Kg 2003 ugs

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K.Gilgenmann: Unwahrscheinlich große Sozialsysteme

Vortragsskizze

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Komplementär zum Mechanismus der kulturell erweiterten Gruppenselektion soll im Folgenden Differenzierung als ein evolutionärer Mechanismus beschrieben werden, der die Ausdehnung soziokultureller Systeme unterstützt, in dem er deren Instititutionengebilde zugleich variiert und stabilisiert.45 Dies schließt auch eine in der Ausdehnung sozialer Systeme angelegte Tendenz zur Universalisierung ihrer Institutionen ein. Das technisch vermittelte Größenwachstum soziokultureller Einheiten hat unmittelbar zur Folge, dass deren Institutionen sich unter erweiter­ ten Umweltbedingungen bewähren, sich also von konkreten (substantiellen) Um­ weltbezügen weitgehend ablösen und symbolisch generalisieren müssen. Mechanismen der Differenzierung sind tendenziell universalistisch,46 Mechanis­ men der kulturell erweiterten Gruppenidentifikation hingegen prinzipiell partiku­ laristisch.47 Hier zeigt sich ein Konflikt, der im Folgenden näher zu beschreiben ist.

soziokulturellen Evolution widerlegt wird. Zureichende Bedingungen für eine ESS sind nur dann gegeben, wenn auch die machtunterlegenen Akteuere auf die Dauer von den machtgeschützten Institutionen profitieren. Diese Voraussetzung kann unter den Bedingungen sehr großer, tenden­ ziell globaler, sozialer Einheiten nur durch universalistische Institutionen erreicht werden. 45 Der Bedarf für einen zweiten Mechanismus der Variation (und entsprechend dann auch einen zweiten Mechanismus der Selektion) ist bereits in 2.2 auf die Intentionalisierung und Pfadab­ hängigkeit zurückgeführt worden, die in Vorgängen der Technisierung als primärem Variati­ onsmechanismus der soziokulturellen Evolution zum Tragen kommt. 46 Darwin hat diese universalistische Tendenz noch als relativ konfliktfrei beschrieben. Vielleicht zum Ausgleich für die Zumutung ihrer animalischen Abstammung hat er der Menschheit eine unbegrenzte Ausdehnbarkeit ihrer „moralischen Gefühle“ zugeschrieben. Hervorzuheben ist, dass Darwin als Medien ihrer Ausdehnung bereits vorsieht, dass sie „in der öffentlichen Mei­ nung verkörpert“ und „durch Erziehung verbreitet“ werden. As man advances in civilisation, and small tribes are united into larger communities, the simplest reason would tell each individual that he ought to extend his social instincts and sympathies to all the members of the same nation, though personally unknown to him. This point being once reached, there is only an artificial barrier to prevent his sympathies extending to the men of all nations and races. If, indeed, such men are separated from him by great differences in appearance or habits, ex­ perience unfortunately shews us how long it is, before we look at them as our fellow-creatures. Sympathy beyond the confines of man, that is, humanity to the lower animals, seems to be one of the latest moral acquisitions. It is apparently unfelt by savages, except towards their pets. How little the old Romans knew of it is shewn by their abhorrent gladiatorial exhibitions. The very idea of humanity, as far as I could observe, was new to most of the Gauchos of the Pampas. This virtue, one of the noblest with which man is endowed, seems to arise incidentally from our sympathies be­ coming more tender and more widely diffused, until they are extended to all sentient beings. As soon as this virtue is honoured and practised by some few men, it spreads through instruction and example to the young, and eventually becomes incorporated in public opinion. Charles Darwin (1871) The Descent of Man Chapter 4 - Comparison of the Mental Powers of Man and the Lower Animals I Continued)

47 Die anschaulichsten Beispiele für den fundamentalen Partikularismus soziokultureller Institu­ tionen sind wahrscheinlich in der Vielfalt der menschlichen Sprache(n) zu finden. Ob in der Sprache überhaupt universelle Strukturen ausgebildet sind, ist in den einschlägigen Disziplinen hingegen immer noch umstritten. - Die Suche nach einer in der neuronalen Ausstattung des Menschen verankerten Universalgrammatik der Sprache (Chomsky) stützt sich auf das Argu­ ment, dass anders das Tempo der Tradierung sprachlicher Kompetenzen (das Erlernen der native speach) nicht zu erklären wäre. In evolutionstheoretischer Hinsicht wäre aber zu fragen, woher der Selektionsdruck gekommen sein soll, der zur genetischen Verankerung universell verwend­ barer Strukturen der Sprache geführt haben könnte.


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