GeWitter Juni 2016

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Inhaltsverzeichnis 4 Vorwort 6

Was ist eigentlich Rechtsextremismus?

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The Soviet Story

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Von Stärken und Schwächen der Demokratie

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Projekt “Vorzeigeflüchtlinge”

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Die DNA der Jugendsprache

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Mohammed & Me

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Grün-Blaue Geschichten

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Jemand hat die Absicht, eine Mauer zu bauen – Zum Unbehagen im amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf

Impressum: GeWitter - Zeitschrift der Fakultätsvertretung Geisteswissenschaften an der Karl-Franzens Universität Graz MedieninhaberIn, HerausgeberIn und VerlegerIn: Hochschülerinnen- und Hochschülerschaft an der Universität Graz, Schubertstrasse 6a, 8010 Graz Chefredaktion: Mandatarinnen und Mandatare der FV GeWi Layout: Florian Sassmann Alle benützten Fotos sind entweder selbst geschossen, vom jeweiligen Fotografierenden genehmigt oder fallen unter die Creative-Commons Nutzungsrechte. Druck: Universitätsdruckerei Klampfer. Auflage: 7.500 Stück

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Vorwort Liebe Studierende der Geisteswissenschaften, liebe Leserinnen und Leser des GeWitters. Diese Ausgabe des GeWitters wurde von den Mandatarinnen und Mandataren der Fakultätsvertretung Geisteswissenschaften und nicht von einem/einer Chefredakteur/in zusammengestellt. Der Grund hierfür ist wahrscheinlich den meisten von euch bekannt. Er ist in einzelnen Artikeln der Ausgabe des letzten GeWitters einzuordnen, von denen einige nicht der Qualität einer Zeitschrift entsprochen haben, wie man sie von jungen Akademikerinnen und Akademikern erwarten sollte. Es wurden Fehler in Bezug auf die journalistische Sorgfaltspflicht gemacht und teilweise eine Diktion verwendet, die in einer geisteswissenschaftlichen Zeitschrift nichts zu suchen hat. Gerade uns als Geisteswissenschaftlerinnen und Geisteswissenschaftler müsste am besten bewusst sein, wie problembehaftet einige Begriffe bis in heutige Zeiten sind, und dass im Namen der Meinungsfreiheit nicht alles unreflektiert gesagt werden kann – auch wenn es sich lediglich um eine persönliche Meinung eines Autors/einer Autorin handelt. Aus diesem Grund haben wir uns auch vom letzten Chefredakteur getrennt. Auch ich als Vorsitzender der Fakultätsvertretung Geisteswissenschaft habe in Bezug auf die letzte Ausgabe Versäumnisse zu verantworten und bin meiner GW 4

politischen Aufsichtspflicht nicht gerecht geworden. Hierfür möchte ich mich bei allen Studierenden der Geisteswissenschaften entschuldigen und kann versichern, dass dies in Zukunft nicht mehr passieren wird.

Die Fakultätsvertretung

Geisteswissenschaft hat auf ihrer letzten Sitzung drei Maßnahmen beschlossen, die verhindern sollen, dass so eine Ausgabe des GeWitters jemals wieder herausgegeben wird. 1. Künftige Ausgaben des GeWitters werden allen Mandatarinnen und Mandataren der FV GeWi vor Druck zur Kontrolle vorgelegt. 2. Der Posten des Chefredakteurs/ der Chefredakteurin wird öffentlich ausgeschrieben und die Bewerberinnen und Bewerber werden zu einem Hearing geladen. 3. Die Auswahl für den Posten der Chefredaktion erfolgt durch die Mandatarinnen und Mandatare der FV GeWi im Zuge des Hearings. Wir möchten mit dieser Ausgabe jene Artikel aufarbeiten, die für Unmut gesorgt haben. So haben wir unter anderem einen aufarbeitenden und reflektierenden Artikel zu „Ideologisierung der Flüchtlingskrise“ in diesem Heft veröffentlicht, außerdem möchten wir auch einige Vorwürfe aufgreifen. Zum Interview mit Friedrich Korkisch sei gesagt, dass es sich hier eindeutig um ein schlecht geführtes

Interview handelt. Wie sich nach dem Gespräch mit Herrn Lorber herausstellte, war dieses Interview nicht persönlich von Angesicht zu Angesicht, beziehungsweise über Skype geführt worden, sondern wurde rein auf schriftlichem Wege geführt. Auch die langen Antworten von Herrn Korkisch deuten darauf hin, dass ihm hier Raum und Möglichkeit gegeben werden sollte, um seine Theorien und Ansichten ausführlicher darzulegen. Die Frage ist, ob es bei so kontroversen Aussagen der richtige Weg war, Herrn Korkisch auf diese Weise zu interviewen: Bei einem persönlichen Gespräch bietet sich dem Interviewer/der Interviewerin die Möglichkeit, bei heiklen und sensiblen Themen einhaken und nachfragen zu können, bei diesem Interview ist uns leider nicht bekannt, ob dies stattgefunden hat. Betrachtet man die Behauptung über die Amokfahrt in Graz, kann davon ausgegangen werden, dass hier nicht nachgefragt wurde und dem Interviewer die Antwort in dargebrachter Form genügt hat – eine Art und Weise der Interviewführung, die die journalistische Kompetenz des Herrn Lorber in Frage stellen lässt. Zum Artikel von Herrn „Stefan Turner“ sollen auch noch ein paar Worte gesagt werden. Der Name „Stefan Turner“ ist hier bewusst unter Anführungszeichen gesetzt, da dieser Artikel einen gewissen Sonderfall in der letzten Ausgabe des GeWitters darstellt. Dies hat folgenden Hintergrund: Einige


Wochen nach der Herausgabe der letzten Zeitschrift, kontaktierte uns die FH JOANNEUM mit einigen Fragen. Es stellte sich heraus, dass an der Fachhochschule kein Student namens Stefan Turner immatrikuliert ist – eine Tatsache, die auch uns als Fakultätsvertretung überrascht hat. Da die Recherche zu den Autorinnen und Autoren dem damaligen Chefredakteur oblag, können wir leider weder nachvollziehen, wem der Artikel zuzuordnen ist, noch rekonstruieren, warum die FH in dieser Weise dargestellt wurde. Die einzige plausible Erklärung ist, dass hier ein Pseudonym verwendet wurde. Dies war auch die Antwort, die wir der FH JOANNEUM zusandten. Ein weiterer kontroverser Artikel war „Der Kunst ihre Frivolisierung?“ von Lara Wulz: Dieser wurde vom Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstands (DÖW) lediglich in Bezug auf die Formulierung „Die Perversion der Kunst“ kritisiert. Ansonsten ist dem Artikel keine rechtsextreme Diktion zu entnehmen, aufgrund der Nähe zu Beiträgen wie dem von Herrn Lorber geriet Frau Wulz hier in die Kritik.

werden, die gute Artikel für das GeWitter geschrieben haben. Für diese Beiträge sind wir sehr dankbar. Wir hoffen, dass durch diese Aufarbeitung die Umstände rund um die letzte GeWitter-Ausgabe klarer dargelegt werden konnten. Wir haben uns intensiv mit den gemachten Fehlern beschäftigt und werden in Zukunft sehr genau darauf achten, dass im GeWitter wieder hochqualitative, anspruchsvolle und reflektierte Inhalte präsentiert werden. Auf unserer nächsten Sitzung der Fakultätsvertretung Geisteswissenschaften findet ein Hearing zur Neubesetzung des Postens des Chefredakteurs/der Chefredakteurin statt, ab dem nächsten Semester starten wir mit einem neuen GeWitter ins Studienjahr 2016/17. Somit bleibt nur noch, euch allen viel Erfolg in der Prüfungszeit und einen schönen und erholsamen Sommer zu wünschen. Alexander Baumann Vorsitzender der FV GeWi

Abschließend sei gesagt, dass wir uns als FV sehr wohl gegen die Pauschalverurteilung des letzten GeWitters stellen. Es sind viele Beiträge im Heft zu finden, die überhaupt nichts mit den problematischen Artikeln zu tun haben. Wir möchten nicht, dass hier Autorinnen und Autoren verurteilt GW 5


Was ist eigentlich Rechtsextremismus? - ein Erklärungsansatz und eine Replik Im Zuge der letzten GeWitter-Ausgabe kam es zur Veröffentlichung eines höchst problematischen Artikels unter dem Titel „Die Ideologisierung der Flüchtlingskrise“. In diesem Artikel wurden klar rechtsextreme Positionen, bizarre verschwörungstheoretische Ansätze und viele weitere problembehaftete Inhalte veröffentlicht. Dieser Artikel soll nun nicht nur als Replik und Gegendarstellung dienen, sondern sich auch auf einer tatsächlich akademischen Ebene mit der Thematik „Rechtsextremismus“ auseinandersetzen. Um sich mit dem Phänomen Rechtsextremismus auseinandersetzen zu können, sollte man zuallererst mehrere Definitionen und Sachlagen klarstellen. Was ist eigentlich dieser Rechtsextremismus, wo beginnt er und wo hört er auf? Auch auf akademischer Ebene wird dieser Themenkomplex bearbeitet, so etwa durch die FIPU Forschungsgruppe Ideologien und Politiken der Ungleichheit (Wien), oder aber durch die staatliche Stelle des „Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands“. In den Köpfen vieler Menschen ist Rechtsextremismus als „gewaltvolle“ Ausprägung rechter Ideologien verankert, tatsächlich aber erfolgt die Betitelung als „rechtsextrem“ aufgrund ideologischer Merkmale. Physische Gewalt kann zwar eine Rolle spielen, muss sie aber nicht. GW 6

So kann, wie nach dem Erscheinen der letzten GeWitter-Ausgabe geschehen, auch eine Zuordnung eines Artikels als rechtsextrem zulässig sein. Auch wichtig ist, dass Rechtsextremismus definitiv nicht mit Neonazismus gleichzustellen ist, der auch per definitionem einen gewaltvollen Charakter, sowie positiven NS-Bezug beinhaltet. Wenden wir uns einigen der wichtigsten Merkmale des modernen Rechtsextremismus zu: Antiindividualismus/Antiliberalismus, Autoritarismus, Nationalismus/ Ethnizismus, Antipluralismus sowie der Gedanke der „natürlichen Ungleichheit von Menschen“, der jedoch eng an die zuvor erwähnten Merkmale anknüpft. In diesem Punkt wird besonders oft auf biologistische, auf die Natur bezogene, Argumentation zurückgegriffen. So in etwa, wenn man das typische, rassistische Argumentationsmuster hört: „‚Die‘ sind halt so, das liegt in deren ‚Natur‘“. An dieser Stelle sei die übliche Homogenisierung aller Menschen zu Einheiten wie „Rasse“, „Volk“, oder „Geschlecht“ bemerkt!1 2 Beginnen wir beim Antiindividualismus: In der rechtsextremen Literatur, sowie den gängigen Argumentationsmustern, wird das Individuum in seiner Wertigkeit immer einer Gruppe untergeordnet, oft auch mehreren. Da gibt es zum einen die Einheiten der „Nation“ und des „Volkes“, die als homogene Einheiten begriffen werden, die dem Individuum übergeordnet sind. Der Begriff des „Volkes“ wird

dabei streng an ethnische Homogenität geknüpft und in den meisten Fällen mit rassistischer Abgrenzung zementiert. Zum anderen knüpft der Antiindividualismus der extremen Rechten auch an die „Einheit der Familie“ an, der sich das Individuum unterzuordnen hat. Diese Tendenz zur Homogenisierung schlägt sich zuletzt in einem starken Antiliberalismus nieder, da der Liberalismus die Freiheit des Individuums für am stärksten erstrebenswert erachtet. In unserer modernen Gesellschaft wurden unzählige Freiheiten, die es Einzelnen ermöglichen, ihren eigenen Lebensweg selbstbestimmt zu gehen, erstritten, die feministischen Bewegungen kämpfen weiter für Gleichstellung, LGBTIQA3 Bewegungen ebenso. Im heutigen Gesellschaftsverständnis sollten alle ihren eigenen Weg gehen können, auch wenn diese Einstellung nach wie vor Widersacher*innen, nicht zuletzt in der extremen Rechten findet. Im Rechtsextremismus wird dies pessimistisch als Niedergang unserer Kultur wahrgenommen. An dieser Stelle muss man bemerken, wie bekannte rechte Politiker*innen und die, die es gerne wären, auch immer wieder ausreiten, um gegen Künstler*innen und „Schickeria“ zu wettern, die sie als Symptom kultureller Dekadenz wahrnehmen. Auch das Geschlecht und Sexualität sind für die extreme Rechte unumstößliche Kategorien, denen man sich zu unterwerfen hat. Sexualität muss heteronormativ sein, da

www.doew.at B. WEIDINGER; Zwischen Kritik und konservativer Agenda, Eine Verteidigung des Rechtsextremismusbegriffs gegen seine Proponent*innen; in; Rechtsextremismus, Entwicklungen und Analysen, Band 1, FIPU, 2014. 3 Lesbian, Gay, Bi-, Trans-, Inter-, Queer-, Asexual. 1

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diese nur über die Einheit „Familie“ sowie zur Fortpflanzung des in sich homogenen „Volkes“ begriffen wird. Da dies beides Kategorien sind, die der Freiheit des Individuums im rechtsextremen Sinn übergeordnet sind, wird auch jede Abweichung vom heteronormativen Sexual- und binären Geschlechterrollenverständnis automatisch angefeindet.4 Kommen wir nun zum Merkmal des Autoritarismus. Autoritarismus wird im Rechtsextremismus als logische Antithese zum Individualismus begriffen. Um eine Unterwerfung des Individuums gegenüber den oben beschriebenen Einheiten zu gewährleisten, bedarf es eines autoritären Ansatzes, der ahndet und maßregelt, wo immer die fiktiven homogenen „Einheiten“ „bedroht“ sind. Das „Gehorsamsprinzip“ dient der Aufrechterhaltung der angeblich „natürlichen Ordnung“ homogener Einheiten. Ebenso wichtig ist der Autoritarismus, um den Antipluralismus im rechtsextremen Gesellschaftsverständnis aufrechtzuerhalten: ein plurales Koexistieren verschiedener politischer Meinungen und Ideologien ist in diesem Verständnis nicht möglich, deshalb muss ein autoritäres System nicht nur Menschen, Individuen, Geschlechter und Sexualitäten normieren, sondern auch das gesamte politisch-ideologische Spektrum. Als Dreh- und Angelpunkt dieser Ideologie(n) fungiert der Gedanke der Nation als unumstößliche, natürlich homogene „Volksgemeinschaft“. Nationalismus kommt ohne Rassismus nicht aus, denn niemand hält die „Nation“, der er oder sie angehört, hoch, ohne auf andere herabzublicken. Man spricht vom

„exklusiven Nationalismus“: Abgrenzend, ausgrenzend. Auch erhebt der exklusive Nationalismus oft ein absolutes „Loyalitäts-, und Deutungsmonopol“. Über der individuellen Religion, dem Geschlecht, der Sexualität und selbst dem Recht auf Leben steht immer die Nation, es wird erwartet, dass sich das Individuum den „Interessen des Volkes“ unterwirft. Ob als strammer Mann mit der Waffe in der Hand, oder als in ein monotones, althergebrachtes Rollenbild gezwängte und unterdrückte Frau. Nun kennen wir also die Feindbilder und einige Prämissen rechtsextremer Ideologien (es gibt ja nicht nur den einen Rechtsextremismus), wenden wir uns also dem eigentlichen Grund dieses Artikels zu. In der letzten Ausgabe dieser Zeitschrift erschien der Artikel „Die Ideologisierung der Flüchtlingskrise“. In diesem Artikel wurden zum einen hochproblematische Inhalte, die sehr stark an die rechtsextreme Publizistik erinnern, verbreitet, zum anderen abstruse Verschwörungstheorien ohne jeden Beleg aufgestellt. Auffällig ist, dass sich eben angesprochene Verschwörungstheorien im Artikel immer um die weiter oben beschriebenen Feindbilder rechtsextremer Ideologien drehen. So attackiert der Autor Parteien links der Mitte als „findige MarxistInnen“, die in den MigrantInnen eine „industrielle Reservearmee“, die den Niedriglohnsektor dominieren soll, sähen. Dass dieser Gedanke dem Wesen des Marxismus zutiefst widerstrebt, ja sogar eine Verkehrung des marxistischen Gedankens ins Gegenteil darstellt, der ja schließlich die Befreiung der arbeitenden Klasse vor

unterdrückerischen Verhältnissen, wie eben Niedriglohnsektoren, fordert, scheint dem Autor nicht aufgefallen zu sein. Der Gedanke wird in jenem Artikel noch weiter gesponnen, als der Autor mutmaßt, „Linke Parteien“ würden mittels Migration ein „revolutionäres Substrat [...] importieren“. Eine ebenso beleglose, wie nicht nachvollziehbare Behauptung. Das Feindbild Marxismus ist dem Rechtsextremismus so ureigen, wie das Feindbild Individualismus, ebenso wie die Gewohnheit die politische Opposition mit Sündenbock-, und Verschwörungstheorien zu überziehen.5 Leider, so der Autor, werden uns diese Verschwörungen von den Medien vorenthalten. In beinahe jedem Absatz des unsäglichen Artikels kommt ein „Gsatzerl“, dass sich mit der Floskel „Lügenpresse!!11eins“ zusammenfassen lässt. Belege für diese große Medienmanipulation bleibt uns der Autor wieder schuldig. Außerdem kann man z.B. der „Krone“ und dem Boulevard wirklich sehr vieles zum Vorwurf machen, eine übertriebene Willkommenskultur gehört aber definitiv nicht dazu. Nach einer Seite Bashing von Medien, Politik und der gesamten linken politischen Landschaft wendet sich der Autor schließlich jenen Punkten zu, die ihn die Grenze von reiner Geschmacklosigkeit hin zur Verbreitung rechtsextremer Positionen endgültig überschreiten lassen. Zum einen wird der extrem rechte Soziologe Kleine-Hartlage erwähnt, ohne auf dessen politischen Hintergrund einzugehen, zum anderen wendet sich der Autor den „drei großen Ideologien“ zu: Liberalismus, Marxismus und Na-

J. GOETZ; (Re-)Naturalisierungen der Geschlechterordnung, Anmerkungen zur Geschlchtsblindheit der (österreichischen Rechtsextremismusforschung; in; Rechtsextremismus, Entwicklungen und Analysen, Band 1, FIPU, 2014.

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tionalsozialismus, von denen letzterer, wie der Autor meint, nach dem Krieg „tabu“ wurde. Den Nationalsozialismus als „tabu“ zu bezeichnen verharmlost ihn gewiss, denn er wurde nicht einfach „tabuisiert“, wie im Artikel kolportiert, sondern besiegt. Eines der größten Verbrechen der Menschheitsgeschichte wurde beendet und die Täter besiegt. Von einem „Tabu“ vor dieser Ideologie kann man außerdem (leider) bei weitem nicht sprechen: In Österreich gründete sich die FPÖ in erster Linie aus NS und SS Kadern, der erste Parteiobmann war als Schwerstbelasteter im Gefängnis gesessen und begann seine Obmannschaft mit dem klaren Ziel der „Zugehörigkeit zum deutschen Volk“. Aufgrund dieser Tatsache, der engen Verbindung zum deutschnational-völkischen Milieu und auch nicht zuletzt der Formulierung des Parteiprogramms können Teile der FPÖ und ihrer Publikationen auch dem rechtsextremen Spektrum zugeordnet werden.6 Der Autor hält sich mit diesen historischen Realitäten nicht weiter auf, sondern moniert kläglich, dass seitdem sogar das „Bestehen auf nationales Eigeninteresse verteufelt“ - würde und bezeichnet jene, die Nationalismus ablehnen im selben Satz als die „ganz fanatischen“. Spätestens hier weiß der/die aufmerksame Leser*in wie der Hase läuft. Der Artikel geht schließlich zu klar rechtsextremen Argumentationsmustern über, die wir anhand der Einleitung in diesem Text entschlüsseln und analysieren können: „Konkret kommt der Mensch nur mit anderen real verbunden vor. Er ist Teil einer Familie, eines Kreises GW 8

weiterer Verwandtschaft und eines Volkes. [...] Beide Weltanschauungen [Anm.: Liberalismus und Marxismus] sind den natürlichen Banden feindlich gesonnen: Der Liberalismus will nur freiwillig eingegangene Beziehungen gelten lassen.[!]“ Und weiter: „Geschlecht, Klasse, Volk, Rasse und Familie sind Kategorien, die nicht änderbar und dem eigenen Willen entzogen sind.“ Diese Argumentationsmuster fügen sich so nahtlos in die Definition und die Feindbildanalyse der rechtsextremen Ideologien ein, dass man an dieser Stelle kaum noch etwas hinzufügen muss. Nicht nur geniert sich der Autor nicht von „Rasse“ zu sprechen, ohne dies auch nur unter Anführungszeichen zu setzen (immerhin meint er es ja ernst), auch der massive Antiindividualismus dieser Äußerungen, sowie die offene Anfeindung gegenüber dem Liberalismus sprechen sehr stark dafür, diesen Artikel als klar rechtsextrem einzuordnen. Etwas eigenartig mutet die Behauptung an, auch die ökonomische Klasse wäre etwas, dass nicht änderbar und dem eigenen Willen entzogen ist. Später schreibt der Autor noch, der Gedanke arabische Einwander*innen könnten je „deutsch“ werden, sei so absurd wie der, dass man sich von seinem Geschlecht trennen könne. Tut man das trotzdem, so „blendet man automatisch Kultur und Biologie aus.“ Gemerkt? Das war es, das letzte fehlende Merkmal der rechtsextremen Argumentation. Biologie! Als könnte man Menschen, Individuen, auf Biologie, oder biologistische Theorien reduzieren.

Wir sehen also, dass auch Texte einen rechtsextremen Charakter haben können, wie sonst würden auch rechtsextreme Positionen verbreitet werden? Das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands untersucht immer wieder Texte in dieser Hinsicht und betrachtet rechtsextreme Publikationen, oft aus dem burschenschaftlichen Milieu. Gerade im letzten Jahr konnten wir ein Erstarken rechtsextremer und rechter Positionen bemerken, um ein Haar wäre ein Mann, der einer deutschnationalen Burschenschaft angehört, Präsident geworden. Während diese Zeilen verfasst werden, marodiert eine bekannte, klar rechtsextreme Bewegung durch Graz und droht in den sozialen Netzwerken offen damit, Frauenhäusern „einen Besuch abzustatten“. Rechtsextremismus ist in unserer Gesellschaft weder tabu, noch irrelevant, das zeigt nicht zuletzt die Tatsache der Notwendigkeit, diese Replik zu veröffentlichen. In diesem Klima einer derartigen Verrohung von Sprache und immer häufiger auftretenden Gewalttaten aus diesem politischen Eck sind wir Einzelne, wir Individuen, gefordert, es anders zu machen. Uns nicht aus Angst dazu verleiten zu lassen, nach unten zu treten, sondern für ein gutes Leben für alle einzutreten. Es gibt genug Probleme in unserer Gesellschaft, ohne dass wir uns von Verschwörungstheorien ins Bockshorn jagen und uns Hass auf andere einreden lassen müssen. Probleme, die wir auch angreifen können. Von anderen Menschen, die zu uns kommen, wollen wir nicht mit Abschätzigkeit und Ablehnung sprechen müssen, sondern mit ihnen, statt über sie, neu-

www.doew.at H. SCHIEDEL; National und liberal verträgt sich nicht. Zum rechtsextremen Charakter der FPÖ; in; Rechtsextremismus, Entwicklungen und Analysen, Band 1, FIPU, 2014. 5

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gierig und mit freundlicher Aufrichtigkeit. Als Individualist*innen wollen wir keinen „Strom“, keine „Flut“ sehen, sondern Menschen, Individuen. Vielen geht es heutzutage nicht so gut, wie noch vor ein paar Jahren. Wir sollten nicht den Fehler machen, jenen zu glauben, die die einfachsten Gründe und Lösungen präsentieren wollen, denn unsere Welt und unsere Gesellschaft sind komplex und wenn eines erwiesenermaßen noch nie zu irgendeiner Verbesserung führte, dann Sündenbock-Mentalitäten und einfache Feindbilder. Solche gilt es abzubauen und der Komplexität der gesellschaftlichen Probleme mit den angemessen komplexen Analysen beizukommen. Die soziale Frage, die Herausforderungen der neoliberalen Globalisierung, der Klimawandel, Atommüll und nicht zuletzt die fürchterlichen Kriege, die in vielen Ländern geführt werden, lassen sich nicht beenden oder lösen, indem wir auf einfache Fingerzeige hören, die uns sagen wollen: „Die sind schuld.“

wir uns wirklich im Jahr 2016 mit der „Verteidigung des christlichen Abendlandes“ beschäftigen, statt mit den Errungenschaften von Renaissance und Aufklärung, allen voran dem Humanismus? Vor dieser Frage stehen wir Alle und es sind auch wir Alle, die sie beantworten werden. Tristan Ammerer

Quellen zum Begriff des Rechtsextremismus: • http://www.doew.at/erkennen/ rechtsextremismus/rechtsextreme-organisationen/zum-begriff-des-rechtsextremismus • http://www.stopptdierechten.at/see/ wer-ist-rechts/ • Rechtsextremismus, Entwicklungen und Analysen, Band 1. Herausgegeben von der Forschungsgruppe Ideologien und Politiken der Ungleichheit (Wien), Mandelbaum, Kritik und Utopie, Wien, 2014. • Zur Quellenforschung in der Rechtsextremismusforschung in Österreich: B. WEIDINGER; Rechtsextremismusforschung in Österreich – Personen, Institutionen, Zugänge und Defizite, Ein (geraffter) Überblick, Rechtsextremismus, Entwicklungen und Analysen, Band 1.

Als Fazit bleibt, gerade im akademischen Milieu, dass die Achtsamkeit im Umgang mit Worten hochgehalten wird, fehlgeleitete Problemanalysen erkannt, benannt und kritisch betrachtet werden. Jenen Teilen der Gesellschaft, die deren Pluralität und Offenheit in Frage stellen, oder sie sogar bekämpfen wollen, muss man die Forderung nach einem guten Leben für alle entgegenstellen und daran arbeiten, lebenswerte Bedingungen für Alle zu schaffen. Wo immer sich abgekapselt und abgeschottet wird, geschieht das zum Leidwesen von Menschen. Wollen GW 9


The Soviet Story Re-viewed Eigentlich bin ich ein Gewohnheitstier, jeden Samstagmorgen stehe ich auf, frühstücke, gehe Laufen, dusche, und schau dann ganz kindisch meine Cartoons (ist die neue Steven Universe Staffel genial oder nicht?). Diesen Samstag brach ich mit meiner Gewohnheit und sah mir, den in der letzten Gewitter-Ausgabe vorgestellten Film, „The Soviet Story“ an. Veröffentlicht wurde der Film im deutschen Raum vom Kopp Verlag, einem Verlag, der sich vor allem spannenden Themen wie der „rechten Esoterik“, „dem erfundenen Mittelalter“ und der „Prä-Astronautik“ widmet. Nicht gerade ein Verlag von dem ich Bücher kaufen würde, aber es setzt den Film in ein mir nicht ganz „rechtes“ Eck (man gönne mir das Wortspiel). Zu meinem Glück ist der Film relativ einfach auf Youtube zu finden, der User „EinInfoKrieger Deutschlands“ hat ihn hochgeladen. Bei manchen, so wie auch bei mir, erzeugt der Name vielleicht schon ein wenig Argwohn. Ein kurzer Blick auf das Profil des Users zeigt, dass dieser User anscheinend ein großer Fan des Kopp-Verlages ist; von „3 Weltkrieg 2020 – bereiten Sie sich rechtzeitig vor“ bis hin zu „Der

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Unterwanderung von KGB und Vatikan“ scheint dieser Account alles zu bieten. Ich schwor mir aber, den Film objektiv zu betrachten, daher ignorier ich mal gekonnt diese, nennen wir es „interessante Videosammlung“, und startete den Film. „The Soviet Story“ erzählt von den Verbrechen die von der Sowjetunion in den 1930ern und 1940ern begannen wurden und beleuchtet auch die Zusammenarbeit von Deutschland und der UdSSR vor der Kriegserklärung Deutschlands am 22. Juni 1941. Die Bilder zu Beginn des Films sind schockierend, sie zeigen das Ausmaß der Hungersnot in der Ukraine 1932 und 1933. Ausgehungerte Menschen, die in Massengräber geworfen werden, Menschen, die unter Tränen von ihren durchlittenen Qualen erzählen; es ist schwer bei diesen Bildern nicht betroffen zu sein. Nach diesem heftigen Einstieg widmet sich die Dokumentation den Zusammenhängen der beiden Regime. Es werden unter anderem Plakate verglichen oder auch die Zusammenarbeiten von KGB und Gestapo untersucht. Ich bin nun kein Experte des zweiten Weltkrieges, noch verfüge ich über Fachwissen über die Abläufe

in der Sowjetunion oder in Nazi-Deutschland, daher fällt es mir schwer, die Inhalte, die in diesem Film vorgestellt werden, auf ihren Wahrheitswert zu überprüfen. Alles was ich habe ist meine Schulbildung, die doch recht solide ist. Dass die Sowjetunion grausame Verbrechen an ihrer Bevölkerung begann, ist nicht zu leugnen. Der Beginn des 20. Jahrhunderts war nicht gerade die Blütezeit der Menschenrechte. So sehr sich der Film bemüht einen seriösen Eindruck zu machen, zwischendurch kommt einem immer wieder so ein komisches Gefühl. Vermutlich ungerechtfertigt, doch Anlass genug den Film ein wenig im Internet zu recherchieren. Der Film, gedreht von Edvins Snore, wurde nicht nur im Europa-Parlament aufgeführt sondern auch von einer Partei des europäischen Parlaments gesponsert. UEN, Union for Europe of the Nation, war eine politische Vereinigung im europäischen Parlament welche von 1999 bis 2009 existierte und laut Wikipedia als „national-konservativ“ und „euroskeptisch“ beschrieben werden kann. Des Weiteren wurde der Film im Economist und in der New York Times vorgestellt. Alles Anzeichen


dafür, dass es sich hierbei um einen seriös recherchierten Dokumentarfilm handelt. Trotzdem verursachen die Bildabfolgen, die Kommentare des Sprechers, und dieser fast dauerhafte, zwanghafte Vergleich mit dem NS-Regime eine komische Stimmung. Persönlich finde ich, dass kein Vergleich mit dem Regime der Nationalsozialisten notwendig ist. Jeder Mord, jede Zwangsumsiedlung, jede Verschleppung ist ein fürchterliches Verbrechen. Man muss hier keine Wertung erstellen. Ja, es ist vermutlich wahr, dass in unserem Bildungsplan den Verbrechen der Sowjetunion nicht der Platz eingeräumt wird, wie jenen der Nationalsozialisten. Aber man behandelt auch nicht, oder nur oberflächlich, die Verbrechen unter Mao Zedong in China, Pol Pot’s Verbrechen in Kambodscha oder den fürchterlichen Genozid in Ruanda. Das heißt aber noch lange nicht, dass man davon nichts weiß oder diese Taten gar leugnet. Es heißt einfach, dass man vermutlich im Schulplan Platz für mehr „Geschichts- und Politische Bildung“-Stunden schaffen sollte. In meinen Augen ist das Einzige, was man diesem Film vorwerfen kann, dass er zu sehr darum be-

müht ist, die Verbrechen anzuprangern und dabei die Objektivität verliert. Eine sachlichere, ruhigere Note hätte ihm sicher nicht geschadet. Es gibt durchaus Passagen, die recht kontrovers sind und über die man diskutieren kann, jedoch kann man dem Film nicht vorwerfen, schlecht recherchiert zu sein. Doch ich lade jeden/jede gerne ein, sich selbst ein Bild zu machen, und sich mal mit dem Thema auseinanderzusetzen Martin Donnerer

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Von Stärken und Schwächen der Demokratie Disclaimer: Weil es weder meinem persönlichen Stil noch meinem Verständnis von guter Lesbarkeit entspricht, habe ich beim Schreiben dieses Artikels auf das Gendern verzichtet. Mir ist klar, dass es nicht dem Standard der ÖH Uni Graz, die das Gendern in ihrer Satzung festgeschrieben hat, entspricht, ich bitte aber darum, die Freiheiten des Autors über Inhalt und Formulierung hochzuhalten und zu akzeptieren. Selbstverständlich referiert die grammatisch maskuline Form auf Angehörige aller Geschlechter.

Wenn unter dem Eindruck des Vormarsches autoritärer Kräfte die Frage nach Gründen einer um sich greifenden Demokratieverdrossenheit gestellt wird, ist die vorherrschende Theorie eine, die in weiten Teilen der Bevölkerung die Sehnsucht nach dem Starken Mann zu erkennen glaubt: Das republikanische System europäischer Prägung sei eines, das langsam mahlt, viel Diskussion erfordert, dabei oft wenig Konsens und noch weniger Taten abwirft. Die Führung einer Gesellschaft in die Hände einiger weniger Bevollmächtigter zu legen, die schlagkräftig(e) Ergebnisse erzielen wollen, erscheint vom pragmatischen Standpunkt der Ungeduldigen aus nicht unattraktiv. Diese Analyse ist alles andere als falsch, sie als einzige Begründung anzunehmen, wäre aber unvollständig. Ein weiterer, nicht minder einflussreicher Grund liegt in einem inhärenten Nachteil der Demokratie: Demokratie ist anstrengend, sie verlangt uns viel ab. Nein, damit meine ich nicht die aktive Beteiligung an demokratischen Prozessen, denn so wichtig sie ist: Gezwungen ist keiner dazu. Ich meine damit einen Aspekt des Lebens in einer Demokratie, zu dem uns die Demokratie selbst GW 12

zwingt: Duldung. Duldung anderer Meinungen. Duldung anderer Religionen. Duldung anderer Essgewohnheiten. Kurz: Duldung anderer Menschen und anderer Lebensentwürfe. Wer wissen will, wie schwer es vielen Menschen fällt, die Individualität ihres Nächsten zu tolerieren, muss nur eine Safari durch Internetforen, Leserbriefe oder TV-Diskussionsrunden unternehmen: Da gibt es aufgeklärte Modernisten, die sich am Anblick eines Kopftuches um muslimische Häupter (seltsamerweise aber nie an demselben Kleidungsstück christlicher Nonnen) stören und dann gibt es vergangenheitsverhaftete Gottesfürchtige, die über berufstätige Frauen ohne Kind aber mit tiefem Ausschnitt den Kopf schütteln. Den Birkenstocksandalenträger stören bürgerliche, ältere Damen im Pelzmantel, der stammtischwetternde Beislwirt ist genervt durch lautstarke Veganismusverfechter, die ihm sagen wollen, wie er sich zu ernähren hat. Und das alles ist gut und in Ordnung, wirklich. Denn Demokratie bedeutet so viel mehr als nur Wahlen, die gab es in der DDR auch. Demokratie bedeutet auch nicht, dass die Mehrheit immer und in allen Belangen den Kurs vorschreibt, geschweige denn recht hat. De-

mokratie bedeutet, dass das Volk – und im Gegensatz zum rechten Kampfbegriff meint „Volk“ hier ganz einfach: alle – in seiner Vielfalt abgebildet wird. In der Öffentlichkeit, im alltäglichen Leben, optimalerweise auch in der Politik. Damit jeder gehört wird, muss auch jeder gleichermaßen die Möglichkeit haben, an demokratischen Prozessen teilzunehmen. Das reicht vom Kundtun seiner Meinung bis hin zu der Freiheit, einer Partei beizutreten oder eine zu gründen und sich einer Wahl zu stellen. Pluralismus (an Meinung und an Lebenswirklichkeit) ist kein – manchen willkommenes, manchen abstoßendes - Extra der Demokratie. Pluralismus ist ein fundamentaler Pfeiler derselben. Das bedeutet natürlich auch, dass eine Demokratie – im Gegensatz zu Monarchien oder Diktaturen – nie ein konstanter Zustand ist, nie sein kann. Demokratie ist eine immerwährende Diskussion, in der mal die eine, mal die andere Seite die Oberhand haben wird. Das wird gerne übersehen, wenn davon die Rede ist, die Gesellschaft sei gespalten, Vielfalt und divergierende Meinungen seien eine Gefahr für die Demokratie. Das Gegenteil ist der Fall: Wenn in einer Demo-


kratie nicht mehr gestritten wird, sollten wir anfangen, uns Sorgen zu machen. Der Pluralismus ist die größte Stärke der Demokratie, der Garant für friedliches Miteinander – schon aus rein pragmatischen Gründen: Die Wahrscheinlichkeit sozialer Spannungen ist erfahrungsgemäß geringer, wenn alle zu Wort kommen und auch gehört werden. Jedenfalls dann, wenn alle Beteiligten auch die grundlegenden Spielregeln des friedlichen Diskurses einhalten. Und daher ist der Pluralismus paradoxerweise auch die größte Schwachstelle der Demokratie. Denn wenn jeder zu Wort kommen darf, heißt das auch, dass diejenigen sprechen dürfen, deren Ziele eine Korrumpierung desselben Systems sind, das sie nutzen, um ihr Gedankengut zu verbreiten. Ideologien, die auf die oben dargelegte Säule der Duldung einschlagen und damit das gesamte Monument der Demokratie ins Wanken bringen. Man könnte daher meinen, dass die Demokratie eo ipso den eigenen Selbstzerstörungsknopf bereithält. Wie viel Meinungsfreiheit hält also Demokratie aus? Muss es Grenzen der Demokratie geben, damit diese weiterhin gewährleistet werden kann? Es handelt sich hier möglicherweise um eine der schwersten gesellschaftspolitischen Fragen. Leichter ist es, einen Blick darauf zu werfen, wo die juristischen Grenzen demokratischer Werte in der Realität liegen. In Österreich ist beispielsweise die entwürdigende Herabsetzung einer jeden Gruppe der Gesellschaft verboten (§283 StGB). Aber können wir einen solchen Paragraphen wirklich als eine Grenze der Demokratie bezeichnen? Stellt dieses Gesetz nicht

schlicht und einfach eine Regel dessen dar, was ich oben „friedlicher Diskurs“ genannt habe? Oder könnte man dieses Gesetz nicht auch als Einschränkung der Redefreiheit werten? Ja, vielleicht könnte man das, wir dürfen dabei aber auch nicht übersehen, wessen Redefreiheit hier eingeschränkt wird, denn dieses Gesetz gilt gleichermaßen für alle Seiten des politischen Spektrums und schafft damit eine Bühne freier Rede für alle, außer, ja, außer für die Hasserfüllten eben. Die Frage, ob nicht auch Menschenfeinde ein Recht auf politische Beteiligung haben, beantwortet sich selbst, sobald wir alle deklarieren, dass Demokratie etwas sein soll, was aufbaut, nicht zerstört. Ich möchte dabei keineswegs die Schwierigkeit der Auslegung solcher Gesetze unter den Tisch fallen lassen: Wo liegt die Grenze zwischen Kritik und Verhetzung? Gut, in den meisten Fällen mag diese Unterscheidung leicht fallen, aber überspitzt und aktuell gefragt: Welcher Charlie Hebdo-Cartoon ist nötige Kritik, welcher ist Herabwürdigung? Kann ein einzelner Mensch solche Fragen beantworten oder braucht es nicht eine ganze Gesellschaft? Die Demokratie wirft alle diese Fragen nicht nur auf – sie kann sie auch beantworten. Ich bin der Überzeugung, dass nur der freie Austausch von Meinungen zu Konsens führen kann. Und selbst wenn nicht: Wir haben bereits gesehen, dass Demokratie nicht Endpunkt einer Entwicklung ist, sondern die Entwicklung selbst. Und daher muss ich mich mit demokratischen Entscheidungen nicht abfinden, für meine Kritik, meine Entgegnung, meine Gegen-

vorschläge wird immer Platz sein. Demokratie heißt nicht, allgemein verbindliche Antworten zu finden, sondern gemeinsam (inklusive aller Hindernisse und Rückschläge) einen Raum zu schaffen, der allen, auch denen, die mit der Situation nicht gänzlich einverstanden sind, ein gutes Leben ermöglicht. Die Aufgabe eines überzeugten Demokraten ist es, zu erklären, dass nicht andere Meinungen, sondern deren Unterdrückung, eine Gefahr für unsere Freiheit sind.

Benjamin Daniczek

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Projekt “Vorzeigeflüchtlinge” Schutzbefohlene performen bewegend und ironisch Jelineks Die Schutzbefohlenen Die fiktive “Organisation für Regie und Spezialaufträge” (ORS) wurde vom Innenministerium beauftragt, das Image von geflüchteten Menschen in Österreich aufzupolieren. Dafür wurde das Projekt “Vorzeigeflüchtlinge” gestartet. Mit dieser halb ironisch, halb realistisch klingenden Rahmenhandlung beginnt die Aufführung von “Schutzbefohlene performen Jelineks Schutzbefohlene” am 24. Mai im kleinen Saal des Orpheum. Dass dieser Saal bis auf den letzten Platz besetzt ist, wäre stark untertrieben. Viele Stühle werden geteilt, vor der ersten Reihe sitzen Menschen auf dem Boden, der Stehplatzbereich ist voll, wie sonst die vordersten Reihen eines Rockkonzerts. Viele stehen noch vor den Türen. Jelineks “Die Schutzbefohlenen”, 2013 als Reaktion und Kritik auf die damalige Flüchtlingspolitik Österreichs geschrieben, ist immer noch, oder wieder, sehr aktuell. Die staatlichen Behörden reagieren zu langsam/ungenügend/gar nicht (um es mal freundlich zu formulieren) auf Menschen, die flüchten und Schutz suchen. Daher ist die hohe Anzahl an Neuinszenierungen des noch jungen Werks nur verständlich. Eine davon hat das Wiener Künstlerkollektiv “Die schweigende Mehrheit sagt JA” mit geflüchteten Menschen gemeinsam auf die Bühne gebracht und war nun auch in Graz zu Gast. Die ORS wird auf der Bühne durch einen Sprecher repräsentiert, geGW 14

spielt vom österreichischen Schauspieler, Regisseur und Mitglied des Künstlerkollektivs Bernhard Dechant. Die namenlose Figur trägt eine alte Armeejacke mit österreichischer Flagge auf dem Arm und spricht im österreichischen Dialekt. Mit ihm stehen 40 Geflüchtete als der Chor der Schutzbefohlenen auf der Bühne. 40 Menschen, die sich im Erstaufnahmelager Traiskirchen kennenlernten und tatsächlich in Österreich Schutz suchen. Realität und Fiktion gehen, in Jelineks Stück wie in der Inszenierung, ineinander über. Dokumentarische Erlebnisberichte werden mit fiktiven Szenen verwoben, die wiederum als Prototypen und Überzeichnungen an tägliche Vorkommnisse erinnern. Der Einzelsprecher erklärt dem Chor die Situation: Wer jetzt gut Deutsch lernt und Integrationswillen zeigt, kann Teil des Projekts “Vorzeigeflüchtling” werden und hat damit vielleicht die Chance, bleiben zu dürfen. Die Sprache zu lernen, ist wichtig - weshalb sie jetzt “Hochkultur […] Jelinek” spielen, los geht‘s. Die erste Interviewsituation, angelehnt an Interviews im Asylverfahren: eine Person tritt aus dem Chor heraus bis an die vordere Bühnenkante. Der Sprecher ruft aus seinem Sessel: “Arab, Farsi?” und winkt den jeweiligen Übersetzer heran. Diese Szenerie taucht zwischen den Chorszenen immer wieder auf. Die Personen am Mikrofon aus Afghanistan, dem Irak, Syrien (u.a.) nennen ihre realen Namen, berichten autobiografisch. Keine stilisierten Geschichten, sondern tatsächliche Erlebnisse, Emotionen und Träume. “Was haben Sie

geträumt? … Sind sie nicht überglücklich in Österreich zu sein? … Wo ist ihre Heimat?” Heimat, was ist das? Der Sprecher spricht von Österreich als seiner Heimat, nennt Klischees und entlarvt diese Nationalidentität dabei als willkürliche Konstruktion. “Wir” die Österreicher_innen und “die Anderen”. Diese Gegenüberstellung wird im gesamten Stück in Frage gestellt. Wer ist denn das Volk? Nicht alle Menschen die sich in diesem Land befinden? Solche Definitionen von “Heimat” und “Volk” sind von Bedeutung, denn: “Die Macht geht vom Volk aus.” Im Chor rufen die Geflüchteten: “Wir gehören nicht dazu!” und “Wann sind wir wieder wer?” Wieder und wieder fragen sie: “Wann sind wir wieder wer?” Per Gesetz sind sie nicht Teil dieses oft beschworenen Volkes, sind deshalb ohne Macht. Aus der einen Heimat mussten sie fliehen. In der neuen Heimat wird ihnen die neue Identität abgesprochen. Ein Status zwischen den Definitionen von Identitäten. Doch mit einer Definition sehen sie sich konfrontiert: “die” Geflüchteten. Was soll das sein? “Vorzeigeflüchtlinge dürfen keine Smartphones haben!”, ermahnt ein Chorist. Das sieht nicht gut aus! Nach und nach lachen alle darüber und die Szene geht in einen Tanz der Smartphone-Taschenlampen über. Statt der üblichen Sprachlernphrasen lernen die “Vorzeigeflüchtlinge”: “Die Wurst hat zwei Enden.” “Warum glauben sie eigentlich, dass es ihnen in Österreich besser geht?” Das Innenministerium hat doch extra Plakate gesendet, um mit den Versprechen der Schlepper aufzuräumen. Auch


im Projekt “Vorzeigeflüchtlinge” muss die Obergrenze umgesetzt werden. Als ein Mann und eine Frau dann tatsächlich von der Bühne geschickt werden, bleibt mir das Lachen im Hals stecken. Lachende Kritik und harte Realität. Der Einzelsprecher, als Repräsentant Österreichs, macht sich mehrmals lächerlich, spricht schlechtes Englisch, ist hysterisch, rücksichtslos, kommandiert herum, intrigiert und schreit viel. Beherrscht der Sprecher die Menge? Benutzt das Kollektiv hier die Geschichten der Geflüchteten als ihr Material? Die Kritik an solch einem Bild Österreichs, vor allem an den politischen Machthaber_innen, die diese Figur darstellt, ist zweifelsfrei gerechtfertigt und wichtig, andererseits doch auch eine Verallgemeinerung. Immerhin haben sich gerade erst knapp über 50% gegen ein solches Bild von Österreich entschieden und gezeigt, dass sie anders sind. Der Chor der Geflüchteten ist heterogen. Frauen und Männer verschiedenen Alters, Aussehens, verschiedener Hautfarben, Sprachen, mit unterschiedlichen Erfahrungen und Fähigkeiten und einer Gemeinsamkeit: die Fluchterfahrung. Der Chor ist eine vielfältige und dadurch interessante Gruppe. Der Sprecher, als ein oder “der” Österreicher, wirkt dagegen sehr einseitig, langweilig, und stereotyp. Die Kritik an der Ermächtigung und Selbstüberhöhung einer Gruppe durch die Herabwürdigung einer anderen Gruppe führt in diesem Stück wiederum zu einer einseitigen Herabsetzung einer Gruppe. Warum diese Negativaussage? Die Menschen im Publikum mussten sicher nicht überzeugt werden.

Das Stück ist jedoch nur ein kleiner Teil des Abends. Die Inszenierung ist sehr reduziert, kaum Bühnenbild, einfache Beleuchtung, nur wenig Musik als Rahmung. Nur die herausragenden musikalischen Auftritte der Geflüchteten erhalten Gewicht. Die Aufführenden, ihre Erlebnisse, schon allein ihre Präsenz stehen im Fokus. Sie bilden nicht das Material für eine künstlerische Auseinandersetzung, sondern stehen selbst als Aussage. Aus diesem Grund endet der Abend nicht nach dem Schlussapplaus, die Wenigen, die einen Sitzplatz ergattert hatten, stehen sofort auf, pure Begeisterung. In einer offenen Frage-Antwort-Runde werden Hintergründe erklärt, weitere persönliche Erfahrungen geschildert. Harte Realität, Angst vor der Abschiebung, dem Dublin-Verfahren, zerrissene Familien reihen sich an viel ehrlichen Dank, ausgesprochen gegenüber den Organisator_innen. Viele der Akteur_innen befinden sich mitten im Asylverfahren, in der beschriebenen Wartesituation. Auch hier hilft das Kollektiv, begleitet die Geflüchteten zu den Interviews, denn leider macht es einen Unterschied, ob diese allein oder mit Österreicher_innen dort erscheinen. Ohne Pass, Asylbescheid, Arbeitserlaubnis o.Ä. bleiben auch viele soziale und kulturelle Möglichkeiten versagt. Das Kollektiv bietet ein Angebot mit dem unglaublichen Potenzial, das die Menschen mitbringen, etwas zu tun, nämlich Theater. Mit der Möglichkeit kreativ zu sein, sich ausdrücken zu dürfen, Aufmerksamkeit zu erhalten, gehen auch Kennenlernen, Annähern, eventuelle Angst abbauen, Kontakte

knüpfen einher. Einer der Choristen ist Sänger und singt im Stück ein Lied in seiner Muttersprache. Zuerst steigt der Chor der Schutzbefohlenen ein, dann ein paar Zuschauer. So kann Integration (im Sinne eines Aufeinanderzugehens von allen, nicht einseitige Anpassung, wie Integration leider oft verstanden wird) funktionieren: indem Menschen auf Augenhöhe voneinander lernen. Der Abend geht über in eine Art Vernetzungsund Inspirationstreffen. Eine Person stellt ihr Atelier zur Verfügung, Schauspieler_innen im Publikum möchten ein ähnliches Projekt starten. Deshalb ist es wichtig, dass Geflüchtete selbst dieses Stück aufführen! Keine “als ob”-Theatersituation, nach der sich das Publikum wieder dem Alltag zuwenden und alles vergessen kann, sondern reale Geflüchtete mit realen Ereignissen die sich selbstbestimmt repräsentieren dürfen. Die Geflüchteten, als eine unter- bzw. überwiegend negativ repräsentierte Gruppe, zeigen sich nicht nur als die “Anderen” oder die “Mitleidbedürftigen”, sondern einfach als Menschen. Es ist nicht nur ein bürokratischer Akt, ein Stempel, ein Stück Papier, es sind ebenso Rhetoriken und Handlungen, die Anerkennung spürbar machen, die einen Menschen als Teil einer Gruppe definieren, die ein “Wir” erzeugen. Dies ist die Ebene, auf der jede und jeder einzelne einen Beitrag zu einer humaneren Gesellschaft für alle leisten können. David Buschmann GW 15


Die DNA der Jugendsprache Wie sprechen Jugendliche und was gibt es daran zu erforschen? Internationales LinguistInnen-Flair war von 26. bis 28. Mai an der Karl-Franzens-Universität Graz zu spüren. Im Rahmen der 8. Konferenz zur Jugendsprache trafen sich SprachwissenschaftlerInnen aus aller Welt, die den Sprachgebrauch der Jugendlichen erforschen. Aktuell läuft hier am Grazer Institut für Germanistik ein Projekt, welches sich mit den strukturellen Eigenheiten der Jugendsprache in Österreich beschäftigt. Über 100 SprachwissenschaftlerInnen aus mehr als 30 Nationen – von Dänemark über Ägypten und Georgien bis hin nach Kanada – nahmen an der Konferenz teil. Der internationale Austausch über die Forschungen zur Sprache der Heranwachsenden stand im Zentrum und mit dem Gedanken „Is there a common understanding of what a youth language is?“ eröffnete Jacomine Nortier (Universität Utrecht) die Tagung. Sie zeigte in ihrem Vortrag, dass unter Jugendsprache zahlreiche Varianten jugendlicher Sprechweisen, auch in unterschiedlichen Sprachen, zu verstehen sind.

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Kiezdeutsch, Kebabnorsk, Perkerdansk, Straattaal, aber auch Urban Youth Speech Styles, Slang oder Murks sind nur einige Beispiele für die in der Forschung gebräuchlich gewordenen Bezeichnungen von Jugendsprachen in bestimmten Ländern. Mehr als 50 Vorträge widmeten sich der Sprache der 13bis 18-Jährigen aus den verschiedensten Perspektiven, so gab es beispielsweise Vorträge zu urbanen und multilingualen Kontexten, zur computervermittelten Kommunikation, zu regionalsprachlichen Aspekten sowie zur didaktischen Aufbereitung. Wie sprechen Jugendliche? „Voll swag“, „chill mal“, „yolo“, „brutal“ oder „oida“ – das sind wohl die ersten Assoziationen mit dem Begriff Jugendsprache. Das Innovationspotenzial der Jugendlichen betrifft aber nicht nur lexikalische Eigenheiten. Im Grazer Forschungsprojekt, unter der Leitung von Univ.-Prof. Arne Ziegler, stehen insbesondere grammatische Phänomene im Vordergrund. Gearbeitet wird mit eigens dafür aufgenommenen Gesprächen. Phrasen wie „Gehma Kino“ oder „Fahrma Murpark“, die sich u. a. in diesen Aufnahmen finden lassen, deuten auf einen Präpositions- und Artikelausfall hin. In der Forschung wird

dieses Phänomen häufig mit ethnisch gemischten Jugendgruppen in Verbindung gebracht, allerdings sind solche Äußerungen auch von Erwachsenen in einigen Regionen Österreichs, vorwiegend in den südlichen, zu hören. Ein Phänomen des Sprachkontaktes mit dem Slowenischen? Gut möglich. Außerdem tendieren die Jugendlichen in Wien und Graz immer mehr dazu, eine standardnahe Sprache zu verwenden. So heißt es dann „gesprochen“ statt „g’sprochen“ und aus einem „Gurkerl“ wird manchmal sogar ein „Gürkchen“. Das sind einige erste Ergebnisse des Forschungsprojektes in Graz. Die Gesprächsaufnahmen der ländlichen Regionen Österreichs sollen in der zweiten Phase des vom FWF geförderten Projektes ausgewertet werden. Doch bereits jetzt kann festgehalten werden: In den ländlichen Regionen sieht es mit dem „Gürkchen“ freilich ganz anders aus – Dialekt steht hier hoch im Kurs, weshalb auch von einem Stadt-Land-Gefälle gesprochen werden kann. Was gibt es außerdem noch zu erforschen? Jugendliche können ohne ihr Smartphone nicht mehr leben, womit der Bogen zu einem weiteren interessanten Forschungsbereich gespannt wäre: Jugendsprache in


den Neuen Medien. Ein Themenblock der Jugendsprach-Konferenz widmete sich der computervermittelten Kommunikation. In diesem Zusammenhang referierten einige LinguistInnen zum Beispiel über den Gebrauch von Emojis in der WhatsApp-Kommunikation, über kommunikatives Verhalten im Internet und speziell über Jugendsprache in Facebook. Dass sich die Konferenz durch Internationalität auszeichnete, zeigte ein ums andere Mal diese Sektion, da hierzu das Niederländische, Flämische, Japanische, ja sogar verschiedene Sprachen Afrikas unter die Lupe genommen wurden. Darüber hinaus hat man die Aufmerksamkeit auch auf die Interpunktion in den Neuen Medien gelenkt: Über die Bedeutung von Auslassungspunkten, Ruf- und Fragezeichen in der medialen Kommunikation sprach der Plenarvortragende Jannis Androutsopoulos (Universität Hamburg).

Nicht nur im Rahmen der Vorträge, sondern auch im Zuge des Rahmenprogramms tauschten sich die SprachwissenschaftlerInnen über die Themen aus – die sich im steten Wandel befindende Sprache der 13- bis 18-Jährigen bietet ja viel Diskussionsstoff. Jedenfalls darf man auf weitere interessante Ergebnisse gespannt sein, bevor es dann wieder heißt: „Fahren wir Konferenz!“

Yvonne Logar und Erika Kollreider

Neue Medien sind jedoch nicht alles: Auch in Zeitungsanzeigen, Werbung und T-Shirt-Aufdrucken ist Jugendsprache zu finden. Oder doch nicht? Vor allem an in der Werbung kolportierten, vermeintlich jugendsprachlichen Ausdrücken stören sich die Heranwachsenden.

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Mohammed and Me – wie ich lernte mit einem Flüchtling zu leben MOHAMMED & ME ist das Erzähldebüt des Bloggers und Autors Jochen Ulbing und eine einzigartige, ironische Reise durch eine andere Welt: Die Welt unserer Vorurteile, unserer Ängste und unserer Furcht vor dem Fremden. Und mögen sie noch so klein und verborgen sein: Jochen Ulbing holt sie hervor und zaubert daraus ein funkenstiebendes Feuerwerk voller Witz und Realsatire. Und eines Tages war Mohammed im Haus. Mohammed ist 32, Flüchtling aus Syrien. Wir meinten es einfach nur gut, ich, meine Frau, die Tochter. Doch die Katastrophe, die wohlmeinende Freunde auf uns zukommen sahen, lässt nicht lange auf sich warten. Mohammed entspricht so gar nicht den Erwartungen, die alle an ihn haben. Mohammed isst nicht nur gern, sondern kocht auch noch gut. Nein, nicht gut, sondern richtig gut. Mohammed spielt Pink Floyd auf der Gitarre – besser als ich – und das ist unverzeihlich. Meine Tochter mag Mohammed, nur versteht sie nicht, dass er kein Star Wars gucken will. Und irgendwann fürchte ich Mohammed als echten Konkurrenten in meiner Ehe. Denn Mohammed räumt nach dem Essen nicht nur den Tisch ab. Er bringt ungefragt den Müll raus. Und räumt die Spülmaschine ein.

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Tatsächlich habe ich die Gefahren des Zusammenlebens mit einem Menschen aus einer fremden Kultur vollständig unterschätzt. Erst gestern beispielsweise habe ich bemerkt, wie er meine Tochter mit diesen furchtbaren Terrorvideos konfrontiert hat. Iron Maiden! Ich war vom Schock wie versteinert. Mittlerweile sehen die alle so aus wie ihr Maskottchen Eddie. Zumindest kann ich mir die nächste Folge von „The Walking Dead“ ersparen. Mohammed and Me ist die Geschichte, die von unserem Gast, einem syrischen Kriegsflüchtling erzählt. Sie ist eine Art Tagebuch, das reale Ereignisse aufnimmt und diese als Spiegel benutzt. Allerdings erhebt das Tagebuch keinen Anspruch darauf, vollständig oder chronologisch zu sein. Es beschreibt Episoden und Erlebnisse die passiert sind, ohne sich zwingend an die Reihenfolge zu halten. Mohammed and Me spielt mit dem kleinen Nazi und dem kleinen Gutmenschen in mir und vielleicht auch in Ihnen. Damit ist es ein Buch, das mindestens so viel mit mir zu tun hat, wie mit unserem syrischen Gast. Es gibt einige Gründe, aus denen es ratsam sein kann, dieses Buch nicht zu lesen:

1. Sie sind Funktionär einer Rechtsaußenpartei. 2. Sie sind Funktionär einer Linksaußenpartei. 3. Sie sind Funktionär irgendeiner anderen Partei. 4. Sie wissen bereits sicher, dass alle „Asylanten“ eigentlich Wirtschaftsflüchtlinge oder Djihadisten sind. 5. Sie wissen, dass alle Flüchtlinge bedürftig sind. 6. Sie legen auf politisch korrekte Ausdrucksweise Wert. 7. Sie legen darauf Wert, dass Religionen nicht verarscht werden. 8. Sie können mit, sagen wir dunkelgrau schattiertem, Humor nicht umgehen. In allen diesen Fällen ist es besser, diese Lektüre sofort aus den Händen zu legen, denn was Sie in der Folge lesen, könnte Sie verstören. Es würde Sie vielleicht dazu bringen, die Situation zu reflektieren und das wollen wir doch keinesfalls riskieren. Humor ist oft, wenn man trotzdem lacht. Mohammed hat mit Sicherheit keine lustige Lebensgeschichte. Es ist alles andere als erheiternd, wenn dein Haus weggebombt wird, deine besten Freunde verhaftet werden und du selber zwischen die Fronten des Assad Regimes und der „Opposition“ gerätst.


che Würde zurück, indem ich ihn behandle wie jeden anderen Menschen auch. Ich treibe mit ihm meine ironisch/sarkastischen Scherze und er kann mich mittlerweile gut lesen. Er ist (ohne dass ich darauf Einfluss gehabt hätte) ein super Beispiel dafür, dass unsere Vorstellungen von Flüchtlingen viel zu klischeehaft und eindimensional sind. Die Reduktion auf die Opferrolle halte ich persönlich für schädlich und gefährlich. Die Reduktion auf die Belastung, Zumutung und Gefahr übrigens ebenfalls.

Mohammed & Me; 144 Seiten; Buch: 978-3-946014-57-7, 16,95€; eBook: alle Formate 9,99 €

Das wären natürlich alles Dinge, über die man super schreiben könnte, auch die Moralkeule könnte man vortrefflich schwingen.

In erster Linie ist Mohammed ein Mensch. Ein Mensch, den Ereignisse in seinem Leben, die sich niemand von uns wünscht, nach Österreich gespült haben. Ein Mensch, der durch puren Zufall in meinem Haus gelandet ist und sich jetzt mit mir und meiner Familie herumschlagen muss. Ich mutmaße, dass er uns, obwohl bis jetzt gut durchgekommen, wohl schwer traumatisiert verlassen wird. Um ein Leben mit mir und meiner Familie zu ertragen, helfen nur zwei Dinge, Gott oder ein wirklich guter Sinn für Humor. Das Gleiche gilt wohl für das Lesen dieses Buches. Gott schütze Sie.

Aber ich glaube persönlich, dass es von Beiträgen dieser Natur mehr als genug gibt. In meiner Wertewelt gibt es Mohammed seine persönli-

Jochen Ulbing

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Grün-Blaue Geschichten Die Präsidentschaftswahl 2016 wird als die bisher spannendste der Zweiten Republik in die Geschichte eingehen. Nicht nur die Ausbootung der Regierungsparteien, auch das Fotofinish durch die Briefwahlstimmen und die Emotionalität der WählerInnen stellten eine Neuheit dar. Montag, 23. Mai, machmittags. Gespannt sitze ich vor dem Fernseher und schaue mir eine Uralt-Folge der „Weißblauen Geschichten“ an. Und weil es gefühlt die ganze Republik gleich tut, schreiben die doch etwas langatmigen Kurzgeschichten aus der bayrischen Provinz Rekordquoten: 6% Reichweite, 42% Marktanteil und 429.000 ZuseherInnen. Zugegeben: Mit „Meister Eder“ Gustl Bayerhammer hatte das ganze ebenso wenig zu tun, wie mit der Storyline um einen entlaufenen Löwen in einem Alpendorf. Tags davor ist die Stichwahl der Bundespräsidentenwahl 2016 über die Bühne gegangen und durch die große Anzahl an Briefwahlstimmen spielten diese im knappen Rennen zwischen Alexander Van der Bellen und Norbert Hofer die entscheidende Rolle. Im Laufe des Montagnachmittags sollte also bekannt gegeben werden, welcher der beiden Kandidaten in der Stichwahl am Ende die Nase vorne haben würde. Immer wieder wurde die Verkündung des Endergebnisses durch den Innenminister nach hinten verscho-

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ben. Als das Ergebnis schließlich feststand, war es denkbar knapp. Mit nur rund 30.000 Stimmen Vorsprung wurde Alexander Van der Bellen als Sieger der Wahl verlautbart – er bekam 50,3 Prozent der gültigen Stimmen, auf seinen Konkurrenten Norbert Hofer fielen 49,7 Prozent. Die Auszählung der Wahlkarten drehte somit das vorläufige Endergebnis von Sonntagabend um. Diese Entwicklung hatte ungewohnt emotionale Reaktionen der AnhängerInnen der jeweiligen Kandidaten zur Folge. Während Van der Bellen-WählerInnen zu spontanen Tanzpartys aufriefen, drückte sich die Wut der Anhängerschaft Hofers vor allem durch Postings in sozialen Netzwerken aus – teils verbunden mit erheblichen Anschuldigungen und Drohungen. Die objektiven politischen Dimensionen und Ableitungen aus dem Ergebnis waren einem breitenwirksamen Diskurs somit schon unmittelbar nach der Wahl entzogen.

Politische Zäsur?

Dabei stellte der erste Wahlgang durchaus einen gewissen politischen Einschnitt dar, wenn auch primär auf phänomenologischer Ebene. Dass die als „Großparteien“ bekannten Regierungsparteien SPÖ und ÖVP mit ihren Kandidaten jeweils nur knapp die Elf-Prozent-Marke knacken konnten, vermuteten weder die größten Schwarzseher in den eigenen

Reihen, noch MedienvertreterInnen und MeinungsforscherInnen. Letztere legten ein weiteres Mal Zeugnis von der Ungenauigkeit der Befragungen im Vorfeld von Wahlen ab. Zwar spiegelte sich die Stichwahlpaarung Van der Bellen/ Hofer auch in den meisten Umfragen wider, dass der Kandidat der FPÖ im ersten Wahlgang jedoch fast 14 Prozent Vorsprung haben würde, stellte selbige auf den Kopf.

Auswirkung unsicherer Lebensverhältnisse

Befragungen über Wahlmotive und das Gros der öffentlich geäußerten Meinungen lassen darauf schließen, dass die Marginalisierung von SPÖ und ÖVP im Rahmen dieser Wahl unmittelbar mit der Unzufriedenheit der Menschen über das aktuell vorherrschende Polit-System korreliert. Seit Mitte der 1990er Jahre kämpfen viele ÖsterreicherInnen in ihrem Alltag mit Reallohnverlust und Budgetkürzungen im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialbereich. Nicht nur an der subjektiven Wahrnehmung der Menschen, auch in Zahlen wie der Lohn- und in weiterer Folge der Arbeitslosenquote etc. lässt sich eine zunehmende Unsicherheit der Lebensverhältnisse der breiten Mehrheit der Gesellschaft festmachen. Ein großer Teil der Bevölkerung scheint den aktuellen Regierungsparteien nicht mehr zuzutrauen, hier Lösungen aufs Tableau zu bringen. Im Wahlkampf


der Kandidaten spielten diese Themen jedoch nur eine untergeordnete Rolle. Dies mag einerseits mit dem beschränkten Pouvoir des Bundespräsidenten in solchen realpolitischen Fragen zu tun haben, andererseits auch damit, dass weder Hofer noch Van der Bellen konkrete Antworten darauf geben konnten.

Reale und vermeintliche Antagonismen

In der Abgrenzung zueinander setzten die beiden Kandidaten hingegen auf ihre Kernthemen. Während FPÖ-Kandidat Hofer seine Botschaften emotional an die Befürchtungen vieler Menschen im Hinblick auf den aktuellen Fluchtund Migrationsdiskurs koppelte – und dabei Ressentiments nutzte und befeuerte – setzte der von den Grünen unterstützte Alexander Van der Bellen auf die Loyalität zur Europäischen Union, und wurde wiederum für seine anfänglich unklare Haltung zum Freihandelsabkommen TTIP kritisiert. Auf eine weitere Dichotomie wies Kleine Zeitung-Journalist Michael Jungwirth hin. Er bezeichnete die Polarisierung, die sich im Wahlergebnis darstellte, im Rahmen der ORF-Sondersendung sinngemäß als Gegensatz zwischen „oben“ und „unten“. Auch wenn diese Einteilung zu kurz greift, so passt sie dennoch zur (Selbst-)Inszenierung der Kandidaten. Alexander Van der Bellen erschien in der Außenwir-

kung eher als Kandidat des Establishments. Sein Personenkomitee wies zahlreiche „honorige“ Personen aus Wirtschafts- und Politkreisen auf, darunter der ehemalige RTL-Manager Gerhard Zeiler oder der einstige EU-Kommissar Franz Fischler. Wahlempfehlungen kamen unter anderem von Ex-Vizekanzler Josef Pröll und OeNB-Präsident Claus Raidl. Van der Bellens Wahlfeier fand im Palais Auersperg statt. Hofer hingeben feierte in einem Bierzelt im Prater und schaffte es, sich in bester FP-Manier als Vertreter des „kleinen Mannes“ auszugeben, obwohl er objektiv betrachtet politisch wenig mit diesem gemein hat, bedenkt man seine Funktion als Dritter Präsident des Nationalrates einerseits und als treibende Kraft hinter dem FPÖ-Parteiprogramm andererseits.

Verantwortung der Medien

Die Emotionalität der ersten Stunden nach Verkündung des Endergebnisses fand auch in den folgenden Tagen ihre Fortsetzung. Dies war vor allem auf kleine Unregelmäßigkeiten und Ungenauigkeiten im Auszählprozess zurückzuführen, die Wasser auf den Mühlen derjenigen waren, die meinten, einen Wahlbetrug zu wittern. Zwar hatte keiner der Vorfälle Auswirkungen auf das Ergebnis, was auch seitens des Innenministeriums so kommuniziert wurde. Medial beherrschte jedoch in vielen Fällen, vor allem beim Boulevard, die Jagd

nach Klicks und LeserInnen den Umgang damit. Anstatt das Vertrauen in demokratische Prozesse zu stärken, wurden so irrationale Annahmen bis hin zu Verschwörungstheorien befeuert. In diesem Zusammenhang ist auch die exponierte Stellung der sozialen Netzwerke zu nennen, die erstmals im Rahmen einer Präsidentschaftswahl dergestalt zum Tragen kam. Viele Menschen verfolgten das Geschehen rund um die Wahl über Facebook und Co. Die sozialen Netzwerke ermöglichten aber auch die rasche Verbreitung von Gerüchten und Falschmeldungen aus unseriösen Quellen - und dienten als erstes Ventil für Unmutsäußerungen, nicht wenige in strafrechtlich relevantem Ausmaß.

Alexander Melinz

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Jemand hat die Absicht, Zum Unbehagen Gesellschaft des Spektakels

Der derzeitige US-Präsidentschaftswahlkampf wird von den meisten pundits (wie die erklärten Politik-ExpertInnen im amerikanischen Fernsehen heißen) als höchst ungewöhnlich beschrieben. Man hat ja schon einiges erlebt in der Vergangenheit: einen ehemaligen General aus dem Zweiten Weltkrieg, der mit Cartoon-Werbung um Stimmen warb (Dwight D. Eisenhower), einen ehemaligen Hollywood-Schauspieler, der mit B-Filmen wie Bedtime for Bonzo Schlagzeilen machte (Ronald Reagan) und einen superreichen Unternehmer, der für eine unabhängige Partei ins Rennen zog (Ross Perot). Die Art von Medienzirkus, die sich den BetrachterInnen derzeit bietet, scheint auch für amerikanische Verhältnisse ungewöhnlich bizarr zu sein: Einer der bisherigen Tiefpunkte wurde bei einer vom rechtskonservativen Fernsehkanal Fox News ausgestrahlten Debatte zwischen den verbliebenen republikanischen Bewerbern am 3. März 2016 erreicht, in der der Multimillionär Donald Trump (damals bereits Favorit seiner Partei) in Anspielung auf die Größe seiner Hände auch die Größe seines Geschlechtsteils verteidigte, nur um kurz darauf verbal auf seinen Gegner

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gegen Trump eingestellt sein müsse, der bekanntlich eine 3185 km lange Mauer an der mexikanisch-amerikanischen Grenze bauen möchte. Auf seine infamen Bemerkungen gegen den in den USA geborenen Curiel angesprochen, erneuerte Trump seine Anschuldigungen gegen Curiel nicht nur, sondern unterstrich, dass auch ein muslimischer Richter ohne Zweifel voreingenommen sein müsse.1 Es ist mehr als eine Ironie der Geschichte, dass Trump so offen mit dem Mauerbau kokettiert und anders als seine Vorgänger in anderen, bereits untergegangenen Staaten („Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten“) dieses – für praktisch alle seriösen BetrachterInnen – wenig sinnvollem und kaum finanzierbarem Projekt sogar noch als sein Markenzeichen verkauft. Auch der in der Weltpresse vieldiskutierte „Bann für Muslime“ (Trumps Ankündigung, dass unter seiner Präsidentschaft keine muslimischen BürgerInnen mehr ins Land gelassen würden) erwies sich als erfolgreicher Wahl-Coup, der zumindest einige Wählerschichten (und vor allem bisherige NichtwählerInnen) mobilisiert hat. Die Strategie hinter Trumps Rhetorik basiert auf steten Attacken gegen den politischen Gegner und gezielten Verdoppelungen dieser Angriffe, so-

„Trump Says Muslim Judge Might Be as Biased as ’Mexican’ Curiel.” http://www.bloomberg.com/politics/ articles/2016-06-05/trump-says-u-s-allies-should-pay-in-full-for-american-defense. 5. Juni 2016. 1

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Marco Rubio, den Senator aus Florida, loszugehen und ihn als ‚Kleiner Rubio‘ zu verspotten. Nicht wenige ZuschauerInnen fühlten sich in diesem Moment an die im US-Fernsehen beliebten Trash-Talkshows erinnert, in denen sich die Gäste publikumswirksam beschimpfen und nicht selten körperlich attackieren. Der französische Philosoph Guy Debord hat dieses Phänomen bereits 1967 in einem gleichnamigen Buch als La société du spectacle („Gesellschaft des Spektakels“) bezeichnet. Als Donald Trump vor wenigen Tagen den angesehenen US-amerikanischen Staatsanwalt Gonzalo Curiel als „Mexikaner“ bezeichnete und damit seine Glaubwürdigkeit in Frage stellte, rührte sich sofort Protest in den eigenen Reihen der Republikaner. Sogar der republikanische Rechtsaußen Newt Gingrich, sonst ein eiserner Trump-Verfechter, befand, dass diese Darstellung eines US-Amerikaners als „Mexikaner“ zu weit ging. Hintergrund der Posse war, dass Curiel mehrere AnklägerInnen in einem Prozess gegen die dubiose und inzwischen gescheiterte ‚Trump University‘ vertritt. Als Angehöriger der hispano-amerikanischen Minderheit sei Curiel, so Trump, disqualifiziert, da er ja, aufgrund seines ethnischen Hintergrundes, naturgemäß


eine Mauer zu bauen – im amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf bald die Medien (von Trump in gewohnter Manier als eine Art ‚Lügenpresse‘ tituliert) die Rohheit von Trumps Stil kritisieren. Die Journalistin und Trägerin des Alternativen Nobelpreises Amy Goodman hat in einem erhellenden Interview auf die mit diesen verbalen Ausuferungen verbundene Präsenz Trumps in den Medien hingewiesen. Egal ob Fox, ABC oder CNN – ein Großteil der Berichterstattung dreht sich fast immer um den New Yorker Multimillionär. „It’s Trumpland“, so stellt Goodman frustriert fest.2 Das Online-Magazin FiveThirtyEight berichtet in seinem Artikel „How Trump Hacked the Media“, dass allein 62% der kandidatInnenfokussierten Berichterstattung im amerikanischen Fernsehen und 54 % der Zeitungsberichte über PräsidentschaftskandidatInnen sich ausschließlich mit Donald Trump beschäftigen. 3

Sexy Politics? Präsidentschaftswahlkampf nach amerikanischem Stil

Warum löst die Wahl auch bei uns in Europa so großes Interesse und Medienecho aus? Viele munkeln bereits, dass dies auch an den hierzulande sehr populären US-Politserien wie House of Cards, Veep und The Good Wife liegt. Ist die amerikanische Politik also „sexy“ für das konsumgewohnte Publi-

kum geworden? Tatsächlich hat sich amerikanische Politik schon seit mehr als einem halben Jahrhundert als „sexy“ verkauft, nämlich seit dem Beginn des Fernsehzeitalters. Damals konnte der junge Senator John F. Kennedy das Fernsehpublikum mit seiner Ausstrahlung faszinieren. Es gab einen berühmten Moment in der Geschichte der Wahlkämpfe, wo der junge, braungebrannte Kennedy in einer Fernsehdiskussion auf einen schlechtgelaunten und schlechtrasierten Richard Nixon traf – damals ein Wendepunkt.

Besonderheiten der US-amerikanischen Präsidentschaftswahl

Viele fragen sich, worin die grundlegenden Unterschiede zwischen der Präsidentschaftswahl in den USA und der in Österreich bestehen (die ja ebenfalls von einer hohen Polarisierung geprägt war)? Der US-Präsident hat entscheidende Vollmachten, da er – im Gegensatz zum österreichischen Bundespräsidenten – ein Vertreter der Regierung ist und nicht in erster Linie repräsentative Funktionen einnimmt. Er kann beispielsweise RichterInnen für den Obersten Gerichtshof, den Supreme Court, benennen, wo wichtige Rechtsprechungen gefällt werden,

so etwa das Urteil zur landesweiten Öffnung der gleichgeschlechtlichen Ehe. Die Auswirkungen solcher Entscheidungen auf die Geschicke des Landes sind oft Jahrzehnte später noch spürbar. Stärker als in Europa geht es bei den amerikanischen Präsidentschaftswahlen immer auch um ideologische Grabenkämpfe, die während der heißen Phase der Wahlen ausgefochten werden. Die Medien spielen dabei, wie bereits erwähnt, eine zentrale Rolle. In den öffentlichen Debatten können Millionen ZuschauerInnen Zeugen werden, wie sich die KandidatInnen vor laufender Kamera beleidigen. In Amerika ist es, anders als in Europa, erlaubt, den politischen Gegner oder die politische Gegnerin in Wahlkampf-Spots persönlich bloßzustellen. Dies hat viel von einer Seifenoper. Das konnte man insbesondere während der heißen Phase der Vorwahlen im März und April beobachten, als sich die drei lange gleichermaßen favorisierten republikanischen Kandidaten Donald Trump, Ted Cruz und Marco Rubio gegenseitig als „Lügner“ bezeichneten.

„Never Trump“ – „Bernie or Bust“ – „Crooked Hillary“

Der gegenwärtige US-Wahlkampf ist von zahlreichen Pa-

Amy Goodman, “How the Media Is Ruining This Election.” https://www.facebook.com/ajplusenglish/ videos/vb.407570359384477/721962624611914/?type=2&theater. 26. April 2016. 3 Nate Silver, “How Trump Hacked the Media.” FiveThirty Eight. http://fivethirtyeight.com/features/howdonald-trump-hacked-the-media/ 20. März 2016. 2

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rolen beherrscht. So gab es in der Frühzeit des Wahlkampfes eine starke konservative „Never Trump“-Bewegung (geführt von rechtspopulistischen Radiomoderatoren wie Glenn Beck und Charlie Sykes sowie Politikern wie Mitt Romney), die Trump um jeden Preis als Kandidaten zu verhindern suchte. Die Begründung war – erstaunlich für viele europäische BeobachterInnen –, dass Trump, im Gegensatz zu dem „evangelikalen“ Kandidaten Cruz und dem „Tea Party“-Gänger Rubio, als „liberaler“ Politiker empfunden wurde, der für die sogenannten „New Yorker Werte“ stand (Familienplanung, scheinbar säkulare Gesellschaftsvorstellungen, etc.). So ungleich Donald Trump und Bernie Sanders auf den ersten Blick erscheinen, sie sind beide Kandidaten des Anti-Establishment. Trump, der jetzt für die Republikaner kandidiert, hat früher sogar demokratische Kandidaten unterstützt. Bernie Sanders wiederum ist im November letzten Jahres überhaupt erst in die demokratische Partei eingetreten, für die er jetzt kandidiert. Beide profitieren von der Abneigung vieler Wählerinnen und Wähler gegen die etablierte Politik in Washington. Die Unzufriedenheit mit der Kandidatin Hillary Clinton scheint so groß, dass zahlrei-

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che Sanders-UnterstützerInnen eher gar nicht zur Wahl gehen wollen als Clinton zur Präsidentin zu machen. Die sogenannte „Bernie or Bust“-Bewegung („Bernie oder sonst niemand“) scheint – ähnlich wie die UnterstützerInnen-Riege für den Kandidaten Ralph Nader im Jahre 2000 – entschlossen, eher „weiß“ zu wählen oder die Wahlurnen völlig zu meiden als weiter das verhasste Establishment zu unterstützen. In dieser Logik, die schon 2000 den Demokraten Al Gore den politischen Kopf gekostet und den Vereinigten Staaten acht Jahre Bush-Regierung beschert hat, ist Clinton (deren Ruf durch mehrere politische Geschehnisse beschädigt wurde) Teil einer „korrupten“ Elite, der man den Kampf ansagen möchte. Interessanterweise greift Trump viele der Argumente seines politischen Gegners Bernie Sanders unverhohlen auf. So denunziert Trump seine Konkurrentin fast täglich in Pressekonferenzen und Twitter-Meldungen als Kriminelle, als „Crooked Hillary“ („korrupte Hillary“) – und dies obwohl er laut Medien selbst in zahlreiche dubiose Geschäfte und deftige Skandale verwickelt scheint.

The Race is Open – Is It?

Letzten Endes könnte bei den amerikanischen Präsidentschaftswahlen aber reiner

Pragmatismus entscheiden, und zwar zugunsten der Demokratin Hillary Clinton. Denn Trump und Sanders gelten zwar als spektakuläre Kandidaten, jedoch ist unklar, wieviel von ihrem Programm sie letztlich umsetzen können und wollen. Einige mutmaßen bereits, dass die Demokraten – so es ihnen gelingt, die unzufriedenen Sanders-WählerInnen zu binden – eigentlich gar nicht verlieren können, da sie in allen entscheidenden Wählergruppen vorne liegen: bei den Frauen, den Hispanics, den African Americans, der Queer Community; und schließlich waren es genau diese Gruppen, die Obama 2008 und 2012 den Wahlsieg gerettet haben – und dies, obgleich der Demokrat bei weißen männlichen Wählern stets hinter seinem republikanischen Konkurrenten lag. Natürlich gibt es auch persönliche Gründe, die für die verbliebenen KandidatInnen – oder auch gegen sie – sprechen. So gilt der Republikaner Trump als ehrlich, aber auch als arrogant und unberechenbar – einen Ruf, den er mit dem ehemaligen republikanischen Bewerber Barry Goldwater teilt, der bei den Präsidentschaftswahlen 1964 zunächst mit markigen Sprüchen die Massen mobilisierte, aber aufgrund seiner radikalen und aus der Sicht vieler BeobachterInnen gefährli-


chen Ansichten schlussendlich eine Niederlage gegen Lyndon B. Johnson einstecken musste. Bernie Sanders, der oft ähnlich populistisch wie Trump auftritt, genießt hohes Vertrauen bei den WählerInnen, was den Punkt „Glaubwürdigkeit“ anbelangt; gleichzeitig hält man ihn für zu unerfahren und naiv, vor allem was seine sozialistischen Überzeugungen anbetrifft. Hillary Clinton spricht ebenso wie Sanders die Progressiven an, verkauft sich aber, im Gegensatz zu ihm, als Pragmatikerin, die ihre Ziele auch wirklich umsetzen könnte. Probleme könnte Clinton aufgrund ihrer Anbindung ans Establishment bekommen und auch aufgrund einer peinlichen E-Mail-Affäre, im Zuge derer während ihrer Zeit als US-Außenministerin Dienstgeheimnisse an die Öffentlichkeit gedrungen sein könnten. Der Ausgang der Präsidentschaftswahlen scheint derzeit völlig unklar. Einige KommentatorInnen sprechen allerdings bereits orakelhaft vom „Gesetz der Serie“ – nämlich der Tatsache, dass die US-WählerInnen in der Vergangenheit oft das Gegenteil des bisherigen Präsidenten gewählt haben (was auf eine Wahl Trumps deuten könnte).4 Traut man den neuesten Umfragen, so scheint alles auf ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Hillary Clinton und

Donald Trump hinauszulaufen – ein Novum in der Geschichte der US-Wahlen, unter anderem, da zum ersten Mal überhaupt eine Frau als Spitzenkandidatin einer der großen Parteien antritt. (Mit Victoria Woodhull kandidierte allerdings bereits 1872 eine Frau für eine kleinere Partei, die Equal Rights Party, damals zusammen mit Frederick Douglass). Auch eine Überraschung beim republikanischen Nominierungsparteitag scheint nicht völlig ausgeschlossen. Fast die gesamte republikanische Elite der vergangenen Jahre (u.a. John McCain, George W. Bush und Mitt Romney) hat angekündigt, dem Parteitag fernzubleiben. Wie sich dies auf die Dynamik der Kandidatenauswahl auswirkt, ist völlig ungewiss. Bei früheren Wahlkämpfen brauchte ein Kandidat stets die Parteielite, um überhaupt Chancen zu haben. Diesmal wird sich zeigen, ob ein Kandidat, der es sich mit fast allen Parteifreunden verscherzt hat, auch gegen die Elite gewinnen kann. Die nächste spannende Frage wird sein, wen Trump und Clinton als ihren ‚Running Mate‘ nominieren, d.h. als AnwärterIn auf die Vizepräsidentschaft (eine nicht unwichtige Position in der US-Politik, denn der Vizepräsident nimmt im Falle des Ablebens des Präsiden-

ten automatisch seine Rolle ein.) Trump hat bereits abgekündigt, eine Frau oder einen Angehörigen einer ethnischen Minderheit als Vize zu benennen, sicherlich aus taktischen Gründen. Aber im Wahlkampf 2016, dies scheint die eigentliche Lehre zu sein, kann eigentlich kaum etwas noch wirklich überraschen – nicht einmal ein möglicher Präsident Donald Trump.

Gerhard Spörl, „Das Gesetz der Serie.“ http://www.spiegel.de/politik/ausland/trump-koennte-die-wahl-gewinnen-kommentar-a-1094370.html. 28. Mai 2016.

Univ.-Prof. Stefan Brandt Institut für Amerikanistik

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