Filmpodium Programmheft 16. Mai - 30. Juni 2013

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16. Mai – 30. Juni 2013

Michael Haneke

Nichts als die Wahrheit

Jane Campion

Konfliktzonen zwischen Herz und Verstand


ab Juni im Kino

Dav i D Tos h G iTo n Ga , K e n i a «Eine grosse Rolle bei diesem neuen Selbstbild des afrikanischen Films spielt die Musik.» Berliner Zeitung «Der Laiendarsteller Joseph Wairimu gibt diesen Mwas als einen der auszog, das Fürchten zu lernen: naiv, zärtlich, gewitzt, mit einem unverschämt-ansteckenden Lächeln ausgestattet. Wie überhaupt das Schauspielerensemble durch wuchtige Präsenz überzeugt.» Der Tagesspiegel

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01 Editorial

Kino zum Kauen Das Gros aller Filme, so sagte unser regelmässiger Filmvorleser Fred van der Kooij kürzlich bei einem Vortrag, lasse sich frei von jeglicher Kauanstrengung dem Verdauungstrakt zuführen. Der Aussparungsspezialist Robert Bresson hingegen – noch bis 15. Mai bei uns zu entdecken – verlange dem Publikum diese Eigenanstrengung ab. Mit dem Werk des österreichischen Filmautors Michael Haneke muten und trauen wir unserem Publikum im vorliegenden Programm gleich nochmals den Einsatz der Kaumuskulatur zu. Denn Haneke ist, zusammen mit Ulrich Seidl, der wichtigste zeitgenössische Exponent jener spezifisch österreichischen Form des anthropologischen Pessimismus, die – von Bernhard über Bachmann bis Jelinek – schon fast zur genetischen Grund­ ausstattung der Kunstschaffenden unseres östlichen Nachbarlandes zu ge­ hören scheint. «Filmische Rosskur mittels Klischee-Entzug» nennt der FAZ-Kritiker Andreas Kilb in seinem Einleitungsessay (Seite 5) treffend Hane­ kes Gestaltungsprinzip. Für Autorenkino par excellence steht seit einem Vierteljahrhundert auch Jane Campion, deren Werk weibliches Empfinden weit vielschichtiger auslotet, als es das Klischee vom feministischen Kino suggeriert. Campions Dramen um den Konflikt von Herz und Verstand, so schreibt Natalie Böhler einleitend in diesem Heft, zeichnen keine weibliche Opferhaltung, sondern drehen sich «um die Dilemmas, die aus dem weiblichen Begehren entstehen». Nicht nur im Campion-Klassiker The Piano, sondern auch in weniger be­ kannten Werken wie dem Thriller In the Cut oder der Henry-James-Verfil­ mung The Portrait of a Lady führt diese Prämisse zu vielschichtigen und über­ raschungsreichen Plots. Wiederentdeckung wärmstens empfohlen. Neben unseren zwei Autorenreihen greifen wir in diesem Programm eine Filmpodiumstradition neu auf, das Festival Cinemafrica, das von Hanna Diethelm und Barbara Hegnauer geleitet wurde. Das Filmfest Afrika bietet am Wochenende vom 31. Mai bis 2. Juni im Beisein zahlreicher Gäste Ein­ blick in das afrikanische Filmschaffen. Leicht ausgebaut soll es künftig ab­ wechselnd mit dem Arab Film Festival im Zweijahresturnus stattfinden. Als letzten Geheimtipp zu unserem reichhaltigen Mai/Juni-Menü legen wir Ihnen schliesslich den Dokumentarfilm-Essay Work Hard Play Hard ans Herz: Er zeigt die schöne neue Arbeitswelt, in der uns immer raffiniertere Wohlfühlstrategien zu immer höheren Leistungen anstiften sollen. Auch das ist Kino zum Kauen und Wiederkäuen. Andreas Furler Titelbild Holly Hunter und Anna Paquin in Jane Campions The Piano


02 INHALT

Michael Haneke

04

Mit unzähligen Auszeichnungen – Goldenen Palmen, Europäischen Film­ preisen, Césars und, für Amour, einem Oscar – hat sich der Österreicher Mi­ chael Haneke (*1942) einen Spitzen­ platz unter den europäischen Auto­ renfilmern erobert. Dabei sind seine Spielfilme provozierend und oft ver­ störend: Mit enormer Geduld und ­unerbittlicher Strenge erforscht er die Kampfzonen des Alltags, sei es inner­ halb einer Familie, wie in den frühen Filmen Der siebente Kontinent und Benny’s Video, oder einer ganzen Dorfgemeinschaft (Das weisse Band). Dem Sog seiner bildstarken Werke kann man sich nur schwer entziehen. Zur Eröffnung der Reihe werden im Filmpodium zwei seiner engen Mitarbeiter, Markus Schleinzer und ­ Michael Katz, über ihre Arbeit mit ­ ­Michael Haneke Auskunft geben. Bild: Funny Games U.S.

Jane Campion

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An Angel at My Table und erst recht The Piano haben die Neuseeländerin Jane Campion Anfang der 1990er Jahre international bekannt gemacht. Im Zentrum ihres Schaffens steht die Frage nach authentischer weiblicher Identität, seien ihre Heldinnen nun Teenager (Two Friends) oder Damen der Gesellschaft wie in The Portrait of a Lady. Bild: An Angel at My Table

Filmfest Afrika

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Drei Filme aus Mali und Premieren aus Kenia, Moçambique, Senegal und Ghana sind am Filmfest Afrika zu se­ hen, das künftig im Turnus mit dem arabischen Festival alle zwei Jahre stattfinden soll. Die Anwesenheit mehrerer Gäste – unter ihnen der le­ gendäre Souleymane Cissé (Yeelen) – verspricht zudem spannende persönli­ che Begegnungen.


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Das erste Jahrhundert des Films: 1953

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Vincente Minnellis The Band Wagon war ein «Triumph in Technicolor». Die andern Filme der 1953er-Aus­ wahl sind in nuancenreichem Schwarz­ weiss: Tatis Komödie Les vacances de Monsieur Hulot, Fellinis Kleinstadt­ satire I vitelloni, Ophüls’ Liebestragö­ die Madame de…, Ozus melancholi­ scher Generationenfilm Die Reise nach Tokio und El, Buñuels mexika­ nisches Eifersuchtsdrama. Bild: El

Premiere: Cesare deve morire 36 Die ungewöhnliche Verfilmung von Shakespeares «Julius Caesar» hat den Brüdern Vittorio und Paolo Taviani 2012 in Berlin einen Goldenen Bären eingebracht: Im Römer Gefängnis ­Re­bib­bia haben sie die Inszenierung der Tyrannenmord-Tragödie mit den Häft­ lingen vom Casting bis zur öffentlichen Aufführung filmisch mitverfolgt.

Premiere: Le sommeil d’or

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Der Kambodschaner Davy Chou geht den Spuren des Goldenen Zeitalters des kambodschanischen Kinos nach, das von den Roten Khmer fast voll­ ständig ausgelöscht wurde.

Premiere: 40 Work Hard Play Hard Die Deutsche Carmen Losmann hin­ terfragt in ihrem essayistischen Erst­ ling den schönen Schein der moder­ nen, dynamischen Arbeitskultur und die fatale Optimierung der «Ressource Mensch».

Einzelvorstellungen

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Bob Clampett: «Looney Tunes» und «Merrie Melodies» Sélection Lumière: The Apartment Bild: The Apartment



05 Michael Haneke

Nichts als die Wahrheit Mit einem knappen Dutzend Kinospielfilmen hat sich der Österreicher Michael Haneke (*1942) einen Spitzenplatz unter den europäischen Autorenfilmern erobert. Eine erstaunliche Karriere für einen Regisseur, dessen Werk provoziert und verunsichert. Doch die künstlerische ­Stringenz seiner bildstarken Filme erzeugt einen Sog, dem man sich schwer entziehen kann. Wie wird man ihn in zwanzig, dreissig Jahren sehen? Wird er dort stehen, wo sein Vorbild Robert Bresson gestanden hat, der noch in hohem Alter Anlass von Polemiken, wütenden Pfiffen, erbitterten Bekenntnissen war? Oder wird man ihn in einer geräumigen Nische im Pantheon des Kinos finden, verurteilt zur «durchschlagenden Wirkungslosigkeit eines Klassikers», wie Max Frisch einst über Brecht bemerkte? Das allerdings wäre für Michael Haneke eine Niederlage, denn seine Filme wollen provozieren, verunsichern, Erwartungen düpieren, Sehgewohnheiten in Frage stellen. Und doch läge auch in diesem Klassikertum eine Wahrheit, keine ganz angenehme vielleicht, aber auch keine, die Hanekes Ruhm schmälerte. Denn natürlich haben wir uns an sein Kino gewöhnt. Wir wissen unge­ fähr, was uns erwartet, wenn ein neuer Haneke-Film in Cannes Premiere hat, wir kennen den kalten Blick, die ausgesuchten Cadragen, die furiose Geduld dieses Regisseurs, seine Vorliebe für Bach, Paris, Juliette Binoche und Isabelle Huppert, seinen Hass auf Handys, Talkshows, Rockmusik. Den unschuldigen Haneke-Zuschauer, der sich, wie einst ein Franzose nach der ersten Vorfüh­ rung von Funny Games an der Croisette, laut schimpfend und Fäuste schwin­ gend aus dem Kino ins Freie rettet, dürfte es kaum noch geben. Und doch funktioniert das Funny-Games-Prinzip, diese filmische Ross­ kur mittels Klischee-Entzug, noch immer, es ist nur leiser, subtiler und auf ge­ wisse Weise noch wirkungsvoller geworden. In Das weisse Band beispiels­ weise, Hanekes vorletztem Film, sieht man ein norddeutsches Dorf vor dem Ersten Weltkrieg, in dem alles an seinem Platz ist, der Pfarrer, der Gutsherr, der Arzt, der neue Lehrer, die Schule, sogar das Korn auf den Feldern. Und dann, allmählich, merkt man, dass alles ganz furchtbar ist, von Grund auf grausam und schlecht. Aber es gibt niemanden, dem man dieses Grauen in die Schuhe schieben kann, den Menschen nicht, der Natur nicht und schon gar >

Von der Vergangenheit eingeholt: Daniel Auteuil und Juliette Binoche in Caché

<

Benny’s Video: Wo endet die Neugierde, wo beginnt die Unmenschlichkeit?


06 nicht den wundervollen, wie in Drachenblut gebadeten Schwarzweissbildern, mit denen Haneke das Unheil einfängt. Eine deutsche Kindergeschichte heisst der Film; das bedeutet, dass am Ende nichts wirklich erledigt ist, denn die Kin­ der des Dorfes werden erwachsen und wieder zu Eltern werden, sie werden Geschichte machen, unsere Geschichte. So schreibt sich der Film in der Wirk­ lichkeit fort. Haneke selbst ist knapp dreissig Jahre später, 1942, in eine Schauspie­ lerfamilie hineingeboren worden, er wuchs in Wiener Neustadt auf, wollte Konzertpianist werden, studierte Philosophie und Theaterwissenschaften und ging als Dramaturg zum Südwestfunk, bevor er sich als Film- und Bühnenre­ gisseur selbständig machte. Sonst weiss man wenig über diese Zeit, wie auch Haneke heute wenig von den Fernsehfilmen wissen will, die er damals gedreht hat, die Ingeborg-Bachmann-Adaptation Drei Wege zum See etwa, oder das Jugenddrama Lemminge. Dabei könnte man hier viel über den Blick lernen, mit dem er in seinen späteren Filmen Schauplätze und Akteure betrachtet, über seine architektonische Gestaltung des Raums, die der von Hitchcock oder Lang gar nicht unähnlich ist. Klassisches Kino auch hier. Zum europäischen Autorenfilm kam unser Mann, wie viele seiner Ge­ neration, im Filmseminar; dort lief Bressons Au hasard Balthazar, die Ge­ schichte des Esels B., der von den Menschen auf verschiedene Weise benutzt und missbraucht wird und zuletzt an einer Schusswunde verblutet. «Kein Film hat mir je Herz und Hirn so umgedreht wie dieser», schrieb Haneke vor achtzehn Jahren in einem Aufsatz zum hundertsten Geburtstag des Kinos. Warum? Weil bei Bresson «das faule Einverständnis» des Kommerzkinos ge­ kündigt, «die beschämende Schlüssellochperspektive des Voyeurs» verlassen, der Schmerz «in seiner Ikone gebannt» werde. Weil es nichts «Vorgefühltes, Vorgedachtes» zu sehen, sondern die Not des Daseins zu entdecken gebe. Diese Not hat Haneke in zehn Spielfilmen geschildert. Und fast immer geht es darin um Familien: um solche, die sich selbst zerstören oder von aus­ sen zerstört werden, um Mütter und Töchter, Eltern und Kinder, Brüder und Freunde. Mit Bressons Menschheitspathos hat das wenig zu tun, dafür viel mit Ängsten, Fragen, Neurosen, die ganz und gar von heute sind. Haneke äfft den filmischen Rigorismus seines Vorbilds nicht nach, sondern macht ihn für seine und unsere Zwecke passend. Familiäre Zersetzungsprozesse Der Film, mit dem Haneke die Verwandlung vom Fernseh- zum Spielfilmre­ gisseur gelang, beruht auf einer deutschen Illustriertenstory aus den siebziger Jahren. Sie schildert den Fall einer Familie, die sich auf akribische Weise selbst auslöscht. Der siebente Kontinent (1989) fasst diese Tat und ihre Vorge­ schichte in ein quälendes, von Schwarzblenden rhythmisch unterbrochenes filmisches Protokoll. Von der ersten Einstellung, die im Innern einer Auto­


07 waschstrasse spielt, bis zum Schlussbild eines flimmernden Fernsehbild­ schirms wird die Anatomie eines ausweglosen Kleinstadtlebens entfaltet, kühl, nüchtern, mitleidlos. Der Kontrast zur Kammerspielpsychologie des Bildschirms könnte nicht schlagender sein. In Benny’s Video (1992) ist es dann ein Mord, der den familiären Zer­ setzungsprozess auslöst. Benny, ein pubertierender Junge, hat aus den Ferien auf dem Lande ein Bolzenschussgerät zum Schweineschlachten mitgebracht. In einer Videothek spricht er ein Mädchen an. Sie gehen in die elterliche Woh­ nung. Er zeigt ihr das Gerät: «Willst du sehen, wie es funktioniert?» Als Ben­ nys Eltern entdecken, was geschehen ist, entschliessen sie sich, die Bluttat zu vertuschen. Aber das Geschehene lässt sich nicht auslöschen. Benny’s Video ist bis heute vielleicht Hanekes stärkster Film, weil er die Spannung zwischen ästhetischer und psychologischer Wahrhaftigkeit in kei­ ner Szene verliert. Benny, der Teenager, ist ein Stereotyp, aber zugleich ein ganz normaler Junge, so wie Bennys Eltern noch im Wahnsinn ihres Handelns ganz normale verängstigte Eltern sind. Das Vor- und Zurückspulen des Vi­ deobandes vom Bauernhof, mit dem der Film beginnt, ist auch eine Aufforde­ rung an den Betrachter, die eigene Haltung zum Geschehen immer neu zu be­ stimmen: An welchem Punkt gerät das Spiel ausser Kontrolle? Wo endet die Neugierde, wo beginnt die Unmenschlichkeit? Gegen diese Unmenschlichkeit, auch da, wo sie sich im Gewand des Kit­ sches und der visuellen Nachlässigkeit zeigt, kämpft Hanekes Kino an, mit Strenge, aber auch mit Liebe. Nichts könnte das besser illustrieren als der Blick, den er in seinem jüngsten Film Amour auf seine Figuren richtet. In der Geschichte von Anne und Georges, einem alten Ehepaar, das gemeinsam Siechtum und Sterben bewältigen muss, hat Haneke nicht nur zahlreiche au­ tobiografische Motive aufgerufen, er hat auch zum ersten Mal von einem Ge­ fühl erzählt, das bis dahin in seinen Filmen nur als Aussparung vorkam: dem Glück. Dass es keine Dauer hat, ist von vornherein klar; dass es aber über­ haupt existiert hat, darin liegt der Trost dieses Films. Auch für Michael ­Haneke war Amour ein Glücksfall, denn er hat ihm, neben der zweiten Gol­ denen Palme (die erste bekam er 2009 für Das weisse Band), den Oscar für den besten fremdsprachigen Spielfilm eingebracht. Was soll jetzt noch kom­ men, auf dem Gipfel des Ruhms? Für Haneke ist das keine Frage: Er wird wei­ terarbeiten am Kino, daran, uns die Augen zu öffnen mit seinen Filmen. Wer so wie er nach der Wahrheit sucht, für den gibt es keinen Ruhestand. Andreas Kilb

Andreas Kilb ist Feuilletonkorrespondent der FAZ in Berlin. Seinen Text vom März 2013 zu Michael Hanekes 70. Geburtstag hat er für uns ausgebaut und aktualisiert.


> Der siebente Kontinent.

> 71 Fragmente einer Chronologie des Zufalls.

> Funny Games.

> La pianiste.


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Michael Haneke.

DER SIEBENTE KONTINENT Österreich 1989 «Mit seinem zunächst als Fernsehspiel geplanten ersten Kinofilm Der siebente Kontinent fand Haneke zu seiner genuinen Filmsprache. Der erste Teil der ‹Trilogie der Vergletscherung der Gefühle› um emotionale Kälte und Kommunikationsverlust verfolgt das Leben von Georg, seiner Frau Anna und deren zehnjähriger Tochter Eva über einen Zeitraum von drei Jahren. Erstarrt in der Routine des Berufslebens und einer austauschbaren privaten Existenz, beschliesst die Familie eines Tages den gemeinsamen Selbstmord – der penibel und mit unerbittlicher Konsequenz umgesetzt wird. Das radikale Protokoll einer Selbstvernichtung hinterlässt Ratlosigkeit, provoziert aber auch Widerspruch.» (DIF, Archiv Deutsches Filmmuseum, Juli 2009) «Der siebente Kontinent, mit dem Haneke seine ‹Trilogie der Vergletscherung› eröffnete, ist zugleich das verstörendste, radikalste Stück dieses Triptychons (…). Noch konsequenter als in Benny’s Video und 71 Fragmente einer Chronologie des Zufalls ist die Absage an die ästhetischen und narrativen Konventionen des populären Kinos, noch entschlossener ist er in die Spur des grossen Vorbilds Robert Bresson eingeschwenkt. (…) Wobei über eine maximale Reduktion der Mittel ein Maximum an Intensität zu erzielen versucht wird.» (Reinhold Zwick, film-dienst, 11/1996) 108 Min / Farbe / DCP / D/f // DREHBUCH UND REGIE Michael

fremdung von Menschen zu Wesen mit verstören­ der emotionaler Teilnahmslosigkeit. «Regisseur Michael Haneke versucht, die Wohlstandsgeneration, der im perfekten Design Seele und Gemüt abhanden kam, mit eigenen Waffen zu schlagen. Seine Kamera steht an Perfektion, stilsicherer Cadrage und eleganter Bewegung dem herrschaftlichen Auftritt und der bis zur Unbenutzbarkeit aufgeräumten bürgerlichen Ordnung in nichts nach. Auch enthält sich Benny’s Video jedes direkten Kommentars, gar etwaiger psychologischer Deutungen oder Einfühlungen. Wie Benny von seinen Eltern wird der Zuschauer auf den ersten Blick vom Regisseur alleingelassen, hilflos ausgesetzt dem Kurswechsel: nicht Bennys Gewalttat, sondern der Missbrauch der elterlichen Gewalt wird geklärt und gesühnt. Hanekes blitzblanker, vordergründig kritikloser und seinerseits derb emotionsloser Film erledigt nichts und gibt keinerlei Antwort. Diese Unerträglichkeit ist es, die (…) die Antworten der Zuschauer, emotionale Empörung und moralische Anteilnahme erzwingt.» (Dietrich Kuhlbrodt, epd Film, 6/93) 105 Min / Farbe / DCP / D/f // DREHBUCH UND REGIE Michael Haneke // KAMERA Christian Berger // SCHNITT Marie ­Homolkova // MIT Arno Frisch (Benny), Angela Winkler (Anna, Bennys Mutter), Ulrich Mühe (Georg, Bennys Vater), Ingrid Stassner (Mädchen), Stephanie Brehme (Evi), Stefan Polasek (Ricci), Christian Pundy (Paul), Hanspeter Müller, Shelley Kästner, Max Berner.

SCHNITT Marie Homolkova // MIT Birgit Doll (Anna Schober),

71 FRAGMENTE EINER CHRONOLOGIE DES ZUFALLS

Dieter Berner (Georg Schober), Leni Tanzer (Eva Schober),

Österreich/Deutschland 1994

Haneke // KAMERA Anton Peschke // MUSIK Alban Berg //

Udo Samel (Alexander, Annas Bruder), Silvia Fenz (Kundin), Robert Dietl (Oertl, Georgs Vorgesetzter), Elisabeth Rath (Lehrerin), Georges Kern (Bankbeamter), Georg Friedrich (Postbeamter).

BENNY’S VIDEO Österreich/Schweiz 1992 Der 14-jährige Benny stammt aus wohlhabendem Haus. Seine Eltern haben berufsbedingt wenig Zeit für ihren Sohn, was sich auf das Verhältnis innerhalb der Familie niederschlägt, das kühl und distanziert ist. Als Ersatz wird Benny mit elektronischen Geräten ausgestattet, die auf ihn eine faszinierende Wirkung ausüben. Vor allem durch Videofilme eröffnet sich ihm eine Welt, in der er emotionalen Ersatz findet. Der Besuch eines gleichaltrigen Mädchens, das er in der Videothek kennengelernt hat, führt in eine Katastrophe. Haneke schafft mit Benny’s Video eine beklemmende, komplexe moralische Fabel über die Ent-

Am Vorweihnachtstag des Jahres 1993 tötet der 19-jährige Student Max bei einem Amoklauf in einer Wiener Bankfiliale drei Menschen, bevor er sich selbst richtet. Der Episodenfilm erzählt – ohne psychologische Erklärung – die Vorgeschichte jener Menschen, die sich am Ort des Geschehens zufällig begegnet sind und setzt patchworkartig biografische Szenen von Täter und Opfern sowie TV-Dokumente neben- und gegeneinander. «Ein Querschnitt durch ein Gesellschafts­ gefüge mit fatalistisch-pessimistischen Zügen, ­dessen mühsam kontrollierte Beziehungs- und Bindungslosigkeit in den 71 fragmentarischen Bruchstücken eines allgegenwärtigen ‹Bürgerkriegs› künstlerisch schlüssig einsichtig wird. Die klug kalkulierte dramaturgische Verklammerung eines Massenmordes ohne hinlängliches (und damit letztlich besänftigendes) Motiv birgt für die Zuschauer ein Höchstmass an unaufgelöster Irritation und Interaktion. Der von einer präzi-


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Michael Haneke. sen Kamera getragene Spannungsbogen wird geschickt über zahlreiche Zwischenstationen zum unausweichlichen Finale geführt, das die ‹zufällig› zu Opfern werdenden Personen am Tatort erst- und letztmals zusammenführt.» (Roland Rust, film-dienst, 22/1995) 95 Min / Farbe / DCP / D/f // DREHBUCH UND REGIE Michael Haneke // KAMERA Christian Berger // SCHNITT Marie Homolkova // MIT Lukas Miko (Student Max), Gabriel Cosmin Urdes (Marian Radu, rumänischer Junge), Otto Grünmandl (alter ­Tomek), Klaus Händl (Gerhard), Udo Samel (Paul Brunner), Anne Bennent (Inge Brunner), Georg Friedrich (Soldat Bernie), Branko Samarovski (Hans), Claudia Martini (Maria), Hermann Linsbauer (Waffenhändler Franz), Alexander Pschill (Hanno).

DAS SCHLOSS Österreich/Deutschland 1997 «In langsamen Bildern erzählt der Film die groteske Geschichte nach dem gleichnamigen Roman von Franz Kafka: K. kommt in einem Dorf in der Nähe des Schlosses an, um eine Stelle als Landvermesser anzutreten, erhält aber nie eine Arbeitsanweisung. Ein Bote des Schlosses überbringt K. eine Nachricht, doch sein Versuch, ins Schloss vorzudringen und mit seinem Auftrag­ geber zu sprechen, ist vergeblich. In der Zwischenzeit bekommt er eine Stelle als Schuldiener. Der Grund für seine Anstellung als Landvermesser wird nie genannt, und je mehr sich K. um Aufklärung bemüht, desto weniger Klarheit kann er sich verschaffen.» (www.filmportal.de, zit. nach www.cinematheque.ch). «Die Kälte wird mir tatsächlich immer mehr zum Thema, das Verstummen der Menschen, die Kommunikationsunfähigkeit, die eigentlich von Anfang an ein Thema bei mir war, wird zu einer immer stärkeren Erfahrung.» (Michael Haneke im Gespräch mit Stefan Grissemann und Michael Omasta, in: Katalog Int. Forum des Jungen Films, Berlin 1997) 123 Min / Farbe / DCP / D/f // REGIE Michael Haneke // DREHBUCH Michael Haneke, nach dem Romanfragment von Franz Kafka // KAMERA Jirí Stibr // SCHNITT Andreas Prochaska // MIT Ulrich Mühe (K.), Susanne Lothar (Frieda), Frank Giering (Artur), Felix Eitner (Jeremias), Nikolaus Paryla (Vorsteher), Dörte Lyssewski (Olga), André Eisermann (Barnabas), Inga Busch (Amalia), Norbert Schwientek (Bürgel), Hans Diehl ­(Erlanger), Birgit Linauer (Pepi).

FUNNY GAMES Österreich 1997 Anna, Georg und ihr kleiner Sohn Schorschi verbringen ein paar Urlaubstage in einem idyllischen

Ferienhaus am See. Plötzlich taucht der junge, wohlerzogene Gast der Nachbarin, Peter, bei ihnen auf, kurz darauf ein zweiter junger Mann, Paul. «In den Alltag mit nervigen Details und Routinen brechen zwei klebrig freundliche Jungens mit weissen Handschuhen (à la A Clockwork Orange) ein, die irgendwann den Spass an der latenten Gewalt verlieren und die Familie in ihrem eigenen Ferienhaus kidnappen. Die Bestandteile des Thrillers – Messer, Golfschläger, Handy, Beil, abgeschlossener Raum – sind deutlich im Bild. Doch mit der Form des Genres unterläuft Funny Games dessen simplifizierende Mechanismen. Die beiden Männer (…) wenden sich direkt ans Publikum: ‹Sie sind doch auf ihrer Seite?› und ‹Ist es schon genug? Wir sind noch unter Spielfilmlänge. Sie wollen doch ein richtiges Ende mit plausibler Entwicklung?› Michael Hanekes schockierende Funny Games sind nicht unerträglich spannend. Das träfe auf den üblichen Thriller zu. Sie sind spannend, unerträglich und gnadenlos. (…) Der entscheidende Satz zu Funny Games kommt vom Regisseur: ‹Ich versuche Wege zu finden, um Gewalt als das darzustellen, was sie immer ist, als nicht konsumierbar. Ich gebe der Gewalt zurück, was sie ist: Schmerz, eine Verletzung anderer.›» (Günter H. Jekubzik, www.filmtabs.de) 108 Min / Farbe / DCP / D/f // DREHBUCH UND REGIE Michael Haneke // KAMERA Jürgen Jürges // MUSIK Georg Friedrich Händel, Wolfgang Amadeus Mozart, John Zorn // SCHNITT Andreas Prochaska // MIT Susanne Lothar (Anna), Ulrich Mühe (Georg), Frank Giering (Peter), Arno Frisch (Paul), ­Stefan Clapczynski (Schorschi), Doris Kunstmann (Gerda), Christoph Bantzer (Fred), Wolfgang Glück (Robert), Susanne Meneghel (Gerdas Schwester), Monika Zallinger (Eva).

LA PIANISTE Österreich/Frankreich/Deutschland 2001 Erika Kohut, Ende dreissig und Klavierlehrerin am Konservatorium in Wien, lebt mit ihrer Mutter zusammen – streng kontrolliert, ohne Privatsphäre, ohne Möglichkeiten, ein eigenes Leben zu entdecken. Der Enge entflieht sie durch Voyeurismus und Selbstverstümmelung. Den neuen Studenten Walter Klemmer fasziniert die Unnahbarkeit seiner Klavierlehrerin. Er setzt sich in den Kopf, ihr emotionales Gefängnis aufzubrechen. Elfriede Jelineks als unverfilmbar geltender fünfter Roman Die Klavierspielerin erschien 1983 und «wurde von der Kritik als eine ‹ins Monströse vergröberte› Analyse (klein-)bürgerlicher Mentalität aufgefasst, in der die Autorin in gewohnt rabulistischer Weise das Verhältnis von Macht, Besitz und (sexueller) Lust seziert.» (Josef Lederle, film-dienst, 20/2001)


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Michael Haneke. «Michael Haneke, der auch das Drehbuch schrieb, hätte versuchen können, den verzweifelten Sprachwitz in bunte, surreale Bilder zu übersetzen. Er hätte auch den Wechsel der Perspektiven nachvollziehen können. Das hätte die Story beschwingt. Doch er verzichtet auf die beschwichtigende Schönheit stilistischer Gesten. Er zeigt die Frau und ihre Geschichte aus weiter Ferne. Die Distanz zum Elend der Personen, die in Jelineks grossartig-schrecklichem Wortwerk auch durch die Erzählung in der dritten Person entsteht, schafft Haneke durch Reduktion, Strenge und Langsamkeit. Er führt die Essenz ihres Seins vor.» (Gunther Göckenjan, FAZ, 15.5.2001) Mit La pianiste gelang Haneke der internationale Durchbruch. Das provokante Drama erhielt zahlreiche Auszeichnungen, u. a. den Grossen Preis der Jury in Cannes, wo auch Isabelle Huppert für die Titelrolle mit dem Darstellerpreis geehrt wurde. 129 Min / Farbe / 35 mm / F/d // REGIE Michael Haneke //

im Haus aufhält und – als die Situation ausser Kontrolle gerät – durch einen Schuss, der George tödlich verletzt. Den Ausnahmezustand, den Anne und ihre beiden Kinder unmittelbar und schonungslos als Normalität begreifen lernen müssen, herrscht aber nicht nur in der Familie. Er schwebt auch beklemmend über einer Landschaft, die seltsam entvölkert und abweisend ist. «Erneut hat der Österreicher einen der Endzeitfilme gedreht, die geradezu zu seinem Markenzeichen geworden sind. Den Titel hat er, wie er in einem Interview sagt, der Edda entnommen, ‹dem Gesang der Seherin, die das Ragnarök, das Weltende, beschreibt› und wo von ‹Windzeit, Wolfzeit› die Rede ist, in der keiner den andern schont. (…) Haneke beschäftigt sich diesmal kaum mit individuellem Verhalten. Hier interessiert ihn vor allem die Gruppe, beschäftigt er sich mit den Mechanismen von Angst und drohender Gewalt, den wechselnden Allianzen und der gegenseitigen Hilfe und dem menschlichen Zusammenhalt.» (Christoph Egger, NZZ, 27.3.2004)

DREHBUCH Michael Haneke, nach dem Roman von Elfriede Jelinek // KAMERA Christian Berger // MUSIK Franz Schu-

113 Min / Farbe / 35 mm / F/d // DREHBUCH UND REGIE

bert // SCHNITT Monika Willi, Nadine Muse // MIT Isabelle

Michael Haneke // KAMERA Jürgen Jürges // SCHNITT

Huppert (Erika Kohut), Benoît Magimel (Walter Klemmer),

Nadine Muse, Monika Willi // MIT Isabelle Huppert (Anne

Annie Girardot (Mutter), Anna Sigalevitch (Anna Schober),

Laurent), Lucas Biscombe (Ben, Annes Sohn), Anaïs

Susanne Lothar (Frau Schober), Udo Samel (Dr. George

Demoustier (Eva, Annes Tochter), Hakim Taleb (Junge),

Blonskij), Cornelia Köndgen (Fräulein Gerda Blonskij),

Béatrice Dalle (Lise Brandt), Patrice Chéreau (Thomas

Thomas Weinhappel (Bariton), Georg Friedrich (Mann im ­

Brandt), Rona Hartner (Arina), Maurice Bénichou (M. Azou-

Autokino), Philipp Heiss (Naprawik).

lay), Olivier Gourmet (Koslowski), Brigitte Roüan (Béa), Branko Samarovski (Polizist), Pierre Berriau (Fred).

LE TEMPS DU LOUP Frankreich/Österreich/Deutschland 2003

CACHÉ Frankreich 2005

Zu Beginn eine lange Autofahrt durch ein ausgedehntes Waldgebiet – Anne und Georges fahren mit ihren beiden Kindern aufs Land in ihr Wochenendhaus. Die Idylle wird jäh durchbrochen durch eine unbekannte Familie, die sich unbefugt

DAS HANEKE-PRINZIP

Eine anonym zugestellte Videokassette zeigt die abgefilmte Fassade der Wohnung des intellektuellen Fernsehmoderators Georges und seiner Frau Anne. Es werden weitere ominöse Kassetten

PODIUMSGESPRÄCH MI, 22. MAI | 19.30 UHR

Die österreichischen Filmschaffenden Michael Katz und Markus Schleinzer kennen ­Ha­nekes Werk aus intensivster praktischer Erfahrung: Katz war seit Benny’s Video Produzent und Aufnahmeleiter von sechs Haneke-Filmen, der Casting Director und heutige Regisseur Markus Schleinzer war zuständig für die Besetzung von La pianiste und Das weisse Band. Im Anschluss an die Vorstellung von Das weisse Band diskutieren sie über die Produktions- und Gestaltungsprinzipien des rigorosen Filmautors. Moderation: Andreas Furler Mit freundlicher Unterstützung von


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Michael Haneke. und kryptische Zeichnungen zugestellt – ohne Hinweis auf Identität und Beweggründe. Die Videokassetten paralysieren die Familie zunehmend – auch als offensichtlich wird, dass der Absender Georges kennen muss. Mit diesen Kassetten hören die Verdrängungsmethoden einer bürgerlichen Realität auf zu funktionieren. Der Titel spielt darauf an: Caché, versteckt, ist neben dem geheimnisvollen Filmer auch eine zentrale Episode aus Georges’ Vergangenheit. «Hervorragend von Daniel Auteuil und Juliette Binoche interpretiert, führt die Figurenkonstellation in eine nachhaltige Irritation. Michael Haneke erweist sich als scharfsinniger Analytiker der gesellschaftlichen Pathologien. Seine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit Frankreichs verweist auf die Traumata, die der Algerienkrieg in der kollektiven Psyche hinterlassen hat. In den intensivsten Momenten geht die Kamera auf Distanz und vermittelt eine kühle Beobachtung. Damit provoziert Haneke einen Reflexionsprozess, der während des Filmschauens ansetzt und weit über den offenen Schluss hinausgeht.» (Charles Martig, www.medientipp.ch, 12.1.2006) «Mit absoluter Präzision nuanciert der AutorRegisseur in dieser seiner womöglich brillantesten Verhaltensstudie über Klasse und Rasse die Gefühle – von der Paranoia zur Panik, von den Lügen zur Verleugnung –, während er die Szenerie praktisch monochrom hält.» (Andreas Maurer, NZZ, 13.1.2006)

Kernfamilie – Vater, Mutter, Kind – aus wohlsituierten, ‹gutbürgerlichen› Verhältnissen, die ihren Sommerurlaub in einem Ferienhaus am See beginnen. Gleich am Ankunftstag bekommen sie Besuch von zwei jungen Männern, die sich erst als Bekannte der Nachbarn vorstellen, sich aber schnell als brutale Eindringlinge erweisen, die die Familie terrorisieren und mit ihr ein grausames Spiel treiben. (…) Haneke begründet das Remake auch in erster Linie mit einer pädagogischen Absicht: Der erste Film habe auf ein ‹Hollywood-Publikum› gezielt, dieses Ziel aber verfehlt. Das angebotene Remake mit US-Stars habe er als Chance gesehen, jetzt doch das erstrebte Massenpublikum zu erreichen und über die Manipulationszusammenhänge der Kulturindustrie aufzuklären.» (Rüdiger Suchsland, film-dienst, 11/2008)

117 Min / Farbe / 35 mm / F/d // DREHBUCH UND REGIE

Deutschland /Österreich / Frankreich 2009

111 Min / Farbe / 35 mm / E/d/f // REGIE Michael Haneke // DREHBUCH Michael Haneke, Remake von Funny Games (1997) // KAMERA Darius Khondji // MUSIK Georg Friedrich Händel, Wolfgang Amadeus Mozart, John Zorn // SCHNITT Monika Willi // MIT Naomi Watts (Ann), Tim Roth (George), ­Michael Pitt (Paul), Brady Corbet (Peter), Siobhan Fallon (Betsy), Boyd Gaines (Fred), Devon Gearhart (Georgie), ­Robert LuPone (Robert), Linda Moran (Eve), Susi Haneke (Betsys Schwägerin).

DAS WEISSE BAND

­Michael Haneke // KAMERA Christian Berger // SCHNITT ­Michael Hudecek, Nadine Muse // MIT Daniel Auteuil ­(Georges Laurent), Juliette Binoche (Anne Laurent), Lester Makedonsky (Pierrot Laurent, Sohn), Maurice Bénichou (Omar), Annie Girardot (Georges’ Mutter), Bernard Le Coq (Chefredaktor), Walid Afkir (Omars Sohn), Daniel Duval ­(Pierre), Aïssa Maïga (Chantal), Nathalie Richard (Mathilde), Blandine Lenoir (Marie).

FUNNY GAMES U.S. USA 2008 «Katz und Maus heisst das Spiel, das hier gespielt wird. Zum Wesen dieses Spiels gehört, dass die Maus eine Chance aufs Entkommen hat – nur dann hat die Katze ihren Spass. Wer genau aber hier die Katz und wer die Maus ist, darüber lässt sich im Fall von Michael Hanekes Funny Games U.S. mit guten Argumenten streiten. Der Film ist der wohl einmalige Fall, dass ein Regisseur ein Remake seines eigenen Werks verantwortet, das in Einstellungen und Schnitt mit dem Vorläufer weitgehend übereinstimmt. (…) Zur Erinnerung: Funny Games erzählte im Jahr 1997 von einer

Am Vorabend des Ersten Weltkrieges im protestantischen Dorf Eichwalde im Norden Deutschlands. Zu Beginn verunglückt der Arzt schwer, als sein Pferd über ein Seil stürzt, das über den Weg gespannt ist. An diese eine Tat reihen sich grauenvolle weitere, die allesamt ungeklärt bleiben. Der Lehrer, aus dessen Sicht erzählt wird, rekonstruiert und schildert das Leben in Eichwalde, das «in konzentrierter Form die Rückständigkeit, soziale Kälte und Grausamkeit zeigt, die unter dem Mantel des Wohlanständigen schlummern.» (Verena Nees, World Socialist Website, 31.12.2009) Haneke wollte einen Film machen über «die Perversion jedes möglichen Ideals durch seine Verabsolutierung. (…) Meine Filme können alle unter dem Oberbegriff ‹Bürgerkrieg› laufen, weil grosse Kriege und grosse Konflikte durch die ganz kleinen entstehen, durch die erlittenen Verletzungen.» «Allein wie er hier die bedrängenden Existenzschilderungen durch die verhaltene Liebesgeschichte des Lehrers mit dem Kindermädchen austariert oder die Kamera mit einer Handvoll Totalen den Wechsel der Jahreszeiten protokolliert, hebt Das weisse Band weit über vergleichbare


Michael Haneke. Produktionen hinaus. (…) Ein grossartiger, von einem absoluten Formwillen durchdrungener Film, der als visuell bestechendes Bilderbuch des ländlichen Lebens Anfang des 20. Jahrhunderts den Diskurs über diese Zeit und ihre Widersprüche bereichert und in einer Weise über preussisch-deutsche (Un-)Tugenden reflektiert, die ihresgleichen sucht.» (Josef Lederle, film-dienst, 21/2009) Das weisse Band wurde in Cannes 2009 mit der Goldenen Palme ausgezeichnet.

doch auch noch sein kann. Amour ist wieder einmal einer dieser Filme, die Massstäbe zurechtrücken. (…) Emmanuelle Riva und Jean-Louis Trintignant versammeln in ihren vermutlich letzten grossen Altersrollen noch einmal ihr ganzes, stupendes Können. Sie zeigen Grade der Selbstent­ äusserung bei gleichzeitiger souveräner Kontrolle auch unwillkürlichster Regungen und minimster Gefühlsnuancen, wie sie nur das Kino ermöglicht – dasjenige eines Michael Haneke.» (Christoph Egger, NZZ, 27.9.2012)

144 Min / sw / 35 mm / D // DREHBUCH UND REGIE Michael

125 Min / Farbe / DCP / F/d // DREHBUCH UND REGIE Michael

Haneke // KAMERA Christian Berger // SCHNITT Monika

Haneke // KAMERA Darius Khondji // MUSIK Franz Schubert,

Willi // MIT Christian Friedel (Lehrer), Leonie Benesch (Eva),

Ludwig van Beethoven, Johann Sebastian Bach // SCHNITT

Ulrich Tukur (Baron), Ursina Lardi (Marie-Louise, die Baro-

Monika Willi, Nadine Muse // MIT Jean-Louis Trintignant

nin), Burghart Klaussner (Pfarrer), Steffi Kühnert (Frau des

(Georges), Emmanuelle Riva (Anne), Isabelle Huppert (Eva),

Pfarrers), Rainer Bock (Arzt), Susanne Lothar (Hebamme),

Alexandre Tharaud (Alexandre), William Shimell (Geoff),

Fion Mutert (Sigi), Maria-Victoria Dragus (Klara), Thibault Sé-

Ramón Agirre (Hausmeister), Rita Blanco (Hausmeisterin).

rié (Gustl), Josef Bierbichler (Gutsverwalter).

AMOUR Frankreich /Deutschland /Österreich 2012 Georges und Anne sind um die 80, kultivierte Musikprofessoren im Ruhestand. Eines Tages hat Anne einen Anfall – der Beginn einer Bewährungsprobe für ihre Liebe. «Von Zeit zu Zeit braucht unser ästhetischer Apparat eine Neukalibrierung. Etwas, das uns daran erinnert, was – in unserm Fall – Filmkunst

> Das weisse Band.

Michael Hanekes Code inconnu (2000) läuft vom 24. bis 26. Juni im Xenix im Rahmen der JulietteBinoche-Reihe.

13



15 Jane Campion

Konfliktzonen zwischen Herz und Verstand Die Frage nach authentischer weiblicher Identität steht im Zentrum des Schaffens der Neuseeländerin Jane Campion – sei dies in The Piano, der ihr 1993 den Durchbruch brachte, oder in der Literaturverfilmung The Portrait of a Lady. Campion interessiert sich für die Dilemmas, die sich aus dem weiblichen Begehren ergeben. Simple Antworten darauf sind bei ihr nicht zu erwarten. Entschlossen stapft das kleine, rundliche Mädchen den Feldweg entlang, sein feuerroter Lockenschopf leuchtet vor den grasgrünen Hügeln. Immer näher kommt es, frontal auf die Kamera zu, bis es dicht vor uns stehen bleibt. Mit einem neugierigen und zugleich skeptischen Blick taxiert es uns einen Mo­ ment stumm, bevor es sich abrupt abwendet und davonrennt – den Weg, den es gekommen ist, wer weiss wohin. Diese kurze Szene aus An Angel at My Table birgt die Essenz des Werks von Jane Campion. Die Unangepasstheit der Hauptfigur, die aus der Umge­ bung hervorsticht, nicht ins gängige Schema weiblicher Lebensentwürfe passt und sich dickköpfig ihren eigenen Weg sucht, ist genauso wiederkehrendes Motiv wie die widerborstige Kontaktnahme der Figur mit dem Publikum: Bei allem Mitgefühl, das wir für sie haben, bleiben uns Campions Heldinnen letztlich immer auch etwas fremd und rätselhaft. Sie scheinen uns einen Spie­ gel vorzuhalten, sodass wir nicht nur sie, sondern auch uns selbst beobachten: Wie reagieren wir? Welche Gefühle kommen hoch? Wie viel verstehen wir? Jenseits der glatten, rational begreifbaren, manchmal wie auf dem Reissbrett konstruierten Figuren im Mainstreamfilm nimmt uns Campion mit auf eine Reise in unbekannte Gefilde. Manchmal ist diese Reise verwirrend, und viel­ leicht polarisiert ihr Werk deshalb so oft. Konsequent den eigenen Weg gehen Jane Campion wurde 1954 in Neuseeland in eine Theaterfamilie geboren. Entschlossen, etwas ganz anderes zu machen, studierte sie zunächst Anthro­

>

(Sehr) ungleiches Schwesternpaar: Geneviève Lemon (links) und Karen Colston in Campions erstem langen Kinofilm Sweetie

<

Wenn die Erfahrung der Liebe das Weltbild verwandelt: Der Dichter John Keats (Ben Whishaw) und seine Geliebte Fanny Brawne (Abbie Cornish) in Bright Star


16 pologie und anschliessend in London Malerei, bevor sie zu Beginn der achtzi­ ger Jahre in Australien eine Filmausbildung absolvierte. Schon für ihre frühen Kurzfilme erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen, 1987 realisierte sie für das australische Fernsehen Two Friends. 1989 drehte sie ihren ersten Kinofilm Sweetie. Und bereits mit ihrem dritten erreichte sie den Gipfel des Erfolgs und internationalen Durchbruch: eine Palme d’Or 1993 in Cannes für The Piano, der ihr bekanntester Film geblieben ist. Trotz Angeboten aus Hollywood hat sie sich bis heute konsequent dem Mainstreamkino entzogen und gilt als Film­ autorin, die dem Geist des europäischen Arthouse nah ist. Im Zentrum ihrer Filme stehen die Frage nach authentischer weiblicher Identität und autonomer Lebensgestaltung, die Auseinandersetzung mit der Körperlichkeit, das Streben nach Selbstausdruck und eigener Ästhetik. Cam­ pions Werk jedoch als angewandten Feminismus und ihre Heldinnen im gän­ gigen Jargon als «starke Frauen» zu kategorisieren, wäre zu einfach, denn zu komplex sind die Welten, die sie in ihren Filmen entwirft. Ja, es geht um Ge­ schlechterpolitik: Frauenrollen, Rollenbilder und die Macht der (manchmal, aber nicht immer weiblichen) Sexualität bilden Dreh- und Angelpunkte jedes ihrer Filme. Doch liegt Campion weder etwas an einer weiblichen Opferhal­ tung noch an einer Anklage; viel eher interessieren sie die Dilemmas, die aus dem weiblichen Begehren erwachsen, und die Erkenntnisse und Lösungen, die daraus folgen. Wie Isabel Archer, der Hauptfigur von The Portrait of a Lady, wird auch Frannie Avery in In the Cut ihre romantische Leidenschaft zum Ver­ hängnis: Während Isabel den Verehrer, der sie auf Händen tragen würde, ab­ weist, an seiner Stelle einen Egomanen heiratet und daran leidet, beginnt Frannie eine von Angstlust geprägte Affäre mit einem Polizisten – der viel­ leicht auch ein Mörder ist, was Frannies ambivalente Faszination noch stei­ gert. Den romantischen Impuls, so Campion in einem viel zitierten Interview, besässen wir alle, doch ihn auszuleben sei jeweils nur für kurze Zeit möglich und sinnvoll. Es zu tun sei heroisch, beweise grossen Mut, könne aber auch gefährlich und unvernünftig sein. Der Konflikt zwischen Herz und Verstand, der Moment, wenn das in­ nere Koordinatensystem versagt: Vielleicht am direktesten thematisiert Cam­ pion dies in Holy Smoke. Ihre auf einer Indienreise neugefundene Spirituali­ tät soll Ruth mit Hilfe eines Fachmanns ausgetrieben werden, doch dabei beginnen bei beiden die sorgfältig aufgebauten Glaubenssysteme zu bröckeln. Was geschieht, nachdem sich die Gewissheiten aufgelöst haben? Die emotio­ nale Desorientierung ist deshalb so spannend, weil sie Erkenntnisse bringt. Der Weg zur Selbstfindung führt unweigerlich übers Herz, über unsere zwi­ schenmenschlichen Beziehungen, die das Zentrum des Lebens bilden. Erst sie zeigen uns, wer wir sind. So findet die introvertierte Kay in Sweetie erst zu ei­ nem Leben, in dem ihr wohl ist, durch die Konfrontation mit ihrer Schwester,


17 die ihr pures Gegenteil darstellt. Und in Bright Star verwandelt die Erfahrung der Liebe das ganze Weltbild des Dichters John Keats und seiner Geliebten Fanny Brawne. Melodramen, generalüberholt Campion unterzieht das Melodrama, das als klassisches Frauengenre gilt, ­einer Generalüberholung, indem sie es um das Prinzip Selbstverantwortung erweitert und diesen Aspekt zum eigentlichen Motor der Geschichten werden lässt. Nicht die verschlungenen Pfade des Schicksals und das Erleiden seiner harten Schläge bilden den Kern des Interesses, sondern die Frage, wie wir uns unser Schicksal, bewusst oder unbewusst, selbst einbrocken – und was wir dann damit anfangen. Das Befremdende der Hauptfiguren wird unterstrichen durch das «cas­ ting against type», die Besetzung mit Schauspielerinnen, deren künstlerisches Image bewusst im Widerspruch zur Rolle steht. Meg Ryan, die vor In the Cut meist in romantischen Komödien das liebenswerte, sonnige Mädchen von nebenan verkörperte, spielt hier eine zynische Mittdreissigerin, die einer ­ dunklen erotischen Obsession nachgibt. Nicole Kidmans unglücklich verhei­ ratete, gedemütigte Isabel Archer steht in starkem Kontrast zur Reihe der selbstbewussten, strahlenden Heldinnen, die den Anfang ihrer internationa­ len Karriere prägten. Und Holly Hunter war vor ihrer Rolle als introvertierte Stumme in The Piano als ungehemmt quasselnde, schlagfertige Fernsehpro­ duzentin in der Hollywood-Komödie Broadcast News bekannt geworden. Ebenso querköpfig wie ihre Heldinnen ist Campion in ihren ästheti­ schen Entscheidungen, mit einer bestechend sorgfältigen Farbwahl als selbst­ verständlichem Gestaltungselement. Ihre Kamera hat einen eigenwilligen Blick, das Spannende geschieht oft nicht im Zentrum des Bildes, sondern am Rand. Unschärfen und eigentlich unwichtige Detailaufnahmen lenken uns für Momente ab: Das überlaute Klingen des Löffels am Tassenrand, das Summen einer Fliege, das Stickmotiv eines Kissens. Manchmal schaut die Kamera aus ungewohnter Perspektive – von der Decke herab, unter dem Bett hervor, aus Kinderaugenhöhe –, oder sie nimmt Schräglage ein, als Entsprechung für das Schlingern, in das die Figuren geraten. So entsteht ein haptisches, texturiertes Kino, das anregt, die Welt mit allen Sinnen zu erfahren. Gleichzeitig fordert es auf, genau hinzusehen. Denn, so führt uns Campion vor: Die Dinge sind oft nicht, was sie auf den ersten Blick scheinen. Natalie Böhler

Natalie Böhler ist Lehrbeauftragte am Seminar für Filmwissenschaft der Universität Zürich mit Spezialgebiet Kino in Südostasien und World Cinema. Sie hat ihre Lizentiatsarbeit zum Werk von Jane Campion verfasst.


> Holy Smoke.

> In the Cut.

> The Piano.

> The Portrait of a Lady.


19

Jane Campion.

AN EXERCISE IN DISCIPLINE – PEEL Australien 1982 Vater, Sohn und die Schwester des Vaters fahren mit dem Auto nach Hause. Aber ein Streit um eine Orangenschale droht die simple Unternehmung zum Scheitern zu bringen. Bereits mit ihrem ersten Kurzfilm gewann Jane Campion 1982 eine Palme d’Or in Cannes.

erwarteten, überraschenden Einsichten ein Stück näherkommt. Worum es geht, ist in Two Friends bald schon klar. Die «Überraschungen» bestehen vielmehr darin, dass wir mehr über die Figuren und die Beweggründe ihrer Reaktionen erfahren. (pm) 78 Min / Farbe / Digital SD / E/e // REGIE Jane Campion // DREHBUCH Helen Garner // KAMERA Julian Penney // ­MUSIK Martin Armiger // SCHNITT Bill Russo // MIT Emma Coles (Louise), Kris Bidenko (Kelly), Kris McQuade (Janet,

9 Min / Farbe / Digital HD / E/d // DREHBUCH UND REGIE

Louises Mutter), Debra May (Chris, Kellys Mutter), Peter

Jane Campion // KAMERA Sally Bongers // SCHNITT

­Hehir (Malcolm), Kerry Dwyer (Alison), Stephen Leeder (Jim),

Jane Campion // MIT Tim Pye (Bruder/Vater), Katie Pye

Sean Travers (Matthew), Emily Stocker (Soula).

(Schwester/Tante), Ben Martin (Sohn/Neffe).

SWEETIE A GIRL’S OWN STORY Australien 1984 «Die Beatlemania ist auf dem Höhepunkt, und Pams Sexualität erwacht. Während sie und ihre Freundinnen anfangen, das Geschlechtsleben zu erforschen, lauern im Hintergrund stets lüsterne Männer, und auch die Familie entkommt den Anspannungen des sexuellen Verlangens nicht. A Girl’s Own Story ist einer der Kurzfilme, die Jane Campion während ihrer Ausbildung an der ‹Australian Film, Television and Radio School› drehte. Bereits hier etabliert sie ihren eigenen visuellen Stil, der das Gewöhnliche und Banale mit einem düsteren Sinn für Surreales ausschmückt.» (www.cinema16.org) 27 Min / sw / Digital HD / E/d // DREHBUCH UND REGIE Jane Campion // KAMERA Sally Bongers // SCHNITT Christopher Lancaster // MIT Gabrielle Shornegg (Pam), Geraldine Haywood (Stella), Marina Knight (Gloria), John Godden (Graeme), Joanne Gabbe (Schwester), Colleen Fitzpatrick (Mutter), Paul Chubb (Vater), Jane Edwards (Deirdre), Katharine Cullen (Little Pam).

TWO FRIENDS Australien 1987 Jane Campions erster Langfilm, für das australische Fernsehen gedreht, wurde in Cannes in der Sektion «Un certain regard» gezeigt. Erzählt wird die Geschichte von Louise und Kelly, die – einst beste Freundinnen – sich als Heranwachsende langsam auseinanderleben. Das Herausragende an diesem Film ist seine Struktur, die die Handlung chronologisch rückwärts präsentiert. Dahinter verbirgt sich kein dunkles Geheimnis, dem man à la Memento am Ende jeder Sequenz mit un-

Australien 1989 Introvertiert die eine, exzentrisch die andere – unterschiedlicher könnten die beiden Schwestern Kay und Dawn, Letztere auch Sweetie genannt, kaum sein. Die unscheinbare Kay, die seltsam verloren auf dieser Welt wirkt, hat sich ein geordnetes, wenn auch leeres und ereignisloses (Beziehungs-)Leben eingerichtet, in dem sie Halt findet. So lange zumindest, bis ihre überdrehte, impulsive und alles andere als süsse Schwester darin einbricht – und mit ihr das Chaos. In ihrem ersten Kinofilm Sweetie, wie ein Jahr später «in An Angel at My Table, verwendet Jane Campion als Hintergrund die Biografie eines Mädchens, das sich aus den Fesseln einer ­zerstörerischen Vergangenheit, drückender Minderwertigkeitskomplexe und allmächtiger Autoritäten zu befreien sucht. Dass dabei nicht ­tränenreiche Sozialkritik und pädagogische Besserwisserei im Vordergrund stehen, sondern die ungefilterte Perspektive einer heranwachsenden Frau ins Zentrum gerückt wird, verleiht den Filmen von Jane Campion eine fast zeitlose Grazie und rückt das Ganze in die Nähe einer märchenhaften Chronik des Alltags. (...) In Campions Händen, durch ihren Blick, wandelt sich Alltägliches in ein zum Teil höchst bizarres Bild der Gesellschaft, wo von der viel beschworenen Familiengeborgenheit nicht viel übrig bleibt.» (Benedikt Eppenberger, Berner Tagwacht, 30.12.1992) 97 Min / Farbe / 35 mm / E/d // REGIE Jane Campion // DREHBUCH Gerard Lee, Jane Campion // KAMERA Sally Bongers // MUSIK Martin Armiger // SCHNITT Veronika Jenet // MIT Geneviève Lemon (Dawn «Sweetie»), Karen Colston (Kay), Tom Lycos (Louis), Jon Darling (Gordon), Dorothy Barry (Flo), Michael Lake (Bob), Andre Pataczek (Clayton), Jean Hadgraft (Mrs. Schneller), Paul Livingston (Teddy Schneller), Louise Fox (Cheryl), Ann Merchant (Paula), Robyn Frank (Ruth).


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Jane Campion.

AN ANGEL AT MY TABLE Neuseeland/Australien/GB 1990 Die Verfilmung der dreiteiligen Autobiografie der neuseeländischen Dichterin Janet Frame schildert den schmerzhaften Weg des Erwachsenwerdens einer Frau, die sich schon früh als Aussenseiterin begreifen musste. Behutsam werden kleine Tragödien einer schwierigen Kindheit aneinandergereiht – immer auch mit dem Blick für die absurde Komik, die sich im Alltag verbirgt. Ein Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik nimmt ein Ende, als Frame zu schreiben beginnt. «Die Kraft und den Mut, mit denen diese Frau ums Überleben gekämpft hat, habe ich in ihren ganzen Ausmassen erst bei den Filmarbeiten erkannt (...). Es ist für mich ein faszinierender Gedanke, dass man sich der Todesbedrohung zum Trotz ins Leben hineinschreiben kann.» (Jane Campion) «Eines der vielen bemerkenswerten Elemente in diesem schönen Film betrifft die Art und Weise, in der die Figuren, obwohl sie alle auf realen Menschen basieren (...), aus anderen Filmen von Jane Campion hervorzutreten scheinen. Sie haben die gleichen süssen Ticks und die gleichen sexuellen und emotionalen ‹Hang-ups› wie die Figuren in Sweetie (...). Vor allem aber ist dieser eigentlich schmerzhafte und quälende Film durchtränkt mit sanftem Humor und grossem Mitgefühl, die alle Figuren (selbst die abstossenden) lebendig machen. Der Film, der nicht weniger als 140 Sprechrollen hat, ist perfekt besetzt, und Kerry Fox’ schauspielerische Leistung in der Rolle der erwachsenen Janet bemerkenswert.» (Strat., Variety, 20.6.1990)

tes Klavier aus, das mit im Gepäck ist. Aufgrund des aufwändigen Weitertransports verkauft Stewart das Instrument jedoch an seinen Bekannten Baines. Dieser lässt Ada für Klavierstunden zu sich kommen und unterbreitet ihr ein Angebot, wie sie sich ihr Instrument Taste für Taste zurückerobern kann. «In grandiosen (Sinn-)Bildern erzählte Parabel über die Selbstbefreiung und -findung einer Frau durch eine verbotene Liebesbeziehung.» (Lexikon des int. Films) «Insbesondere dank seiner Darsteller und der Filmmusik von Michael Nyman ist Jane Campions Gothic Romance aussergewöhnlich. Der Film verleiht der traditionellen Liebesgeschichte einen frischen Wind. Die Charaktere sind starrköpfig und introvertiert – und Campions Verweigerung von Gefühlskitsch lässt diese raue Obsessionsgeschichte so bewegend werden. Nie unterschätzt sie die Kraft, die physische Besessenheit auf die menschliche Seele ausüben kann, und erotische Leidenschaft wird für einmal mit viel Ehrlichkeit thematisiert.» (Geoff Andrew, Time Out Film Guide) Jane Campion gewann als erste Frau in Cannes die Goldene Palme; 1994 wurde sie in der Sparte Regie für den Oscar nominiert, die Trophäe erhielt sie für das beste Drehbuch. Oscars gingen auch an Holly Hunter und Anna Paquin als beste Haupt- resp. Nebendarstellerin. 120 Min / Farbe / 35 mm / E/d/f // DREHBUCH UND REGIE Jane Campion // KAMERA Stuart Dryburgh // MUSIK Michael Nyman // SCHNITT Veronika Jenet // MIT Holly Hunter (Ada McGrath), Harvey Keitel (George Baines), Sam Neill (Alisdair Stewart), Anna Paquin (Flora McGrath), Kerry Walker (Tante Morag), Geneviève Lemon (Nessie), Tungia Baker (Hira), Ian

158 Min / Farbe / 35 mm / E/d/f // REGIE Jane Campion //

Mune (Pfarrer), Peter Dennett (Oberster Seemann), Te Wha-

DREHBUCH Laura Jones, nach der dreiteiligen Autobiografie

tanui Skipwith (Häuptling Nihe), Cliff Curtis (Mana).

von Janet Frame // KAMERA Stuart Dryburgh // MUSIK Don McGlashan // SCHNITT Veronica Jenet // MIT Kerry Fox (Janet Frame), Alexia Keogh (Janet als Jugendliche), Karen Fergusson (Janet als Kind), Jessie Mune (Janet als Kleinkind), Iris Churn (Mutter), Kevin J. Wilson (Vater), Mark Morrison (Bruder Bruddie als Kind), Christopher Lawrence (Bruder Bruddie als Jugendlicher), Sarah Llewellyn (Schwester June als Kind), Susan McGregor (Schwester June als Jugendliche), Melina Bernecker (Myrtle), Karla Smith (Sybil).

THE PIANO Australien /Neuseeland /Frankreich 1993 Mitte des 19. Jahrhunderts: Ada reist mit ihrer Tochter nach Neuseeland, um eine arrangierte Ehe mit dem Briten Alisdair Stewart einzugehen. Seit ihrem sechsten Lebensjahr drückt sich die stumme Ada durch Handzeichen oder ihr gelieb-

THE PORTRAIT OF A LADY GB/USA 1996 «Drei Jahre nach ihrem Grosserfolg mit The Piano legt Jane Campion mit ihrer Verfilmung von Henry James’ gleichnamigem Roman wiederum ein bildgewaltiges Drama um eine Frau vor, die sich in den gesellschaftlichen Zwängen ihrer Zeit verstrickt. Die Amerikanerin Isabel Archer erlaubt sich bei einem Europabesuch den Affront, ihre Verehrer abblitzen zu lassen. Stattdessen fällt sie während einer Italienreise auf ein Komplott des Blenders Osmond herein und heiratet ihn. Die Ehe mit dem Despoten ist ein einziges Martyrium. Erst nach Jahren erfährt Isabel die wahren Hintergründe ihrer Beziehung. Bei ihrer Rache sind ihre alten Verehrer zur Stelle, um sie


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Jane Campion. zu unterstützen.» (Programm Kino Kunstmuseum Bern/Kellerkino, Feb. 2013) «Wer sich für Henry James interessiert, muss diesen Film gesehen haben. Er ist nicht eigentlich eine Adaptation, sondern vielmehr eine Interpretation. Er zeigt uns Isabel aus einer neuen Perspektive. Und er ist gut gespielt. Nicole Kidman hat die Haltung und die Eigenschaften einer intelligenten jungen Amerikanerin. Nur John Malkovich scheint falsch zu sein: Es bräuchte einen Osmond, der auf den ersten Blick würdiger erscheint.» (Roger Ebert, Chicago Sun-Times, 17.1.1997)

Jenet // MIT Kate Winslet (Ruth Barron), Harvey Keitel

144 Min / Farbe / 35 mm / E/d/f // REGIE Jane Campion //

Die New Yorker Literaturwissenschaftlerin Frannie wird im Keller einer Bar zufällig Zeugin eines Blowjobs. Am folgenden Tag findet man die Leiche der Frau, die den Liebesdienst verrichtet hat, unter Frannies Fenster. Kurz darauf beginnt Frannie mit Detective Malloy, der auf den Spuren eines Frauenmörders ermittelt, eine leidenschaftliche «Amour fou». «Die Leichtigkeit und Helligkeit des Tages und die schmutzige, düstere Nacht sind im neuen Film von Jane Campion unvereinbare Pole. Es geht im erotischen Thriller, den die Neuseeländerin nach dem Skandalroman ‹In the Cut› von Susanna Moore gedreht hat, um das von Brutalität geprägte Verhältnis zwischen Mann und Frau. Mit fliessender Kamera fängt Campion die Singleexistenz ihrer Protagonistin in New York ein, die (...) in einen Strudel der Gewalt und in eine ambivalente Liebesbeziehung zum untersuchenden Detektiv gerät. (...) Wie Campion weibliches Begehren zwischen Liebessehnsucht und Hunger nach Sex, zwischen romantischem Traum und kalter Realität umsetzt, das ist herausragendes Kino. Die Wucht des Thrillers, der gegenüber der literarischen Vorlage insgesamt weniger schmuddelig, schlampig und pornografisch daherkommt (und das Genrestück stattdessen verdichtet und um poetische Momente bereichert), beruht sowohl auf einer aussergewöhnlichen Besetzung wie auf einer ausgeklügelten Spannungsdramaturgie.» (Nicole Hess, Tages-Anzeiger, 4.2.2004)

DREHBUCH Laura Jones, nach dem Roman von Henry James // KAMERA Stuart Dryburgh // MUSIK Wojciech Kilar // SCHNITT Veronika Jenet // MIT Nicole Kidman (Isabel ­Archer), John Malkovich (Gilbert Osmond), Barbara Hershey (Madame Serena Merle), Mary-Louise Parker (Henrietta Stackpole), Martin Donovan (Ralph Touchett), John Gielgud (Mr. Touchett), Shelley Winters (Mrs. Touchett), Valentina Cervi (Pansy Osmond), Richard E. Grant (Lord Warburton), Shelley Duvall (Gräfin Gemini), Christian Bale (Edward ­Rosier), Viggo Mortensen (Caspar Goodwood).

HOLY SMOKE USA/Australien 1999 Ruth Barron gerät bei einer Indienreise in den Bann eines Gurus. Mit einer Finte wird sie zurück in ihre Heimat gelockt und dem Sektenspezialisten PJ Waters anvertraut. Dieser bringt Ruth in eine abgelegene Hütte in der australischen Wüste, wo sie ein drei Schritte umfassendes Programm wieder auf den rechten Weg bringen soll. Die junge Frau zeigt sich dem Umprogrammierer jedoch mehr als gewachsen und definiert die Machtverhältnisse neu. «Holy Smoke ist geprägt von einer riesigen, manchmal schier überbordenden Fabulierlust. Von Zwischentiteln über Zeitrafferaufnahmen bis zu künstlich überhöhten Kitschbildern wie jener Einstellung, in der bunte Schmetterlinge aus Kate Winslets Kopf fliegen, werden verschiedenste Gestaltungsmittel eingesetzt. (...) Holy Smoke gehört zu jenen Filmen, in denen es Sprünge und Brüche gibt und die gerade deswegen ungleich spannender und berührender sind als manches in sich geschlossene, aber kalt und abweisend wirkende Kinokunstwerk.» (Andreas Berger, Der Bund, 10.6.2000)

(PJ Waters), Pam Grier (Carol), Julie Hamilton (Miriam Barron, Mutter), Tim Robertson (Gilbert Barron, Vater), Sophie Lee (Yvonne Barron), Daniel Wyllie (Robbie Barron), Paul Goddard (Tim Barron), Kerry Walker (Tante Puss), George Mangos (Yani), Leslie Dayman (Bill-Bill), Dhritiman Chatterjee (Guru Baba).

IN THE CUT Australien/USA/GB 2003

119 Min / Farbe / 35 mm / E/d/f // REGIE Jane Campion // DREHBUCH Jane Campion, Susanna Moore, nach dem Roman von Susanna Moore // KAMERA Dion Beebe // MUSIK Hilmar Örn Hilmarsson // SCHNITT Alexandre de Franceschi // MIT Meg Ryan (Frannie Avery), Jennifer Jason Leigh (Pauline, Frannies Schwester), Mark Ruffalo (Det. Giovanni A. Malloy), Nick Damici (Det. Richard Rodriguez), Micheal Nuccio (Frannies Vater), Allison Nega (Vaters Verlobte), Patrice O’Neal (Hector), Sharrieff Pugh (Cornelius), Kevin Bacon (John Graham, ungenannt).

115 Min / Farbe / 35 mm / E/d/f // REGIE Jane Campion // DREHBUCH Anna Campion, Jane Campion // KAMERA Dion Beebe // MUSIK Angelo Badalamenti // SCHNITT Veronika


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Jane Campion.

BRIGHT STAR GB/Australien/Frankreich 2009 «Die Regisseurin widmet sich in Bright Star einer grossen Liebesgeschichte und erzählt in ebenso zarten wie poetischen Bildern die durch einen bewegenden Briefwechsel sowie zahlreiche Gedichte dokumentierte Romanze zwischen dem ­romantischen Dichter John Keats und der Schneiderin Fanny im England des frühen 19. Jahrhunderts.» (Programm Kino Kunstmuseum Bern/ Kellerkino, Feb. 2013) «Wie jede Jane-Austen-Verfilmung aus diesem Zeitraum betreibt auch Campion ein doppelbödiges Spiel. Einerseits stellt sie die Absicht aus, das historische Muster sichtbar machen zu wollen, das unser romantisches Ideal ja bis heute prägt. Andererseits legen ihre Darsteller durchaus ‹moderne› Attitüden und Gefühle an den Tag. So spielt die Australierin Abbie Cornish die junge Schneiderin Fanny mit so viel Unabhängigkeit und Eigensinn, dass man wenig mehr als ihre Frisur ändern müsste, um sie als Modedesignerin im ‹Lipstick Jungle› auftreten zu lassen. Und Ben Whishaw gibt den Poeten Keats quasi als Essenz

> Bright Star.

des Rockmusikertums – ungeschliffen, aber zartfühlend, die Mängel im männlichen Erscheinungsbild – Keats war klein und schmächtig – durch Grösse und Kraft des Talents aufwiegend.» (Barbara Schweizerhof, Die Welt, 24.12.2009) 119 Min / Farbe / 35 mm / E/d // REGIE Jane Campion // DREHBUCH Jane Campion, nach der Biografie «Keats» von Andrew Motion // KAMERA Greig Fraser // MUSIK Mark Bradshaw // SCHNITT Alexandre de Franceschi // MIT Abbie Cornish (Fanny Brawne), Ben Whishaw (John Keats), Paul Schneider (Mr. Brown), Kerry Fox (Mrs. Brawne), Edie Martin (Margaret Toots Brawne), Thomas Brodie-Sangster (Samuel Brawne), Claudie Blakley (Maria Dilke), Gerard Monaco (Charles Dilke), Antonia Campbell-Hughes (Abigail), Theresa Watson (Charlotte), Samuel Roukin (Reynolds), Lucinda ­Raikes (Reynolds’ Schwester).

Für diese Filmreihe konnten wir auf die Vorarbeit des Kino Kunstmuseum Bern zurückgreifen. Wir bedanken uns für die gute Zusammenarbeit!


23 Filmfest Afrika

Voller Hoffnungen Im November 2012 präsentierte das Filmpodium mit dem «Arab Film Festival» aktuelles Filmschaffen aus dem arabischen Sprachraum, nun wird ein Akzent auf das Afrika südlich der Sahara gelegt. Ein Tag ist Mali und dem Altmeister Souleymane Cissé gewidmet. Zu den Premieren gehören der vor Lebensenergie sprühende Nairobi Half Life von David «Tosh» Gitonga und der soeben am Festival in Ouagadougou ausgezeichnete Virgem Margarida von Licínio Azevedo aus Moçambique. Das Kino im Afrika der Subsahara durchlebt eine Phase der grossen Gegen­ sätze. Zum einen existiert das Filmschaffen in Nigeria, das mit rund 1000 Ti­ teln pro Jahr in den letzten Statistiken noch vor den USA und hinter Indien den zweiten Rang unter den Filmnationen belegt und andere Länder motiviert hat, das Konzept vom schnell produzierten und rasch unter die Leute ge­ brachten Film zu kopieren. Andererseits aber kämpfen die Produktionsfirmen in Ländern, in denen vor wenigen Jahren noch regelmässig Filme entstanden, mit grossen Schwierigkeiten, Mittel zu finden und so etwas wie ein Filmschaf­ fen aufrechtzuerhalten. Filme aus Burkina Faso oder Senegal, wo sich ein Autorenkino entwi­ ckelt hatte, sind auf Festivals rar geworden. Heute können selbst prägende Fi­ guren wie Souleymane Cissé (*1940) nur noch fürs Fernsehen produzieren. Seine Heimat Mali hat in den letzten Monaten beängstigende Momente erlebt und erfahren müssen, wie rasch Kulturgüter und Freiheiten Opfer von Fun­ damentalismen werden. Je chanterai pour toi von Jacques Sarasin ist eine Reise in Cissés Land und in die Musik von Boubacar Traoré, der gleich alt ist wie der Regisseur von Baara und Yeelen. Yeelen hat dem afrikanischen Kino in den 1980er Jahren zu Anerkennung im Norden verholfen und besticht heute noch mit seinem visuellen Reichtum. Neben diesen Reprisen aus Mali stehen Premieren auf dem Programm. Moussa Touré aus dem Senegal, der Regisseur des legendären Roadmovies TGV, blickt in La pirogue ins Boot einer Gruppe von Menschen, die sich für den Traum vom besseren Leben in Europa aufs Wasser begeben. Licínio Azevedo, der grosse Dokumentarist aus Moçambique, hat mit Virgem ­ ­Margarida seinen Spielfilmerstling gedreht über die Zeit, in der das Land un­ abhängig wurde. Anhand einer Gruppe Prostituierter zeigt er, dass das mit der Freiheit auch gelernt sein will. In Alain Gomis’ Aujourd’hui hat die Haupt­ figur nur noch einen Tag zu leben und nimmt Abschied in der halben Stadt: Stell Dir vor, heute ist dein letzter Tag. Einen Blick aus der Schweiz auf das Leben in Ghana wirft der Filmemacher Bruno Moll: Er hat Ebenezer Mireku


> Yeelen.

> Baara.

> Je chanterai pour toi .


25 besucht, der in der Schweiz studiert hatte und sein Wissen in seiner Heimat umsetzen will, vor allem seinen grossen Traum, die Eisenbahn wieder in Fahrt zu bringen. Aus Kenia schliesslich gibt es zwei Beispiele eines jugendlichen Kinos zu entdecken, das eine überzeugende Verbindung schafft zwischen dem populä­ ren Filmschaffen nach nigerianischer Art und dem anspruchsvolleren Auto­ renfilm. Nairobi Half Life von David «Tosh» Gitonga und Something Necessary von Judy Kibinge sind im Rahmen eines Projektes entstanden, das der deutsche Filmemacher Tom Tykwer mit seiner Frau Marie Steinmann auf die Beine gestellt hat und das junge Talente in Kenia fördert – erfolgreich, wie man anhand der beiden Filme sehen kann. Gitonga wird im Publikumsge­ spräch mehr erzählen können über seine Erfahrungen und darüber, was es heute heisst, in Afrika Filme zu machen. Walter Ruggle

Walter Ruggle war Filmjournalist und Kulturredaktor, u. a. beim Tages-Anzeiger, und leitet seit 1999 den Filmverleih trigon-film.

FILMFEST AFRIKA YEELEN

FILMGESPRÄCHE

FR, 31. MAI | 20.45 UHR

Afrika-Journalist Ruedi Küng befragt Altmeister Souleymane Cissé zu seinem Schaffen und zur aktuellen Situation in Mali. NAIROBI HALF LIFE

SA, 1. JUNI | 20.45 UHR

Regisseur David «Tosh» Gitonga gibt Auskunft zu seinem Film und zur Arbeitsweise der Produktionsgemeinschaft One Fine Day Films in Kenia. APÉRO IM KINOFOYER TAKE OFF

SO, 2. JUNI | AB 17.15 UHR SO, 2. JUNI | 18.15 UHR

Der Filmemacher Bruno Moll und sein Protagonist Ebenezer Mireku berichten über die Entwicklung des ehrgeizigen Eisenbahnprojekts in Ghana. Für die grosszügige Unterstützung und Hilfe danken wir:


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Filmfest Afrika.

BAARA Mali 1978 Die Geschichte des jungen Lastenträgers Diarra, der vom Land in die Hauptstadt Bamako zieht und dort Freundschaft mit dem Ingenieur Traoré schliesst. Traoré verschafft seinem Freund eine Anstellung in der Fabrik, in der er selbst leitender Angestellter ist. Er setzt sich für die Mitwirkung der Arbeiter an wichtigen Entscheidungsprozessen ein. Zur Eskalation kommt es, als Traoré sich bei einem Streit zwischen Diarra und seinem Chef auf die Seite seines Freundes stellt. «Mit dem Ingenieur Balla Traoré schuf Souleymane Cissé eine Symbolfigur für eine ganze Generation kritischer Intellektueller, die mit viel Engagement versuchten, im postkolonialen Afrika eine gerechte Gesellschaft aufzubauen.» ­(AfricAvenir International e.V., Berlin 2011) «Baara ist das Wort für manuelle und geistige Arbeit. Heute setzt sich der afrikanische Film nicht mehr mit den Weissen auseinander, sondern mit den Mechanismen in der eigenen arbeitenden Bevölkerung und ihren Beziehungen zu den eigenen Ausbeutern, der eigenen Elite.» (Elsbeth Prisi, Zoom-Filmberater, 1/1980) 93 Min / Farbe / 35 mm / OV/d/f // DREHBUCH UND REGIE Souleymane Cissé // KAMERA Etienne Carton de Grammont, Abdoulaye Sidibé // MUSIK Lamine Konté // SCHNITT Andrée Davanture // MIT Baba Niaré (Balla Diarra, Lastenträger), Boubacar Keïta (Balla Traoré, Ingenieur), Oumou Diarra (seine Frau), Balla Moussa Keïta (Makan Sissoko, Direktor), Oumou Koné (seine Frau), Ismaïla Sarr (Thiécoura).

YEELEN Mali/Frankreich 1987

inneren Befindlichkeiten der Protagonisten korrespondieren, machen Yeelen zu einem aussergewöhnlichen visuellen Erlebnis, seine kraftvolle Ruhe transportiert eine ansprechende Spiritualität.» (Marie Anderson, Kino-Zeit.de, 17.6.2010) 106 Min / Farbe / 35 mm / OV/d/f // DREHBUCH UND REGIE Souleymane Cissé // KAMERA Jean Noël Ferragut, Jean Michel Humeau // MUSIK Michel Portal // SCHNITT Dounamba Coulibaly, Andrée Davanture // MIT Issiaka Kané (Nianankoro, der Sohn), Aoua Sangaré (die Peul-Frau), Niamanto ­Sanogo (Soma, der Vater), Soumba Traoré (die Mutter).

JE CHANTERAI POUR TOI (African Blues) Mali/Frankreich 2002

Mit dem Star des afrikanischen Blues Boubacar Traoré kehren wir zurück zu seinen Wurzeln in Mali, folgen seinen Lebensstationen quer durchs Land und erfahren, was diesen grossen Musiker und seine Lieder geprägt hat. «In den sechziger Jahren lauschten die Menschen in Mali jeden Morgen seiner melancho­ lischen Stimme im Radio. Er sang von der Unabhängigkeit seines Landes und ermutigte seine Landsleute zurückzukehren, um die Heimat wieder aufzubauen. ‹KarKar› nannten sie ihn, ­ ‹schwarze Jacke›, und jeder Malinese seiner Generation erinnert sich daran, zu seinen Hits ‹Mali Twist› und ‹Kayes-Ba› getanzt zu haben. Mit dem frühen Tod seiner geliebten Frau Pierrette änderten sich sein Leben und seine Musik. Der frühere afrikanische Elvis erfand für sich in sehr persönlichen Liedern den African Blues.» (Programmheft 17. Int. Dokumentarfilmfestival München 2002) 79 Min / Farbe / 35 mm / OV/d/f // DREHBUCH UND REGIE Jacques Sarasin // KAMERA Stéphan Oriach // MUSIK Bou-

«Der junge Nianankoro steht am Übergang zum Erwachsensein. Er sollte nach den Regeln der Komo-Gesellschaft mit den Fähigkeiten vertraut gemacht werden, die es ihm erlauben, die ihn umgebenden Kräfte zu beherrschen. Sein machtbesessener Vater möchte allerdings verhindern, dass sein Sohn ihm ebenbürtig wird. Er will ihn töten, aber Nianankoro wird von seiner Mutter gerettet und auf eine Reise geschickt. Auf seinem Weg erwirbt Nianankoro das notwendige Wissen für die letzte Konfrontation mit dem Vater. In einer präkolonialen Zeit angesetzt, führt Yeelen durch eine unendlich weite, in ihrer Schönheit einmalige Landschaft und ist tief verwurzelt in der Kultur der Bamana, der grössten Volksgruppe Malis.» (Programm CinemAfrica/Filmpodium, Nov. 2001) «Die Bilder der unbarmherzig und doch erhaben erscheinenden Natur, die grossartig mit den

bacar Traoré, Ali Farka Touré // SCHNITT Bernard Josse.

AUJOURD’HUI Senegal/Frankreich 2011 Satché, gespielt vom amerikanischen Musiker und Schauspieler Saul Williams, realisiert, dass er nur noch heute zu leben hat. Während er durch die Strassen seines Heimatortes in Senegal geht, tauchen Bilder aus seiner Vergangenheit auf: sein Elternhaus, seine erste Liebe, Jugendfreunde, Frau und Kinder. Neben den Erinnerungsfetzen wird er immer auch wieder mit der Frage konfrontiert: Weshalb ist er nicht in Amerika geblieben, wo er eine Zukunft hatte? «Alain Gomis kehrt ein Thema des senegalesischen Kinos um: Anders als in vielen Filmen, die sich mit Auswanderung und Neokolonialismus


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Filmfest Afrika. befassen, geht es hier um einen Mann, der aus Amerika in sein Heimatland zurückgekehrt ist. (…) Was aus der Ferne in verklärter Erinnerung blieb, entpuppt sich teilweise als banale Realität − eine Realität jedoch, in der Satché trotz allem Frieden und Ruhe findet.» (Katalog Berlinale 2012) 86 Min / Farbe / DCP / OV/e // REGIE Alain Gomis // DREHBUCH Alain Gomis, Djolof M'Bengue // KAMERA Cristelle

sein jüngerer Bruder mitreist. Erstes Ziel sind die Kanarischen Inseln. Mit seinem dritten Film lässt Touré in die sozialen und politischen Hintergründe der nicht enden wollenden Fluchtbewegungen von Menschen aus ganz Westafrika blicken, die für ihre Reise bereit sind, jedes Risiko auf sich zu nehmen. La pirogue wurde 2012 in Cannes in der Sektion «Un certain regard» gezeigt.

Fournier // SCHNITT Fabrice Rouaud // MIT Saul Williams (Satché), Djolof M'Bengue (Sélé), Anisia Uzeyman (Rama),

87 Min / Farbe / DCP / OV/d // REGIE Moussa Touré // DREH-

Aïssa Maïga (Nella), Mariko Arame (Mère Satché), Alexandre

BUCH Eric Névé, David Bouchet, nach dem Roman «Mbëkë

Gomis (Lexou), Anette Derneville Ka (Fatima), Hélène Gomis

mi: À l'assaut des vagues de l'Atlantique» von Abasse Ndione

(Labelle), Charlotte Mendy (Jène), Jean Mendy (Thierno).

// KAMERA Thomas Letellier // SCHNITT Josie Miljevic // MIT Souleymane Seye Ndiaye (Baye Laye), Laïty Fall (Lansana),

ROBERT MUGABE – WHAT HAPPENED?

Malaminé «Yalenguen» Dramé (Abou), Balla Diarra (Samba), Salif «Jean» Diallo (Barry), Babacar Oualy (Kaba).

Südafrika/Frankreich/GB 2011

VIRGEM MARGARIDA

Robert Mugabe war der einstmals gefeierte «Held der Unabhängigkeit» Simbabwes. Als erster Präsident des unabhängigen Landes strebte er das friedliche Zusammenleben von Schwarz und Weiss an und machte so das Land zum Modell einer nach-kolonialen Gesellschaft. Der Dokumentarfilm zeichnet den Werdegang des aus armen Verhältnissen stammenden Robert Mugabe nach, der schon während des Befreiungskampfes so rücksichtslos gegenüber echter oder vermeintlicher Opposition vorging, dass seine spätere Transformation zum selbstherrlichen Autokraten wenig überrascht. Der Film ist über Afrika hinaus ein Fallbeispiel dafür, wie uneingeschränkte Macht zu Machtmissbrauch führt. «Der akribische Dokumentarfilm geht mit einer riesigen Materialfülle an Archivbildern und vielen Interviews der exemplarischen Frage nach, wie sich ein Freiheitsheld in einen Gewaltherrscher verwandelt, der über Leichen geht.» (Lexikon des int. Films)

Moçambique/Frankreich/Portugal 2012

84 Min / Farbe / Digital HD / E/D/d // REGIE Simon Bright // DREHBUCH Llewellyn The Last, Ingrid Sinclair // KAMERA

«Moçambique 1975. Die Revolutionsregierung will alle Spuren des Kolonialismus auslöschen – darunter auch die Prostitution. Alle Prostituierten werden zum abgelegensten Wald des Landes geführt, wo sie unter der Aufsicht von Guerillakämpferinnen umerzogen und zu ‹neuen Frauen› gemacht werden sollen. Unter den 500 Prostituierten ist die vierzehnjährige Margarida, die in der Stadt ihre Aussteuer kaufen wollte. Weil sie sich nicht ausweisen kann, wird sie irrtümlich auch abgeführt. Als im Umerziehungslager auskommt, dass sie noch Jungfrau ist, ändert sich alles. Die anderen Prostituierten beginnen sie wie eine Heilige zu verehren.» (Tambay A. Obenson, www.indiewire.com, 30.1.2013) 90 Min / Farbe / DCP / OV/d/f // REGIE Licínio Azevedo // DREHBUCH Jacques Akchoti, Licínio Azevedo // KAMERA Mario Masini // MUSIK Moreira Chonguica // SCHNITT Nadia Ben Rachid // MIT Iva Mugalela (Margarida), Sumeia Maculuva (Rosa), Ermelinda Cimela, Rosa Mario, Victor Gonçalves, Ana Maria Albino, Ilda Gonzales, Eleuterio Alex.

Nicolaas Hofmeyr, Esko Metsola // SCHNITT Jenny Hicks.

SOMETHING NECESSARY LA PIROGUE Senegal/Frankreich 2012 La pirogue spielt in einem Fischerdorf in der Nähe von Dakar. Der Schiffskapitän Baye Laye stellt sich der Herausforderung, eine Gruppe von dreissig Männern verschiedener Ethnien als illegale Einwanderer nach Europa zu bringen. An Bord ist auch eine Frau als blinder Passagier. Baye Laye weiss um die Gefahren der Überfahrt; er hat das Kommando widerwillig übernommen, da auch

Kenia/Deutschland 2013 «Kenia nach den Präsidentschaftswahlen im Winter 2007: Der umstrittene Wahlsieg von Mwai Kibaki löst eine Welle von Protesten und Krawallen aus, Tausende werden verletzt, getötet oder zu Flüchtlingen. Das ostafrikanische Land befindet sich in einer politischen und gesellschaftlichen Krise. Anne ist Opfer der Gewalttaten, ihr Mann ist gestorben, ihr Haus niedergebrannt, ihr Sohn liegt im Koma. Der Krankenschwester wurde al-


> Aujourd’hui.

> Take Off.

> Robert Mugabe – What Happened?.

> La pirogue.

> Nairobi Half Life.


Filmfest Afrika. les genommen bis auf ihr eigenes Leben. Joseph hingegen ist Täter, war in jenen Tagen der Unruhen Mitglied einer Gang. Er kann seine Taten nicht vergessen, die Last seiner Schuld wiegt schwer – dennoch hofft er auf einen Neustart. Sowohl Joseph als auch Anne sind auf der Suche, um die schmerzhaften Erlebnisse der Vergangenheit zu verarbeiten und wieder eine Lebensperspektive zu finden.» (Amnesty International) Something Necessary ist nach Soul Boy und Nairobi Half Life bereits die dritte Produktion von One Fine Day Films. 85 Min / Farbe / DCP / OV/d // REGIE Judy Kibinge // DREHBUCH Rhesa Mungai, Jc Niala // KAMERA Yinka Edward // MUSIK Matthias Petsche // SCHNITT Christian Krämer, ­Justin Wachira // MIT Susan Wanjiru (Anne), Walter Lagat (Joseph), Chomba Njeru (Karogo), Anne Kimani (Gathoni), Kipng'eno Kirui Duncan (Chepsoi), David Kiprotich Mutai ­(Lesit), Benjamin Nyagaka (Kitur), Hilda Jepkoech (Chebet), Carolyne Chebiwott Kibet (Jerono).

TAKE OFF Schweiz/Ghana 2013 Ebenezer Mireku stammt aus einem ghanaischen Dschungeldorf. Nach seinem Studium an der Hochschule St. Gallen kehrte er in sein Heimatland zurück, um seine Kenntnisse als Unternehmer anzuwenden. Seit einigen Jahren kämpft er leidenschaftlich für die Verwirklichung seines grossen Projekts: den Neubau eines Teils der ghanaischen Eisenbahn. Sein zukunftsweisendes, gigantisches Eisenbahnprojekt ist der rote Faden des Films Take Off von Bruno Moll, der dabei auch höchst aktuelle Fragen zu Entwicklung, Wachstum und Fortschritt stellt. 93 Min / Farbe / DCP / OV/d // REGIE Bruno Moll // KAMERA Peter Ramseier // MUSIK Andreas Stahel // SCHNITT Anja Bombelli // MIT Ebenezer Mireku, Liman Adams, Reverend Father Christoph Campell, Peter Anini Danquah, Dzissah ­Futukpor, Araba Komson, Jonathan Mudey.

NAIROBI HALF LIFE

Mwas droht, endgültig in Nairobis Unterwelt abzurutschen, behält er seinen Traum vom ­ Schauspielen immer fest im Blick. Er beginnt ein gefährliches Doppelleben zwischen Off-Theatertruppe und Raubzügen, bis er vor eine schwierige Entscheidung gestellt wird. «Der 31-jährige Regisseur ‹Tosh› Gitonga hat seinen Erstling in nur vier Wochen praktisch auf der Strasse gedreht. Er habe, verrät er in Berlin, Räuberbanden konsultiert, um deren Handwerk möglichst realistisch darstellen zu können. Sein Film ist in Kenia ein Riesenerfolg. Das Drama um einen Jungen vom Land, der Schauspieler werden will (aber erst mal Gangster wird), läuft in der sechsten Woche. Für eine kenianische Produktion, in der grösstenteils der Ghettoslang Sheng gesprochen wird, ist das aussergewöhnlich. Ausländische Filme von Hollywood bis Bollywood dominieren den Markt. Dass Nairobi Half Life sich zwischen ihnen behauptet, liegt zum einen an der Souveränität, mit der Gitonga erzählt. (…) Der Laiendarsteller Joseph Wairimu gibt diesen Mwas als einen der auszog, das Fürchten zu lernen: naiv, zärtlich, gewitzt, mit einem unverschämt-ansteckenden Lächeln ausgestattet. Wie überhaupt das Schauspielerensemble durch wuchtige Präsenz überzeugt. Zum anderen hat der grosse Erfolg mit der Produktionsgeschichte zu tun. (…) Nairobi Half Life ist ein Beispiel für erfolgreiche Entwicklungshilfe. Er wäre nicht entstanden ohne die deutsche Produktionsfirma One Fine Day Films, einem Ableger von Marie Steinmanns Wohltätigkeitsverein One Fine Day. Steinmann ist mit Tom Tykwer verheiratet, der als Produzent und Supervising Regisseur firmiert. Ihr 2008 gegründeter Verein schult Kinder und Jugendliche in den Slums von Nairobi in Ballett, Malerei, Tanz und Musik. Jährlich gibt es einen Filmworkshop in Kooperation mit der Deutsche-Welle-Akademie. Am Ende produzieren die besten Teilnehmer einen Spielfilm. Die Afrikaner sollen ihre Ge­schichten in einer international konkurrenz­ fähigen Bildsprache erzählen. Die Entstehung von Nairobi Half Life wurde vom Goethe-Institut und vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit unterstützt.» (Philipp Lichterbeck, Der Tagesspiegel, 12.10.2012)

Kenia/Deutschland 2012 96 Min / Farbe / DCP / OV/d // KINOPREMIERE // REGIE D ­ avid

Der junge, ehrgeizige Mwas will Schauspieler werden. Mit Traum und Talent im Gepäck zieht er von seinem Dorf in Kenias Metropole Nairobi. Kaum angekommen, muss er am eigenen Leib erfahren, weshalb die Stadt auch Nairobbery genannt wird − ausgeraubt und allein kämpft er um eine Chance im Grossstadtdschungel und um seine Zukunft. Er lernt den Anführer einer Gang kennen, der ihn in seine Kreise einführt. Obwohl

«Tosh» Gitonga // DREHBUCH Serah Mwihaki, Charles ­«Potash» Matahia, Samuel Munene // KAMERA Christian ­Almesberger // MUSIK Xaver von Treyer // SCHNITT Mkaiwawi Mwakaba // MIT Joseph Wairimu (Mwas), Olwenya Maina (Oti), Nancy Wanjiku Karanja (Amina), Mugambi Nthiga (Cedric), Paul Ogola (Mose), Antony Ndung'u (Waf), Johnson Gitau Chege (Kyalo), Kamau Ndungu (John Waya), Abubakar Mwenda (Dingo), Mburu Kimani (Daddy M), Mehul Savani (Khanji), Maina Joseph (Kimachia).

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30 Das erste Jahrhundert des Films: 1953

Vom glühenden Musical bis zum kalten Paranoikerdrama Einen Triumph in Technicolor feierte 1953 Vincente Minnelli mit seinem Backstage-Musical The Band Wagon. In den Hauptrollen: Fred Astaire, mit 54 Jahren immer noch unerhört nonchalant und elegant, und Cyd Charisse, die in dieser Zeit zum Erotischsten zählt, was in Amerika auf der Leinwand gezeigt werden kann. Frischen Wind in das europäische Kino brachte Tati mit Les vacances de Monsieur Hulot: Sein Urlaubsfilm mit all den merkwürdigen Touristen ist gleichermassen ein faszinierend scharfsinniges Zeitdokument und ein Film, dessen leise Komik die Menschen zwar entlarvt, aber niemals blossstellt. In Italien fing Federico Fellini mit I vitelloni, seiner autobiografisch gefärbten Kleinstadtsatire über fünf Nichtstuer, die Unbeweglichkeit der italienischen Macht- und Nachkriegsverhältnisse ein. Die Unterschiede zwischen der Vorkriegsund Nachkriegsgeneration in Japan beschreibt wiederum Yasujiro Ozu mit gespannt ruhigen Bildern in Die Reise nach Tokio. In Mexiko zeichnet derweil Luis Buñuel mit El das Porträt eines pathologisch eifersüchtigen Mannes, der seiner jungen Frau das Leben zur Hölle macht – Buñuel konnte darin seine notorische Fussverehrung ausleben. (th)

> The Band Wagon..


Das erste Jahrhundert des Films: 1953.

LES VACANCES DE MONSIEUR HULOT Frankreich 1953 Monsieur Hulot fährt in seinem altersschwachen, knatternden Sportwagen an einen beschaulichen Badeort in der Bretagne, findet im Hotel de la Plage ein Zimmer unter dem Dach und gibt sich fortan den Ritualen sommerlicher Feriengeschäftigkeit zwischen Flirt und körperlichen Aktivitäten hin. Dabei stolpert er allerdings von einem Missgeschick zum nächsten – sei es am Strand, auf dem Tennisplatz oder im Speisesaal des Hotels – und erregt damit den Ärger der anderen Gäste. 1953 führte Tati mit Les vacances de Monsieur Hulot, seinem zweiten Spielfilm nach Jour de fête, sein Alter Ego «Monsieur Hulot» in die Filmgeschichte ein: diesen schlaksigen Typ mit der Pfeife zwischen den Zähnen, dem kecken Hütchen und der Hochwasserhose, der, forsch nach vorn geneigt, steifbeinig voranschreitet. Ein ungeschickter, unangepasster Antiheld, dessen einziges Wort während des ganzen Films «Hulot» ist. Worte spielen in Tatis Filmen eine untergeordnete Rolle: In aller Seelenruhe schaukeln sich die Geräusche der Objekte (etwa der Schwingtür oder des Ping-Pong-Balls), die Meereswellen und das Geschnatter der Gäste zu kleinen Sinfonien hoch. (th)

> Les vacances de Monsieur Hulot..

«Tatis Film ist keine Komödie der Ausgelassenheit, sondern eine der Erinnerung, der Nostalgie, der Zärtlichkeit und des guten Mutes. Es gibt ­einige richtige Lacher, aber Les vacances de Monsieur Hulot gibt uns etwas viel Selteneres: eine belustigte Zuneigung für die menschliche Natur – so merkwürdig, so kostbar, so speziell. (…) Dieser Film handelt von den einfachsten aller menschlicher Vergnügungen: von der Sehnsucht, für ein paar Tage wegzukommen, spielen zu dürfen, anstatt zu arbeiten, Meeresluft einzuatmen und vielleicht dabei eine nette Person kennenzulernen. Es geht um die Hoffnung, die all unseren Ferien zugrunde liegt, und um die Traurigkeit, die uns an deren Ende immer wieder einholt.» (Roger Ebert, Chicago Sun-Times, 10.10.1996) Wir zeigen die restaurierte Version von 2009, die 1978 von Tati überarbeitet worden war. 88 Min / sw / DCP / F // REGIE Jacques Tati // DREHBUCH Jacques Tati, Henri Marquet, Jacques Lagrange, Pierre Aubert // KAMERA Jacques Mercanton, Jean Mousselle // MUSIK Alain Romans // SCHNITT Jacques Grassi, ­Ginou Breton // MIT Jacques Tati (Monsieur Hulot), Nathalie Pascaud (Martine), Michèle Rolla (Martines Tante), Raymond Carl (Ober), Lucien Frégis (Hotelier), Valentine Camax (Engländerin), Louis Perrault (Monsieur Fred), Marguerite Cérard (Spaziergängerin), René Lacourt (Spaziergänger), André ­Dubois (Ex-Offizier), Suzy Willy (die Frau des Ex-Offiziers).

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Das erste Jahrhundert des Films: 1953.

EL

THE BAND WAGON

Mexiko 1953

USA 1953

Francisco, ein angesehener mexikanischer Gross­‑ bürger, verliebt sich in die junge Gloria, verfolgt sie und spannt sie ihrem Verlobten aus. Nach der Heirat steigert er sich in immer krassere Formen rasender Eifersucht, bis sie ihn verlässt – auch der Rückzug ins Kloster kann ihn nicht von seinen Wahnvorstellungen befreien. Mit seinem Film El präsentiert Luis Buñuel einen gelungenen Psychothriller, der sogar ­ ­Vorbildcharakter für Alfred Hitchcock hatte – speziell eine Kirchturmszene wirkt wie eine Vorausdeutung auf Hitchcocks Vertigo. «Ein Film der Besessenheit, zum Äussersten treibend. Paranoia der Eifersucht: Buñuel zeigt in schwindelerregender Ambivalenz den Protagonisten zugleich als Opfer und Täter, allem zuvor als leidenden Heros einer unbändigen, monströsen Passion. Auch angesichts der wildesten Zuckungen der Leidenschaft aber bleibt Buñuels Blick herausfordernd kalt, so als betrachte er leidenschaftslos eine Anopheles-Mücke oder einen Skarabäus unter der Lupe. Das Resultat solcher Diskrepanz ist ein Film, der mit nicht mehr unterscheidbaren Zügen von dunkelstem Humor, Geheimnis und Verstörung ausgestattet ist. Einer von Buñuels (und Jacques Lacans) Lieblingsfilmen und eines seiner zahlreichen mexikanischen Meisterwerke.» (Harry Tomicek, Österreich. Filmmuseum, Feb. 2008)

Tony Hunter, ein ehemaliger Tänzer und Entertainer, der seit Jahren keinen Erfolg mehr gelandet hat, kommt nach New York, um sein Comeback zu versuchen. Er gerät an den falschen Regisseur, die Premiere wird ein Flop. Mit Hilfe der Primaballerina Gabrielle Gerard, deren Körpergrösse und Erfolg ihn zunächst einschüchtern, versucht Tony, die Tournee zu retten. The Band Wagon ist eine Apotheose auf alle Backstage-Musicals, voll ironischer Anspielungen auf das Showbusiness. «Eines der glühenden Filmmusicals der Fifties. (…) Erzählt wird an der Nebenfront mit Drehbuch, Drama und Schauspiel, vorrangig aber und in leidenschaftlicher Artikulation mit Technicolor, getanztem Gefühl und den schwebenden Übergängen jener Momente, in denen das Wort ge- und der Alltag zerbricht und beide in Wogen aus Verwandlung und Musik umzuschlagen beginnen. Zauber des Genres. Wie evoziert man Glück, ohne den herkömmlichen Realismus zu strapazieren? Oder Verliebtheit? Oder Begehren? Das Filmmusical findet Antworten, die nirgends sonst möglich sind, in keiner anderen Kinoform, auf keiner Bühne. Astaire grenzenlos nonchalant, cool, wippend, federnd. Stepp-Stakkatos wie MGFeuer oder Drum Solos. Und Cyd Charisse in der Doppelrolle der Unschuld in Blond, des Vamps in Schwarz, windet gelb schmachtende und lasziv rote Girlanden um ihn. ‹Ecstasy in Rhythm›. Triumph in Technicolor.» (Harry Tomicek, Österreich. Filmmuseum Wien, März 2003)

91 Min / sw / 35 mm / Sp/f // REGIE Luis Buñuel // DREHBUCH Luis Buñuel, Luis Alcoriza, nach dem Roman von Mercedes Pinto // KAMERA Gabriel Figueroa // MUSIK Luis Hernández Bretón // SCHNITT Carlos Savage // MIT Arturo de Córdova

112 Min / Farbe / 35 mm / E/d/f // REGIE Vincente Minnelli //

(Francisco Galván de Montemayor), Delia Garcés (Gloria

DREHBUCH Betty Comden, Adolph Green // KAMERA Harry

­Milalta), Aurora Walker (Esperanza Peralta, die Mutter), Luis

Jackson // MUSIK Alexander Courage, Adolph Deutsch,

Beristáin (Raúl Conde, Ingenieur), Carlos Martínez Baena

­Conrad Salinger // SCHNITT Albert Akst // MIT Fred Astaire

(Velasco, Pater), Manuel Dondé (Pablo, Majordomus), Rafael

(Tony Hunter), Cyd Charisse (Gabrielle Gerard), Oscar Levant

Banquells (Ricardo Luján).

(Lester Marton), James Mitchell (Paul Byrd), Robert Gist (Hal Benton), Ava Gardner (sie selbst).

Weitere wichtige Filme von 1953

It Came from Outer Space Jack Arnold, USA Le carrosse d’or Jean Renoir, F

Abend der Gaukler (Gycklarnas afton)

Le retour de Don Camillo Julien Duvivier, F

Ingmar Bergman, Schweden

Le salaire de la peur Henri-Georges Clouzot, F

Duck Amuck Chuck Jones, USA

Les statues meurent aussi Alain Resnais/Chris Marker, F

Erzählungen unter dem Regenmond (Ugetsu Monogatari)

Pick Up on South Street Samuel Fuller, USA

Kenji Mizoguchi, J

Roman Holidays William Wyler, USA

Fear and Desire Stanley Kubrick, USA

Shane George Stevens, USA

From Here to Eternity Fred Zinnemann, USA

The Big Heat Fritz Lang, USA

Gentlemen Prefer Blondes Howard Hawks, USA

The Naked Spur Anthony Mann, USA

House of Wax André De Toth, USA

The Titfield Thunderbolt Charles Chrichton, GB

How to Marry a Millionaire Jean Negulesco, USA

The Wild One Laslo Benedek, USA


Das erste Jahrhundert des Films: 1953.

I VITELLONI Italien/Frankreich 1953 Alberto, Fausto, Leopoldo, Moraldo und Riccardo haben weder einen Job noch sonst etwas zu tun – sie sind Müssiggänger, die auf Kosten ihrer El­tern leben und die Zeit totschlagen. Fausto versucht es kurzzeitig mit Ehe und Arbeit, doch schafft er es nicht, Verantwortung zu übernehmen. Einzig M ­ oraldo beschliesst, die Kleinstadt zu verlassen, um einen Neuanfang zu wagen. «Der Begriff ‹vitelloni› ist nach dem Film zum viel gebrauchten Schlagwort geworden, um eine Generation zu beschreiben, die die Nabelschnur zum Elternhaus noch nicht durchtrennt hat und weder eigene noch vorgegebene Ziele verfolgt: Nichtstuer, die sich allem gesellschaftlichen Engagement verweigern. (…) I vitelloni spiegelt stärker als spätere Filme Fellinis den ‹immobilismo›, die Unbeweglichkeit der italienischen Macht- und Nachkriegsverhältnisse, die in der unbekümmerten Trägheit der jungen Noch-nicht-Erwachsenen handgreiflich durchschlägt.» (Thomas Koebner, Reclam Filmklassiker) «I vitelloni ist der erste Film von Fellini mit einem offenen Ende, was seine späteren Werke kennzeichnet. Allergisch auf Enden, welche die Dinge zu sehr auf einen Punkt brachten oder die aufgebaute Spannung zu stark auflösten, bemerkte Fellini einmal: ‹Als Geschichtenerzähler ist es unsere Pflicht, die Menschen an einen

> I vitelloni..

Bahnhof zu bringen. Dort wird jede Person ihren eigenen Zug wählen. Das Mindeste ist, dass wir sie zur Station bringen, zu einem Abreisepunkt.› Das Ende einer Geschichte wird nicht als Ankommen, sondern als vorbereitete Abreise gesehen – ein bemerkenswertes Bild, das vielen populären Geschichtenerzählern fremd ist. I vitelloni bringt uns am Schluss wörtlich zu einer Bahnstation. Auf einer tieferen Ebene war dieser Film auch für Fellini ein Abfahrtsort – fortan meinte er es ernst mit dem Film.» (Tom Piazza, www.criterion.com, 23.8.2004) «Diese Studie über fünf ziellose junge Männer in der Einöde eines Provinznests ist der beste aller Fellini-Filme (…) – wunderschön gefilmt, grandios gespielt und von der Hand des Regisseurs mit einer unentwirrbaren Mischung aus liebevoller Sympathie und bissiger Satire geführt.» (Tom Milne, Time Out Film Guide) 103 Min / sw / 16 mm / I/d/f // REGIE Federico Fellini // DREHBUCH Federico Fellini, Ennio Flaiano, Tullio Pinelli // ­KAMERA Carlo Carlini, Otello Martelli, Luciano Trasatti // MUSIK Nino Rota // SCHNITT Rolando Benedetti // MIT Franco Interlenghi (Moraldo), Alberto Sordi (Alberto), Franco Fabrizi (Fausto), Leopoldo Trieste (Leopoldo), Riccardo Fellini (Riccardo), Leonora Ruffo (Sandra), Claude Farell ­ (Olga, Albertos Schwester), Jean Brochard (Faustos Vater), Carlo Romano (Antiquar), Lída Baarová (Giulia Curti).

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Das erste Jahrhundert des Films: 1953.

MADAME DE... Frankreich/Italien 1953 Madame de…, die Gattin eines Pariser Generals, hat sich durch ihren Lebensstil verschuldet, verkauft ihre wertvollen Ohrringe und erzählt ihrem Mann, die Schmuckstücke seien unauffindbar. Als der Gatte von einem Juwelier die Wahrheit erfährt, kauft er die Ohrringe heimlich zurück und schenkt sie seiner Mätresse. Diese verkauft sie wiederum weiter, wodurch sie einem Baron in die Hände fallen. Der verliebt sich in Madame de..., schenkt ihr die glitzernden Ohrringe als Beweis seiner Liebe – und beschwört damit eine Tragödie herauf. «Das Duell zum Schluss wirkt wie eine bitter ironische Variante des romantisch-tragischen Liebestodes von Liebelei. Ophüls hat die Szene unverhohlen als Remake inszeniert, wodurch die Differenz nur umso deutlicher wird: In dieser Welt ist keine Liebe, die Menschen belügen sich über ihre Gefühle. In Wahrheit gibt es keine Bindung zwischen den Menschen: Es ist alles verdinglicht, hier symbolisiert durch die Ohrringe. Liebesbeziehungen sind Tauschverhältnisse; die Zirkulation der Waren bestimmt das Karussell der Gefühle. (...) Madame de... ist einer der wenigen Filme, bei denen Ophüls, gestärkt durch den Erfolg von Reigen, das Sujet selbst bestimmen

> Madame de…..

konnte. Die ‹Aristokratie der Gefühle› interessierte ihn an dem Stoff. Hinter der Anonymität der Titelfigur verberge sich ‹ein ganzes entschwundenes Jahrhundert von Zurückhaltung, von Reserve, von edlen Empfindungen, die sich nicht ohne weiteres ausdrücken, Disziplin – und das alles lebt in einer Umgebung von äusserem Luxus, von scheinbarer Frivolität›.» (Helmut G. Asper, Metzler Filmlexikon) Madame de… gilt als einer der schönsten Filme im Werk von Max Ophüls: «Perfektion. Die Liebestragödie, die mit narzisstischem Flirten beginnt, in eine Liebesaffäre und Leidenschaft übergeht, bis hin zur Verweiflung, ist ironischerweise in aristokratischen Kreisen angesiedelt, die zu oberflächlich sind, um das Tragische in der Liebe zu erkennen.» (Pauline Kael, 5001 Nights at the Movies, Marion Boyars, 1993) 100 Min / sw / 35 mm / F/d // REGIE Max Ophüls // DREHBUCH Marcel Achard, Max Ophüls, Annette Wademant, nach der Novelle von Louise de Vilmorin // KAMERA Christian Matras // MUSIK Oscar Straus, Georges Van Parys // SCHNITT Borys Lewin // MIT Danielle Darrieux (Gräfin Louise de...), Charles Boyer (General André), Vittorio De Sica (Baron Fabrizio Donati), Jean Debucourt (M. Rémy, Juwelier), Jean Galland (M. de Bernac), Mireille Perrey (Amme), Lia Di Leo (Lola, Geliebte des Generals), Serge Lecointe (Jérôme, der Sohn des Juweliers).


Das erste Jahrhundert des Films: 1953.

DIE REISE NACH TOKIO (Tokyo monogatari) Japan 1953

Ein altes Ehepaar bricht in einer Provinzstadt auf, um seine längst erwachsenen Kinder in Tokio zu besuchen. Nach einigen Tagen fahren die Eltern nach Hause zurück, mit der Erkenntnis, dass ihre Kinder ganz anders leben, als sie sich das vorgestellt haben. Die unterwegs erkrankte Mutter stirbt kurz nach der Rückkehr von der eher enttäuschenden Reise – die ganze Familie versammelt sich zur Beerdigung noch einmal zu Hause. «Die Reise nach Tokio ist ein Meisterwerk, in dem Ozu seine gesamte Filmkunst voll entfaltet und eine eigene ästhetische Welt geschaffen hat. (…) In diesem Film illustriert Ozu sehr gut die traditionellen japanischen Familienstrukturen, die durch die zunehmende Modernisierung der Gesellschaft zerstört werden. In dem Masse, wie die jüngere Generation sich zu Kleinfamilien verselbständigt, verliert der Sippenverband immer mehr an Bedeutung. ‹So etwas kommt fast in jeder Familie vor, vielleicht weil sie gerade durch die Blutsverwandtschaft zu sehr an die Liebe untereinander gewöhnt sind. In dieser Geschichte sind die Eltern von ihren eigenen Kindern enttäuscht und fühlen sich verlassen. Das Eltern-Kind-Verhältnis nüchtern darzustellen war mein einziges

> Die Reise nach Tokio..

Anliegen›, so Ozu.» (Keiko Yamane, Das japanische Kino, C. J. Bucher, 1985) «Da der Film keinerlei ‹Action› aufweist, ist er auf einer ersten Ebene völlig undramatisch. Dialog reiht sich an Dialog, alltägliche Handlung an alltägliche Handlung. Eine Dramatisierung im konventionellen Sinn würde völlig falsche Akzente setzen, müsste zwangsläufig Nebensächliches aus Nebensächlichem hervorheben und verpasste damit die Hauptsache: die Dramatik des Lebens im Kleinen und Gewöhnlichen. Ozus Technik ist da viel angepasster. Die bohrende Ruhe besticht. Die gründliche, aufmerksame Betrachtung lässt unscheinbarste Details bewusst wahrnehmen. Stil und Thema verschmelzen völlig.» (Walter R. Vian, Programm Filmpodium, Okt. 2008) 136 Min / sw / DCP / Jap/d/f // REGIE Yasujiro Ozu // DREHBUCH Kogo Noda, Yasujiro Ozu // KAMERA Yuharu Atsuta // MUSIK Kojun Saito // SCHNITT Yoshiyasu Hamamura // MIT Chishu Ryu (Shukichi Hirayama), Chieko Higashiyama (Tomi, seine Frau), Setsuko Hara (Noriko, die Schwiegertochter), Haruko Sugimura (Shige Kaneko, die älteste Tochter), Nobuo Nakamura (Kurazo, ihr Mann), Kyoko Kagawa (Kyoko, die jüngste Tochter), So Yamamura (Koichi Hirayama, der ältere Sohn), Kuniko Miyake (Fumiko, seine Frau), Eijiro Tono (Sanpei Numata).

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36 Premiere: Cesare deve morire von Paolo und Vittorio Taviani

Echt gespielt Angeregt durch einen Bericht über eine Aufführung von Dantes «Inferno» im Römer Hochsicherheitsgefängnis Rebibbia, haben die Brüder Vittorio und Paolo Taviani William Shakespeares «Julius Caesar» ebendort inszenieren lassen und diesen Prozess vom Casting bis zur öffentlichen Aufführung filmisch verfolgt. Eine bildstarke Interpretation der Tyrannenmord-Tragödie mit unerwarteten Facetten. Das Dokumentarische war den Tavianis nie fremd. Ihr erster Film aus dem Jahr 1954 war ein Dokumentarfilm, vielen galt auch Padre Padrone, der das Brüderpaar 1977 international berühmt machte, als Hybrid zwischen Spielund Dokumentarfilm. Wer jedoch bei Cesare deve morire einen Dokumentar­ film erwartet, verbaut sich den Zugang zu diesem vielschichtigen Werk. Denn obwohl er in einem richtigen Hochsicherheitsgefängnis mit echten Schwerver­ brechern angesiedelt ist, holt der Film seine Stärke nicht aus dem Dokumenta­ rischen, sondern aus dem Gespielten. Das Interesse der Tavianis liegt denn auch nicht darin zu zeigen, wie das Erarbeiten einer Theaterinszenierung eine Gruppe von Strafgefangenen verändert, wie dies zum Beispiel Twelve Angry Lebanese der libanesischen Theaterschaffenden Zeina Daccache tut, der am Arabic Film Festival 2012 im Filmpodium zu sehen war. Die Tavianis unter­ suchen vielmehr, wie das Shakespeare-Stück, aufgeführt von Verbrechern, ganz anders aufgeladen wird und damit anders interpretiert werden kann. Eröffnet wird der Film mit der erschütternden Schlussszene der Tragö­ die: Nachdem mehrere Freunde und Getreue Brutus die Beihilfe zum Selbst­ mord verweigert haben, stürzt sich dieser in das Schwert, mit dem er Cäsar nie­ dergestochen hat. Unmittelbar nach der stark applaudierten Aufführung werden die Darsteller in den Hochsicherheitstrakt zurückgeführt und in ihre Einzelzellen gesperrt. Die Farbe weicht allmählich einem ausdrucksstarken Schwarzweiss, mit dem die Tavianis auch bewusst in Distanz zum TV-Doku­ mentarismus gehen, und der Film blendet sechs Monate zurück: Die Gefäng­ nisleitung stellt das Theaterprojekt vor, Regisseur Fabio Cavalli skizziert den Inhalt des Stücks. Bereits die erste Begegnung mit den Sträflingen beim Casting ist überwältigend und lässt die rohe Lebensenergie ahnen, die der erfahrene Gefängnis-Theaterregisseur Cavalli für seine Inszenierung nutzbar machen wird. Diese Rollenspiele machen das Grundprinzip des Films spürbar: Hier wird echt gespielt. Wenn sich das Drehbuch im Laufe der Dreharbeiten auch immer wieder verändert, der Film folgt ganz klar einem Plan. Die erste Lese­ probe – die Rollen sind inzwischen verteilt – geht nahtlos in den Einzelzellen weiter: «Brutus» und «Cassius» stehen sich jetzt zwar nicht mehr physisch ge­


37 genüber, sie bleiben aber im Gespräch. Jede Handlung, jeder Dialog auf den Korridoren oder am Fenster – sei es Shakespeare-Text oder ein scheinbares Alltagsgespräch – wird Teil des Stücks, das auf packende Weise die Vorge­ schichte der Insassen spiegelt und ins Stück einfliessen lässt. Das verleiht der Tragödie eine zusätzliche Ebene und eine authentische Kraft, nicht zuletzt, weil die Männer ihre regionalen Dialekte sprechen und ihnen – die meisten mit einer Vergangenheit im organisierten Verbrechen – die Themen des Stücks ver­ traut sind: Loyalität, Verrat, Macht und Ehre. So erhält auch der Satz «Doch Brutus ist ein ­ehrenwerter Mann» aus dem Mund eines Ex-Mafioso eine neue Dimension. Und wenn etwa «Cäsar» und «Decius» aus der Rolle fallen und alte Rivalitäten und Misstrauen aufflammen, sie um Loyalität und schräge Bli­ cke, um Vorherrschaft und Hierarchie streiten, ist es unwichtig, ob ihr Kon­ flikt nun real oder nur im Drehbuch existiert: Er wird Teil der Tragödie, in der Decius Cäsar – allen Warnungen und bösen Ahnungen zum Trotz – überreden wird, das Haus zu verlassen, und ihn so ans Messer der Verschwörer liefert. Mit Szenen wie dieser, mit der sparsam, aber wirkungsvoll eingesetzten Musik, den ausdrucksstarken Gesichtern und der körperlichen Präsenz der Strafgefangenen ist den Tavianis in Cesare deve morire ein «Julius Caesar» ge­ lungen, den man nicht so schnell vergessen wird. Corinne Siegrist-Oboussier

CESARE DEVE MORIRE / Italien 2012 76 Min / Farbe und sw / DCP / I/d // REGIE Paolo und Vittorio Taviani // DREHBUCH Paolo und Vittorio Taviani; Zusammenarbeit und Regie der Theaterszenen: Fabio Cavalli // KAMERA Simone Zampagni // MUSIK Giuliano Taviani, Carmelo ­Travia // SCHNITT Roberto Perpignani // MIT Salvatore Striano (Brutus), Cosimo Rega (Cassius), Giovanni Arcuri (Cäsar), Antonio Frasca (Marcus Antonius), Juan Dario Bonetti (Decius), Vittorio Parrella (Caca), Rosario Majorana (Metellus), Vincenzo Gallo (­ Lucius), Francesco De Masi (Trebonius), Gennaro Solito (Cinna), Francesco Carusone (Wahrsager), Fabio Rizzuto (Strato).


38 Premiere: Le sommeil d’or von Davy Chou

Kino träumen Geheimnisvolle Göttinnen, leidenschaftliche Liebe, dramatische Kämpfe, Schlangenmädchen, Krokodilmänner: Davy Chous Reminiszenz an das Goldene Zeitalter des kambodschanischen Kinos erweckt sie alle sanft zu geisterhaftem Leben. Er vermittelt eine Ahnung von einer Filmwelt, die nicht mehr existiert, für immer vernichtet ist – aber nicht vergessen. «Die Autofahrt über eine nächtliche Landstrasse in den Morgen der Stadt läuft in die falsche Richtung. Erst nach einer Weile bemerkt man, dass alle rückwärts fahren, ins Dunkel der Wirklichkeit. Mit dieser rätselhaften Meta­ pher beginnt eine Reise in Kambodschas unbekannte Filmgeschichte. Zwi­ schen 1960 und 1975 entstanden fast 400 Filme in Phnom Penh, von denen nur noch 30 existieren. Die Khmer Rouge haben sie verbrannt und verrotten lassen, genauso wie viele der Studios und Kinos. Die meisten Filmschaffenden wurden Opfer des Genozids. Der Regisseur Davy Chou, Enkel [von Van Chann,] eines der wichtigsten Produzenten der ‹Goldenen Zeit›, rekonstruiert in seinem Film das kinematografische Erbe des Landes. Wie ein Archäologe geht er dabei vor, wissend, wie unmöglich es eigentlich ist, mit Überlebenden über Lebenswerke zu sprechen, die zwar zerstört wurden – aber nicht verges­ sen sind. Le sommeil d’or fügt sich bei der akribischen Suche nach Erinne­ rungsfragmenten in der Gegenwart – etwa nach noch auffindbaren Lobbykar­ ten, Songs auf YouTube oder beim Besuch in einer Karaokebar, die früher ein Studio war – ganz allmählich zu einem verblüffend lebendigen Denkmal.» (Katalog Int. Forum des Jungen Films, Berlin 2012) «Die Show ist aus, ein für allemal. Eine Wiederaufführung steht nicht auf dem Programm. (…) Die klassischen kambodschanischen Filme wurden als Zeichen westlicher Dekadenz vernichtet, Kinos als Symbole gesellschaftli­ chen Niedergangs während des Bürgerkrieges bombardiert. (…) ‹Alles wurde niedergebrannt›, erinnert sich einer der erfolgreichsten Produzenten und Regisseure der untergegangenen Ära, der nur unter Tränen von seinen zerstörten Filmen erzählen kann. (…) Film bedeutet mehr als Zel­ luloid und bunte Bilder, er bedeutet Menschen. Zu ihnen gehört Dy Saveth, die als eine der wenigen berühmten Darsteller die Morde des Regimes über­ lebte und sich für Chou an ihre Schauspieltage erinnert, oder der alternde Ki­ nofan, der immer noch weiss, wie er einmal neben Dy sass. Das Leuchten und die Tränen in den Augen der Protagonisten werden zu einer intimen Lein­ wand, auf der man die Geister des verlorenen Kinos auferstehen zu sehen glaubt. Die brutale Systematik der Roten Khmer bei der fast gänzlichen Ver­


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LE SOMMEIL D’OR / Frankreich/Kambodscha 2011 96 Min / Farbe / DCP / Khmer/F/d // DREHBUCH UND REGIE Davy Chou // KAMERA Thomas Favel // MUSIK Jérôme Harré // SCHNITT Laurent Leveneur.

nichtung einer Kunstform ist noch erschreckender durch die unterschwellige Verknüpfung des kulturellen Verlusts mit dem persönlichen. ‹Bei meiner Fa­ milie kann ich mich nicht an die Gesichter erinnern. Aber bei den Schauspie­ lern›, sagt einer der Cinephilen, der die Namen der verfolgten und ermorde­ ten Leinwandstars aufzählt. ‹Es gibt noch andere grossartige Szenen›, sagt [der ehemalige Regisseur] Ly Bun Yim, als er den Anfang seiner sagenumwobenen Grossproduktion The Seahorse beschreibt. ‹Aber die erzähle ich euch nicht. Sonst wollt ihr den Film sehen und ich kann ihn euch nicht zeigen.›» (Lida Bach, www.kino-zeit.de, 2012) Davy Chou (*1983) ist französisch-kambodschanischer Filmemacher. Er rea­ lisierte bisher zwei Kurzfilme, Davy Chou’s First Film (2007) und Expired (2008). Le sommeil d’or ist sein erster langer Film. Für Expired reiste Chou zum ersten Mal nach Kambodscha, wo er 2009 in Phnom Penh zusammen mit Studierenden aus sechs Schulen ein Filmatelier gründete. Dabei entstand der 50-minütige Kollektiv-Film Twin Diamonds.


40 Premiere: Work Hard Play Hard von Carmen Losmann

Optimiertes Humankapital Vom schönen Schein der modernen, dynamischen Arbeitskultur über das inhaltsleere Manager-Gerede von «Change» und «Innovation» bis hin zur Gehirnwäsche – ein alarmierender, kluger dokumentarischer Essay über die fatale Optimierung der «Ressource Mensch». Zeiterfassungsgeräte sind von gestern – es braucht sie in dieser Arbeitswelt nicht mehr, denn die Menschen geraten in einen «Flow», in dem ihnen die Ar­ beit so grossen Spass macht, dass sie gar nicht merken, dass sie arbeiten und im Idealfall gar nicht mehr damit aufhören. Die neue Arbeitswelt kommt vor­ dergründig freundlich, luftig und modern daher, doch letzten Endes geht es nur um eins: Zur Profitmaximierung soll aus der Arbeitskraft Mensch das Letzte herausgeholt werden. Die Kölner Filmemacherin Carmen Losmann beleuchtet in ihrem Lang­ filmdebüt Work Hard Play Hard die Taktiken und Methoden hinter dieser neuen Personalwirtschaft: Ohne Off-Kommentar lässt sie Architekten ihre künstlich-heimeligen Büroinnovationen präsentieren, die auf keinen Fall an Arbeit erinnern sollen; zeigt Assessment-Manager und ihre unerbittlichen Be­ fragungsrituale, SAP-Programmierer mit ihrer Talent-Software und Kader­ mitarbeiter, die nach einem Teambuilding-Training mit geschlossenen Augen im Kreis ihren Erkenntnisgewinn verinnerlichen.

WORK HARD PLAY HARD / Deutschland 2011 90 Min / Digital HD / Farbe / D/f // DREHBUCH UND REGIE Carmen Losmann // KAMERA Dirk Lütter // SCHNITT Henk Drees.


41 In präzisen, langen Einstellungen fängt die Kamera die unheimliche, an Or­ well, Kafka und Huxley erinnernde Atmosphäre dieser Arbeitskultur ein, zeigt die Panoptikumsarchitektur, menschenleere Räume, leer geräumte Ti­ sche – eine abgründige Innenansicht der schönen neuen Arbeitswelt, in der sich alles um die Ressource Mensch dreht, während ihr alles Menschliche ab­ handen gekommen ist. Tanja Hanhart

FILMEINFÜHRUNG

DI, 21. MAI | 18.15 UHR

Brigitta Bernet ist Oberassistentin am Institut für Geschichte der ETH Zürich und Fellow bei Re:work der HU Berlin. Sie forscht zur Geschichte des Human Resource Managements. Ihre Einführung situiert Carmen Losmanns Film im Kontext der gegenwärtigen Diskussionen um den «neuen Geist des Kapitalismus». Brigitta Bernet steht nach dieser Vorführung auch für Fragen zur Verfügung. Hinweis: Das Zentrum «Geschichte des Wissens», ein gemeinsames Kompetenzzentrum der ETH und der Universität Zürich, veranstaltet vom 25. September bis 18. Dezember 2013 jeweils am Mittwochabend im Cabaret Voltaire eine öffentliche Vortragsreihe zum aktuellen Thema «Wissensarbeit». Aus unterschiedlichen wissenshistorischen, sozial- und kulturwissenschaftlichen Perspektiven werden in sieben Gastvorträgen die zunehmende Verschmelzung von Wissen und Arbeit beleuchtet. Carmen Losmann, die Regisseurin von Work Hard Play Hard, wird an einem ausserordentlichen Termin zu Gast sein und mit der Wissenshistorikerin Brigitta Bernet über ihren Film diskutieren. Weitere Informationen ab Juli unter www.zgw.ethz.ch und www.zgw.uzh.ch.


42 EINZELVORSTELLUNG DO, 30. MAI | 18.15 UHR

BOB CLAMPETTS WARNER-BROTHERS-CARTOONS

UNBÄNDIGER BEWEGUNGSDRANG Zum 100. Geburtstag des Zeichners und Re-

Jahren jene schwungvolle Elastizität zu-

gisseurs Bob Clampett (1913 –1984) eine

rück, die dem Zeichentrickfilm unter Walt

Auswahl seiner besten Cartoons für War-

Disneys Vorherrschaft abhanden gekom-

ner Brothers, präsentiert von Oswald Iten.

men war. Wer vor allem die später entstandenen

Ob als Animator oder ab 1937 als Regis-

Looney Tunes von Chuck Jones und Friz Fre-

seur: Bob Clampett forderte die Lachmus-

leng kennt, dürfte erstaunt sein, wie unbe-

keln des Publikums heraus und kratzte an

rechenbar und verrückt Daffy Duck und

den Zeichentrickkonventionen seiner Zeit.

Bugs Bunny unter Clampetts Regie einst

Im Gegensatz zu seinem Mentor Tex Avery

agierten. Doch als Clampett das Studio

war er jedoch weniger an hintergründig

1945 auf dem Höhepunkt seines Schaffens

surrealen Gags an sich interessiert als an

verliess und sich als Erfinder der Fernseh-

deren möglichst unterhaltsamer visueller

figuren Beany and Cecil einen Namen

Umsetzung. So gab er seinen manisch gut

machte, führte niemand den von ihm einge-

gelaunten Figuren in den frühen vierziger

schlagenen Weg weiter.

«LOONEY TUNES» UND «MERRIE MELODIES» / USA 1938–46 Gesamtdauer ca. 95 Min / Farbe und sw / Digital SD und HD; 16mm / E // REGIE Bob Clampett.

Porky in Wackyland

Book Revue

USA 1938, 8 Min, sw

1946, 7 Min, Farbe

A Tale of Two Kitties

Baby Bottleneck

USA 1942, 7 Min, Farbe

1946, 8 Min, Farbe

A Corny Concerto

Kitty Kornered

USA 1943, 8 Min, Farbe

1946, 7 Min, Farbe

Coal Black and de Sebben Dwarfs

The Great Piggy Bank Robbery

USA 1943, 8 Min, Farbe

USA 1946, 8 Min, Farbe

Draftee Daffy USA 1945, 7 Min, Farbe


43 Dass Clampetts Warner-Cartoons über die Jahrzehnte in Vergessenheit gerieten, mag auch daran liegen, dass sie stärker als jene seines bekannteren Rivalen Chuck Jones vom Zeitgeist der Kriegsjahre geprägt sind. Doch wo, wenn nicht im Film­podium, versteht das heutige Publikum ­Anspielungen auf klassische Gangsterfilme und Musicals? Eingebettet in eine Ein­führung über Clampetts Zeit bei Warner B ­ rothers, ist eine Auswahl seiner wichtigsten Looney Tunes und Merrie Melodies zu sehen, darunter eine rare 16-mm-Kopie des umstrittenen Coal Black and de Sebben Dwarfs aus der Sammlung von «Mr. Jazz Films» Theo Zwicky. (oi) H Einführung und Präsentation: Oswald Iten

13 MAI 20

KUNFT U Z R E A INO D K S A D ENDOZ M E T N RILLA B R E D

Bus 32 & Tram 8 bis Helvetiaplatz, Tram 2 & 3 bis Bezirksgebäude Telefonische Reservation: 044 / 242 04 11 Reservation per SMS und Internet siehe www.xenix.ch


44 SÉLECTION LUMIÈRE

MAD MEN AND WOMEN

EINZELVORSTELLUNGEN MI, 12. JUNI | 18.15 UHR / u. a.

Unmittelbar nach Some Like It Hot legte Billy

lose Element bei Wilder ist sein erwachse-

Wilder ein weiteres Meisterwerk vor: The

nes Gespür für seine Figuren. Sie ver­ -

Apartment, die Tragikomödie über Karrie-

flüchtigen sich nicht in formelhaften Plots,

rismus und Korrumpierbarkeit in der New

weil ihnen die mit dem Lebensunterhalt ver-

Yorker Bürowelt von 1960.

bundenen Verantwortungen und Irrtümer Gewicht verleihen. In vielen Filmen scheinen

«The Apartment ist eine Grossstadtsatire mit

die Figuren kaum einen Beruf zu haben, in

einem romantischen Kern aus Gold: ein

The Apartment hingegen müssen sie daran

Must für alle, die den Stil der Serie Mad Men

erinnert werden, dass es neben dem Beruf

oder Richard Yates’ Roman ‹Revolutionary

noch etwas anderes gibt.» (Roger Ebert, Chi-

Road› von 1961 (und dessen schöne Ver­

cago Sun-Times, 22.6.2001)

filmung durch Sam Mendes) mögen. Jack Lemmon gibt C.  C. Baxter, einen streberhaf-

H Einführung am 12. Juni: Andreas Furler

ten, naiven, gutwilligen kleinen Angestellten in einer New Yorker Versicherungsfirma. Er hat sich dazu nötigen lassen, seine Junggesellenwohnung seinen schmierigen Vorgesetzten für deren Schäferstündchen nach Feierabend zu überlassen; der Hauptsünder in dieser Sparte ist der aufgeblasene Personalchef Mister Sheldrake. Baxter verliebt sich derweilen zaghaft in eine hübsche und aufgeweckte Fahrstuhlführerin, Fran Kubelik, gespielt von Shirley MacLaine (…), eine Liaison mit Komplikationen.» (Peter Brad­ shaw, The Guardian, 14.6.2012) «Das Drehbuch, welches Komik und Traurigkeit präzis ausbalanciert, wurde von Wilder und I. A. L. Diamond so angelegt, dass Baxter und Kubelik sich wohl wirklich mögen – beziehungsweise Gefühle verspüren, die zu echter Liebe führen – und doch die Sklaven des Wertesystems ihrer Firma

THE APARTMENT / USA 1960 125 Min / sw / 35 mm / E/d/f // REGIE Billy Wilder // DREHBUCH Billy Wilder, I. A. L. Diamond // KAMERA Joseph

bleiben. Er will der Assistent, sie die Frau

­LaShelle // MUSIK Adolph Deutsch // SCHNITT Daniel Man-

des Personalchefs werden, und beide sind

dell // MIT Shirley MacLaine (Fran Kubelik), Jack Lemmon

sie durch ihre Vorstellung von einem Chef so

(C. C. «Bud» Baxter), Fred MacMurray (Jeff D. Sheldrake), Ray Walston (Joe Dobisch), David Lewis (Al Kirkeby), Jack

mit Blindheit geschlagen, dass sie sich

Kruschen (Dr. Dreyfuss), Joan Shawlee (Sylvia), Edie Adams

Sheldrake gar nicht als vertrauensunwür-

Naomi Stevens (Mrs. Mildred Dreyfuss), Johnny Seven (Karl

dige Ratte vorstellen können. (...) Das zeit-

(Miss Olsen), Hope Holiday (Mrs. Margie MacDougall), ­Matuschka), Willard Waterman (Mr. Vanderhoff).


45 IMPRESSUM

DAS FILMPODIUM IST EIN ANGEBOT DES PRÄSIDIALDEPARTEMENTS

in Zusammenarbeit mit der Cinémathèque suisse, Lausanne/Zürich LEITUNG Andreas Furler (afu), Corinne Siegrist-Oboussier (cs) ASSISTENZ Tanja Hanhart (th), Primo Mazzoni (pm) // SEKRETARIAT Claudia Brändle BÜRO Postfach, 8022 Zürich, Telefon 044 412 31 28, Fax 044 212 13 77 WWW.FILMPODIUM.CH // E-MAIL info@filmpodium.ch // KINO Nüschelerstr. 11, 8001 Zürich, Tel. 044 211 66 66 UNSER DANK FÜR DAS ZUSTANDEKOMMEN DIESES PROGRAMMS GILT: Arenafilm, Melbourne; Ascot Elite Entertainment Group, Zürich; Cinélibre, Bern; EZEF, Stuttgart; Filmcoopi, Zürich; Les Films de mon oncle, Paris ; Films sans frontières, P ­ aris; Frenetic Films, Zürich; Gaumont, Neuilly sur Seine; HanWay Films, London; Kinemathek Le Bon Film, Basel; MK2, Paris; Moa Distribution, Lausanne; Park Circus, Glasgow; Pathé Films, Zürich; Praesens Film, Zürich; Roissy Films, Paris; Tamasa Distribution, Paris; Trigon-Film, Ennetbaden; WIDE Management, Paris; Xenix Filmdistribution, Zürich; Theo Zwicky, Zürich. DATABASE PUBLISHING BitBee Solutions GmbH, Zürich // KONZEPTIONELLE BERATUNG Esther Schmid, Zürich GESTALTUNG TBS & Partner AG, Zürich // KORREKTORAT N. Haueter, A. Ruoss // DRUCK Ropress, Zürich // AUFLAGE 6700 ABONNEMENTE Filmpodium-Generalabonnement : SFr. 400.– (freier Eintritt zu allen Vorstellungen; inkl. Abo Programmheft) // Filmpodium-Halbtaxabonnement: SFr. 80.– / U25: SFr. 40.– (halber Eintrittspreis bei allen Vorstellungen; inkl. Abo Programmheft) // Abonnement Programmheft: SFr. 20.– // Anmeldung an der Kinokasse, über www.filmpodium.ch oder Tel. 044 412 31 28

HINWEIS

ause vom Saisonp er Septemb . 5 2 1. bis mber bis 26. Septe er: 6. Oktob ektiven Retrosp des ZFF

VORSCHAU The Real Eighties

Daniel Auteuil

Eine geläufige Verfallsgeschichte besagt:

Der 1950 geborene Daniel Auteuil ist der

Alles Übel im US-Kino entspringt den

grosse Stille im französischen Kino der

­Achtzigern. Sie sind das Scharnier zwischen

­letzten 25 Jahre: ein exquisiter Darsteller

New Hollywood, dem «last hurrah» der

mehrheitlich leiser, introvertierter Charak-

amerikanischen Filmkunst, und der High-

tere, hinter deren kontrolliertem Äussern

Concept-Wüste der Gegenwart: eine Zeit

widersprüchlichste Gefühle lodern. Seine

des Übergangs, in der das amerikanische

Kinokarriere baute der gelernte Theater-

Kino sich im Einklang mit Präsident Rea­

schauspieler mit dem markanten Profil ab

gans neoliberaler Agenda neu ordnete. Die

den mittleren siebziger Jahren jedoch mit

Reihe «The Real Eighties», die wir leicht va-

Krimis und Boulevardkomödien auf, bis ihm

riiert vom Österreichischen Filmmuseum

die Pagnol-Verfilmung Jean de ­Florette 1986

Wien übernehmen, hinterfragt diese Vor-

den ersten César bescherte. Unsere Hom-

stellung und sucht nach den widerständigen

mage zeichnet Auteuils Weg über Claude

Texturen und Erzählungen des verfemten

Sautet (Un cœur en hiver), André Téchiné (Les

Jahrzehnts – auch und gerade aus der Mitte

voleurs) und weitere Regie-Koryphäen wie

des Hollywood-Mainstream.

Patrice Chéreau und Patrice Leconte nach.


june 27 WorldWarZ.ch


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