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Medizin Seite

Marginale Gruppen und die Medizin

Die Aids-Patient*innenbewegungen machten vor, was auch bei Covid nötig sein wird

SARS-Cov19 mit der Grippe vergleichen – dies wurde schon zu Beginn der Pandemie als Unart qualifiziert. Dennoch macht es Sinn, in die Vergangenheit zu blicken.

Whodunit? Das Schuldparadigma des Westens

So argumentiert etwa der Medizinhistoriker Richard McKay, dass der globale Norden eine recht bescheidene Auswahl an kulturellen Repertoires hat, um mit Infektionskrankheiten umzugehen: Es kommt kein Krankheitsnarrativ ohne Schuldgeografien (von wo?) und Schuldgenealogien (von wem?) aus. Dem stimmt die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Priscilla Wald zu: Narrative Entscheidungen weisen immer in dieselbe Richtung. Sozial marginale Gruppen werden zu den Opponenten, die Wissenschaft ist die Heldin des Narrativs.

Pandemien und soziale Marginalisierung sind immer verschränkt. Durch Mittelalter und Neuzeit ziehen sich antisemitische Brunnenvergiftungstheorien, um Pestausbrüche zu erklären. SARS-Cov2-Sterblichkeitsraten laufen in den USA entlang von Einkommen, Hautfarbe und Gender. Aids hieß zuerst die 4H-Krankheit, weil anfangs vor allem bei Homosexuellen, Heroin injizierenden Menschen, Haitianer*innen und Hämophilen beobachtet. Ein anderer früher Name für Aids, GRID – gay-related immunedeficiency, suggeriert, schon Homosexualität allein würde zum Krankheitsausbruch führen.

Dies entsprach frühen Theorien zu Aids. Anfang der 1980er-Jahre verfolgten viele Immunolog*innen die „Immune-overload“Hypothese. Sie sahen Aids als „Lifestyle- Krankheit“. Vermeintliche Promiskuität, Chemsex (unter Drogeneinfluss) und dergleichen würden das Immunsystem überfordern. Die Hypothese war auch der Tatsache geschuldet, dass nichts außer sexuelle Orientierung die ersten Aids-Cluster (New York, Los Angeles, Orange Counties) verband. Das Contact-Tracing eines Flugbegleiters aus Quebec wird oft als wichtigster Moment in der Pandemie beschrieben: Gaetan Dugas wurde Bindeglied zwischen einigen der dokumentierten Fälle. Aus „Patient O“ – für Out of California – wurde Patient 0, Patient Zero. Und Patient Zero wurde zum Signifkanten für Aids – er wurde zu „dem“ Überträger stilisiert, wurde Mensch und Mikrobe in einem.

Durch das Individualisieren von Aids als Erreger und Überträger wurde auch von den sozialen Gegebenheiten abgesehen. Der Journalist Malcolm Gladwell gibt die etwas kurios anmutende Äußerung eines Epidemiologen wieder, der sich fragt, ob es nicht besser gewesen wäre, das HI-Virus nie zu identifizieren? Statt auf die lange erfolglose Suche nach Therapeutika hätte man sich auf die soziopolitischen Ursachen konzentrieren sollen – warum sozial schwache

TEXT: SOPHIE JULIANE VEIGL

Der Soziologe Steven Epstein prägte den Begriff Glaub- würdigkeits- strategie

Medizinhistoriker Richard McKay, Universität Cambridge

Gruppen so vulnerabel waren. Medikamente und Patente waren für Geldgeber jedoch sofort vielversprechender als Sozialpolitik.

Das Entstehen einer sozialen Bewegung

Die Demografie von Menschen mit Aids ist für die Medizingeschichte weiter wichtig. Unter den „4H“ gab es nur eine Gruppe mit sozialem Kapital – schwule weiße Männer der Mittelschicht. Über die homophilen Bewegungen der 1950er-Jahre, die Stonewall Riots in New York 1969 und durch das Streichen von Homosexualität als psychische Krankheit aus dem DSM-2 1973 konnte sich die Schwulen- und Lesbencommunity zwischen 1960 und 1980 von einer pathologisierten Randgruppe zu einer legitimen Interessensgruppe aufwerten.

Als es zum Ausbruch der Aids-Pandemie kam, hatte die Schwulen- und Lesbenbewegung jahrzehntelang eine legitime Identität des Schwul- oder Lesbischseins aufgebaut. Die erneute Delegitimierung und Pathologisierung von Homosexualität bedeutete eine Bedrohung dieser Identität. So waren Lesben, obwohl nicht direkt von der Krankheit betroffen, von Anfang an Teil des Aids-Aktivismus. Sie blieben nicht die einzigen involvierten Frauen. Bald betraf Aids auch immer mehr Sexarbeiterinnen, darunter viele Trans*Frauen. Zum anderen solidarisierten sich viele Frauen aus dem Sozialarbeits- und Medizinbereich. Viele waren Teil feministischer Gesundheitsbewegungen der 1970er-Jahre, brachten also viel Expertise und Politisierung mit.

Früher Aids-Aktivismus lässt sich vor allem in zwei Phasen einteilen: vor und nach der Entwicklung hochwirksamer Therapeutika. Anfang der 1980er-Jahre war Aids-Aktivismus vor allem darauf fokussiert, explizite Sexualität weiterhin nicht aus dem öffentlichen Leben zu verdrängen. Dann kam der Behandlungsaktivismus für schnellere Zulassung von experimentellen Medikamenten. Ende der 1980er-Jahre lag das Interesse auf früheren Stadien medizinischer Forschung – nämlichen klinischen Studien. Aids-Aktivist*innen stellten deren Ethik infrage.

Randomisierte, doppeltblinde Studien, bei denen niemand weiß, wer aktive Substanz und wer Placebo bekommt, gelten als der Goldstandard evidenzbasierter Medizin. Er raubte aber, laut Aids-Aktivist*innen, der Hälfte der Testpersonen ihre Überlebenschancen. Auch war der Zugang zu Studien hochproblematisch.

Frauen galten als inakzeptabel für klinische Studien, da mögliche Schwangerschaften Studien potenziell beeinflussen konnten. Ein weiteres Problem war die Einnahme von anderen Substanzen.

So wurden etwa Hämophile, intravenös Heroin konsumierende Menschen, aber auch Trans*Frauen aus klinischen Studien ausgeschlossen.

Neue wissenschaftliche Studien, alte Vorurteile

Die Aids-Patient*innenbewegung ist eines der besten Beispiele, wie sich eine soziale Bewegung Gehör verschafft. Um Einfluss auf klinische Studien zu bekommen, mussten sich Aids-Aktivist*innen die kulturelle Kompetenz von Expert*innen aneignen. Der Soziologe Steven Epstein nennt das Glaubwürdigkeitsstrategien.

Eine davon war, Stellung zu schon etablierten Konfliktlinien in der biomedizinischen Forschung zu beziehen, etwa in der Debatte zwischen „pragmatischen“ und „peniblen“ klinischen Studien. Das Argument von Aids-Aktivist*innen war: Penibler Zugang führe in der Praxis zu unpeniblen Daten. Die penible methodische Reinheit stand in Opposition zu sozialen Realitäten. Aids-Aktivist*innen schufen ihr Ideal von „guter Wissenschaft“ – experimentelles Design, das soziale Realität miteinbezieht. Schritt für Schritt konnten Behandlungsaktivist*innen Änderungen im Studiendesign herbeiführen.

Hier endet aber nicht die Geschichte von Aids und sozialen Bewegungen. Noch im Jahr 2000 hatte nur eine von tausend Personen mit HIV oder Aids in Südafrika Zugang zu Therapie. Als Hochaktive Antiretrovirale Therapien (HAART) auf den Markt kamen, war es öffentliche Meinung, dass diese aufgrund ihrer Kosten nie für die Märkte des globalen Südens zugänglich sein konnten. Im Jahr 1998 klagten 41 Pharmaunternehmen die südafrikanische Regierung unter Nelson Mandela für das Nichteinhalten von Patentrechten.

Wieder waren es Patient*innenbewegungen, die zehn Jahre später Zugang zu HAART auch im globalen Süden ermöglichten. HAART wurden von einem hochpreisigen, geringvolumigen Gut der wenigen zu einem niedrigpreisigen, hochvolumigen Gut für alle, die es brauchten. Die Aids-Patient*innenbewegungen transformierten Märkte.

Wann kommt die Covid-Patient*innenbewegung?

Was diese Anliegen angeht, ist noch viel zu tun. Patentrechte führen auch dazu, dass HIV-Prophylaxe besonders vulnerablen Gruppen wie Sexarbeiter*innen nur hochpreisig zugänglich ist – auch in Österreich. Die Aids-Patient*innenbewegungen zeigen aber, wie Aktivist*innen in das globale Gesundheitsgeschehen eingreifen können.

Auch in Bezug auf die aktuelle SARSCov19-Pandemie lässt sich vieles aus den Aids-Aktivist*innenbewegungen lernen. Schon viele Pharmaunternehmen lassen Mittel zur Behandlung oder Vorbeugung von Corona patentieren. Als vermutlich lang andauernde globale Gesundheitskrise wird es in vielen Belangen wieder an Patient*innenbewegungen liegen, Zugang zu Medikamenten und Hilfe zu sichern.

: GEDICHT MICHAEL KRÜGER: OSTERSAMSTAG 2022

Michael Krüger

(Jg. 1943), deutscher Dichter, Verleger und Übersetzer, veröffentlichte seit seinem ersten 1976 zwanzig Gedichtbände; zuletzt „Mein Europa. Gedichte aus dem Tagebuch“, Haymon, Innsbruck 2019; „Im Wald, im Holzhaus. Gedichte“, Suhrkamp, Berlin 2021. Das hier abgedruckte Gedicht ist ein Originalbeitrag.

AUS: MICHAEL KRÜGER: OSTERSAMSTAG 2022 In der Frühe war die Luft über dem See so klar, dass die Welt sich mühelos verdoppelte. Ein Fisch zeigte mir mit einem gewaltigen Sprung, wo die Grenze lag, und die Katze des Nachbarn schaute ungläubig ihr Spiegelbild an. Als ich das Haus verliess, sah ich einen Kranz Federn auf dem Weg, so sorgfältig ausgelegt, als hätte man ein Opfer zelebriert, wenig Blut an den dürren Kielen, gerade genug, um Fledermäuse und Käfer zu warnen. Ein Bienenfresser? Ich war mir nicht sicher. Am Fuss der kranken Linde hatte ich einen Stein vor das Loch einer Wühlmaus gewälzt, der lag jetzt verloren im Gras, wie hingeworfen. Die überlebenden Vögel sind fleissig an der Arbeit. Was sie in den Himmel schreiben, ähnelt den Vorzeichnungen, wie Maler und Bildhauer sie auf den Särgen anbringen von anonymen Toten, es wimmelt von Fehlern, sorgfältig sind sie nicht. Es fällt schwer, ein barbarisches Imperium in Worten vernünftig erscheinen zu lassen, es geht um Endkampf. Christus ist auferstanden, und der Himmel schweigt.

: BIG PICTURE AUS BUDAPEST

LÁSZLÓ LÁSZLÓ RÉVÉSZ (AUSSCHNITT)

: IMPRESSUM

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ERICH KLEIN

: WAS AM ENDE BLEIBT

Europuher

Als Mitte der 1980er-Jahre der letzte deutsche Baum starb, war man in mitteleuropäischen Breiten entsetzt. „No, apocalypse – not now!“ hieß die Losung. Ewiger Friede sollte herrschen, nie wieder Krieg, die Wiesen sollten lachen. Pazifismus, das galt auch für die Natur. Au- und Baummördern wurde der Kampf angesagt.

Ein Land wie die Ukraine gab es damals nicht. Erst mit der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl tauchte es in der westlichen Wahrnehmung auf, um sogleich wieder vergessen zu werden. Die Politik der Gefühle fand in diesem Teil der Sowjetunion bestenfalls Bestätigung. Auch der Fall des Eisernen Vorhangs änderte daran nichts. Kiew blieb selbst für sogenannte Russland-Experten bloß drittgrößte Stadt „Russlands“, ein „vergessenes Territorium“ laut dem ukrainischen Autor Juri Andruchowytsch. Das flächenmäßig größte Land Europas: Heimat von Oligarchen und Korruption, Billigpreisland und Imperium der Arbeitsemigration nach Ost und West.

Ukraine-Reisende wunderten sich über ein Kaiser-Franz-JosephDenkmal in Czernowitz und eines für Katharina die Große im einst von ihr eroberten Odessa. Kommunistische Denkmäler wurden gestürzt und durch Sympathisanten der Nazis ersetzt. Symbolpolitik vor Sonnenblumenfeldern, woran die „orangene Revolution“ nichts und die „Revolution der Würde“ 2013/14 einiges änderte. Die Annexion der Krim durch Russland in der Folge wurde fast als Selbstverständlichkeit hingenommen.

Seit Beginn des von Russland entfachten Kriegs scheint alles anders: Die Ukraine ist Zentrum Europas. Trotz anfänglicher Orientierungsprobleme waren gewohnte Gefühlparadigmen umzukehren. Was bedeutet es aber, wenn über die Vernichtung von Mariupol gesagt wird, im Zentrum Europas herrsche Krieg; wenn angesichts der Bilder von Zerstörung und Kriegsverbrechen von „Genozid“ die Rede ist? Die Hochrüstung der Worte macht überzeugte Pazifisten zu Befürwortern von Waffenlieferungen – wer versucht, dagegen zu argumentieren, wird als „Putin-Versteher“ denunziert. So sehr Politiker*innen auch beteuern, man wolle nicht in den Krieg hineingezogen werden – längst ist das Gegenteil der Fall. Ist es möglich, dass trotz aller Hilfsbereitschaft die Ukraine abermals vergessen wird? Eines ist klar: Europa will lachende Wiesen.

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