Zur Sache 5b: Demokratie jetzt! (2003)

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Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg e.V.

Zur Sache Demokratie jetzt! Radioaktiver Zerfall der Grundrechte

Nr. 5 März 2003

• „Gewalttäterdatei Links“ – kein Märchen, (Wolfgang Ehmke)

• Demonstrationsfreiheit

- historische Dimension und aktuelle Pläne zur Beschneidung eines unbequemen Grundrechts (Martin Kutscha)

2€ ermäßigt 1 €

• Die Entwicklung des Demonstrationsrechts im Castorkonflikt 1994 bis 2001 (Elke Steven)


Zur Sache Nr. 5

Demokratie jetzt! Radioaktiver Zerfall der Grundrechte Die Broschüren der Reihe „Zur Sache“ erscheinen unregelmäßig und liefern Einschätzungen und Hintergrundinformationen zum Widerstand gegen die Atomanlagen in Gorleben. Sie werden herausgegeben von der Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg e.V. Preis: 2,00 €, ermäßigt 1,00 € März 2003 Gestaltung: Torsten Koopmann Druck: Köhring, Lüchow Copyright: BI Lüchow-Dannenberg e.V.

Die Autoren: Wolfgang Ehmke Vorstandsmitglied der BI Umweltschutz Lüchow-Dannenberg e.V.

Prof. Dr. Martin Kutscha Fachhochschule für Verwaltung und Rechtspflege Berlin Vorsitzender der Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen e. V.

Elke Steven Komitee für Grundrechte und Demokratie, Köln

Fotos: Ingrid und Werner Lowin (S. 5, 15, 19, 21, 25) Timo Vogt (randbild-pressefoto) (S. 7, 11, 23)

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Vorbemerkung Demokratie jetzt! Mit jedem Castortransport nach Gorleben war bisher der faktische Ausnahmezustand verbunden. Die polizeiliche Übermacht hält dann mit ihren Massen an Containern als Unterkünfte, Fahrzeugen und schwerem

gestellt wird, zementiert den Standort Gorleben als "nukleares Entsorgungszentrum".

Wir wollen mit allen unseren Aktionen deutlich machen, dass der Widerstand gegen den Atomwahnsinn allen Medienberichten zum Trotz nicht erlahmt ist. Die verschiedenartigen Fähigkeiten werden in unseren Aktionen zusamGerät, Pferden und vielem mehr Einzug ins menfließen – dies ist und bleibt unsere Stärke. Wendland. Die Sicherungsmaßnahmen z.B. am Wir haben unsere eigenen Köpfe zum Denken Castor-Verladekran in Dannenberg oder ande- und das Recht auf informationelle Selbstberen „neuralgischen Punkten“ wie der Seerauer stimmung - wir vertrauen nicht auf die Politiker Brücke zeigen deutlich, wie recht Robert - diese kommen und gehen - der Atommüll Jungk mit seinem Buch "Der Atomstaat" hatte. aber strahlt Tausende von Jahren. Das Grundrecht der Versammlungsfreiheit ist das hohe Vieles, was er über die Einschränkung von Gut einer repräsentativen Demokratie und erGrundrechten und Demokratie vorausgesagt öffnet uns die Möglichkeit, unsere Auffassunhat, ist für uns den Menschen hier im Wendgen und Ziele kund zu tun, dafür zu werben land und unsere UnterstützerInnen Wirklichund zu kämpfen. keit geworden. Camp- und Versammlungsverbote, Einschüchterungen, Kriminalisierung, Deshalb lassen wir uns das Demonstrieren Verletzung von Grund- und Menschenrechten, nicht verbieten. Wir freuen uns, dass wir reimmer neue und noch weitreichendere Übernommierte Bürgerrechts- und Menschenrechtswachungsmöglichkeiten sind die Mittel des organisationen zu unserer Unterstützung und Staates, mit denen er versucht uns klein zu Rückenstärkung gewinnen konnten. Wir dokukriegen. mentieren hier Analysen und Beiträge unserer Tagung „Demokratie jetzt!“, die am 26. OktoDie Politik hat weder das Restrisiko noch die ber 2002 in Platenlaase stattfand. Atommüllversorgung im Griff. Sie verkauft den Atomkonsens als Ausstieg, aber dieser siWir freuen uns, dass mit Dieter Magsam und chert in erster Linie den Bestand der ReaktoUlrike Donat zwei unserer Rechtsanwälte mit ren, die überlange Laufzeit von Obrigheim ist dem renommierten „Holtorf-Preis“ ausgezeichein Beispiel dafür. Das Moratorium auf der net wurden. Den Bericht über die FestveranEndlagerbaustelle Gorleben ist für uns eine staltung und die Diskussion dokumentieren wir Mogelpackung, denn jederzeit können die in diesem Heft. Bauarbeiten im Salzstock - oder besser gesagt in der Tropfsteinhöhle Gorleben fortgesetzt Aus diesen fruchtbaren Debatten können wir werden, doch bleibt uns die Chance, diese Ent- lernen und Kraft schöpfen. wicklung durch den Druck von der Straße zu Rosi Schoppe verhindern. Jeder Castor, der in Gorleben ab-


Wolfgang Ehmke

„Gewalttäterdatei Links“ – kein Märchen Nehmen wir mal an, arglos beteiligen sich drei Menschen am Protest gegen Castortransporte. Natürlich gewaltfrei, landen aber in der „Gewalttäterdatei Links“ – kein Märchen, sondern der Prozess der Stigmatisierung Wir schreiben das Jahr 1997 und der Castor rollt. Zwei Frauen beschließen, sich am AntiAtom-Protest im Wendland zu beteiligen. Sie wissen, aufhalten können sie den Transport nicht. Vielleicht dauert der Schienen –oder Straßentransport auf den letzten Streckenkilometern ein bisschen länger, weil sich viele Menschen querstellen. Menschen, wie unsere zwei Frauen, die sich nicht abfinden wollen mit dem Atombusiness, denn Castortransporte vernetzen Atomkraftwerke mit den Wiederaufarbeitungsanlagen und die Wiederaufarbeitungsanlagen – mangels Endlagermöglichkeiten mit den Zwischenlagerstätten. Laut lärmend und singend ziehen sie am späten Vormittag des 4. März mit einer großen Gruppe durch den Wald bei Quickborn, vielleicht wird der Castortransport auf der Straße von Dannenberg nach Gorleben von der Polizeiarmada über die Nordroute eskortiert. Sie wollen protestieren, auch wenn es diesmal nichts nützt. Vielleicht nützt es längerfristig, wenn es keine Ruhe gibt. Die beiden wissen, Atomkraftwerke pusten im Normalbetrieb Radioaktivität in die Luft und über das Kühlwasser gelangt Radioaktivität in die Flüsse. Das gilt erst recht für die Wiederaufarbeitungsanlagen (WAA), deren Name so verharmlosend an das Recycling erinnert, so als wäre eine WAA mit der Wiederverwertung von Flaschen oder Altpapier vergleichbar. Die Berichte über die Verseuchung der irischen See, gesperrte Strände in 4

der Nachbarschaft der britischen WAA Sellafield haben sie genau gelesen. Die Jüngere der beiden Frauen war sogar einmal mit der Bürgerinitiative auf Besuch in der französischen WAA La Hague. Zugegeben, sie war vielleicht noch ein bisschen zu jung, um den Fachgesprächen folgen zu können. Sie war mit ihrer Clique mitgefahren und schlug damals die Mahnungen der „Alten“ in den Wind, sie solle die leckeren Brombeeren, deren Sträucher die Hohlwege säumten, hängen lassen. Aber dieses TV-Video, das die Franzosen hatten, als gezeigt wurde, wie über eine Pipeline die radioaktive Brühe in den Ärmelkanal floß und die Fischer im unmittelbaren Umfeld Muscheln und Fische herausholten und auf dem Markt zum Verkauf boten ... da könnte sie sich heute noch schütteln, guten Appetit!! Usine de plutonium - Plutoniumfabrik nannten die Franzosen ihre Fabrik. Nix „Wiederaufarbeitung“. Auf dem Gelände hatten die Fässer mit radioaktivem Müll verbuddelt, Plane drauf, Mutterboden drüber und Grassamen drauf. Quer durch Europa geht die Castorfracht mit dem hochradioaktivem Müll. Und was wäre, wenn so ein Castorzug in voller Fahrt entgleisen würde? Was, wenn ein Atomkraftwerk außer Kontrolle geriete oder wenn ein Kessel mit hochradioaktivem Flüssigabfall auf dem WAA-Gelände explodierte? Ehrlich gesagt, daran dachten die beiden Frauen gerade nicht. Sie hätten sich das fragen können und über die Frage nachdenken können, ob die Atomkraftnutzung mit dem Grundgesetz vereinbar wäre. Doch dazu war gar keine Zeit, denn laut johlend kamen ihnen ein paar Leute entgegengelaufen, dann blitzen Polizeihelme


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Ein Lachen wird sie besiegen!

auf, Unformierte im Laufschritt, erst einige in Grüppchen, dann immer mehr und siehste wohl, da haben wir den Salat, sagt die eine noch, schon fanden sie sich umzingelt und mit ihnen eine stattliche Zahl von Mitdemonstranten. Ich weiß nicht, ob die Geschichte so anfing und welchen Gedanken die beiden Frauen 1997 wirklich nachhingen. Richtig und überhaupt nicht ausgedacht sind allerdings der Vorsatz und die Folgen. Dazu gleich. „Keine Gewalt“ skandierten sie am Anfang noch, gemeinsam mit den 567 anderen, die im Quickborner Kessel eingeschlossen waren. Wer da außerhalb des Kessels alles auftauchte und aufgeregt mit den Beamten diskutierte! Pastoren, Rechtsanwälte und Landtagsabgeordnete von den GRÜNEN, war da nicht auch dieser Jürgen Trittin? Genau, das war er doch! Erst mal passierte niX. Stundenlang. Egal ob man Hunger oder Durst hatte oder mal seine Notdurft verrichten musste, man kam nicht mehr weg von diesem vermaledeiten Fleck: von 12 bis 17 Uhr dauerte die Einschließung. Im Klartext: 5

Freiheitsberaubung. Nachzutragen ist noch, dass es 1997 wie auch sonst bei den Castortransporten ein Demo-Verbot, einen grundrechtsfreien Korridor 50 Meter links und rechts von der Schiene bzw. Straße aus gesehen gab und dass sich das Geschehen außerhalb des Korridors abspielte. Der Rest ist schnell erzählt. Die Eingekesselten wurden einzeln aus dem Polizeikessel herausgeführt, fotografiert und gefilmt, so geschah es auch unseren beiden Frauen. Sie wunderten sich nicht schlecht, als sie einige Zeit später, der Castor war längst nach Gorleben durchgeboxt worden, Behördenpost bekamen. Wie auch die anderen Eingekesselten wurde eine Ermittlungsverfahren wegen Landfriedensbruch gegen sie eingeleitet. Das Verfahren wurde – wie nicht anders zu erwarten war schließlich eingestellt, hatte es doch seinen Zweck erfüllt: der Innenminister konnte auf der Bilanzpressekonferenz die „hohe Gewaltbereitschaft“ der Castorgegner/innen unter Beweis stellen.


War noch was? Ja, sie fanden eine Hamburger Rechtsanwältin, die sich ihres Falles annahm und den Rechtsweg durchdeklinierte: sie wollte die Unrechtmäßigkeit der Polizeimaßnahme ex post festgestellt sehen, die Freiheitsberaubung müsse geahndet werden, die Missachtung des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit sei nicht hinnehmbar...Während diese und ähnliche Vorgänge, die sich als „Begleitumstände“ während der Castortransporte ins Wendland in unschöner Regelmäßigkeit einstellten, bereits ihren Niederschlag im alljährlichen „Grundrechtereport“ der Bürgerrechtsvereinigungen niederschlugen, verstrickten und verhedderten sich die Verfahren vor den Landesgerichten und Amtsgerichten zwischen Lüneburg und Dannenberg dermaßen, dass die beiden Frauen die Nase voll hatten, sich weiter verschaukeln zu lassen. Ihre Anwältin schrieb jetzt, 5 ½ Jahre später, eine Verfassungsbeschwerde. Und da war noch was, das schließen wir aus einem ganz anderen Vorgang.

net, die Sicherheitskräfte auf ihre gefahrenabwehrende Tätigkeit vorzubereiten.“ Aus Sicht des Betroffenen stellt sich die Sache ganz anders dar. Die Gewahrsamnahme wurde ihm gegenüber als Identitätsfeststellung dargelegt. Von Zivilpolizisten, die sich zudem nicht legitimierten, wurde er mit einem Freund über eine Stunde lang festgehalten, das Auto wurde gefilzt, aber die Identitätsfeststellung hätte nicht gereicht, um die „Castor-Datei“ zu gelangen. Wer wann den Grund der Polizeimaßnahme auf dem Papier so verändert hat, dass er in die Datei geriet, ließ sich nicht aufklären. Am 12. November hatte der Mann auch keinen Infostand angemeldet, allerdings war er Anmelder einer Kundgebung am Parkplatz des SBahnhofs in Maximiliansau am Tag zuvor.

Gemeinsam haben diese beiden Geschichten zumindest zwei Dinge: erstens, was wir polizeiliche Willkür nennen, und zweitens, was hinterrücks daraus wird, nämlich ein Eintrag in Da hatte ein Castorgegner, diesmal aus dem die „Castor-Datei“. Das allerdings ist nur der Süden der Republik, beim Landesbeauftragten Anfang für eine lange weitere Geschichte, für den Datenschutz Rheinland-Pfalz angedenn mit Blick auf die fragt, ob er in der „Castor-Datei“ gespeichert sei. Die Antwort lautete ja, denn ihm wurde „Ausreiseuntersagung anlässlich bevorstehenvorgeworfen, „eine Straftat und/oder Ordder Veranstaltungen im Ausland nungswidrigkeit“ im Zusammenhang mit Cas- Hier: Verwertbarkeit des Datenbestandes der tortransporten begangen zu haben. Vorhalten Datei Landfriedensbruch“ wurde ihm eine Gewahrsamnahme am 15. Mai 2001 und die Anmeldung eines Infostandes in schreibt der PR Kruijer vom BundesgrenzWörth-Maxau am 12. November 2001. In schutzamt Weil am Rhein mit Datum vom Wörth passieren die Castorzüge die Landes30.8.2001 an alle Dienststellen über die „Aussagrenze auf ihrem Weg zur Wiederaufarbeitung. gekraft des Ergebnisses der INPOL-Abfrage“. Der Datenschutzbeauftragte schreibt zur Spei- Ein positives Abfrageergebnis bedeute, „dass zu cherung als Anmelder, „...dass über Ihre Person der angefragten Person ein Datenbestand in der schon Informationen gespeichert waren, die beim BKA geführten Datei Landfriedensbruch befürchten ließen, dass Sie erneut als Störer in existiert.“ Ein Kürzel konkretisiere den AusErscheinung treten würden. Vor diesem Hinter- schreibungsanlass im „Feld FZA (z.B. Kontrolle grund war die Information, dass Sie an der Ak- = Kont; Ausreiseuntersagung = Ausu)“. Polizeition am 12.11.01 in einer herausgehobenen rat K. fügt hinzu, dass gegen die betreffende Funktion teilnehmen würden, besonders geeig- Person „zumindest ein polizeiliches oder staats6


Bild demokratischer Sektor

anwaltschaftliches Ermittlungsverfahren eingeleitet wurde (nicht zwingend eine strafrechtliche Verfolgung).“ Nicht zwingend eine strafrechtliche Verfolgung – das muss man mehrere Mal lesen, um es einmal glauben zu können, denn wer in der „Castor-Datei“ landet, wird zum Beispiel nach der Richtlinie für den kriminalpolizeilichen Meldedienst „Landfriedensbruch und verwandte Straftaten“ des LKA Niedersachsen in den Datenpool des Bundeskriminalamts (BKA) überführt und landet folglich auch in der Datei „Gewalttäter Links“. Eine Benachrichtigung der Gespeicherten erfolgt nicht, die Daten können, aber müssen nicht nach 5 Jahren ge-

löscht werden. Das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung gerät zur Makulatur. Diese drei Fälle stehen stellvertretend für flagrante Grundrechtsverletzungen. „Kollateralschäden“ des Atombusiness. Buchhinweis: Grundrechte-Report 2002. Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland. 271 Seiten , € 9,90 (Rowohlt-Taschenbuch)

Wer regelmäßig und aktuell über alles Wesentliche rund um Gorleben informiert sein will, abonniert die

Gorleben-Rundschau 7


Die Gorleben-Rundschau ist das monatliche Info der Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg mit Neuigkeiten, Einschätzungen, Hintergründen und Ankündigungen zum Widerstand im Wendland. Bestellungen an die BI Lüchow-Dannenberg, Drawehner Str. 3, 29439 Lüchow (Wendland)

Martin Kutscha

Demonstrationsfreiheit - historische Dimension und aktuelle Pläne zur Beschneidung eines unbequemen Grundrechts Viel zu wenige Menschen hierzulande wissen, dass es sich beim Grundrecht der Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit um ein echtes Freiheitsrecht handelt: Anders ist die selbst in Presseberichten sich äußernde falsche Vorstellung nicht erklärbar, dass man/frau zum Demonstrieren einer staatlichen Genehmigung bedürfe. Art. 8 Grundgesetz sagt ausdrücklich: „Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln“. Zwar folgt die Einschränkung in Gestalt des zweiten Absatzes auf dem Fuße: „Für Versammlungen unter freiem Himmel kann dieses Recht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes beschränkt werden“. Das hier einschlägige bundesweit geltende Gesetz, nämlich das Versammlungsgesetz, sieht aber mit gutem Grund nur eine Anmeldepflicht für Versammlungen unter freiem Himmel und „Aufzüge“ vor, nicht aber eine Genehmigungspflicht.

werden musste. Tatsächlich zeigt der Blick in die Historie, wie einseitig die Vorstellung vom ständigen unaufhaltsamen Grundrechtsabbau ist, weil sie die Erfolge der demokratischen Akteure „von unten“ zu wenig reflektiert. Werfen wir nur ein Schlaglicht auf das „Hambacher Fest“ vom Mai 1832, das zu Recht als Meilenstein des Kampfes um mehr Demokratie in Deutschland gilt: Kurz zuvor hatte die bayerische Regierung noch das Fest mit der Begründung verboten, es handele sich um einen „Konvent deutscher Demagogen“ und bereits die in der Einladung enthaltene Forderung nach „Abschüttelung innerer und äußerer Gewalt“ besäße aufrührerischen Charakter. Die sich darauf hin erhebende Welle des Protests war jedoch so stark, dass sich die Regierung gezwungen sah, das Verbot wieder aufzuheben und die Manifestation demokratischen Bürgerwillens stattfinden zu lassen. Über die nachfolgenden Repressionen gegen Teilnehmer, die durch besonders „radikale“ Reden aufgefallen Freilich schwingt in der falschen Annahme ei- waren, ist in den Geschichtsbüchern viel gener solchen Genehmigungspflicht immer noch schrieben worden. Letztlich konnten diese Reein Stück obrigkeitsstaatlichen Denkens mit, pressionen den „bürgerrechtlichen“ Aufvielleicht aber auch das vage Bewusstsein, dass schwung jedoch nicht verhindern, der letztlich dieses Grundrecht (wie auch andere) immer in die Frankfurter Nationalversammlung von prekär war und in der Geschichte stets gegen 1848 mündete. Als Bestandteil der Deklaration eine meist autoritäre Obrigkeit durchgesetzt der „Grundrechte des Deutschen Volkes“ wur8


de dort auch die Gewährleistung der Versammlungsfreiheit verkündet: „Die Deutschen haben das Recht, sich friedlich und ohne Waffen zu versammeln; einer besonderen Erlaubnis bedarf es nicht. Volksversammlungen unter freiem Himmel können bei dringender Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit verboten werden.“

Organisationen geradezu die Perversion der Wahrnehmung eines demokratischen Freiheitsrechts bedeuteten, braucht hier nicht im Einzelnen dargestellt zu werden.

Die nach dem Ende der Nazi-Diktatur an erster Stelle im Grundgesetz normierten Freiheitsrechte, die als „unmittelbar geltendes Recht“ mit Bindungswirkung für alle Staatsgewalten Der Text kommt uns bekannt vor! Er ist in der gelten sollen, erweckten die Hoffnung auf eine Tat das Vorbild für den eingangs zitierten Art. 8 radikale Abkehr von den autoritären staatlichen des ein Jahrhundert später verabschiedeten Praktiken, die die deutsche Geschichte so Grundgesetzes sowie auch für die Verbotsnorm nachhaltig prägten. Aber weit gefehlt: Die § 15 des Versammlungsgesetzes von 1953. Al- Denkschablonen des Kalten Krieges bestimmlerdings hat nicht die fortschrittliche „Paulskir- ten auch in den ersten Jahrzehnten der Bundeschenverfassung“ das Leben in den deutschen republik noch das Verhalten der in den einzelLanden prägen können, sondern die Reaktion nen Bundesländern zuständigen „Versammder feudalen Kräfte bis hin zur Reichsgrünlungsbehörden“. Die zu Beginn der sechziger dung „von oben“ 1871. Vor allem unter der Jahre erstmals stattfindenden Ostermärsche Geltung des Sozialistengesetzes von 1878 galt wurden auf einsame Landstraßen und Feldwedie Versammlungsfreiheit wenig: Selbst in ge verwiesen, teilweise wurde der Gebrauch Räumlichkeiten wie Gaststätten o. ä. stattfinvon Lautsprechern, Sprechchöre wie z. B. dende politische Versammlungen wurden von „Wer Bunker baut, denkt an Krieg!“ oder „Es der Polizei mit den kuriosesten Begründungen gibt keinen Luftschutz im Atomzeitalter!“, ja aufgelöst – sei es, weil ein Fenster offen war sogar das Singen verboten. Wie es weiterging, und der überwachende Beamte dadurch zur wissen einige von uns noch aus eigener AnÜberzeugung gelangte, es tage eine Versamm- schauung: In den siebziger und achtziger Jahlung „unter freiem Himmel“, oder sei es, weil ren erlebte der außerparlamentarischer Bürgeeinzelne Anwesende bei einer Äußerung des rInnenprotest einen gewaltigen Aufschwung. Redners gelacht hatten. Bekanntlich hat das Sowohl die Anzahl der Demonstrationen als Sozialistengesetz gleichwohl den Aufstieg der auch die Beteiligung daran wuchs gewaltig; der Arbeiterbewegung nicht verhindern können. Protest auf der Straße z. B. gegen den Bau von Atomkraftwerken oder gegen eine friedensgeMassive Einschränkungen der Versammlungs- fährdende NATO-Politik wurde zur Massenerfreiheit gab es auch unter der Geltung der Wei- scheinung und konnte nicht länger als Störung marer Reichsverfassung von 1919, obwohl der „Leichtigkeit des Straßenverkehrs“ durch diese die Versammlungsfreiheit ausdrücklich einige irregeleitete „Radikale“ abqualifiziert garantierte. Längst vor der sog. „Machtergrei- werden. fung“ der Nazis 1933 wurden manche 1.-MaiDemonstrationen der Arbeiterparteien mit Hil- Vor diesem Hintergrund schlug auch die jurisfe des Einsatzes von Schusswaffen aufgelöst, tische Sternstunde der Demonstrationsfreiheit wie z. B. beim Berliner „Blutmai“ 1929. Und – nicht etwa in Gestalt einer Reform des Verdass die mit vielfachem Terror gegen Anderssammlungsgesetzes, sondern in Gestalt einer denkende verbundenen Aufmärsche der Nazi- Grundsatzentscheidung des Bundesverfas9


sungsgerichts. Mit dem „Brokdorf-Beschluss“ vom 14. Mai 1985 wurde der Stellenwert dieses Freiheitsrechts für eine demokratische Gesellschaft erstmals höchstrichterlich gewürdigt. Durchaus realistisch betrachtet das Bundesverfassungsgericht in dieser Entscheidung die Verzerrungen des demokratischen Willensbildungsprozesses unter den heutigen sozialökonomischen Bedingungen: „An diesem Prozeß“, so das Gericht, „sind die Bürger in unterschiedlichem Maße beteiligt. Große Verbände, finanzstarke Geldgeber oder Massenmedien können beträchtliche Einflüsse ausüben, während sich der Staatsbürger eher als ohnmächtig erlebt. In einer Gesellschaft, in welcher der direkte Zugang zu den Medien und die Chance, sich durch sie zu äußern, auf wenige beschränkt ist, verbleibt dem Einzelnen neben seiner organisierten Mitwirkung in Parteien und Verbänden im allgemeinen nur eine kollektive Einflussnahme durch Inanspruchnahme der Versammlungsfreiheit für Demonstrationen“. Mithin gehört das Grundrecht der Versammlungsfreiheit zu den „unentbehrlichen Funktionselementen eines demokratischen Gemeinwesens. Diese grundlegende Bedeutung des Freiheitsrechts ist vom Gesetzgeber beim Erlaß grundrechtsbeschränkender Vorschriften sowie bei deren Auslegung und Anwendung durch Behörden und Gerichte zu beachten“. Die zuständigen Behörden sind demnach verpflichtet, bei der Anwendung des Versammlungsgesetzes mit seinen unbestimmten Rechtsbegriffen grundsätzlich „versammlungsfreundlich“ zu verfahren. Insbesondere sind Verbot oder Auflösung von Versammlungen bzw. Demonstrationen nur zum Schutz gleichwertiger Rechtsgüter unter strikter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zulässig. Wer persönlich von einem massiven Polizeieinsatz z. B. im Verlauf der Castor-Transporte betroffen war, mag diese höchstrichterlichen 10

Vorgaben als blanken Hohn empfinden. Aber der „Brokdorf-Beschluss“ gehört vermutlich in der Tat zu denjenigen Verfassungsgerichtsentscheidungen, die von der Exekutive am häufigsten missachtet werden – manchmal von den zuständigen Versammlungsbehörden, aber vor allem von Polizeikräften vor Ort. Es gibt wohl kaum einen anderen öffentlichrechtlichen Bereich, in dem die Verwaltungsgerichte so häufig (mitunter auch erst im Nachhinein) die Rechtswidrigkeit staatlichen Handelns feststellen mussten. So bemängelten die Verwaltungsgerichte z. B., dass der Prognose, von einer geplanten Demonstration ginge eine „unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Sicherheit“ aus, statt konkreter Tatsachen nur bloße Vermutungen der Behörde zugrunde gelegt wurden. Auch wurde zu Recht festgestellt, dass nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes eine Demonstration dann nicht verboten werden darf, wenn die „Gefahr“ schon durch das „mildere Mittel“ einer versammlungsrechtlichen Auflage beseitigt werden kann. Mit einer solchen liberalen, „versammlungsfreundlichen“ Rechtsprechung bewegen sich die Verwaltungsgerichte durchaus auf der Linie des „Brokdorf-Beschlusses“, wenn auch nicht immer mit derselben Konsequenz. Dies zeigt schon der Blick auf einige Gerichtsentscheidungen zu Demonstrationsverboten rund um Gorleben, die die Gefahrenprognose der Bezirksregierung Lüneburg nahezu unkritisch übernehmen und der BI Lüchow-Dannenberg eine Art Kollektivhaftung für alle sich an Protestaktionen beteiligenden Personen aufbürden. Die heutige Situation im Versammlungsrecht mutet geradezu makaber an: Zu den Hauptnutznießern der liberalen Rechtsprechung gehören vor allem Neonazi-Gruppen. Nicht selten beschreiten sie mit Erfolg den Rechtsweg gegen Demonstrationsverbote, die Behörden unter dem politischen Druck der Öffentlichkeit


gegen sie verhängt haben. Ist die Justiz wie schon zu Weimarer Zeiten wieder „auf dem rechten Auge blind“? - Die Antwort muss differenzierter ausfallen: Auf der einen Seite ist es richtig, dass eine rechtsradikale Gesinnung der Teilnehmer als Verbotsgrund nicht ausreicht. Auf der anderen Seite stellt sich allerdings die Frage, ob die vom Grundgesetz gewährte Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit auch für das Verbreiten offen rassistischer, menschenverachtender neonazistischer Ideologie in der Öffentlichkeit gilt. Das Oberverwaltungsgericht Münster verneint dies unter Berufung auf den antinazistischen Impetus unserer Verfassung und hat auf dieser Grundlage mehrere in Nordrhein-Westfalen verhängte Demonstrationsverbote gegen Neonazis bestätigt. Die meisten dieser Entscheidungen sind allerdings von der im Eilverfahren zuständigen

weite des Grundrechtsschutzes für die Aktivitäten von Neonazis hat in der Juristenwelt hohe Wellen geschlagen. Welche Auswege bieten sich an ? Eine klare Lösung würde die Ergänzung des Grundgesetzes um eine eindeutige Aussage gegen die Wiederbelebung nationalsozialistischen Gedankengutes ermöglichen, wie sie wohl zuerst von der „Gewerkschaft der Polizei“ vorgeschlagen wurde. Die Bundestagsparteien sind allerdings nicht bereit, diesen Vorschlag umzusetzen. Vor allem seitens der CDU/CSU wurde die Kritik geäußert, dass sich eine solche „antifaschistische Klausel“ ja nur gegen „Rechtsextremisten“, nicht aber gegen „Linksextremisten“ richten würde. Statt dessen brachten die Bundestagsfraktionen von CDU/CSU im Jahre 2001 einen Gesetzentwurf

Bild Polizist mit weiten armen versperrt den Weg

Wenn mein starker Arm es will, stehen alle Freiheitsrechte still... Die Polizei hat wenig übrig für das Presserecht, ab hier nur mit Polizeibegleitung- es hat aber keiner Zeit.

Kammer des Bundesverfassungsgerichts mit dem Verweis auf die Schutzwirkung der Meinungsfreiheit und des Parteienprivilegs wieder aufgehoben worden. Der Streit um die Reich11

zur Verschärfung des Versammlungsgesetzen ein, der sich teilweise mit Vorschlägen der Innenministerkonferenz deckt. Besonders problematisch sind die beiden Kernpunkte des


CDU/CSU-Entwurfs: Zum Ersten sollen danach Versammlungen und Demonstrationen auch dann verboten werden können, wenn „erhebliche Belange der Bundesrepublik Deutschland, insbesondere außenpolitische Interessen oder völkerrechtliche Verpflichtungen“ beeinträchtigt werden und dadurch einer der Verfassungsgrundsätze missachtet wird. Solche „Interessen“ und „Belange“ politischer Art sind aber gerade keine elementaren Rechtgüter, denen gegenüber das Grundrecht der Versammlungsfreiheit zurücktreten muss, sondern werden durch die demokratische Willensbildung jeweils erst definiert. Eine solche Erweiterung des Verbotstatbestandes würde eine Art politischer Inhaltskontrolle von Demonstrationen ermöglichen, was aber gerade dem Charakter des Freiheitsrechts widersprechen würde. Zum Zweiten läuft der Gesetzentwurf auf die Schaffung „grundrechtsfreier Zonen“ hinaus. Er will Bund und Länder nämlich ermächtigen, „für ihre öffentlichen Einrichtungen oder Örtlichkeiten, die von herausragender nationaler und historischer Bedeutung sind, durch Gesetz befriedete Bezirke zu bestimmen“. Um Neonazi-Provokationen zum Beispiel am Holocaust-Mahnmal verhindern zu können, ist eine solche Regelung keineswegs notwendig. Hierzu reicht das geltende Versammlungsgesetz aus, weil in diesem Fall die Menschenwürde der jüdischen Bevölkerung verletzt und damit eine „unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Sicherheit“ bestehen würde. Mit der generellen Einführung von „befriedeten Bezirken“ aber würde das (auch vom Bundesverfassungsgericht anerkannte) Selbstbestimmungsrecht der Veranstalter über den Ort einer Versammlung massiv eingeschränkt werden. Das Grundrecht der Versammlungsfreiheit garantiert dem Volk als Souverän gerade auch das Recht, an Orten von symbolischer Bedeutung seine Forderungen oder seinen Protest zum Ausdruck zu bringen. 12

Die rechtlichen Probleme beim Umgang mit Neonazi-Demonstrationen sollten offenbar gezielt genutzt werden, um ein als Medium des Protestes elementares Grundrecht für alle Bürger und Bürgerinnen einzuschränken. Mit dem knappen Scheitern der CDU/CSU bei der Bundestagswahl scheint dieser Plan zunächst in die Schublade verbannt zu sein. Aber wäre es nicht an der Zeit, statt dessen das in seinen teilweise obrigkeitsstaatlichen Bestimmungen immerhin auf das Reichsvereinsgesetz von 1908 zurückgehende Versammlungsgesetz endlich demokratiekonform zu reformieren? Der hohe Rang, den das Bundesverfassungsgericht dem Grundrecht zuweist, müsste deutlicher zum Ausdruck gebracht werden, vor allem durch die ausdrückliche Verankerung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes für Verbote, Auflösungen und Auflagen. Auch wären Regelungen für den Schutz einer freien Anreise zu Kundgebungen und Demonstrationen zu schaffen. Bisher werden hierbei nämlich die weit reichenden Befugnisse des allgemeinen Polizeirechts angewendet. Auf dieser Grundlage wird nicht selten die Wahrnehmung des Grundrechts weitgehend vereitelt, insbesondere durch schleppende Personenkontrollen, Platzverweisungen, Aufenthaltsverbote und sogar „präventive Ingewahrsamsnahmen“ von anreisenden Personen, praktisch eine Art polizeiliche Abstrafung durch kurzzeitiges Einsperren ohne hinreichende richterliche Kontrolle. Unabhängig von einer im Interesse eines wirksamen Grundrechtsschutzes notwendigen Reform des Versammlungsgesetzes bleibt es bei der alten Erkenntnis, das Verfassungen keine Ruhekissen sind, sondern nur dann bestimmende Kraft entfalten können, wenn sie vom demokratischen Souverän auch verteidigt werden. Der beste Schutz auch des Grundrechts der Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit ist dessen aktive und mutige Wahrnehmung!


Ausführlicher zur Geschichte: Martin Kutscha (Hrsg.), Demonstrationsfreiheit. Kampf um ein Bürgerrecht, Köln 1986, S. 14 ff.

Grundrechte-Report 2002, Reinbek 2002, S. 130 ff.

Prof. Dr. Martin Kutscha lehrt Staats- und Verwaltungsrecht an der Fachhochschule für Zur aktuellen Rechtsprechung und Reformplä- Verwaltung und Rechtspflege Berlin und ist nen: Martin Kutscha, Bewegung im Versamm- Bundesvorsitzender der Vereinigung Demolungsrecht, in: Die Polizei 9/2002, S. 250 ff. kratischer Juristinnen und Juristen e. V. (VDJ). Ders., Demonstrationsfreiheit – auch für Neonazis? In: Till Müller-Heidelberg u. a. (Hrsg.),

Elke Steven

Die Entwicklung des Demonstrationsrechts im Castorkonflikt 1994 bis 2001 - die unendliche Geschichte im Kampf um ein Grundrecht Erfahrungen aus sieben Jahren Castortransporten Der Kampf um das Demonstrationsrecht ist lang, mühsam und voller Gefahren für die Bürger und Bürgerinnen - nicht jedoch für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, wie immer wieder behauptet wird. Für die etablierte Politik und herrschende Interessen ist es immer ein ärgerliches und hinderliches Grundrecht gewesen. Demonstrationen schaffen Unruhe, sie stellen die scheinbar geordneten Zustände in Frage. Je mehr die Vorstellung von Ruhe und Ordnung als erster (preußisch-deutscher) Bürgerpflicht vorherrscht und je mehr zentrale politisch-ökonomische Entscheidungen des Staates angegriffen und in Frage gestellt werden, desto mehr wird dieses Grundrecht diskreditiert und zugleich herrschaftlich außer Kraft gesetzt. Gerichte, insbesondere das Bundesverfassungsgericht, haben die zentrale Bedeutung dieses Grundrechts immer wieder hervorgehoben; sie fordern eine grundsätzlich demonstrationsfreundliche Haltung von Politik und Polizei. Daran, dass die Ausübung dieses Grund13

rechts immer wieder mit einem Risiko verbunden ist - mit dem Risiko, dass auch andere zentrale - Grundrechte verletzt werden (informationelle Selbstbestimmung, körperliche Unversehrtheit, Freiheitsrecht, Freizügigkeit) - hat sich jedoch nichts geändert. „Der regellose plebiszitäre „Druck der Straße“ enthält durchaus ein Stück elementarer Gegengewalt und ist damit Ausdruck direkter Volkssouveränität.“ (Dieter Sterzel: Demonstrationen; in: Annette Graczyk:: Das Volk, Berlin 1996) Diese Einmischung „demokratisch nicht legitimierter Minderheiten“, dieser „Druck der Straße“ ist ein notwendiges Korrektiv insbesondere in einer repräsentativen Demokratie, in der die Mitwirkung des Souveräns auf die Wahl beschränkt ist (repräsentativer Absolutismus). In einer Demokratie muss/müsste sich die Willensbildung vom Volk zu den Staatsorganen vollziehen und nicht umgekehrt. Daraus folgt, dass „der Staat“ - die Regierung und das Parlament - die Forderungen aus Versammlungen auf- und ernstnehmen


müssten. Probleme und Defizite der Politik werden sichtbar und müssten zu Kurskorrekturen in der Politik führen. Leider lässt sich dies nur im Konjunktiv beschreiben, denn faktisch ist es kaum der Fall. Demonstrationen werden immer wieder als lästige Einmischung empfunden, kriminalisiert, verboten und herrschaftlich aufgelöst. Dennoch: Ohne die Demonstrationen und ihre langfristigen Wirkungen sähe diese Republik schlimmer aus. Einerseits könnte man eine Geschichte des Umgangs mit dem Versammlungsrecht beschreiben, in der dessen zentrale Bedeutung für die Demokratie immer deutlicher hervorgetreten und gewürdigt worden ist. Von der Liberalisierung des Demonstrationsstrafrechts im Jahre 1970, über den sogenannten Brokdorf-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts 1985, den sogenannten Sitzblockade-Beschluss des BVerfG 1995, bis hin zum Schutz des Versammlungsrechts auch für rechte/ rechtsextremistische Aufmärsche - so ekelhaft und unerträglich ihre Aussagen und Forderungen auch sind - durch das BVerfG in letzter Zeit. Versammlungen gehören gemäß dieser Rechtsprechung „zu den unentbehrlichen und grundlegenden Funktionselemente eines demokratischen Gemeinwesens“. „... das Recht, sich ungehindert und ohne besondere Erlaubnis mit anderen zu versammeln, galt seit jeher als Zeichen der Freiheit, Unabhängigkeit und Mündigkeit des selbstbewussten Bürgers.“ Auch eine „plakative und aufsehenerregende Meinungskundgabe“ ist durch das Versammlungsrecht geschützt. Versammlungen „enthalten ein Stück ursprünglich-ungebändigter unmittelbarer Demokratie, das geeignet ist, den politischen Betrieb vor der Erstarrung in geschäftiger Routine zu bewahren.“ (aus dem Brokdorf-Beschluss, 1985) Dieser Brokdorf-Beschluss bildet auch heute noch die Grundlage des Verständnisses des Demonstrationsrechts. 14

Der Alltag sieht jedoch anders aus Am Beginn der Demonstrationen gegen die Castortransporte in das Zwischenlager in Gorleben stand trotz dieser Rechtsprechung ein Demonstrationsverbot per Allgemeinverfügung. Jedoch - zwar erst ein Jahr später, aber immerhin - auch dieses Demonstrationsverbot wurde gerichtlich für rechtswidrig erklärt. Immer wieder bekommen wir, die Bürger und Bürgerinnen, die wir uns um die öffentlichen Belange kümmern, Recht (das gilt ja auch für viele Verfahren im Anschluss von Demonstrationen). Trotzdem können wir nicht den Eindruck gewinnen, dass der Umgang mit dem Demonstrationsrecht fortschreitet in Richtung demokratischem Umgang damit - noch nicht einmal langsam, aber kontinuierlich. Denn auf der anderen Seite stehen die Veränderungen des Polizeirechts, die diesem Organ der Exekutive immer mehr Rechte zugestehen, der Polizei vor allem immer größere Entscheidungsspielräume und Maßnahmen zur so genannten Prävention zugestehen. Bei Demonstrationen bedeutet dies häufig den Verlust von Rechtssicherheit. Was erlaubt oder verboten ist, wie stark in meine Rechte eingegriffen wird, auf welcher Rechtsgrundlage dies mal so und mal so passiert, dies ist kaum noch absehbar. Damit aber wird die Teilnahme an Demonstrationen erst recht zum Risiko. Zugleich eröffnen die technischen Neuerungen immer neue und tiefgreifendere Möglichkeiten, in das Versammlungsgeschehen einzugreifen. Überwachung, Datensammlung und -abgleich sind ungleich „einfacher“ geworden. Im Verlauf der uns hier interessierenden Zeitspanne - konkret 1996, während des zweiten Castortransportes - wurde das Niedersächsische Gefahrenabwehrgesetz novelliert. Begründet wurde dies vorrangig mit den Erfah-


rungen während der „Chaostage“ in Hannover. Die AtomkraftgegnerInnen befürchteten zu recht, dass durch diese „Novelle rückwärts“ auch ihre Rechte geschmälert würden. Die Polizei erhielt damit u.a. die Befugnis, Aufenthaltsverbote zu verhängen, die sie fortan ausgiebig genutzt hat. In einer Demokratie ist der Streit um Meinungen ein zentrales Moment. Hierzu gehört auch die Möglichkeit, einmal getroffene Entscheidungen rückgängig zu machen, gemäß neuen Einsichten oder Mehrheiten Entscheidungen verändern zu können. Durch die Atomenergie werden jedoch Sicherheitsrisiken geschaffen, die nicht mehr rückholbar sind. Dies macht es um so notwendiger, den Protest der Bürger und Bürgerinnen dagegen auf- und ernstzunehmen. Tatsächlich aber bewahrheiten sich die Warnungen von Robert Jungk, dass auch mit der friedlichen Nutzung der Atomenergie die Grundrechte zerfallen. Überwachung und aufgerüstete Abschottung vor Bürgern, die alle als potentielle Protestierende oder Terroristen verdächtigt werden müssen, sind die notwendigen Folgen dieser Technik. Diese ist somit von Grund auf undemokratisch.

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Bild 322.tif

Wenn nichts mehr ging, dann... beteten die Menschen für eine freie Welt. Feldgottesdienst mit Pastor i.R. Egon Meyerhofer bei Gusborn, 10. November 2002

Allerdings sind die Formen, wie hier im Wendland das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit immer wieder in einer ganzen Region und über lange Zeiträume ausgehebelt werden, leider nicht einmalig. Entsprechendes geschieht immer wieder auch an anderen Orten. Gerade Proteste gegen eine Politik, die sich darauf konzentriert, die Macht der wenigen und die eigenen Wirtschaftsinteressen abzusichern, werden immer wieder herrschaftlich eingehegt oder ganz unterdrückt. GlobalisierungsgegnerInnen wird die Möglichkeit zur Ausreise genommen - was entsprechende Verletzungen der informationellen Selbstbestimmung fast schon voraussetzt. Mich auf Deutschland konzentrierend will ich ganz schweigen vom Umgang mit dem Versammlungsrecht in den Städten Europas. KriegsgegnerInnen wurde in der gesamten Großstadt München im Februar 2002 über drei Tage untersagt zu demonstrieren, während sich die Kriegsplaner auf der früher Wehrkunde-, heute Nato-Tagung genannten Zusammenkunft 16

versammelten, um auch Angriffskriege gegen „die Achse des Bösen“ zu planen. Welches sind die Merkmale im Umgang mit Demonstrationen? Fünfmal wurde in den letzten sieben Jahren hochradioaktiver Müll in das Zwischenlager nach Gorleben transportiert. Für die besorgten Bürger und Bürgerinnen sind diese Transporte Anlass, öffentlich ihren Protest gegen die Produktion von Atomenergie und für den Ausstieg aus ihr zu vertreten. Immer wieder waren mit solchen Protesten innerhalb zentraler Protestbewegungen in der Bundesrepublik Deutschland neben den Großdemonstrationen auch Formen der Behinderung des ungewollten Geschehens verbunden: Platzbesetzungen, Blockadeaktionen als Sitzblockaden oder per Ankettaktionen. So war auch hier im Wendland die gewaltfreie Behinderung des Transportes und die Verzögerung seiner Ankunft im Zwischenlager ein zentrales Moment der Proteste


gegen die Transporte seit 1994. Diesen Bürgern und Bürgerinnen stehen Politik und Polizei gegenüber. Die Politik hat es völlig versäumt, sich mit den Ängsten und Anliegen auseinanderzusetzen. Statt dessen hat sie mit den Atomkraftbetreibern - ohne die AtomkraftgegnerInnen und ihre kompetenten VertreterInnen einzubeziehen - einen so genannten Kompromiss ausgehandelt. Der Polizei kämen in diesem Zusammenhang theoretisch zwei unterschiedliche und zugegebener Weise schwer zu verbindende Aufgaben zu: den Protest der BürgerInnen zu schützen und zugleich den Transport zu ermöglichen. Praktisch stellt sie sich jedoch immer stärker auf die Seite der Betreiber, der Transportunternehmen und einer ihre Aufgabe verfehlenden Politik. Die seit 2001 eingeführten „Konfliktmanager“ der Polizei verdeutlichen eher diese Vereinseitlichung der Polizei, als dass sie Formen entwickeln könnten, mit dem bestehenden Konflikt angemessen umzugehen. Eine Voraussetzung eines grundrechteschützenden Umgangs mit dem vorhandenen Konflikt wäre die Einsicht, dass es weder Aufgabe der Polizei ist, noch in ihrem Kompetenzbereich liegt, diesen Konflikt zu lösen. Gelöst werden kann dieser Konflikt nur politisch. Und unter grundrechtlich-demokratischen Gesichtspunkten wäre hier einzig angemessen, die Entscheidung des Ministerpräsidenten von Niedersachsen, Ernst Albrecht, zu wiederholen: Die Nutzung der Atomenergie ist „politisch nicht durchsetzbar“, sie ist dies unabhängig von dem Meinungsstreit um die Größe oder Wahrscheinlichkeit der Gefahren durch die Atomenergie - deshalb nicht, weil diese Technik grundrechtswidrige Überwachungen nötig macht und vor allem weil die Ängste einer großen Gruppe von Bürgern und Bürgerinnen nicht zugunsten eines Interesses übergangen werden dürfen. So ist das - hätte das zu sein - in einer Demokratie.

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Diese Konfliktmanager sind als Polizeibeamte Teil des Gesamteinsatzkonzeptes. Ihre Eingebundenheit in die polizeiliche Hierarchie macht sie unfähig, in Konfliktsituationen zu vermitteln. In ihrer Öffentlichkeitsarbeit, in ihrem Werben für einen reibungslosen Transport der Castorbehälter überschreiten sie darüber hinaus eindeutig den Aufgabenbereich der Polizei. Dies tut die Polizei im übrigen auch schon dann, wenn sie regelnd in die Demonstrationen eingreift und sich zum Organisator des Geschehens macht, wie es immer häufiger geschieht - vor allem im März 2001 geschah. Immer wieder steht ein ganzer Landkreis unter Polizeikontrolle und in ihm alle Bürger und Bürgerinnen. Als Träger unmittelbar geltender Grundrechte, deren politische Beteiligung erwünscht ist, werden sie dann nicht (mehr) behandelt. Die Polizei regelt in diesen Tagen den gesamten Alltag und kommandiert den mündigen Bürger herum. Sechs Merkmale des grundrechtswidrigen Umgangs mit Demonstrationen - Kriminalisierung und Überwachung des Protestes Von Beginn an wurde der Protest von Politik, Polizei und Verfassungsschutz kriminalisiert. Der „ehrenwerte Bürger“ sollte von einer Teilnahme am Protest abgeschreckt werden wie der Justitiar des Landkreises vor dem Verwaltungsgericht Lüneburg eingestand.1 Immer wieder wurde vor „den Autonomen“, dem „schwarzen Block“ und zugereisten Gewalttätern gewarnt. Auch Hausdurchsuchungen in privaten Räumen und Strafverfahren gegen BürgerInnen, die öffentlich zu Aktionen zivilen Ungehorsams aufriefen, dienten der Abschre11

vgl.: Komitee für Grundrechte und Demokratie: Zweiter Castor-Transport nach Gorleben - Der Atomstaat zeigt seine Gewalt, Köln 1996


ckung. Schon früh waren auch die Bauern Opfer dieser Strategie. Ohne letztinstanzliche richterliche Entscheidung wurden einigen 1996 die Führerscheine - und damit die Grundlage ihrer Berufsausübung - entzogen. Anschläge auf Bahnanlagen wurden in der Öffentlichkeit selbst dann AtomkraftgegnerInnen zugerechnet, wenn sie nicht von solchen ausgingen, sondern z.B. von Erpressern. Demonstrationsverbote wurden mit solchen Ereignissen begründet, obwohl Bahnanschläge, auch die Beschädigungen der Oberleitungen, eindeutig nicht aus Demonstrationen heraus geschehen.

schutzbericht für 2001 vermuten, der wie in den Jahren zuvor die Proteste gegen die Castor-Transporte als „linksextremistisch beeinflusst“ und als „Aktionsfeld“ der Autonomen kommentiert.3

Im vergangenen Jahr nutzte die Polizei im Wendland auch sogenannte IMSI-Catcher. „Die Tatsache, dass bei den Castor-Transporten im Jahr 2001 immer wieder der Telefonverkehr mit Mobilfunkgeräten für kurze Zeit zusammenbrach, (muss) als ein Indiz dafür angesehen werden, dass die Polizei (...) die Geräte (...) einsetzt, mit denen sie die Kennnummern Die Umdefinition solcher Beschädigungen von von Handyanschlüssen orten und den MobilteBahn-Oberleitungen zu terroristischen Akten lefonverkehr stören kann.“4 Eine gesetzliche ermöglichte dem Landeskriminalamt (LKA) Grundlage für die Nutzung des IMSI-Catchers auch, gegen einen der Organisatoren des Proim Strafverfahren verabschiedete der Bundestests ein Verfahren nach §129a StGB (terroris- tag erst am 31. Mai dieses Jahres. Selbst nach tische Vereinigung) zu eröffnen. Gestützt auf dem neuen §100i StPO wäre der Einsatz jediesen absurden Vorwurf wurden 1997 sämtli- doch nicht zu rechtfertigen gewesen.5 che Telefone des Anwesens, auf dem der Beschuldigte wohnt, überwacht - 4.249 Telefon- Die - rechtswidrigen - Überwachungen aller gespräche wurden aufgezeichnet und protokol- Demonstrationen per Videokameras sind beliert. Abgehört wurden dabei vor allem Aktivis- reits alltäglich geworden. Die Sammlung von tInnen aus der Bürgerinitiative Umweltschutz, Daten potentieller KritikerInnen und Demonsobwohl gegen sie selbst keine Ermittlungen lie- trationsteilnehmerInnen geht jedoch erheblich fen. Zwar sah das LKA schon im Juni 1997 die weiter. Bereits Platzverweise und IngewahrVerdachtsmomente als nicht bestätigt an, das samnahmen können seit November 2000 zur Verfahren wurde aber erst im August 1999 ein- Aufnahme in die BKA-Datei „Gewalttäter gestellt. Links (LIMO)“ führen. Die Betroffenen erfahren davon nichts und haben keine MöglichIm Zusammenhang mit den Protesten gegen keiten, eine gerichtliche Überprüfung der SpeiAtommülltransporte führte die Bundesanwalt- cherung einzuleiten. Auch Freisprüche und schaft Mitte 2001 noch weitere sieben Verfah- Einstellungen von Verfahren führen nicht zur ren, wahrscheinlich ebenfalls nach §129a Löschung. Allerdings werden auf dieser StGB.2 Auch die „Beobachtung“ durch den Grundlage Meldeauflagen erlassen und AusreiVerfassungsschutz wurde fortgesetzt. Dies lässt severbote erteilt.6 Im April 2002 bestätigte das zumindest der niedersächsische VerfassungsBKA, zur „vorbeugenden Bekämpfung von 3

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vgl. Harms, R.: Selbst die Kinder wurden abgehört - Aushorchung der Bürgerinitiative Lüchow-Dannenberg auf krummen Wegen, in: Müller-Heidelberg, T. u.a. (Hg.): Grundrechte-Report 2002, Reinbek 2002, S. 155-158 (158)

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Niedersächsisches Innenministerium: Verfassungsschutzbericht 2001, Hannover 2002, S. 93-98 4 Harms, a.a.O. (Fn2), S. 158 5 siehe Bürgerrechte & Polizei, cilip 72, Nr. 2/2002, S. 83


Straftaten“ eine „Anti-Atomkraft- und AntiCastor-Datei“ zu führen, deren Inhalte meist von den Landespolizeien geliefert würden. Ist man erst einmal in einer dieser Dateien gespeichert, so ist die Sammelwut fast grenzenlos. Dann reicht bereits die Anmeldung eines Infostandes für die Bestätigung des Verdachts und die weitere Speicherung.7 Möglich werden solche polizeilichen Speicherungen politisch Andersdenkender durch die Konstruktion der „vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten“. Je mehr die Polizei „vorbeugend“, also im Vorfeld vor jeder Straftat oder Ordnungswidrigkeit tätig werden darf, je mehr verliert der Bürger jede Sicherheit vor staatlichen Eingriffen.

unreglementierten Charakter durch exzessive Observationen und Registrierungen verändern.“ - Demonstrationsverbote per Allgemeinverfügung

Vor dem ersten Castor-Transport 1995 erließ der Landkreis Lüchow-Dannenberg ein zeitlich und räumlich ausgedehntes Demonstrationsverbot per Allgemeinverfügung. Der allgemeine Verdacht gegen alle BürgerInnen, die gegen den Transport zu demonstrieren vorhatten, bestimmte die Allgemeinverfügung, keine konkreten und plausiblen Hinweise auf Gefahren. Dagegen legte die Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg (BI) Klage ein und erhielt ein gutes Jahr später - während des Im Volkszählungs-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (1984) heißt es jedoch: „Wer zweiten Transportes - vom Verwaltungsgericht Lüneburg recht. Das Gericht erachtete das Verdamit rechnet, dass etwa die Teilnahme an eibot als zu ausgedehnt und nicht ausreichend ner Versammlung oder einer Bürgerinitiative begründet. In einer Eilentscheidung lockerte behördlich registriert wird und ihm dadurch Risiken entstehen können, wird möglicherwei- das Verwaltungsgericht das schon erlassene Demonstrationsverbot während des laufenden se auf eine Ausübung seiner entsprechenden Transportes. Es kritisierte erneut, die BegrünGrundrechte verzichten. Dies dürfte nicht nur dungen seien nicht stichhaltig, die zeitliche die individuellen Entfaltungschancen des einAusdehnung willkürlich und nicht rechtmäßig. zelnen beeinträchtigen, sondern auch das GeDas Oberverwaltungsgericht (OVG), nahm meinwesen.“ dieses Urteil zwar teilweise zurück, hielt aber Und im Brokdorf-Beschluss steht: „Mit diesen fest, dass ein pauschales Demonstrationsverbot nicht rechtmäßig sei und über jede angemeldeAnforderungen wären erst recht behördliche Maßnahmen unvereinbar, die über die Anwen- te Demonstration eigens entschieden werden dung grundrechtsbeschränkender Gesetze hin- müsse. Die Verbote gingen trotzdem weiter. ausgehen und etwa den Zugang zu einer Demonstration durch Behinderung von Anfahrten Ab 1997 weigerten sich die zuständigen Landund schleppende vorbeugende Kontrollen un- kreise, die Demonstrationen zu untersagen, der Widerstand gegen die Atompolitik hatte hier zumutbar erschweren oder ihren staatsfreien auch in den politischen Gremien Fuß gefasst. Seitdem zieht die Bezirksregierung die Kom6 vgl. Steven, E.: Deutschland ist kein Ausreiseland, petenzen an sich und erlässt per Allgemeinverin: Forum Wissenschaft 200?, H. 4, S. 68-69; vgl. auch: Komitee für Grundrechte und Demokratie fügungen Demonstrationsverbote. Mit etwas (Hg.): Castor-Transport im März 2001 - Die Kontidifferenzierteren Begründungen und durch die nuität undemokratischer Politik und systematischen Vermeidung pauschaler Verbote schaffte sie es Missbrauchs der Polizei, Köln 2001 1997, dass ihre Verfügungen vor Gericht Be7 vgl. die tageszeitung v. 23.4.2002 19


Bild 585 tif Verhalten unerträglich

stand hatten. Damit begann jedoch eine Entwicklung, die den Ermessensspielraum der polizeilichen Einsatzleitungen ausdehnte. Bei diesem Transport und mehr noch bei denen des Jahres 2001 ging die Rechtssicherheit für die DemonstrationsteilnehmerInnen weitgehend verloren. Die Polizei erhielt eine allgemeine Handlungsermächtigung und handelte nach dem Opportunitätsprinzip.

diese Weise lässt sich die Rechtswegegarantie aushebeln - und das Recht auf Versammlungsfreiheit gleich mit.

Zwar wurden nun nicht mehr sämtliche Proteste verboten, die Entscheidungen über die einzelnen Demonstrationen führten aber zur weiteren Abschreckung und Einschüchterung. Immer wieder wurden Regelverstöße in der Vergangenheit fast grenzenlos den AnmelderInnen Hinzu kommt, dass die Klagemöglichkeiten zugerechnet. Wer anmeldet, soll darüber hingegen die behördlichen Verfügungen faktisch aus eine Garantie übernehmen, dass keine Stöeingeschränkt und behindert werden, indem die rungen irgendwelcher Art stattfinden.8 Polizei eine Demonstration erst kurz vor dem angemeldeten Zeitpunkt verbietet oder unzuGewalttaten, die so sie stattfinden, nicht durch mutbare Auflagen erlässt. Dieses Vorgehen das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit legiwurde insbesondere im November 2001 deut- timiert werden können, werden immer wieder lich. Der Instanzenweg kann dann nicht mehr zum Ausgangspunkt von Verboten gemacht. ausgeschöpft werden. Gerichte sehen sich in Einerseits werden hierfür jedoch irgendwelche der kurzen verbleibenden Frist nicht in der Aussagen z.B. aus dem Internet herangezogen, Lage, die Gefahrenprognose einer kritischen 8 Würdigung zu unterziehen. Und den BürgerIn- vgl. Komitee für Grundrechte und Demokratie: Petition an den niedersächsischen Landtag: `Für den nen bleibt keine Zeit zur Richtigstellung der uneingeschränkten Erhalt des Demonstrationsrechts Behauptungen der Versammlungsbehörde. Auf (Art. 8 Grundgesetz)A, Köln 2002 20


die den Anmeldern meist gar nicht zuzurechnen sind. Andererseits werden eindeutig gewaltfreie Aktionen auf diese Weise zu „Gewalt“ umdefiniert. Im Brokdorf-Beschluss des BVerfG steht dagegen: „Die grundrechtlich geschützte Versammlungsfreiheit hat nur dann zurückzutreten, wenn eine Güterabwägung unter Berücksichtigung der Bedeutung des Freiheitsrechts ergibt, dass dies zum Schutz anderer gleichwertiger Rechtsgüter notwendig ist. Demgemäß rechtfertigt keinesfalls jedes beliebige Interesse eine Einschränkung dieses Freiheitsrechts.“ Und auch Wolfgang Hoffmann-Riem, Richter am Bundesverfassungsgericht, betonte kürzlich erneut, dass das Versammlungsrecht eine Fundamentalnorm ist. „Beschränkungen sind nur zur Abwehr unmittelbar bevorstehender Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung möglich.“ (Frankfurter Rundschau, 11. Juli 2002) - Campverbote Nach dem von Gesamteinsatzleiter Hans Reime Anfang 2001 verkündeten Motto „teile und herrsche“ wurden im Jahr 2001 fast alle Camps auch jenseits der Demonstrationsverbotszone verboten. Auf privaten Wiesen durften trotz Zustimmung der Besitzer keine Camps errichtet werden. Die akribischen Begründungen der Campverbote verwiesen auf untergeordnete Gesetze, Regelungen der Bauordnung u. dgl.; in Tat und Wahrheit ging es darum, die Proteste zu unterbinden. Denn schließlich kann die Versammlungsfreiheit angesichts der mehrtägigen Proteste in einem dünn besiedelten und weiträumigen Bereich nur wahrgenommen werden, wenn es Möglichkeiten zur Übernachtung und Befriedigung von Grundbedürfnissen gibt.

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Auch in diesem Fall wurden Zuständigkeiten zentralisiert. Da die zuständigen Landkreise zumindest außerhalb der Demonstrationsverbotszone Camps zugelassen hätten, zog die Bezirksregierung Lüneburg die Befugnis zu Einzelfallentscheidungen an sich und „entmachtete“ den zuständigen Landrat. Klare Regelungen wurden nicht erlassen, gehandelt wurde nach dem Opportunitätsprinzip. Zwar konnten in einigen Fällen Dauermahnwachen oder Dauerkundgebungen mit Versorgungsstruktur ausgehandelt werden. Wenn es der Polizei opportun erschien, dann wurden als Dauermahnwachen titulierte Camps eben doch geräumt. - Aufenthaltsverbote Im November 2001 - nachdem 1996 die Gefahrenabwehrverordnung entsprechend geändert worden war - wurden insgesamt 460 Aufenthaltsverbote ausgesprochen. Praktische Voraussetzung dafür waren Demonstrations- und Campverbote: Schlafsack, Zelt, Campingkocher in Auto oder Rucksack konnten für Aufenthaltsverbote ausreichen. Diejenigen, die gegen Aufenthaltsverbote verstoßen - sei es, weil sie an ihrem Recht, sich mit anderen zu versammeln, festhalten, oder weil sie gar nicht wissen, wo sie sich sonst hinbegeben könnten - riskieren, in Gewahrsam genommen zu werden. - Ingewahrsamnahmen „Ingewahrsamnahmen“ bieten der Polizei die Möglichkeit, BürgerInnen in großer Zahl während der „heißen“ Transportphase festzusetzen. Im März 2001 landeten rund 1.400 Personen in polizeilichem Gewahrsam, 9 während der Proteste im November 2001 waren es wie9

vgl.: Donat, U.: Sonderrechtszone Gorleben: Schlafen verboten, in: Grundrechte-Report 2002, a.a.O. (Fn. 2), S. 123-129


Bild 450 tif – Robin Hood

derum 780. In vielen Fällen dauerte die Freiheitsentziehung länger als acht Stunden. Vor der Novellierung des Gefahrenabwehrgesetzes mussten alle Gewahrsamnahmen, die diese Dauer überschritten, zwingend richterlich überprüft werden. Seit der Änderung des Gesetzes geschieht dies nur noch selten. Im November 2001 entschieden RichterInnen in gerade 100 Fällen; bis auf vier Personen mussten alle sofort freigelassen werden. Nachträgliche Klagen gegen solche Ingewahrsamnahmen sind zwar vom Gesetz vorgesehen, finden aber nur in seltenen Fällen richterliches Gehör. Viele Klagen verliefen im Sande, weil Gerichte die Zuständigkeiten oder besser Unzuständigkeiten zwischen sich hin und her schoben. Der Beschwerde eines Sprechers einer gewaltfreien Aktion (Jochen Stay) gegen seine langfristige Ingewahrsamnahme im März 2001 wurde jedoch stattgegeben. Das änderte nichts daran, dass er im November 2001 erneut in Gewahrsam genommen wurde, diesmal allerdings 22

„nur“ wenige Stunden. Nach dem Castor-Transport nach Ahaus (1998) ist gleich in mehreren Fällen die Rechtswidrigkeit dieser Maßnahmen gerichtlich festgestellt worden. Diese massenweisen Festnahmen führen zu einer großen Zahl von Ermittlungsverfahren und Datenspeicherungen, jedoch nur selten zu Verurteilungen. Häufig werden nur Bußgelder wegen Ordnungswidrigkeiten - etwa in Höhe von 20 DM - festgesetzt. „... 1995 kam es nach 113 Festnahmen zu insgesamt acht Strafverfahren. Dieselben endeten mit drei Freisprüchen, drei Einstellungen und einer Verurteilung wegen Beleidigung eines Polizeibeamten durch die Frage „Sind Sie verrückt?“.10 Auch die Aktivisten von Robin Wood, die im März 2001 durch ihr Anketten am Gleis den Castortransport zum Rückzug zwangen, wurden in erster 10

Komitee für Grundrechte und Demokratie: Der starke Staat zeigt seine politisch-demokratische Schwäche. Dritter Castor-Transport nach Gorleben, Köln 1997, S. 28


Instanz nicht, wie von der Staatsanwaltschaft beantragt, wegen Nötigung verurteilt, sondern „nur“ wegen „Störung öffentlicher Betriebe“, allerdings zu 525 €.11 Manchmal kommt es auch zu Verfahren gegen Polizeibeamte B wegen Falschaussagen (in den Verfahren von 199512), Absprache von Falschaussagen und Meineid (anlässlich der Transporte im März 2001 in zwei Fällen), aber auch wegen Körperverletzung (1995). Allerdings verlaufen die meisten Klagen gegen Polizeibeamte im Sande, weil der Täter nicht ermittelt werden kann -Polizeibeamte nennen auch auf Nachfrage fast nie ihre Namen oder ihre Dienstnummern -, oder weil es schon der Staatsanwaltschaft an aussagekräftigen Beweisen mangelt. - Verletzung der körperlichen Unversehrtheit Immer wieder sind bei all den Castor-Transporten Mittel polizeilicher Gewalt eingesetzt worden, mal angekündigt, oft genug auch unangekündigt. Oft ist dabei in unverhältnismäßiger Weise die körperliche Unversehrtheit von Demonstrierenden gefährdet und verletzt worden. Immer wieder werden Schlagstöcke eingesetzt und werden in unverhältnismäßiger Weise verletzende Polizei-Griffe zur Räumung von Sitzblockaden angewandt. 1997 wurde bei Minustemperaturen Gebrauch von Wasserwerfern gegen friedliche Sitzblockierer gemacht, obwohl Fachleute, auch aus der Polizei, vorher eingestanden hatten, dass dies ein unverhältnismäßiges Mittel ist. Immer wieder werden Pferde gegen Sitzende eingesetzt, wie z.B. beim Transport im Jahr 1997. Im November 2001 führte dieser Einsatz zu Verletzungen. Und im November 2001 wurde auch der Einsatz von 11

vgl. die tageszeitung v. 23.5.2002 12 Komitee für Grundrechte und Demokratie, 1997, a.a.O., S. 28

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Hunden ohne Maulkorb einschließlich der damit verbundenen Verletzungen bewusst in Kauf genommen. Zu reden wäre in diesem Zusammenhang auch über die Behandlung derjenigen, die in Gewahrsam genommen wurden. Auch hier wird die körperliche Unversehrtheit immer wieder systematisch verletzt Beim Transport im Jahr 1997 zählten die SanitäterInnen und ÄrztInnen schon nach einer vorläufigen Auswertung ihrer Erfahrungen 400 Verletzte und zusätzlich 30 Schwerverletzte. Im November 2001 wurden 50 Verletzungen durch Hundebisse bekannt. Das tatsächliche Ausmaß der Verletzungen bleibt unbekannt. Jede und jeder Verletzte ist jedoch eine/r zu viel. Grundrechte muss man in Anspruch nehmen Demonstrierend und zivilen Ungehorsam leistend nehmen wir ein Grundrecht wahr, das wir haben und das uns nicht erst von der Polizei gewährt werden kann. Wir laufen dabei jedoch Gefahr, in unseren Grundrechten verletzt zu werden. Und selbst dann, wenn wir irgendwann vor Gericht Recht bekommen, ist dies nur ein kleiner Trost. Denn die Mittel, uns unserer Rechte zu berauben, werden immer subtiler. Und immer wieder gelingt auch die Abschreckung, die mit diesem Vorgehen auch intendiert ist. Trotzdem und gerade deshalb bleibt nur eine Möglichkeit, dieses Grundrecht zu schützen: wir müssen es in Anspruch nehmen. Dr. Elke Steven ist Mitglied im Komitee für Grundrechte und Demokratie


Spendenkonto des EA Gorleben: Volksbank Clenze (BLZ 258 619 90) Konto: 129 45 300

Jeden Tag eine gute Tat.

Elbe Jeetzel Zeitung vom 18. Januar 2003

Engagiert als soziale Gegenmacht Werner-Holtfort-Preis für die Anwälte Ulrike Donat und Dieter Magsam by Platenlaase. Wenn die Legislative mit der Exekutive verbunden ist, dann gibt es keine Freiheit. Das hat schon Montesquieu gewusst und geschrieben.

des Widerstandes gegen die Castor-Transporte im Wendland und gegen die Endlagerung von Atommüll in Gorleben.

Für den Rechtswissenschaftler und Richter Viel scheint sich Prof. Schneider seit den Zeiten zeigt sich am des französiniedersächsischen Staatsschen Polizeitheoretikers der recht, wie sich Aufklärung nicht Legislative und geändert zu haExekutive mitben: »Ich habe einander verbunden Eindruck, den haben: »Ein dass Sie als exemplarisches Rechtsanwälte Beispiel für das Bild Donat Margsam gegen alle drei Versagen des Gewalten kämpRechtsstaates.» fen, die sich geMenschen könngen die Bürger ten ihrer Freiheit verbündet zu haberaubt werden, ben scheinen.» ohne dass sie die Das sagte Prof. Chance hätten, Dr. Hans-Peter unverzüglich Schneider von eine richterliche der Universität Entscheidung zu Hannover am Donnerstag in seiner Lauda- bekommen. Donat habe nicht selten Richter tio bei der Verleihung der Werner-Holtfort- regelrecht an den Haaren herbeiziehen müsPreises an Ulrike Donat und Dieter Magsen. Auch beim Verhinderungsgewahrsam sam im »Café Grenzbereiche» in Platenlaa- gehe die Polizei oft rechtswidrig vor, was se. Die beiden Hamburger Rechtsanwälte nütze den Betroffenen eine Entscheidung wurden geehrt für ihre außerordentlichen zu ihren Gunsten Jahre später. »Der Zweck Verdienste bei der anwaltlichen Begleitung ist die Einschüchterung.» 24


Schneider fragte sich, ob diese Zustände System haben. Das Zusammenspiel von Legislative und Exekutive habe zur Folge, dass der Rechtsschutz auf ein Minimum herabsinke. Der Widerstand spreche von der Republik Freies Wendland, wenn man vom Rechtsstaat freien Wendland spreche, habe das Sinn. Der Laudator erinnerte, dass Werner Holtfort die Anwälte als soziale Gegenmacht verstand. »Sie sind es», sagt Schneider zu Donat und Magsam, beide sollten sich nicht entmutigen lassen. Es sei wichtig aufzustehen, wenn der Rechtsstaat mit Füßen getreten werde, auch wenn die Ergebnislosigkeit in vielen Fällen voraussehbar sei.

das Oberlandesgericht Celle just zur Preisverleihung entschied, dass Amtsrichter vor Ort verpflichtet seien, über die Zulässigkeit von Freiheitsentziehungen zu entscheiden, sei einer dieser kleinen Erfolge, die aber oft unsichtbar bleiben. Donat beklagte, dass die örtlichen Gerichte keine Position gegen Polizeiübergriffe beziehen, dass Akten verschwinden, Verfahren verzögert werden. Der Einsatz sei frustrierend, und sie hätte keine Motivation mehr, wenn es nicht den lebendigen Widerstand auf der Straße gebe.

Dieter Magsam erinnerte daran, dass es in 25 Jahren Gorleben-Protest höchstens Geldstrafen gegeben habe. Auch die Richter hätten gemerkt, »dass hier etwas nicht in Ordnung ist», aber noch keine eigene PosiDieter Magsam - er ist Verteidiger in politi- tion gefunden. Am Beispiel der von einem schen Strafprozessen und Fachanwalt für Richter abgesegneten polizeilichen BegrünArbeitsrecht - hatte seinen ersten Gorleben- dung für eine Hausdurchsuchung bei einer Fall Ende der 70er Jahre, er verteidigte 73-Jährigen machte er deutlich, dass dem einen Teilnehmer der Blockade der BohrGericht hier die Traute gefehlt habe, zu safahrzeuge vor der Lüchower Genossengen: So geht es nicht. »Das ist Verballhorschaft wegen Widerstandes gegen Vollstre- nung der Bevölkerung.» Magsam mag auch ckungsbeamte. Ulrike Donat, die sich mit nicht einsehen, warum Sitzblockaden auf Polizeirecht beschäftigt und gleichzeitig der Schiene im Gegensatz zur Straße strafFachanwältin für Familienrecht und Media- bar sind. Er erinnerte, dass die Schiene als torin ist, agierte 1994 das erste Mal in Sa»demofreier Raum» auf der Wehrkraftchen Gorleben, wehrte sich gegen Verschutzverordnung von 1939 beruhe. Hier sammlungsverbote. im Wendland würden viele rechtsstaatlichen Probleme offensichtlich, und deshalb Das sei, so die Geehrte, ein extrem schwie- sei Gorleben auch weit mehr als ein regioriges Geschäft, mit hohen Aktenbergen und nales Problem. Er sei dankbar, dass es hier einer langen Liste unerledigter Gerichtssa- Menschen gebe, die für solche Grundchen. Jeder Millimeter Rechtsstaatlichkeit rechtsfragen offen seien. müsse mühsamst erkämpft werden. Dass Zur Person: Werner Holtfort by Platenlaase. Werner Holtfort, Namensgeber und Stifter des Preises, der mit jeweils 3000 Euro dotiert ist, war streitbarer Anwalt und Notar in Hannover. Er kämpfte für die freie Advokatur und für demokratische Rechte der Bürger gegenüber dem Staat. 25


Bild 734 tif 2 Panzer der Polizei fahren auf einen einzelnen Trecker zu, der auf einer Kreuzung steht

Mit Panzern gegen Trecker

Holtfort starb 1992 im Alter von 72 Jahren. In seiner Kanzlei absolvierte Bundeskanzler Gerhard Schröder sein Referendariat. Von 1982 bis 1990 saß Holtfort als Abgeordneter der SPD im Landtag. Er ist Mitgründer des Republikanischen Anwaltsvereins, der beim vergangenen CastorTransport Veranstalter der Auftaktkundgebung in Gorleben war.

Elbe Jeetzel Zeitung vom 18. Januar 2003

»Wie schwach muss dieser Staat sein ...» Diskussion über Grundrechte by Platenlaase. Für den ehemaligen Verfassungsrichter Jürgen Kühling offenbart sich im Wendland, wie sich Rechtslage und Rechtswirklichkeit dramatisch auseinander entwickeln. Die Rechtslage sei kein Grund für Aufregungen, wohl aber die Rechtswirklichkeit, sagte er auf einer Diskussion zum Thema »Endlagerung der Grundrechte?» im Anschluss an die Verleihung des Holtfort-Preises am Donnerstag in Platenlaase.

ten zu können. Die Richter befänden sich in einer »strukturellen Ohnmacht»: Wie könnten sie besser voraussehen als die Polizei? Das falle im Vorfeld schwer, später werde aber aus der Prognose ein Tatbestand, und da habe ein Gericht mehr Möglichkeiten abzuwägen. Kühling ist klar, dass darüber viele Jahre hingehen können. Dem ersten Zugriff der Exekutive sollten die Menschen im Wendland den langen Atem entgegensetzen. »Ich glaube, dass Sie auf lange Sicht Erfolg haben», meinte der Jurist.

Für Kühling beruht die Übermacht der Exeku- Auf den Rechtsweg durch die Instanzen vertive auf ihrer Möglichkeit, jede Gefahr behaup- wiesen in der Diskussion auch die anderen Ju26


risten am Podium. Prof. Hans-Peter Schneider von Universität Hannover vermutete, dass es bei den Obergerichten mehr Verständnis für die Grundrechtsfragen gebe als bei Untergerichten, viele der hiesigen Probleme seien »oben» und damit auch in der Wissenschaft gar nicht bekannt. Detleff Prellwitz, Oberstaatsanwalt i.R. aus Oldenburg, hielt die von den Gorleben-Anwälten genannten Beispiele für Grundrechtsverletzungen für »schlimm». Jeder Richter sollte doch bei Polizei und Staatsanwaltschaft »seine Pappenheimer kennen» und sich nicht auf alles verlassen. Er stellte zudem klar, dass die Polizei nicht »Herr der Straße» sein könne. Dr. Herwig von Nieuwland, Präsident des Lüneburger Oberverwaltungsgerichtes, wollte nicht anerkennen, dass das Wendland ein rechtsfreier Raum sei, einer solchen Entwicklung sei dringend Einhalt zu gebieten. Er war der Ansicht, dass der Rechtsweg viel zu wenig genutzt werde. Beim jüngsten Transport sei das OVG nur mit einem Verfahren konfrontiert gewesen. Das Publikum reagierte mit lautem Protest und Gelächter: »Das liegt daran, dass wir so frustriert sind, wir haben kein Vertrauen mehr», der OVG-Präsident solle sich dazu die Klagen der Preisträgerin Ulrike Donat anhören, hieß aus den vollbesetzten Rängen im Platenlaaser Saal. Und von Nieuwland war offensichtlich auch nicht klar, dass man über die Stränge schlagenden Polizeibeamten mangels Namensschildern nicht habhaft werden kann. Die Grünen-Landtagsabgeordnete Rebecca Harms empfahl von Nieuwland und Richter-Kollegen beim nächsten Castor-Transport den Seitenwechsel. Auch Zuhörer meinten, dass sich die Richter unter die Demonstranten mischen sollten: »Wenn sie Prügel kriegen, mal sehen, wie sie dann richten werden.» »Wie schwach muss dieser Staat sein, dass er die Polizei braucht, um diesen Konflikt auszu27

tragen», fragte Prof. Dr. Peter Schneider. Er würde den Konflikt gern »entpolizeilichen»: »Lasst doch die Polizei mal weg, dann werden wir feststellen, ob die Gefahrenprognose stimmt, der Gegenbeweis konnte ja bisher nicht geliefert werden.» Rebecca Harms versicherte sich seiner Unterstützung bei der Auseinandersetzung mit Innenminister Bartling in diesem Punkt. Eine Zuhörerin verwies darauf, dass seit sieben Jahren die Gefahrenprognosen ja zurückzuverfolgen seien, tatsächlich werde aber das polizeiliche Programm immer erweitert. Warum gebe es keine Richter, die das stoppten: »Gibt es bei Ihnen keine Ethikkommission», fragte sie in Richtung Podium. Was das Abgreifen von Demonstranten lange vor der Verbotszone angeht, stellte Prof. Schneider dar, dass es keine polizeilichen Befugnisse zur Erleichterung der polizeilichen Arbeit gebe. Klar sei doch, dass die Gefahr vom Castor ausgehe und nicht von den Bürgern. Schneider riet zur Einkesselung des Castors durch die Polizei. Dass Atomkraft gegen die Grundrechte verstoße und ein Castor-Transport nach Recht und Gesetz nicht durchführbar sei - darauf wurde aus dem Publikum mehrmals hingewiesen. Auch Dieter Magsam, einer der beiden neuen Holtfort-Preisträger, hat Zweifel, ob man den Atommülltransport in ein normal funktionierendes Rechtssystem zurückbekommen könne. Wenn der Castor erst in Lüneburg sei, gebe es für ihn kein Zurück mehr, »die Frage von Demonstrationsrechten stellt sich dann nicht mehr». Der Transport sorge für gesellschaftliche Verhältnisse, in denen nicht mehr mit normalen Rechtskategorien gearbeitet werden könne, er schaffe ein »Besatzungsregime, eine En-


klave, in der wir uns zurechtfinden müssen».

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