Magazin GARCON - Essen, Trinken, Lebensart Nr. 22

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RUBRIKEN Angepeilt

Renate Peiler

Vierzig Jahre Genusskompetenz: Die Journalistin Renate Peiler ist in über vierzig Berufsjahren (Hamburger Morgenpost, Spiegel, Brigitte) mit hartem geistigen und körperlichen Einsatz tief in die höhere und niedere Kulinarik eingedrungen. Folgerichtig arbeitete sie auch über 30 Jahre als Redakteurin bei der Zeitschrift „Essen & Trinken“ in Hamburg, zuletzt als Reporterin und Kolumnistin und zuständig für die Restaurantkritik im Heft. Seit 1978 war die Berlinerin in ihrer Hamburger Redaktion immer die Spezialistin erst für die Front-, dann für die Hauptstadt.

Sie hat hier den Wandel von der kulinarischen Streusandbüchse bis hin zur ambitionierten High-End-Küche unermüdlich Test-essend (und mitunter leidgeprüft) miterlebt, was auch zu langjähriger und ziemlich aufregender Mitgliedschaft in der Jury der Berliner Meisterköche führte. Naturgemäß ist sie für ihren Job viel gereist, hat viel gesehen, viel gegessen und nicht ganz so viel getrunken. Sie hat dabei einen sehr speziellen Blick für Authentisches entwickelt. Objekt der Peilung in diesem Heft: Die Weiße Rose in Zürich — eine ganz wunderbare Kneipe.

Der rastlose Holländer ist der geborene Gastronom. Qualitäts- und geschichtsbewusst hat er aus der Rose, die er seit dreißig Jahren betreibt, keinen Schicki-Micki-Laden gemacht. Die rummelige Winz-Wirtschaft in der Torgasse, gleich um die Ecke von Limmatkai und Kronenhalle, ist eine ordentliche Quartiers-Beiz*, ein Weinund Bier-Beizli: Man achte auf die Reihenfolge. Erst kommt das Trinken und dann das Essen. Über 30 Single Malts sind im Angebot, das Graubündner Calanda und süffiges bernsteinbraunes It-

tinger Klosterbräu gehören zu den neun Spezialbieren, fast 50 gute Weine sind gelistet. Damit all die trinkbaren Spezialitäten auch eine solide Grundlage haben, sorgt der Wirt für hochanständige essbare Kleinigkeiten. Berühmt ist das Siedfleisch, das Jan Aerts in schweren Fondue-Menagen aus Porzellan aufträgt, weil nur sie die Temperatur für die Brühe halten und genügend Platz haben für die unendlich vielen Beilagen. Wenn’s hoch kommt, muss Jans Küchenchef und Lebenspartner, der argentinische Maler Juan Cardozo, auch schon mal vierzig Portionen Siedfleisch zubereiten. Das ist eine Menge für 20 Sitzplätze, die Gäste, die sich vor der Theke stapeln, nicht mit gerechnet. Aerts ist ein Qualitäts-Verrückter, einer von denen, die lange suchen, bis sie den richtigen Lieferanten für das perfekte Produkt finden. Das Fleisch liefert ihm ein Schlachter aus Appenzell. Da kommt auch der Metzger her, der die anderen Spezialitäten macht: Schwartenmagen, Weiße-Rose-Speck, Bündner Salziz und sanfte Weißwürstli. Und der süße Senf wird wie früher stundenlang in der eigenen Küche gekocht. Heuer feiert die Weiße Rose übrigens hundertsten Geburtstag. Glückwunsch!

ANGEPEILT Zugegeben, eine Lieblingskneipe in Zürich zu haben, ist für eine Berlinerin, die in Hamburg lebt, eine ziemlich luxuriöse Angelegenheit. Aber ich habe mich vor ein paar Jahren Knall auf Fall verliebt in den Jan Aerts und seine geniale Rummelbude namens Weiße Rose. Seitdem nutze ich jede Gelegenheit, die mich nach Zürich bringt, in der Rose gepflegt zu versacken — ein Traum. Ich kenne das aus Berlin (aus Hamburg nicht!). Früher gab es in der Hauptstadt noch Eckkneipen, die ähnlichen Charme hatten. Heute gibt es eigentlich nur noch den Diener, eine der Weißen Rose durchaus ähnliche Sozialstation, gleichermaßen Künstlerheim und Auffangstation für Anwohner, Angereiste und Feierabend-Alkoholiker. Ein guter Treffpunkt für Paradiesvögel aller Art. Die kommen denn auch reichlich und zu (fast) jeder Stunde. Für einen guten Schwatz ist sich der Wirt nämlich nie zu schade, dabei hält er die einsamen Damen aus der Nachbarschaft, die einen Sherry Oloroso nach dem anderen süffeln, und die dem Bier ergebenen Herren am Stammtisch fest im Blick und tobt die krummen Stiegen hoch zur Küche, um Essbares zu ordern.

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GARÇON

* Quartiersbeizen sind in Zürich Lokalitäten, die der Stadt gehören. Vor fast fünfzig Jahren hatten die Stadtoberen die schlaue Idee, die Läden zu kaufen, um die Tradition zu erhalten. Damit haben sie viel Gutes getan und viel Altes erhalten. Die Pächter dürfen nur behutsam renovieren. Und sie müssen dafür sorgen, dass die Beize ein Treffpunkt für die Nachbarschaft bleibt. Das heißt erfreulicherweise auch, dass die Preise nicht in die Höhe schießen dürfen und McDonald's draußen bleibt.


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