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Utopien im Klimawandel Seite
Der Sinn von sozialem Träumen
Warum utopisches Denken und Handeln uns für den Klimanotstand etwas bringt
In der öffentlichen Debatte hat der Klimanotstand zwei Reaktionen hervorgerufen: entweder Resignation, Trauer und Depression oder ein selbstbewusstes, ja arrogantes Vertrauen in die Fähigkeit innovativer Wissenscha und Technologie, unsere Spezies vor sich selbst retten zu können.
Aber wie Donna Haraway zu zeigen vermochte, wird uns keine dieser Reaktionen weiterbringen. Gefragt ist indessen eine realistische Auseinandersetzung mit jenen politischen und sozialen Herausforderungen, die noch vor uns liegen; eine Auseinandersetzung, die auf der anderen Seite Raum für die „begriffene Hoffnung“ (Ernst Bloch) schafft, dass unsere Zukun noch nicht vorherbestimmt ist. Zur Erreichung dieses Zieles sind utopische Denk- und Handlungsformen von größter Bedeutung.
Welche Rolle könnten Utopien im Umgang mit dem Klimanotstand spielen? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir ein Missverständnis hinsichtlich des Zwecks von Utopien aus dem Weg räumen. Viele werden vermuten, dass die utopische Vorstellungskra ungeeignet erscheinen muss, um die Realitäten einer Welt im Klimawandel zu beleuchten. Aus diesem Blickwinkel betrachtet kommt das utopische Handeln und Denken einem Eskapismus gleich, den wir dringend zu vermeiden haben, sofern wir es mit den auf uns zukommenden Herausforderungen ernst meinen.
Der Vorwurf, dass Utopien verführerische Alternativen konstruieren, ohne jedoch zu klären, wie man diese realisieren könnte, besitzt eine philosophische Vorgeschichte. Schon Karl Marx und Friedrich Engels attackierten die sogenannten utopischen Sozialisten aufs Schärfste, weil diese dem revolutionären Subjekt, dem Proletariat, im Übergang zum Kommunismus viel zu wenig Aufmerksamkeit schenkten. In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu betonen, dass die Autoren des „Kommunistischen Manifests“ das Ideal einer klassenlosen Gesellscha , welches die utopischen Sozialisten anstrebten, keineswegs in Frage stellten. Es ging Marx und Engels viel eher darum aufzuzeigen, dass der alleinige Fokus auf den ersehnten Endpunkt der Geschichte einer radikalen Politik im Weg stünde.
Marx und Engels hatten bis zu einem gewissen Grad recht. Es gibt viele Arten von utopischen Visionen, die nichts als Trost spenden. Sie machen eine schwierige Situation ein wenig erträglicher, indem sie Lesende auf magische Weise in eine wunderbare Zukun transportieren. Solche Utopien lassen nicht nur die zentrale Frage des Übergangs von der Gegenwart in die Zukun unberührt, sie schränken auch die Freiheit derer ein, die dazu aufgerufen sind, sich in diese schöne neue Welt hineinzuversetzen – ein Einwand, der von liberalen Denkerinnen und Denkern verschiedener Couleur, von Karl Popper bis Raymond
TEXT: MATHIAS THALER
Mathias Thaler studierte Philosophie und Politikwissenscha en in Wien, Paris und Berkeley. Nach Forschungsaufenthalten in Toronto, Coimbra und Oxford lehrt er Politische Theorie an der Universität Edinburgh in Schottland
Sein neues Buch No Other Planet: Utopian Visions for a Climate-Changed World erscheint 2022 bei Cambridge University Press
Aron, gegen den gewalterzeugenden Aspekt des Utopismus erhoben wurde.
Doch nicht alle Utopien verabsäumen es, darüber zu reflektieren, was praktisch zur Überwindung gegenwärtiger Hindernisse getan werden sollte. Nicht-perfektionistische Entwürfe sind sich der Gefahren utopischer Visionen bewusst. In den Worten Miguel Abensours besteht ihr Ziel darin, unser Begehren nach anderen Seins- und Lebensweisen zu erziehen und kreativ in bestimmte Richtungen zu lenken.
Der Interpretationsfehler, den Kritiker*innen begehen, besteht darin, dass sie diese Erziehungsfunktion von Utopien ausschließlich im Sinne von perfekten und statischen Repräsentationen anderer Welten deuten. Die pädagogischen Interventionen des Utopismus können jedoch auch anders vollzogen werden. In den 1970erJahren etwa begannen Science-Fiction- Autorinnen wie Ursula K. Le Guin, Marge Piercy oder Octavia Butler in ihren eigenen Vorstellungen der Zukun den kollektiven Wunsch nach sozialer Transformation kritisch zu hinterfragen. Zweifel und Konflikt sind in diesen komplexen Erzählungen allgegenwärtig. Das utopische Wunschdenken entpuppt sich dadurch als das komplette Gegenteil eskapistischer Fantastereien.
Die kreative Erziehung unseres Verlangens nach alternativen Seins- und Lebensweisen stellt ein kompliziertes Unterfangen dar, das stets Gefahr läu , in totalitäre Unterdrückung umzuschlagen. Obwohl Utopien zweifelsohne problematische Auswirkungen haben können, bedeutet das gerade nicht, dass wir sie auf dem Misthaufen der Geschichte entsorgen sollten. In der jetzigen Situation überwiegt das Risiko, sich nicht auf soziales Träumen einzulassen, bei Weitem: Wie der jüngste Bericht des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) zu verschiedenen Klimaszenarien festhält, wird jeder Versuch, in diesem Moment äußerster Notlage am Business as Usual festzuhalten, mit Gewissheit einen noch katastrophaleren Zusammenbruch des planetaren Ökosystems zur Folge haben.
Welche Lehren könnte die eben genannte Lesart von Utopien für unsere Welt im Klimawandel bereithalten? Ich schlage vor, zwischen drei fundamentalen Mechanismen utopischen Denkens und Handelns zu unterscheiden: verfremden, mobilisieren und warnen. Utopien zielen darauf ab, ihre Kritik am Status quo mittels dieser Funktionen auszuüben. Dies kann durch einen Blick auf Debatten in der politischen Theorie veranschaulicht werden, die sich direkt mit den vielfältigen Facetten des Klimawandels auseinandersetzen.
Beginnen wir mit dem Mechanismus der Verfremdung. Wenn Utopien das Außergewöhnliche normal und alltäglich erscheinen lassen, versuchen sie, unseren gesunden Menschenverstand auszuhebeln, und eröffnen so Möglichkeiten zur individuellen und gesamtgesellscha lichen Transformation. Dementsprechend besteht eine Lesart von Bruno Latours Gaia-Konzept darin, dieses als eine utopische Figur zu entschlüsseln, welche anthropozentrische Sichtweisen des Planeten entzaubert. Latour entwir eine politische Ökologie, die den binären Gegensatz von Natur und Kultur vollkommen außer Kra setzt. Daraus entwickelt sich eine andere, zutiefst seltsame Vorstellung der Erde, in der die menschliche Handlungsfähigkeit durch andere Lebensformen permanent in Frage gestellt wird.
Mobilisierende Theorien bemühen andere utopische Visionen. Diese beschreiben radikale Alternativen mit dem Zweck, optimistische Perspektiven auf die Zukun freizulegen. Im zeitgenössischen Umweltdiskurs bringt der „Ökomodernismus“ diese Strategie zum Einsatz, vor allem aufgrund der provokativen These, dass innovative Wissenscha und Technologie eine „Entkopplung“ menschlicher Bedürfnisse von natürlichen Ressourcensystemen beschleunigen könnten. Ein Vertreter dieser Ansicht ist etwa Steven Pinker, der sich zuletzt verstärkt um eine Rehabilitierung des Erbes der Au lärung bemühte.
Schließlich warnen uns Theorien, die auf einem düsteren Urteil beruhen: Sollten wir unsere eingefahrenen Seins- und Lebensweisen nicht vollständig umstellen, so diese Sichtweise, wird sich die Apokalypse nicht abwenden lassen. Dystopische Geschichten verfolgen diese Argumentationslinie, indem sie gefährliche Trends ausloten, welche gegenwärtig noch verborgen bleiben. Kommentatoren wie Roy Scranton oder David Wallace-Wells stellen etwa die Behauptung auf, dass wir so gut wie nichts zu tun vermögen, um den planetaren Zusammenbruch und den endgültigen Untergang unserer Spezies aufzuhalten.
Diese drei Beispiele zeigen, dass die utopische Vorstellungskra der öffentlichen Debatte über den Klimawandel Wichtiges hinzuzufügen hat. Beim Erforschen von Alternativen geht es freilich nicht nur um die Modellierung neuer Seins- und Lebensweisen, sondern auch um das Anspornen widerständiger Handlungsperspektiven. Soziales Träumen beschränkt sich somit nicht auf abstrakte Gedankenexperimente, es beabsichtigt auch eine Umstrukturierung des menschlichen Verhaltens und erweist sich dadurch als zutiefst praktisch.
Der Klimanotstand hat unter anderem eine Krise der Vorstellungs- und Handlungskra ausgelöst. In diesem Zusammenhang und trotz berechtigter Sorgen über die problematischen Aspekte des sozialen Träumens können wir es uns heute nicht leisten, die von Utopien erzeugten Effekte der Verfremdung, der Mobilisierung und der Warnung einfach zu ignorieren.
: GEDICHT TOMAS VENCLOVA: AUS DEN CHINESISCHEN NOTIZEN
Tomas Venclova,
geb. 1937 in Klaipeda, litauischer Dichter und Übersetzer, wuchs in Vilnius auf, wo er Lituanistik studierte. In den 1970er-Jahren Gründungsmitglied der litauischen Helsinki-Gruppe, 1977 Emigration in die USA, wo er an der Yale University russische und osteuropäische Literatur lehrte. Bücher: „Gespräch im Winter. Gedichte“ (2007), „Der magnetische Norden. Erinnerungen“ (2017).
Wie die Wolle des Jaks an dem Kies schlei . Und ins bläuliche Fleisch fährt ein Messer. Die verwilderte Ebene hinzeigt, wo die Dämmerung nie wird zur Helle.
Die Gewölbe, unbewohnt, fließen über Zellen, die zwecklos geworden. Dem Skelett eines Klosters entsprießen statt Nirvana nur Steine hier oben. Voller Scharten die Fresken, wie Wolken, selbst die Felsen sind nicht von Dauer, und man könnte beginnen zu hoffen, dass der Krieg endlich aus sei.
(Aus dem Litauischen von Cornelius Hell)
AUS: TOMAS VENCLOVA: VARIATION ÜBER DAS THEMA ERWACHEN. GEDICHTE, HANSER VERLAG 2022
: BIG PICTURE AUS BUDAPEST
LÁSZLÓ LÁSZLÓ RÉVÉSZ (AUSSCHNITT)
: IMPRESSUM
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ERICH KLEIN
: WAS AM ENDE BLEIBT
Kultur. Krieg.
Mark Belorusets – Übersetzer (Kiew), 6. März 2022
Eine Bande von Mördern, Vergewaltigern und Plünderern kam aus Russland zu uns, um uns zu erobern. Sie schießen auf unbewaffnete Menschen, töten Kinder, Alte und Frauen, verwandeln unsere Städte und Dörfer in Ruinen. Vor uns erschien ein neues Putin-Russland. Dieses Russland hat das Recht auf die russische Kultur verloren. Heute kämpfen Tschaikowsky und Schostakowitsch, Tolstoi und Tschechow, Bunin und Platonow, Mandelstam, Pasternak und Achmatowa Seite an Seite mit uns in der ukrainischen Armee und in den territorialen Verteidigungskrä en.
Olga Sedakowa – Dichterin (Moskau), 12. März 2022
Wolnowacha. Heute habe ich erfahren, dass es diesen Ort nicht mehr gibt. Zum Glück hat man alle evakuiert. Was dort blieb, wurde zerstört. Dass es einen Ort mit dem Namen „Wolnowacha“ gibt, erfuhr ich im Alter von zehn. Meine Freundin Tonja Tsyganok fuhr jeden Sommer zu ihrer Großmutter dorthin – bis September schrieben wir einander dann Briefe. Wie o habe ich auf ein Kuvert geschrieben: „Wolnowacha“!
Tonjas Eltern haben auch in Moskau nie aufgehört, Ukrainisch zu sprechen. Sie schenkten mir „Kobsar“ (Gedichtband des ukrainischen Dichters Taras Schewtschenko), und Tonja erklärte mir, wie alles zu lesen sei, und übersetzte mir, was ich nicht verstand. Die Sprache erschien mir unglaublich schön. Tonja war die Güte in Person, und in ihrer Familie herrschte eine ganz andere Freundlichkeit als in der Umgebung: Alles war liebevoll, umarmend, einhüllend, heimelig. Moskauer Unterhaltungen waren im Vergleich dazu kalt. Tonya und ich haben damals Gedichte geschrieben – den Briefen aus Wolnowacha und nach Wolnowacha war immer auch etwas Gereimtes, entweder Eigenes oder ein Lieblingsgedicht, beigelegt.
Also, Wolnowacha. Jeder hat in der Kindheit Städte und Ortschaften, die nur aus deren Namen bestehen, bloß aus Lauten. Genau das war für mich Wolnowacha. Ich weiß nichts darüber außer den Namen. Etwas Weites, wie die Steppe im Wind oder der gleichförmige Wellengang des Meeres. Heute haben sie Wolnowacha vollständig zerstört. Die Nachricht darüber wurde in meine Kindheit geschickt. Und Tonja und ihrer Mama Lidia Gordejewna in eine andere Welt.