasst werden, indem er neben strafrechtlich relevanten Opfersituationen eine sekundäre oder tertiäre Viktimisierung 22 sowie den gesamten, viktimologisch ausserordentlich bedeutenden Komplex indirekter Viktimisierung 23 mitberücksichtigt. 24 Die schweizerische Gesetzgebung stützt sich auf den engeren Opferbegriff ab. In der Schweizerischen Strafprozessordnung (StPO) 25 gilt nach Artikel 116 Absatz 1 „[a]ls Opfer [...] die geschädigte Person, die durch die Straftat in ihrer körperlichen, sexuellen oder psychischen Integrität unmittelbar beeinträchtigt worden ist.“ 26 Dieser Opferbegriff deckt sich mit Artikel 1 Absatz 1 des Bundesgesetzes über die Hilfe an Opfern von

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25

26

Zur Opfertypologie von HANS VON HENTIG siehe Ziff. 3.2. Siehe insbesondere BERND-DIETER MEIER 2016, § 8, Rz. 4. Siehe auch die Legaldefinition im Rahmenbeschluss des Rates vom 15. März 2001 über die Stellung des Opfers im Strafverfahren, die im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften, Nr. L 82 vom 22. März 2001, in Artikel 1, S. 2, veröffentlicht worden ist: Unter einem Opfer wird eine Person verstanden, die von einer Straftat beeinträchtigt worden ist, wobei die Beeinträchtigung unmittelbare Folge der Straftat ist. Die Beeinträchtigung kann eine physische, sexuelle, psychische oder wirtschaftliche sein. Unter sekundärer Viktimisierung werden schädigende Einwirkungen durch Reaktionen der sozialen Umwelt beziehungsweise der Behandlung durch Behörden und juristische Instanzen im Anschluss an die primäre Viktimisierung verstanden. Eine tertiäre Viktimisierung ist dann gegeben, wenn Opfer ihren Opferstatus in das eigene Selbstbild übernehmen und dadurch anfälliger werden für weitere Opferwerdungen; siehe insbesondere LYANE SAUTNER 2014, S. 18 f.; siehe auch MICHAEL KILCHLING 1995, S. 68 f., Fn. 98; zur Sekundärtraumatisierung in Polizei und Justiz siehe NINA BAMBERGER/JAN GYSI 2018, S. 609 ff. Als indirekte sind keine eigenen Erfahrungen, aber eine Viktimisierung im sozialen Nahbereich zu verstehen; siehe MICHAEL KILCHLING 1995, S. 80 ff. Siehe MICHAEL KILCHLING 1995, S. 68 f.; siehe auch DERS. 2002, S. 57. Zum Opferbegriff in seiner Vieldeutigkeit, in der Viktimologie und im Strafrecht siehe LYANE SAUTNER 2014, S. 13 ff. Schweizerische Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 (Strafprozessordnung, StPO; SR 312.0), die am 1. Januar 2011 in Kraft getreten ist. Siehe auch Ziff. 2.1.2.


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Straftaten (OHG) 27: „Jede Person, die durch eine Straftat in ihrer körperlichen, psychischen oder sexuellen Integrität unmittelbar beeinträchtigt worden ist (Opfer), hat Anspruch auf Unterstützung nach diesem Gesetz (Opferhilfe)“, wobei nach Absatz 3 dieses Artikels der Anspruch unabhängig davon besteht, ob der Täter oder die Täterin ermittelt worden ist, sich schuldhaft verhalten oder vorsätzlich oder fahrlässig gehandelt hat. 28 In der Lehre, insbesondere in der Kriminologie sowie in der Kriminalpolitik, wird in der Regel von den Opfern gesprochen und selten zwischen Opfern verschiedener Deliktskategorien oder zwischen aktuellen und potenziellen Opfern unterschieden. Aktuelle Opfer sind Personen, die von einem strafrechtlich relevanten Konflikt direkt betroffen sind. Dagegen sind potenzielle Opfer Personen, die befürchten, Opfer einer Straftat zu werden. 29 Die Unterscheidung von aktuellen und potenziellen Opfern ist von zentraler Bedeutung, da sich Interessen dieser beiden Opferkategorien punktuell decken, aber auch diametral widersprechen können – dies gipfelt dann in kriminalpolitisch unterschiedlichen Forderungen. Im Namen von (potenziellen) Opfern werden dann Forderungen an die Politik und den Staat gerichtet, welche nicht immer den Interessen von aktuellen Opfern entsprechen. 30

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Bundesgesetz vom 23. März 2007 über die Hilfe an Opfer von Straftaten (Opferhilfegesetz, OHG; SR 312.5), das am 1. Januar 2009 in Kraft getreten ist. Siehe DOMINIK ZEHNTNER 2009, OHG-Kommentar, Art. 1; siehe auch Ziff. 2.1.2. Siehe insbesondere WINFRIED HASSEMER 2002, S. 100 f.; MICHAEL KILCHLING 2008, S. 7 ff. U.a. BERND-DIETER MEIER 2016, § 8, Rz. 19 ff., spricht von Opfern und Nichtopfern. Zur Kriminalpolitik siehe Ziff. 4.


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Teil 1: Das Opfer im Strafrechtssystem



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1

Die Stellung der Opfer im materiellen Strafrecht

Materielles „[...] Strafrecht ist die Gesamtheit der Rechtsnormen, welche an bestimmte Arten menschlichen Verhaltens Strafen und Massnahmen knüpfen“ 31, es ist Teilgebiet des gesamten Strafrechtssystems.

1.1

Das Strafrechtssystem

1.1.1 Grundlegend Strafrecht beruht auf dem Prinzip der Unterordnung der Bürgerinnen und Bürger unter die Strafgewalt als Ausfluss der Staatsgewalt. Es ist Bestandteil des öffentlichen Rechts, und wird als „Kerngebiet und Fundament der rechtlichen Sozialkontrolle“ 32 bezeichnet. Die rechtliche Sozialkontrolle hat die Aufgabe, innerhalb einer Gesellschaft eine Ordnung herzustellen, und kann daher als „[...] eine unverzichtbare Grundlage vergesellschafteten Lebens“ 33 bezeichnet werden. Sie sichert Verhaltenserwartungen, ohne die eine menschliche Gemeinschaft nicht gelingen, eine Gruppe nicht existieren kann. Dem Strafrecht kommt dabei eine wichtige Bedeutung zu: Ein zu rigides Strafrechtssystem wird zur Brutalisierung von Sozialisationsprozessen beitragen, ein allzu permissives wird den Strafrechtsorganen zugunsten informeller Privatjustiz entgleiten, denn wirksames Handeln des Staates erfüllt die Funktion, die Selbsthilfe des Einzelnen oder einer sozialen Gruppe, das Faustrecht, abzulösen. 34 Strafrecht spielt beim Grundrechtsschutz eine zentrale Rolle, es ist ein Instrument des Rechtsstaates bei Übergriffen auf elementare Rechte einer Person oder der Gesellschaft. 35 In der rechtsstaatlichen Demokratie ist das Strafrecht daher kein Repressionsmittel gegen menschliche Freiheit, sondern das entscheidende Instrument für die Freiheitsbalance zwischen Bürgerinnen und Bürgern. Das Strafrecht wacht über die Freiheit und verteilt Verantwortung: Was es den potenziellen Tätern und Täterinnen mit Verboten an Freiheiten nimmt, gibt es den Opfern an Vertrauen zurück. Es geht um das Gleichgewicht der Freiheitsrechte von Starken und Schwachen in einer Gemeinschaft. 36

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ROBERT HAUSER/ERHARD SCHWERI/KARL HARTMANN 2005, § 1, Rz. 5. Zum Strafgesetzbuch siehe Ziff. 1.3. VOLKER KREY/ROBERT ESSER 2016, § 1, Rz. 4 (Hervorhebung durch Autorin weggelassen). WINFRIED HASSEMER 1990, S. 318. Siehe im speziellen WINFRIED HASSEMER 1995, S. 208; MARC FORSTER 1995, S. 67. Siehe PIERRE TSCHANNEN 2016, § 7, Rz. 66: „Eine herausragende Rolle beim Grundrechtsschutz unter Privaten spielt übrigens, was man oft vergisst, das Strafgesetzbuch.“ Siehe DIETER RÖSSNER 1992, S. 271; DERS. 2001, S. 977.


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Die schwächere Person kann sich darauf verlassen, dass in einem Interessenkonflikt nicht einfach das Mass der physischen Kraft über ihre Gesundheit, Eigentum oder andere Rechtsgüter entscheidet. Das Recht allgemein und das Strafrecht im Besonderen versorgen die Gesellschaft mit Regeln; diese Regeln vereinfachen zwar Problemlösungen nicht, sie streben aber eine gerechtere Lösung an. 37 Aufgabe des Strafrechts ist es, „[...] den durch das Recht geschützten Gütern, den Rechtsgütern, einen verstärkten Schutz zu verleihen.“ 38 Anders ausgedrückt: Aufgabe des Strafrechts ist der Schutz der Rechtsgüter, beispielsweise Leben oder Freiheit, des einzelnen Individuums und der Gemeinschaft vor Beeinträchtigungen durch Straftaten. 39 Strafrecht sichert die Lebens- und Freiheitsgrundlagen der Individuen und der Gemeinschaft und damit den Bestand elementarer sozialer Normen. 40 Oder in den Worten von NOLL: „[...] Strafrecht hat eindeutig Schutzfunktion; es schützt nur die elementaren Handlungs- und Güterwerte, [...].“ 41 Damit verbleiben dem Strafrecht allein diejenigen Aufgaben, die weder zur ausserrechtlichen 42 noch zur über den Kern hinausgehenden rechtlichen Sozialkontrolle gehören, die jedoch für das friedliche, zivile und grundrechtskonforme Zusammenleben der Bürgerinnen und Bürger unverzichtbar sind. 43 Dies entspricht dem Subsidiaritätsprinzip des Strafrechts – Strafrecht soll „ultima ratio“ sein. 44 Strafrecht tritt so als Auffangnetz zur sonstigen Rechtsordnung hinzu, indem es Rechtsgüter schützt, die auch im Übrigen rechtlich geschützt sind. Der primäre Schutz beispielsweise von Eigentum erfolgt im Privatrecht. Soweit das Privatrecht elementare 37 38

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Siehe CORNELIUS PRITTWITZ 2000, S. 54 f. HANS SCHULTZ 1982, S. 47; zum Rechtsgut siehe die umfassende Darlegung von GERHARD FIOLKA 2006. Siehe insbesondere GÜNTER STRATENWERTH 2011, § 3, Rz. 6 ff.; MARC FORSTER 1995, S. 45. Siehe GÜNTER STRATENWERTH 2011, § 2, Rz. 14. PETER NOLL 1985, S. 102. Beispielsweise ist zentrale Schutzfunktion beim Straftatbestand der Pornografie die ungestörte sexuelle Entwicklung von Kindern und Jugendlichen; siehe Ziff. 9.1, Ziff. 9.2.2 sowie Ziff. 9.5. Zur ausserrechtlichen Sozialkontrolle gehören: Familie, Schule, Nachbarschaft, Peer-Groups, Gemeinden, Betriebe, Kirchen, Vereine. Diese achten auf die Einhaltung ungeschriebener und geschriebener Sozialnormen und reagieren beispielsweise mit Lob, Mitbeteiligung, materieller Belohnung, d.h. mit positiven Sanktionen, oder beispielsweise mit Tadel, Entzug von Taschengeld, Ausschluss, Disziplinarmassnahmen, d.h. mit negativen Sanktionen; siehe VOLKER KREY/ROBERT ESSER 2016, § 1, Rz. 2. Siehe VOLKER KREY/ROBERT ESSER 2016, § 1, Rz. 2 ff.; zur strafrechtlichen Sozialkontrolle grundlegend siehe insbesondere BERND-DIETER MEIER 2016, § 9. Siehe u.a. VOLKER KREY/ROBERT ESSER 2016, § 1.


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Grundvoraussetzungen menschlichen Zusammenlebens rechtlich organisiert, fusst es seinerseits durchgängig auf einem soziokulturellen Gemeingut von Werten und Regeln. Das zusätzlich geltende Strafrecht bestätigt damit die Gültigkeit dieser Wertordnung und greift ein, wenn der primäre Schutz nicht gewährleistet wurde. 45 Strafrecht und damit die Strafnorm ist das „ultima ratio-Instrument“ des Gesetzgebers. 46 Es stellt sich im Folgenden die Frage, ob hinter einem Rechtsgut, dessen Schutz Aufgabe des Strafrechts ist, das aktuelle Opfer, das potenzielle Opfer oder das Recht als solches steht.

1.1.2 Position der Opfer im Strafrechtssystem Mit der Entstehung von Staaten und damit der Ausbildung eines zentralen Gewaltmonopols 47 kristallisierte sich die Zweierbeziehung zwischen staatlichem Strafrecht und Täter und Täterinnen heraus – weg von der beherrschenden Initiative des Opfers über die Einleitung und den Ablauf des Verfahrens 48, weg von der Selbstjustiz, der Familienrache und Blutrache und damit der Beziehung zwischen Täter bzw. Täterin und Opfer. Rechtsstaatliches Strafrecht ging so einher mit der Neutralisierung des Opfers. 49 Die Schutzgarantien wurden auf den Täter und die Täterin ausgerichtet, das Opfer kam argumentativ nicht vor. Es galt, dem Täter und der Täterin gerecht zu werden, was historisch gesehen sehr verständlich ist: Erinnert sei an die schrecklichen, menschenverachtenden Missbräuche in der Zeit der Inquisition. 50 Aus historischer Sicht lässt sich nach GÜNTHER die Neutralisierung, er spricht von Konfliktenteignung, des aktuellen Opfers in drei Schritten wie folgt zusammenfassend und pointiert darstellen 51: In einem ersten Schritt werden dem aktuellen Opfer die Gewaltmittel zur eigenmächtigen Rechtsdurchsetzung weggenommen, um diese dem öffentlichen Strafanspruch sowie dem Gewaltmonopol des Staates zu unterstellen. Das Bedürfnis nach Genugtuung und Sühne des Opfers wird in einem zweiten Schritt in die Pri45

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Siehe dazu WOLFGANG HOFFMANN-RIEM 2000, S. 64 f. Zum Strafrecht und der Rolle staatlicher Schutzpflichten siehe SUSANNE WOLLMANN 2009, S. 50 ff. Siehe VOLKER KREY/ROBERT ESSER 2016, § 1, Rz. 17 und Rz. 18. Zur Gewalt und der Entstehung von Staaten siehe MICHAEL HAGEN 2002, S. 157 ff.; zum staatlichen Gewaltmonopol siehe PIERRE TSCHANNEN 2016, § 1, Rz. 13; siehe auch DIETER GRIMM 2002, S. 1297 ff. Siehe insbesondere THOMAS WEIGEND 1989, S. 93. Siehe WINFRIED HASSEMER 1990, S. 70; DERS. 2002, S. 100; HEIKE JUNG 2000, S. 159, spricht von „Entmachtung“ des Opfers: „Die Entstehung des öffentlichen Strafrechts machte das Opfer, überspitzt formuliert, zum Objekt paternalistischen Schutzes.“ Siehe auch ANNE KERSTEN 2015, S. 29 f. Zu einem historischen Überblick siehe MARK PIETH 2016, S. 21 ff. Siehe KLAUS GÜNTHER 2002, S. 212 f.; vgl. auch MICHAEL KILCHLING 2002, S. 58.


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vatsphäre des Opfers verlagert. Öffentlich werden die Genugtuungsbedürfnisse und Interessen nicht mehr gehört, da der Staat nicht verantwortlich ist für die Aufarbeitung der Verletzungen des Opfers. Aktuelle Opfer bleiben aber für den Staat gefährlich und unberechenbar, solange jedes Verbrechen wegen seines verletzenden Charakters unaufhörlich neue Genugtuungsbedürfnisse entstehen lässt, die dann wiederum öffentlich keinen Raum erhalten. Aus diesem Grund ist in einem dritten Schritt die Interpretation des Verbrechens als Verletzung, als persönliche Diskriminierung zu beseitigen. Das Verbrechen selbst darf nicht länger als ein Grund für das Bedürfnis nach Genugtuung und Sühne gelten. Infolgedessen muss die diskriminierende, die Missachtung des aktuellen Opfers ausdrückende Qualität des Verbrechens neutralisiert werden. Das Verbrechen wird so umgedeutet zur Rechtsverletzung, später dann, in einem weiteren Abstraktionsschritt weg von der Sphäre des Opfers, zu einer Rechtsgutsverletzung. 52 Sowohl die Neutralisierung des Opfers als auch die Konzentration auf den Täter und die Täterin im Strafrecht sind kein Zufall 53, denn die Übergabe des Konflikts an den Staat und damit auch die Formalisierung der Sozialkontrolle ist „[...] Bedingung von Freiheit, Gleichheit und Sicherheit in einer vergesellschafteten und zu Übergriffen neigenden Welt [...].“ 54 Dieses Verfahren der Konfliktverarbeitung ist vernünftig, zivilisiert und grundrechtsfreundlich, und es gibt in unserer Welt keine radikale Alternative, aber „[...] so bleibt doch wahr, dass vor allem das Opfer die Formalisierung der staatlichen Konfliktverarbeitung bezahlt [...].“ 55 Bis zur Wiederentdeckung des aktuellen Opfers galt lange Zeit fast unumstritten, dass das Strafrecht Rechtsgüterschutz, d.h. Schutz von Rechtsgütern potenzieller Opfer, zu leisten habe: Im Rechtsgut ist das Opfer „objektiviert“ 56 und damit auch „anonymisiert“ 57. Das potenzielle und nicht das aktuelle Opfer ist somit seit längerem der entscheidende Orientierungspunkt für die Aufgaben des Strafrechts 58 und damit für den Rechtsgüterschutz. Oder anders formuliert: Das geschützte Rechtsgut trägt die potenzielle Opferperspektive in sich. 59 HASSEMER fasst denn auch wie folgt zusammen: „Nicht um Opferschutz geht es dem Rechtsgutsdenken, sondern um den Schutz der allgemeinen Handlungsfreiheit vor illegitimer Strafrechtskontrolle; das Opfer ist in diesem Konzept nur eine Bedingung der Möglichkeit, das schützenswerte 52 53 54 55 56 57 58 59

Siehe KLAUS GÜNTHER 2002, S. 213. Siehe u.a. THOMAS WEIGEND 1989, S. 167; PETER-ALEXIS ALBRECHT 2010, S. 398 f. WINFRIED HASSEMER 2002, S. 20; siehe auch PETER-ALEXIS ALBRECHT 2010, S. 397 ff. WINFRIED HASSEMER 2002, S. 23; siehe auch TATJANA HÖRNLE 2000, S. 180. KURT SEELMANN 1989, S. 670. HEIKE JUNG 1981, S. 1151. Siehe KURT SEELMANN 1989, S. 670. Siehe MARC FORSTER 1995, S. 54.


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’Gut’ oder ’Interesse’ systematisch zu verorten. So gesehen, überrascht es auch nicht, wenn man in umfänglichen Abhandlungen zum Rechtsgut eine Auseinandersetzung mit dem Topos ’Opfer’ vergeblich sucht.“ 60 Da die Rechtsgutsverletzung in der Hauptsache als Verletzung des durch die Rechtsnorm geschützten ideellen Wertes erscheint, kommt in einem solchen dogmatischen Konzept die konkrete Opferschutzperspektive lediglich als Reflexfunktion vor. 61 Und an dieser traditionellen dogmatischen Sichtweise hat sich seit der Wiederentdeckung des Opfers nicht wirklich Grundlegendes geändert 62 – auch wenn die Entschädigung der Opfer von Gewalttaten zunehmend als öffentliche Aufgabe anerkannt wird. 63 Fazit: Auch heute noch sieht die herrschende Strafrechtsdogmatik als primären, eigentlichen Rechtsgutsträger der verschiedenen Strafnormen das potenzielle, nicht jedoch das aktuelle Opfer an. Das aktuelle Opfer ist nicht in die Strafrechtsdogmatik eingebunden: Wird eine konkrete Straftat begangen, wird im juristischen Sinne letztlich eine Norm und nicht eine Person verletzt. 64

1.2

Die Straftheorien

1.2.1 Grundlegend Im Gegensatz zum Strafrechtssystem, das sich als Ganzes aus der gesellschaftlichen Notwendigkeit legitimiert, zur Wiederherstellung und Sicherung der sozialen Ordnung auf die Verletzung bzw. Gefährdung von Rechtsgütern mit staatlichem Zwang reagieren zu können, sind der Rechtsstaat und die Gesellschaft nicht von der Frage entbunden, ob strafrechtliche Sanktionen, insbesondere die Strafe, auch in der Gegenwart noch notwendig und sinnvoll sind. 65 Die Frage der Notwendigkeit und des Sinnes der Strafe

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WINFRIED HASSEMER 1983, S. 221. Siehe insbesondere MICHAEL KILCHLING 2002, S. 58. Siehe MICHAEL KILCHLING 2002, S. 58. Zum Rechtsgut und der individuellen Betroffenheit durch eine Straftat siehe SUSANNE WOLLMANN 2009, S. 55 ff. Eine etwas andere Meinung vertritt THOMAS WEIGEND 2010, S. 39 ff. Siehe im speziellen dazu das OHG. Nach FELIX BOMMER 2003, S. 175, verletzt „[i]m juristischen Sinn [...] die Handlung des Täters eine Norm und nicht eine Person.“ Siehe DERS. 2019, BSK Strafrecht I, Vor Art. 19, Rz. 73. Siehe auch MICHAEL KILCHLING 2008, S. 7. Siehe insbesondere BERND-DIETER MEIER 2015, S. 15; GÜNTER STRATENWERTH 2011, § 2, Rz. 1.


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hängt von deren Funktion ab. 66 Ist Strafe ein unabdingbares Erfordernis der Gerechtigkeit oder, rein pragmatisch gesehen, ein notwendiges Übel? 67 Straftheorien ermöglichen immer wieder das Nachdenken über die Legitimation der öffentlichen Strafe und liefern zugleich einen kritischen Massstab, an dem die Realität sich messen lassen muss. Straftheorien sind mithin genauso wenig überflüssig wie das Strafrecht und seine Sanktionen. 68 Ungeachtet grundlegender Veränderungen staatlicher Verfassungen, politischer, ökonomischer und sozialer Verhältnisse und gesellschaftlichen Wandels werden seit Jahrhunderten vor dem Hintergrund des Grundkonzepts Vergeltung und Prävention dieselben drei Grundkonzeptionen bezüglich Strafe angeboten: •

• •

Strafe soll nach der ersten Konzeption unabhängig von allen sozialen Auswirkungen die Tat durch Auferlegen eines Übels vergelten und die Tatschuld ausgleichen. Sie soll dadurch der Gerechtigkeit dienen; so die Vergeltungs- oder Gerechtigkeitstheorien. Strafe soll nach der zweiten Konzeption den Täter oder die Täterin von weiteren Delikten abhalten; so die spezialpräventiven Straftheorien. Oder Strafe soll nach der dritten Konzeption die Gesamtbevölkerung zu legalem Verhalten motivieren; so die generalpräventiven Straftheorien.

Die Vergeltungs- oder Gerechtigkeitstheorien sind absolute Lehren, Spezial- und Generalprävention sind relative Lehren. Erstere beziehen sich auf die begangene Tat, sie erklären die Tat vergangenheitsbezogen und bemessen den Rahmen der Strafe am begangenen Unrecht unter Berücksichtigung der Schuld. 69 Letztere begründen und bemessen die Strafe zukunftsgerichtet. Sie wollen Kriminalität mit Blick auf die Zukunft verhindern. 70 Sowohl in der Lehre als auch in der Praxis wird die Frage nach Sinn und

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Dazu grundlegend TOM FRISCHKNECHT 2009. Siehe GÜNTER STRATENWERTH 2011, § 2, Rz. 2. Denn „[s]olange keine erträgliche und realistische Alternative zur strafrechtlichen Sozialkontrolle besteht, rechtfertigt sich das Strafrecht durch seine friedensstabilisierende Funktion. Dies ist der (leider) immer noch aktuelle wahre Kern der ’absoluten’ Straftheorien. Mit der funktionalen Rechtfertigung des Strafrechts steht die Kriminalpolitik aber erst am Anfang ihres beschwerlichen Weges. – Wie soll die notwendige strafrechtliche Sozialkontrolle organisiert werden? Welche vernünftigen Ziele sollen die strafrechtlichen Sanktionen anstreben, und wie sind diese Ziele zu erreichen? Darauf geben die klassischen ’absoluten’ Theorien freilich kaum Antworten. Die ’relativen’ Theorien suchen wenigstens danach, wenn auch [...] mit beschränktem Erfolg.“ MARC FORSTER 1995, S. 64 f. Zur Strafe als Schuldausgleich siehe insbesondere GÜNTER STRATENWERTH 2011, § 2, Rz. 1 ff.; FELIX BOMMER 2019, BSK Strafrecht I, Vor Art. 19, Rz. 46 ff. Siehe u.a. LUKAS GSCHWEND/PHILIPP MAIER 2001, S. 21 ff.; MARCEL ALEXANDER NIGGLI 1997/1998.


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Zweck der Strafe vielfach nicht mehr durch eine Option für die eine oder andere Lehre, sondern auf der Basis sogenannter Vereinigungstheorien beantwortet. 71 Während sich vor dem Hintergrund des Strafrechtssystems und seiner historischen und zeitgenössischen Theorieentwicklung, trotz temporärer Verletzungen und Gefährdungen, die Grundrechte sowie die Rechtsstaatlichkeit in der Rechtsüberzeugung haben festigen können und als unveräusserlich erscheinen, herrscht im Gegensatz dazu bezüglich des Grundkonzepts Vergeltung und Prävention unverändert Streit. Die einzelnen Straftheorien samt Variante der Vereinigungstheorien, aber auch modernere Strafrechtfertigungen, werden stark kritisiert. Die in der strafrechtlichen Lehre vertretenen Positionen sind zudem sehr heterogen und weichen zum Teil prägnant voneinander ab. Darüber, dass Strafe als staatlicher Zwang nur noch rational mit dem Zweck des Schutzes der rechtlichen Ordnung begründet werden kann, herrscht Einigkeit. Zweifelhaft und umstritten ist aber immer noch, welches Mass an Strafe dieser Zweck erfordert und auf welche Weise die Strafe ihn zu erfüllen vermag. 72 Im Folgenden ist in einem knappen Überblick auf die verschiedenen Rechtfertigungen der Strafe einzugehen 73, denn vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, welche Position das Opfer in der Auseinandersetzung zwischen Vergeltung und Prävention einnimmt. 74

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Siehe insbesondere GÜNTER STRATENWERTH 2011, § 2, Rz. 32, mit weiteren Literaturhinweisen. Siehe im speziellen GÜNTER STRATENWERTH 2011, § 2, Rz. 2; zu Rückfall und Analyse: Jährliche Rückfallraten nach einem Referenzereignis siehe https://www.bfs.admin.ch/bfs /de/home/statistiken/kriminalitaet-strafrecht/rueckfall/analysen.html. Siehe u.a. GÜNTER STRATENWERTH 2011, § 2, Rz. 1 ff.; MARCEL ALEXANDER NIGGLI 2004; DERS. 1997/1998; siehe auch FELIX BOMMER 2019, BSK Strafrecht I, Vor Art. 19, Rz. 46 ff. In der Lehre werden auch neue Strafrechtfertigungen oder Strafzwecke diskutiert. Seit den früheren 1980er Jahren wird beispielsweise der Strafe eine Aufgabe zugewiesen, die über die zwei Grundgedanken Vergeltung und Prävention hinausgeht und zwar die Wiedergutmachung des durch die Straftat angerichteten Schadens; siehe u.a. GÜNTER STRATENWERTH 2011, § 2, Rz. 25. Oder es wird erörtert, ob die symbolisch-expressive Bedeutung der Strafe eine neue Straftheorie jenseits von Vergeltung und Prävention darstellt; siehe dazu KLAUS GÜNTHER 2002, S. 205 ff. Des Weiteren wirft KLAUS LÜDERSSEN 2000, S. 63 ff., die Frage auf, ob das Opfer einen Anspruch auf die Bestrafung des Täters oder der Täterin hat. Zur Wiedergutmachung als (auch) opferorientiertem Strafrechtszweck, opferorientierten Straftheorien sowie Opferorientierung als gesamtem Strafrechtszweck siehe LYANE SAUTNER 2014, S. 184 ff., mit weiteren Literaturhinweisen. Siehe dazu Ziff. 1.2.4.



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