Fazit 103

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Fazitportrait

Zu heißes Wetter ist nicht gut. Da gehen die Leute lieber baden und kommen nicht mehr zum Eisessen. Wolfgang Philipp, Konditormeister

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ine gute Konditorei muss etwas mit dem Luxusgut Zeit zu tun haben – insbesondere dann, wenn sie zugleich ein Kaffeehaus ist. Sie muss ein Ort sein, wo die Stundentrommel anders schlägt, vor ihrer Eingangstür können die Jammertäler des Lebens derer, die da zu Besuch kommen, abgelegt werden wie Pistolengurte vor Betreten eines Western-Saloons. Zu philosophisch? Mitnichten. Als Beweis diene das schmucke Jugendstilhaus Krenngasse 38/Ecke Ruckerlberggürtel in Graz, namentlich die Konditorei Philipp, seit einem halben Jahrhundert geführt von Wolfgang Philipp, dem kunstsinnigsten Zuckerbäcker des Landes. Mit Schokolade, Bonbons, Desserts, Torten und Kuchen sowie Speiseeis wird hier im doppelten Wortsinn auf die Süße des Lebens verwiesen. »Wir sind bemüht, Sie rundum glücklich zu machen«, lautet denn auch ein Satz in der Philipp’schen Eiskarte. (Lebensmittel-)Technisch gesehen ist der Faktor Qualität der größte Vorteil des kleinen Gewerbebetriebes für »Kanditenerzeugung« gegenüber industriell hergestellter (Süß-)Ware. Das Eis wird mit frischen Früchten gemacht, die Konfitüren für die Torten haben hohes Niveau, Konservierungsmittel sind verpönt. Es gibt Diabetiker-Eis, auf Anfrage auch lactosefreies Eis und ebensolchen Kuchen – vom Rehrücken bis zum Pignolikipferl – oder glutenfreie Kastanienherzen und Marzipanstangerl sowie Him- und Heidelbeerstreusel ohne Ei oder Ischlerschnitten ohne Dotter.

72 /// Fazit Juni 2014

Nähe zum Kunden Für Tochter Elisabeth Philipp eine Reaktion auf Kundenwünsche: »Es scheint, als würden die Allergien vor allem bei der Jugend mehr und mehr zunehmen. Meiner Meinung nach könnte das mit den heutigen Lebensmitteln oder mit den Plastikverpackungen zusammenhängen.« Diese Nähe zum Kunden, die hohe und augenscheinliche Handwerkskunst bei traditionellen wie auch spektakulären Torten, insbesondere aber bei den Petit Fours (spezielles Kleingebäck), sind auch Nahrung für Seele und Auge, sind Meilensteine auf einem Weg, der sich nicht schon als Ziel definiert, sondern völlig unbescheiden einem solchen entgegenstrebt: dem Geschmack. Industrialisierung hat auf vielen Ebenen enorme Vorteile; man denke nur an Produktionsmenge und Verfügbarkeit der Waren oder an die Preisgestaltung. Aber im gehobenen (Genuss-) Lebensmittelsektor und wenn es nicht um die Versorgung der Massen geht, hat das Match ein klares Ergebnis: Kantersieg für das Gewerbe. Wenngleich es immer wieder heißt, dass man über Geschmack nicht streiten kann. Aber bei der Konditorei Philipp kann man ruhig von »Geschmacksexplosion« sprechen.


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