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Wilden Seite
Weit jenseits von allem Wilden
Der Fortschritt der Wissenschaften hat uns zu einer neuen Form der Biopolitik geführt
Schenkt man den Theorien des Philosophen Michel Foucault Glauben, befinden wir uns im Zeitalter der Biomacht. Das Wort „Biomacht“ leitet sich von „bios“ ab, was aus dem Griechischen kommt und in der Übersetzung so viel wie „leben“ bedeutet. Aber was genau heißt das?
In welchem Verhältnis stehen Leben und Politik?
Für die einen fängt Politik an, wo Leben aufhört. Für andere ist es umgekehrt: Politik hat an sich schon mit Leben zu tun. Die Definition des Begriffes ist nicht wertfrei, sondern immer konflikthaft. Es handelt sich bei „Biopolitik“ um ein theoriepolitisches Feld, in dem gearbeitet wird, nicht um einen objektiven Forschungsgegenstand. Wie lässt sich dieser Begriff nun deuten?
Die Frage ist, auf welchen Wortteil der Akzent gelegt wird. Ist es das Leben oder ist es die Politik, was betont werden soll? Aus der Entscheidung darüber ergeben sich zwei Bereiche: jener, in dem Lebensprozesse zum Gegenstand der Politik erhoben werden wie bei den Euthanasieprogrammen in Zeiten des Nationalsozialismus. Und den Bereich, in dem es zur Regulierung des Lebens durch die Politik kommt.
Deutet man den Begriff naturalistisch, so steht das Leben über der Politik. Geht man von einem historischen Begriff aus, verhält es sich umgekehrt. Die von Foucault vorgeschlagene Klassifizierung lautet, dass es im Fall, da „Biopolitik“ oder „Biomacht“ betrieben wird, zu einer Abstraktion des Lebens von den substanzhaften Trägern kommt. So gibt es im Zeitalter der Biomacht keine singulären Existenzen mehr, sondern sogenannte „Bevölkerungen“, wie Thomas Lemke in seiner Einführung zur „Biopolitik“ schreibt.
Zu wichtigen Strömungen der Biopolitik kann man die Entwicklungen in Statistik und Demografie zählen. Dass es dem Menschen nun möglich ist, in biologische Verhältnisse einzugreifen und diese zu regulieren, verändert seinen Umgang mit der Welt. Natur ist kein selbstständiges Substrat mehr, sondern ein Korrelat der Regierungshandlungen: Sterbehilfe, InVitroFertilisation, CyborgIdentitäten. Praktikable Programme eben.
Müssen wir unsere Körper überwachen und optimieren?
Wie kann man da noch auf Wissenschaft und Fortschritt vertrauen? Natur wird sozusagen von den Mächtigen „gemacht“. Man denke an den Trend der neuen Reichen, sich ihr Körperfett mittels Kryolipolyse wegfrieren zu lassen, oder an teure SelfTracker, die dazu dienen, die Gesundheitswerte des Körpers zu überwachen und zu optimieren. Diese „Optimierung“ erinnert ein wenig an unsere dunkle Vergangenheit.
In den Zeiten des Nationalsozialismus wurde der Begriff des „Volkskörpers“ ein
TEXT: SOPHIE REYER
Die Biographie des Philosophen, der uns Sexualität, Wahnsinn, Gefängnis und Macht in ein anderes Licht getaucht hat
geführt. Darunter verstand man eine rassisch homogene Gemeinschaft, die autoritär geführt wird. Soziale und politische Probleme seien, so die Theorie des NSRegimes, auf erbbiologische Unterschiede zurückzuführen. Dass dieser Ansatz jeder wissenschaftlichen Fundierung entbehrt, spielte dabei keine Rolle. Die Optimierung des Körpers und das Vernichten von „unwertem“ Leben sind ein wichtiges Merkmal des Nationalsozialismus. Die Erschaffung von Leben, eine rassenhygienische und erbbiologische Grundierung der biopolitischen Programmatik sowie die Kombination mit geopolitischen Ideen war ein wesentliches Instrumentarium des NSRegimes. Positive und negative Eugenik wurde auf die Spitze getrieben: „Minderwertiger“ Nachwuchs, zu denen die NSIdeologen Menschen mit Behinderungen, Juden, Schwule/Lesben, Roma und Sinti sowie andere Randgruppen zählten, galten als „lebensunwertes Leben“ und sollten vernichtet werden. Innenpolitisch wurde die „Rassenmischung“ untersagt. In den Grenzen des nationalsozialistischen „Reichs“ durfte sich das Blut „reiner Rassen“ nicht mit dem „minderwertiger Rassen“ vermengen. Außenpolitisch war das Ziel, den Lebensraum der vermeintlich „gesunden Rasse“ durch Krieg und Heirat sowie geschlechtliche Reproduktion so weit wie möglich auszuweiten.
Biopolitik als eine zeitgemäße Form der Machtausübung
Heute gelten Rassentheorien als verpönt. Dennoch lädt der medizinische Fortschritt dazu ein, zwischen Lebensformen zu unterscheiden: So bietet beispielsweise die Untersuchung des Fruchtwassers einer Schwangeren die Möglichkeit, sich früh des heranwachsenden Lebens und seiner gesundheitlichen Verfassung bewusst zu werden. Was auch indirekt impliziert, dass es sich etwa bei einem Kind mit Downsyndrom nicht um ein „optimales“ Wesen handelt. Wer aber bestimmt darüber? Mit neuen Errungenschaften muss, so verlockend sie klingen, vorsichtig umgegangen werden.
Ein weiterer Bereich, den man mit Skepsis betrachten muss, ist die Molekularbiologie: In den 1930erJahren hat die RockefellerStiftung in den USA massiv in diese investiert. Es sollten Instrumente sozialer Kontrolle entwickelt werden, um menschliches Verhalten zu steuern und zu optimieren. „Biopolitics“ wurde zu einer neuen Wissenschaft.
Der Philosoph Foucault sieht diese Biopolitik dezidiert als eine moderne Form der Machtausübung. Sie habe eine fundamentale Veränderung in der Ausübung des Politischen erbracht. Diese Zäsur im politischen Handeln war entscheidend bei der Entstehung des modernen Rassismus. Zwischen „optimiertem, gesundem“ und „krankem, minderwertem“ Leben zu unterscheiden mit der Absicht, letzteres zu eliminieren, ist eine Form der Hierarchie. Im Zeitalter der Biomacht wird das Recht, über Leben und Tod zu verfügen, wirksam. Das zeigt sich in den Bereichen Reproduktion, InVitro Fertilisation und Eugenik. Dabei gilt folgende Regel: Der Körper ist umso gefügiger, je nützlicher er ist – und umgekehrt. Er wird zur Ware. Wollen wir das?
Neue Technoreligionen erobern unsere Welt. Heil wird uns durch Gene und Algorithmen versprochen. Künstliche Intelligenz soll sich von unserem Bewusstsein abkoppeln. Wir Menschen sollen mit dieser Entwicklung mithalten, Körper und Geist, so gut es geht, optimieren. Die erste kognitive Revolution verschaffte dem menschlichen Geist einen Zugang zum Intersubjektiven – was dazu führte, dass wir nun über den Planeten herrschen. Heute sollen mit Hilfe von Gentechnik, Nanotechnologie und Schnittstellen zwischen Gehirn und Computer neue Welten geschaffen werden.
Humanismus gegen technische Möglichkeiten – und wer kontrolliert?
Bemerkenswert ist in dem Zusammenhang der Aufmerksamkeitshelm der USArmee. Er trägt dazu bei, Menschen dazu zu bringen, sich besser auf ihre Aufgabe zu konzentrieren. Dazu werden mittels Sensorik einzelne Gehirnregionen aktiviert und andere lahmgelegt. Eine Journalistin, die ihn ausprobierte, schrieb, sie habe sich nie so gut gefühlt wie beim Tragen dieses Helmes. Nun – die schlaueste Ziege sorgt für die größten Probleme, wie der Bauer sagt.
Stets hat der Humanismus betont, es sei nicht leicht, den eigenen authentischen Willen zu erkennen. Der technische Fortschritt ist da viel härter: Er will nicht, dass wir auf unsere inneren Stimmen hören. Er will sie kontrollieren. Sobald wir wissen, wie das biochemische System aussieht, mit dem wir arbeiten, können wir an Knöpfen drehen und das Leben einfacher machen, indem wir einzelne Energieflüsse ein wenig reduzieren und andere verstärken. Humanisten verabscheuen diese Haltung – doch sie scheint auch einige Menschen glücklicher zu machen. Cipralex, das zur Behandlung von Depressionen eingesetzt wird, erleichtert vielen Menschen das Leben, während die humanistische Forderung „Hinterfrage und erkenne dich selbst!“ Tausende von Leben zerstört.
Sagten wir früher „Hör auf dich selbst!“, so muss dies nun hinterfragt werden. Denn wir wissen zu wenig, wer wir selbst sind. Welche Stimme spricht in uns, was genau kontrolliert uns? Eine Operation der Libido kann womöglich Homo oder Heterosexuelle aus dem Weg schaffen – und unsere Vorlieben drastisch verändern. Ein Algorithmus erscheint wie der heilige Gral: Er vereint alles, von der Ökonomie über die Kunst bis zur Politik. Doch so verführerisch seine Macht auch ist, es bleibt die Frage: Wer hält das Steuer in der Hand?